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Hochspannung aus dem grünen Herzen Deutschlands! Im Erfurter Steigerwald legt eine Rotte von Wildschweinen die Leichen zweier junger Männer frei, denen der Täter je eine Rose mit ins Grab legte. Bei ihren Ermittlungen stößt Hauptkommissarin Alexandra Brückner auf ein weiteres Grab. Hat sie es mit einem Serienkiller zu tun? Der Fall wird immer mysteriöser. Ein geheimnisvoller Fremder stalkt sie Tag und Nacht. In ihrem Haus geschehen merkwürdige Dinge, Menschen in ihrer Umgebung kommen zu Tode. Als auch noch ihr Kollege spurlos verschwindet, spürt Alex, dass auch sie in größter Gefahr schwebt. Der Verdacht erhärtet sich, dass alle Ereignisse wie bei einem dunklen Puzzle zusammenhängen. Mit „Der Rosenkiller“ geht für Alexandra Brückner die spannende Arbeit als Hauptkommissarin weiter und wieder gerät sie ins Fadenkreuz des Täters. Spannend bis zur letzten Seite garantiert Heike Wagner einen Thüringer Krimi-Genuss vom Feinsten!
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Seitenzahl: 299
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Heike Gabriele Wagner
Der Rosenkiller
Ein Thüringen-Krimi
Die Hauptkommissarin-Brückner-Reihe im RhinoVerlag:
Der Rattenfänger – Hauptkommissarin Alexandra Brückners erster Fall
Der Rosenkiller – Hauptkommissarin Alexandra Brückners zweiter Fall
Impressum
© 2023 RhinoVerlag Dr. Lutz Gebhardt & Söhne GmbH & Co. KG
Am Hang 27, 98693 Ilmenau
Tel.: 03677 / 46628-0, Fax: 03677 / 46628-80
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Nachdruck, Vervielfältigung und Verbreitung – auch von Teilen – bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verbreitung in elektronischen Systemen.
Layout, Satz: Verlag grünes herz
Schrift: Garamond
Umschlaggestaltung: catnipsflavour
1. Auflage 2023
ISBN 978-3-95560-707-4 (EPUB)
Kapitel 1
Er setzte den Fahrradhelm auf, hob den Kopf etwas an und ließ die Verschlusshälften ineinander rasten.
Der Sprecher im Radio beendete gerade die 19 Uhr Nachrichten. Der ganze Hype um den Klimawandel ging ihm total auf die Nerven. Gestern, am Freitag, waren wieder hunderte Schüler und Jugendliche in Erfurt auf die Straße gegangen, um unter dem Deckmantel der „Fridays for Future“-Bewegung gegen den Klimawandel zu protestieren und die Schule zu schwänzen. Er dachte mit Grauen an die morgendliche Diskussion mit seiner fünfzehnjährigen Tochter, ebenfalls eine glühende Verfechterin dieser Bewegung. Er wusste, dass sie bei der Demo in der ersten Reihe stand und sogar eine Rede vorbereitet hatte. Ein bisschen Stolz auf seine selbstbewusste Tochter musste er sich aber doch eingestehen.
Während er seine Fahrradschuhe anzog und die fingerlosen Handschuhe über die Hände streifte, hörte er den Wetterbericht im Radio. Der Sprecher kündigte weiterhin heißes, sommerliches Wetter ohne Niederschläge an. Auch heute war so ein Tag, an dem die Hitze einem den Schweiß aus den Poren trieb. Er hasste solche Tage, sie machten ihn unausstehlich. Nur in den Abendstunden konnte man es wieder draußen aushalten. Jetzt, im Juli, nutzte er die langen Sommerabende, um mit seinem Rennrad die Erfurter Umgebung abzufahren und seine Fitness zu verbessern.
Die Trinkflasche mit dem kühlen, isotonischen Getränk klickte er auf die vorgesehene Halterung seines schwarzen Fahrrades. Er schaltete das Radio aus, ließ hinter sich das automatische Garagentor herunterfahren, richtete noch einmal sein schwarz-weißes Trikot, setzte seine Fahrradbrille auf und schwang sich auf sein Rennrad.
Das war in letzter Zeit seine Lieblingsbeschäftigung: sich den Wind um die Nase wehen zu lassen und die Geschwindigkeit zu genießen. Hier fühlte er so etwas wie Freiheit, konnte den stressigen Alltag hinter sich lassen.
Er verließ die Löbervorstadt auf der Arnstädter Chaussee und steuerte seine Lieblingsstrecke an, nach Waltersleben, über Möbisburg und Rhoda zurück nach Erfurt, den Steiger hinunter. Die rote Ampel am Gasthof Schloss Hubertus bremste seine Fahrt. Während der Rotphase richtete er seine Brille und überprüfte den Fahrradcomputer.
Ein tuckerndes Geräusch ließ ihn links zur Seite schauen. Ein Motorradfahrer auf einer alten, restaurierten AWO hielt neben ihm an, stützte mit seinem rechten Bein das Bike ab, hielt die Hand zum Gruße an den Helm und schaute ihn mit einem breiten Grinsen an. Auch er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Wie klein die Welt war! Dieser Typ, in seiner alten Lederkluft, dem urigen Chopper Helm und der verspiegelten Sonnenbrille aus den Siebzigern, stand nicht das erste Mal an seiner Seite. Bereits gestern hatte er sich an dieser Stelle zu ihm gesellt und beide hatten sich ein kleines Rennen auf der abendlich leeren Landstraße geliefert.
Auch am heutigen Samstagabend schien die Landstraße nach Waltersleben wenig Verkehr aufzuweisen, also ideale Rennbedingungen. Der Biker ließ seine Maschine mehrmals aufheulen und nickte ihm ermunternd zu. Die Ampel wechselte auf Grün und beide begannen ihre Räder anzutreiben. Der Motorradfahrer rollte auf gleicher Höhe neben ihm her, während er wie ein Verrückter in die Pedale trat. Die Landschaft flog an ihnen vorbei. Er liebte die Geschwindigkeit und der Kollege neben ihm trieb ihn zu Höchstleistungen an. Nur einmal rückte der AWO-Fahrer hinter ihm ein, als zwei Pkw sie überholten.
Sie fuhren lange parallel über die Landstraße, dann über die Kuppe eines Hügels und für einen Augenblick sah man den riesigen Teppich aus hellem Weizen wie Gold unter der Sonne wogen. Doch beide hatten für die Schönheit der Natur kein Auge. Besonders die leicht abschüssige Gerade nach Waltersleben ließ seinen Ehrgeiz noch einmal aufleben. Der kleine Computer an seinem Lenker zeigte bereits 67 Stundenkilometer. Er gab alles. Die 70 wollte er vor dem Ort noch schaffen. Der Motorradfahrer fuhr zwei Meter voraus, um ihn noch einmal anzutreiben. Rechts flogen die ersten vereinzelten Häuser förmlich an ihnen vorbei.
Unverhofft ließ der Biker seine Maschine leicht nach hinten fallen, gab ordentlich Gas und knallte urplötzlich gegen sein Vorderrad. Der unerwartete Stoß riss seinen Lenker rechts zur Seite und ließ ihn eine kleine Böschung herunter rasen. Er versuchte das Gleichgewicht zu halten, überflog einen Graben, durchdrang wie ein Geschoss leichtes Gebüsch, fuhr über ein Blumenbeet, einen Weg und knallte ungebremst gegen eine Hauswand. Der heftige Aufprall riss ihn vom Rad und schleuderte ihn unsanft gegen eine Gartenbank. Das Vorderrad wurde aus der Gabel gerissen, rollte den kleinen Gartenweg entlang und blieb schließlich auf der Wiese liegen. Sein Trikot war an der rechten Schulter zerrissen und legte den Blick auf eine große, klaffende Wunde frei. Die leblosen Augen starrten in den wolkenlosen Himmel. Sein Genick war gebrochen.
Kapitel 2
Alex genoss den schönen Sonntagmorgen. Sie räumte in aller Ruhe den Frühstückstisch ab, ließ noch einen Kaffee aus dem Kaffeeautomaten laufen, setzte sich in ihrem kurzen Hausanzug auf die Terrasse und beobachtete lächelnd die Zwillinge beim Baden in dem kleinen, aufgestellten Pool im Garten. Noch konnte man es in der Morgensonne aushalten, aber schon in den nächsten Stunden würden die Temperaturen laut Wetterbericht in den unangenehm hohen Bereich steigen. Letzten Freitag hatten Tim und Leon die fünfte Klasse abgeschlossen. Wie schnell die Zeit verging! Sie schaute ins Wohnzimmer auf den zusammengetragenen Haufen von Taschen, Rucksäcken, Camping- und Badesachen der Jungs. Morgen früh würden die Kinder für eine Woche ins Schullandheim nach Zella-Mehlis fahren, ihrer alten Heimatstadt. Ihre Eltern wohnten noch dort und ihr Vater, ein pensionierter Arzt, hatte sich bereiterklärt, das Feriencamp für die Kinder mit zu organisieren. Alex wusste, dass bereits einige Events für die Kinder arrangiert waren: eine Nachtwanderung, eine Schatzsuche auf dem Ruppberg und ein Grillabend. Seit zwei Tagen waren die Jungs schon total aus dem Häuschen.
„Hast du mein rotes Shirt gesehen?“
Alex fuhr erschrocken herum. Ihre Tochter Lisa stand mit kurzen Hosen und einem Bikinioberteil bekleidet, das Haar zu einem Zopf gebunden, in der Verandatür und schaute sie ungeduldig an.
Alex überlegte. „Ich glaube, das habe ich mit gewaschen. Es hängt auf der Leine im Hauswirtschaftsraum. Wann holt dich denn dein Freund ab?“
„Naja, Felix kommt gleich, wir wollen uns mit ein paar Freunden im Nordbad treffen. Übrigens, bin ich gestern auch in den Club gekommen, die kannten Felix dort, er ist ja schließlich schon zwanzig.“
Alex stellte ihre Tasse auf den Tisch. „Deshalb durftest du auch nicht länger bleiben, du bist ja schließlich erst fünfzehn.“
„Ja, Mama, das weiß ich, das musst du mir nicht immerzu sagen.“
Genervt lief sie ins Haus zurück.
Alex schaute ihr nach, insgeheim freute sie sich, dass Lisa ihre anstrengende Pubertätsphase endlich hinter sich hatte. Zwar gab es immer noch heiße Diskussionen um die Heim-komm-Zeiten und ums Auswärts-Schlafen, aber wie Alex aus eigener Erfahrung wusste, würde sich das mit der Zeit geben.
Ein unangenehmes Gefühl beschlich Alex, als sie nach der kurzen Ablenkung wieder an den Montagmorgen dachte. War sie nun suspendiert? Oder handelte es sich nur um eine leere Drohung ihres neuen Vorgesetzten? Leider war vor drei Wochen ihr Chef, Kriminalrat Jochen Ackermann, bei einer Sitzung zusammengebrochen: Herzinfarkt. Nach einer Bypassoperation stand ihm nun eine lange Reha-Phase bevor. Als Vertretung für das Fachkommissariat „Tötungs-, Brand- und Sexualdelikte“ wurde sein bisheriger Stellvertreter Kriminalrat Eberhardt Bauer benannt. Alex kannte ihn bisher nicht, sie war ihm nur ein paar Mal auf dem Flur begegnet. Aber die Reaktion ihrer Kollegen auf die Beförderung dieses Mannes machte sie stutzig. Sogar ihre sonst so besonnene Kollegin Regina Wegener bezeichnete ihn als „unfähiges, selbstgerechtes Arschloch“ und die meisten stimmten ihr zu. Alex hatte ja nicht ahnen können, dass sie das selbst so schnell zu spüren bekäme.
Schon in seiner Antrittsrede ließ er durchblicken, dass er jetzt der große Zampano sei und alle nach seiner Pfeife tanzen müssten. Gleich in den ersten Tagen seiner Amtszeit begann er, Alex Avancen zu machen und sie mit Einladungen zum Essen oder mit Karten für ein Konzert zu belästigen, obwohl er verheiratet war und eine Tochter in Lisas Alter hatte. Sie schätzte ihn auf Mitte Vierzig, die großen Geheimratsecken ließen sein breites Gesicht älter wirken. Er erschien sportlich und zäh, war einen halben Kopf kleiner als Alex, was aber seinem übertriebenen Selbstbewusstsein keinen Abbruch tat.
Alex hatte eindeutige Worte gefunden, um die Belästigungen zu unterbinden. Offenbar hatte dies sein Ego erheblich angekratzt. Nun bekam sie deutlich zu spüren, was es hieß, ihn nicht zum Freund zu haben.
Vor einer Woche wurde ihr Team in eine Villa gerufen. Der zweiundfünfzigjährige Studienrat, Conrad Beck, hatte sich im Büro seines Hauses mit seiner eigenen Waffe erschossen. Schon am Tatort ließ der Gerichtsmediziner Doktor Wolter, den alle nur „Doc Brown“ nannten, weil er dem Schauspieler Christopher Lloyd in dem Film „Zurück in die Zukunft“ zum Verwechseln ähnlich sah, durchblicken, dass es sich hierbei sicher nicht um einen Selbstmord handelte. Am Tatort erschien überraschenderweise ihr neuer Chef, spielte sich fürchterlich auf und unterband die Befragung der restlichen Familienmitglieder, angeblich wegen eines Nervenzusammenbruchs der Ehefrau und der unendlichen Trauer des Sohnes. Diese Beobachtung konnte Alex allerdings nicht nachvollziehen, beide wirkten sehr gefasst und gaben sich sicher in ihrem Auftreten. Wie sich später herausstellte, handelte es sich bei Eberhardt Bauer um einen Freund der Familie Beck. Auch die anderen Kollegen versuchte er in ihrem Arbeitseifer zu bremsen. Bei Doc Brown holte er sich eine ordentliche Abfuhr ab, denn der ließ sich nicht in seine Arbeit reinreden. Nur der KTU-Chef Ralf Tonhauser kam wütend und genervt vom Tatort gelaufen: „Wenn mir nicht gleich einer den Mann vom Hals schafft, erschieße ich ihn eigenhändig.“
Die Recherchen erwiesen sich für Alex und ihr Team als äußerst schwierig. Fast heimlich trugen sie Informationen über den Toten und sein Umfeld zusammen. Bauer verlangte jeden Tag einen Bericht über den Stand der Ermittlungen, den sie zum Teil nur unvollständig weiterreichte, um den wahren Fortschritt zu verheimlichen.
Der Gerichtsmediziner Dr. Wolter präsentierte Alex ausführlich am Toten und auf der Videowand den Schusskanal. Es war dem Mann nur unter einer besonderen Verrenkung seiner rechten Hand möglich, sich so in den Kopf zu schießen. Alex ging also von einem mutmaßlichen Tötungsdelikt aus, was ihr Chef auf keinen Fall nachvollziehen wollte.
Am Donnerstag ließ sie sich bei Bauer verleugnen. Sie fuhr mit ihrer Kollegin Antonia Schellenberger zur Villa des Toten und führte mit der Witwe Bettina Beck und ihrem Sohn Maximilian eine Befragung durch. Dies veranlasste die Frau, sich danach bei Kriminalrat Bauer zu beschweren. Mutter und Sohn gaben sich gegenseitig ein Alibi. Aber während des Gesprächs stellte Bettina Beck ihre Tasse auf den kleinen Couchtisch zurück. Dabei rutschte ihr der rechte Ärmel ihrer Bluse fast bis zur Armbeuge hinauf und Alex konnte einen Blick auf die blauen Hämatome an ihrem Unterarm erhaschen. Sie sprach die Frau auf ihre Verletzung an, aber Frau Beck behauptete, sich die blauen Flecken bei einem Unfall im Haus zugezogen zu haben. Die Erwähnung, dass sich der Studienrat nicht selber erschossen haben konnte, brachte schließlich den Sohn bei der Befragung ins Schlingern. Die Mutter beendete daraufhin unsanft die Unterhaltung.
Das Verhalten der beiden war mehr als auffällig. Alex konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie nicht die Wahrheit sprachen. Im Laufe ihres Berufslebens hatte sie des Öfteren solche Verletzungen gesehen, die meist auf häusliche Gewalt hinwiesen. Auch Toni zweifelte an den Aussagen der beiden.
Das Umfeld dieser Familie müsste noch einmal komplett geprüft werden. Das hieße, noch einmal Nachbarn, Freunde und Angehörige zu befragen. Auch die finanziellen Gegebenheiten, sowohl das Verhältnis der Eheleute als auch das von Vater und Sohn mussten ebenfalls hinterfragt werden, welches bei Eberhardt Bauer sicher erheblichen Widerstand hervorrufen würde.
Da der Kriminalrat am Freitag auswärtig beschäftigt war, hinterlegte Alex kurz vor Feierabend einen schriftlichen Bericht bei seiner Sekretärin und freute sich, ihm vor dem Wochenende nicht mehr Rede und Antwort stehen zu müssen.
Leider lief sie ihm vor dem Präsidium in die Arme. Sie erkannte sofort seine schlechte Laune und wusste genau, was jetzt auf sie zukam.
„Sie haben schon Feierabend, Frau Brückner?“ Er schaute provokativ auf seine Armbanduhr. „Ich hatte Sie doch jeden Tag um einen Bericht gebeten. Das haben Sie wohl gestern vergessen?“
Alex trat einen Schritt auf ihn zu. „Nein, wir haben gestern den ganzen Tag ermittelt und am späten Nachmittag habe ich Sie leider nicht mehr in Ihrem Büro angetroffen. Der heutige schriftliche Bericht liegt bereits auf Ihrem Schreibtisch.“
Sein Ton verschärfte sich und wurde lauter.
„Soviel ich weiß, untersagte ich Ihnen, Bettina Beck und ihren Jungen ins Verhör zu nehmen. Die Familie ist noch zu geschockt von dem Vorfall.“
Alex Stimme wurde ebenfalls lauter. „Den Eindruck konnten meine Kollegin und ich nicht teilen. Außerdem handelte es sich nicht um ein Verhör, sondern nur um eine Befragung, was bei Ermittlungen in einem Todesfall durchaus üblich ist.“
Seine Miene verdüsterte sich. Er zischte durch seine Zähne und wurde immer lauter.
„Sie haben meine Anweisungen missachtet. Wer glauben Sie denn, wer Sie sind?“
Alex platzte auch der Kragen, sie rief ihm entgegen: „Herr Bauer, ich rate Ihnen, den Fall abzugeben. Sie sind viel zu sehr involviert und zu befangen. Als Freund der Familie können Sie die Ermittlungen nicht leiten. Sie behindern unsere Arbeit.“
Er schnaufte außer sich vor Wut und brüllte sie regelrecht an: „Was maßen Sie sich an, Frau Hauptkommissarin? Sie haben sich meinen Anweisungen widersetzt. Ich werde Sie suspendieren. Hier bekommen Sie keinen Fuß mehr auf den Boden, dafür werde ich sorgen!“
Alex konnte es nicht fassen. Ihr war bisher kein Fehler unterlaufen. Diesen Fall hatten die Kollegen und sie ordnungsgemäß nach Vorschrift abgearbeitet. „Okay! Tun Sie das, aber mit schriftlicher Begründung und ich werde auch meinen Bericht schreiben und dann lassen wir das an oberster Stelle klären“, schrie sie ihn ebenfalls an.
Ihr Blick glitt über die Front des Bürogebäudes. Einige Kollegen aus den verschiedensten Abteilungen hingen an den Fenstern, auch zwei Beamte der Bereitschaftspolizei waren stehengeblieben, um den Streit zu beobachten.
Bauer brüllte sie wutentbrannt an: „Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, Frau Brückner. Ich ziehe Sie von diesem Fall ab. Wenn Sie den Anweisungen eines Vorgesetzten nicht nachkommen können, werden Sie die Konsequenzen tragen müssen.“ Er drehte sich um und ließ Alex stehen.
Völlig aufgelöst hastete Alex über den Parkplatz zu ihrem Wagen. Dabei übersah sie den herannahenden Motorradfahrer. Der reagierte gerade noch rechtzeitig. Erst das Quietschen der Bremsen ließ Alex aufmerken. Erschrocken blieb sie stehen und konnte sich gerade noch an der Schulter des Bikers festhalten, um nicht hinzufallen.
„Oh, Entschuldigung, es ist meine Schuld. Ich habe Sie nicht gesehen. Entschuldigen Sie bitte.“
Der Fahrer sah ihre Verzweiflung, lächelte sie unter seiner verspiegelten Sonnenbrille an, grüßte mit zwei Fingern an seinem Helm und fuhr entspannt weiter. Erleichtert sah Alex ihm einen Moment lang nach, der tuckernde Viertakt-Sound verhallte langsam in der Ferne. Sie spürte immer noch das raue Leder seiner alten Motorradjacke unter ihrer Hand. Nur gut, dass er so schnell reagiert hatte.
Im Garten zwitscherten die Vögel. Die Zwillinge spritzten sich gegenseitig mit ihren großen Wasserpistolen nass. Alex legte die Füße hoch und trank einen Schluck Kaffee. Verflucht, wie hatte sie sich denn so dazu hinreißen lassen können, ausgerechnet vor dem Präsidium die Beherrschung zu verlieren? Bauer würde jetzt alle Hebel in Bewegung setzen, um allen, vor allem ihr, zu zeigen, wer der Chef im Hause war. Sie wollte auf keinen Fall ihren Onkel Werner, der im Innenministerium arbeitete, um Hilfe bitten. Während ihrer Scheidungszeit hatte er ihr den Posten als Hauptkommissarin angeboten, sehr zum Missfallen der meisten Kollegen im Kommissariat. Wie sie später erfuhr, hatten sich einige der Kommissare aus ihrer Abteilung auf die ausgeschriebene Stelle beworben. Ausgerechnet eine Hausfrau, Mutter von drei Kindern mit elfjähriger Auszeit, wurde ihnen vor die Nase gesetzt. Einige Kommentare ihrer männlichen Kollegen waren ihr bereits zu Ohren gekommen. Sie stellte sich vor, wie diese sich freuten, wenn sie jetzt strauchelte. Aber sie wollte bis zum Schluss allein versuchen, sich da herauszuboxen. Alex schaute in den Himmel. Kein Wölkchen verdeckte das helle Azurblau. Sie dachte an Dominik, ihren Liebsten, er fehlte ihr besonders heute. Morgen käme er von einer Geschäftsreise aus Wien zurück. Es war schon verrückt. Sie skypten jeden Abend eine Ewigkeit miteinander, wie zwei verliebte Teenager. Sie war glücklich, dass die Kinder ihn so kurz nach der Scheidung von ihrem Mann Michael uneingeschränkt akzeptiert hatten. Besonders die Zwillinge vereinnahmten ihn regelrecht bei seinen Besuchen. Und wenn es bei Lisa und ihr wieder einmal knisterte, sprang er immer als Vermittler ein. Sich zu kümmern und überhaupt für die Kinder Interesse aufzubringen, hatte sie bei Michael immer vermisst.
Sie stand auf und lief zum Pool. Eine volle Breitseite Wasser erwischte sie. Klitschnass rannte sie auf Leon mit seiner Wasserpistole zu, schnappte ihn und warf ihn in das Bassin. Lachend stand Tim hinter ihr und zog seine Mutter mit ins Wasser. Alle drei planschten vergnügt im Pool. Die negativen Gedanken der letzten Tage waren so eine Weile vergessen.
Am Abend saß Alex noch immer auf der Terrasse. Tiefe Dunkelheit legte sich langsam über die Baumkronen. Die Kinder lagen schon in ihren Betten, nur aus Lisas Zimmer drang noch leise Musik. Alex schloss die Akte des Falles „Beck“ und knipste den kleinen Strahler aus. Trotz intensiven Studiums der Fakten konnte Alex keinen Hinweis auf einen anderen Täter im Umfeld des Studienrates entdecken. Für sie blieben die Familienmitglieder verdächtig. Aber was hatte Bauer damit zu tun? Wenn er wüsste, dass sie die Akte aus dem Kommissariat hier zu Hause studierte, würde er ihr sicher noch ein Verfahren anhängen.
Alex fing zu frösteln an. Das Knacken eines Astes im hinteren Bereich ihres Gartens ließ sie aufschrecken. Sie schaute in die Dunkelheit. Der Schatten eines Menschen huschte zwischen den Bäumen auf die Mauer zu. „Hallo? Bleiben Sie mal stehen!“ Alex rannte ebenfalls zur Mauer, stoppte kurz zuvor und lauschte in die Dunkelheit. Sie hörte nur noch ein Rascheln, das sich hinter der Mauer entfernte. Aufgeregt lief sie ins Haus zurück, holte aus ihrer Tasche die Taschenlampe und erkundete unter dem starken Kegel des Lichts den hinteren Gartenbereich. Alex war aufgebracht. Was wollte derjenige hier? Handelte es sich um einen Spanner? Ihr fiel die Einbruchserie in ihrem Viertel wieder ein. Bereits in fünf Villen in ihrer unmittelbaren Nähe war eingebrochen worden. Alle Nachbarn waren in Alarmbereitschaft. Wurde sie gerade ausspioniert, ihr Haus observiert? Auf dem Gemüsebeet der Zwillinge wurde sie fündig. Zwei riesige Schuhabdrücke ließen sich in der weichen Erde erkennen. Alex stellte ihren Fuß in Flipflops zum Vergleich daneben. Mindestens Schuhgröße 45.
Sie würde morgen die Kollegen über den Vorfall informieren. Vielleicht konnten die damit etwas anfangen.
Kapitel 3
Vor zwei Stunden hatte sie die Zwillinge geweckt, das Frühstück und für jeden ein Lunchpaket vorbereitet. Sie brachte ihre Jungs vor die Sporthalle, wo bereits ein Reisebus auf die Kinder wartete. Was für ein Gewimmel an aufgeregten Kindern, Eltern und Lehrern. Es dauerte eine ganze Weile, ehe man alle Mitfahrenden in den Bus und alle Nichtmitfahrenden aus dem Bus sortiert hatte. Alex kämpfte mit den Tränen, als die Jungs ihr bei der Abfahrt des Busses am Fenster fröhlich zuwinkten. Ein Blick auf die Uhr bestätigte Alex: die Abfahrt hatte sich um eine halbe Stunde verzögert.
Jetzt musste sie sich allerdings sputen. Sie wollte nicht auch noch zu spät kommen, denn Bauer würde sie nicht aus den Augen lassen. Warum hatte sie denn die Akten nicht gleich mitgenommen, sie standen noch zu Hause im Flur. Also fuhr sie den Weg noch einmal zurück. Gerade angekommen, kam Lisa mit ihrer vollgestopften Umhängetasche die Treppe heruntergelaufen. „Mama, kannst du mich ein Stück zu Rieke mitnehmen? Wir treffen uns heute mit Paul und Leonie am Anger.“
„Ok, dann aber los. Was hast du denn alles in der riesigen Tasche drin?“
Lisa verdrehte die Augen. „Ach Mama, du hast es schon wieder vergessen. Ich schlafe doch heute bei Rieke.“
„Sorry, das habe ich tatsächlich vergessen. Also sehen wir uns erst morgen wieder.“ Auch nicht schlecht, dachte Alex, fühlt sich heute an wie sturmfrei. Sie nahm die Tasche mit den Akten, schlang den Trageriemen über ihre Schulter, riss die Haustür auf und rannte fast in ihre Nachbarin Britta Schollbach hinein. In ihrem flotten Sportdress, den Laufschuhen und den zu einem Zopf gebundenen blonden Haaren, sah sie wie eine Leistungssportlerin aus.
„Hallo, Britta, ich habe jetzt gar keine Zeit mehr, ich muss los. Gibt es etwas Wichtiges?“
Britta lächelte und winkte ab.
„Ich will jetzt auch noch eine große Runde joggen, da ich im August beim Firmenlauf teilnehmen möchte. Aber eigentlich wollte ich euch nur am Mittwochabend zu meinem Geburtstag einladen. Dominik kannst du gerne mitbringen, mein Bernd will den großen Grill anschmeißen.“
Alex überlegte kurz. Seit ein paar Jahren war sie mit Britta befreundet. Sie arbeitete bei einer Krankenkasse, während ihr Mann Bernd ein Dentallabor betrieb. Oft stand ihr Britta mit Rat und Tat zur Seite, sie konnte sich immer auf sie verlassen. Besonders in den letzten nervenaufreibenden Scheidungsmonaten hatte ihre freundschaftliche Fürsorge gutgetan. Doch ihren Geburtstag hätte sie wahrscheinlich bei der ganzen Aufregung total vergessen.
„Danke für die Einladung. Ich komme gern, aber Dominik ist dann bereits unterwegs nach Sydney zu seiner großen Ausstellung.“
Verwundert trat Britta näher.
„Ich dachte, das ist später und ihr fliegt mit?“
Alex lächelte. „Nein, Dominik fliegt morgen schon voraus. Er wird dort seine Ausstellung vorbereiten und bei der Vernissage sollte er wohl auch anwesend sein. Die Kinder und ich fliegen erst in den letzten zweieinhalb Ferienwochen hin.“
Alex blieb stehen und kam langsam auf Britta zu.
„Sag mal, gestern Abend, nach Einbruch der Dunkelheit ist bei mir jemand übers Grundstück gerannt und über eure Mauer abgehauen. Hast du etwas bemerkt?“
Britta schaute sie erschrocken an.
„Nö, das nicht, aber du weißt von den Einbrüchen?“
Alex nickte. „Haltet bitte die Augen etwas offen. Ich schicke heute noch einen Kollegen vorbei, der soll sich die Sache mal anschauen. Ausgerechnet jetzt hat Lisa wieder ihren Schlüssel verlegt. Vergangenes Jahr haben nacheinander die Zwillinge ihre Schlüssel verloren, da habe ich nur jedes Mal ein paar nachmachen lassen. Aber jetzt nach den ersten Einbrüchen, bat ich Gregor, neue Schlösser einzubauen.“
Britta nickte. „Seine Schlosserei hat auch bei uns eine neue, moderne Schließanlage eingebaut und das für kleines Geld. Nichts geht über eine gute Nachbarschaft.“
Aus dem Auto rief Lisa: „Mama, wir müssen los, sonst komm ich zu spät.“
Alex winkte Britta zu. „Ok, ich komme am Mittwoch vorbei, vielen Dank für die Einladung.“
„Ich freue mich und wünsche dir noch einen schönen Tag“, rief Britta zurück und lief leichtfüßig die Straße weiter.
Alex fuhr Lisa zu ihrem Treffpunkt. Natürlich kam sie selbst eine halbe Stunde zu spät ins Präsidium.
Im Fahrstuhl traf sie den Kollegen Otto Schuster vom Einbruchsdezernat. Sie erzählte ihm von ihrem nächtlichen Besucher und erkundigte sich nach den Ermittlungen der Einbruchsserie in ihrem Wohngebiet. Der Kommissar ließ durchblicken, dass es sich vermutlich um zwei Täter handelte, die bisher sehr professionell vorgegangen waren und nicht viele brauchbare Spuren hinterlassen hatten. Nur Fußabdrücke konnten gesichert werden. Keine Fingerabdrücke, keine DNA. Allerdings waren in den letzten drei Wochen weitere Einbrüche ausgeblieben.
„Entweder machen die Jungs aus irgendeinem Grund eine Pause oder sie haben kalte Füße bekommen und sind weitergezogen“, lächelte Otto Schuster. „Ich schicke heute noch einen Kollegen bei Ihnen vorbei, der soll sich die Sache mal anschauen, das geht schon klar.“
Alex bedankte sich, gab ihm die Adresse und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck.
Als erstes schaute Alex bei ihrer Kollegin Regina Wegener vorbei. Die Hauptkommissarin in ihrem Team erwartete sie schon ungeduldig.
„Alex! Endlich bist du da! Es ist etwas passiert!“
Alex blieb stehen und ihre Kollegin schaute sie vielsagend an.
„Bauer ist tot.“
„Was?“, kam es gedehnt und im fragenden Ton zurück. „Wie?“
„Wahrscheinlich ein Fahrradunfall am Samstagabend. Man hat ihn allerdings erst Sonntagvormittag neben der Landstraße hinter einem Haus in einem Garten in Waltersleben gefunden. Genickbruch. Er war sofort tot.“ Regina fügte erklärend hinzu: „Er ist voll gegen die Hauswand gefahren. Sein Rennrad hat es auseinandergerissen und ihn auch. Er muss eine wahnsinnige Geschwindigkeit draufgehabt haben.“
Alex fragte ungläubig. „Hat ihn denn seine Frau nicht vermisst?“
„Natürlich, noch am gleichen Abend sind mehrere Streifenwagen die Landstraßen abgefahren, die er bei seinen Touren immer nahm. Aber bei der Dunkelheit konnte ihn keiner sehen. Erst am frühen Vormittag hat ihn der Hausbewohner, ein älterer Mann, hinter seinem Haus gefunden.“
Alex überlegte eine Weile. „Schon am Sonntag, warum bin ich denn nicht informiert worden?“
Regina legte ihre Stirn in Falten und hob ihre Augenbraue. „Mensch Alex, du hast wohl deinen großen Streit mit ihm am Freitag vor dem Kommissariat vergessen. Das ging wie ein Lauffeuer durch das Präsidium.“
Alex konnte ihrer Kollegin nicht folgen. „Aber, was hat denn das Eine mit dem Anderen zu tun? Ich kann doch nichts für seinen Unfall.“
Regina zuckte mit den Schultern. „Bergmann musste den Fall übernehmen, das kam von ganz oben. Außerdem möchte dich der große Chef sprechen. Dr. Perlinger erwartet dich in seinem Büro. Du sollst sofort hochkommen.“
Alex lief in ihr Büro. Auch das noch, Kriminaldirektor Dr. Siegfried Perlinger, Leiter der gesamten Polizeiinspektion. Sie erinnerte sich, wie er sie an ihrem ersten Tag den Kollegen vorgestellt hatte, für ihren Geschmack zu viele Vorschusslorbeeren, fast schon peinlich gegenüber den Kollegen. Wenn es jetzt schlecht für sie lief, würde ihr eine Suspendierung trotzdem noch bevorstehen. Bauer konnte man ja zu der Auseinandersetzung mit ihr nicht mehr befragen.
Alex atmete noch einmal tief durch, klopfte an die Tür von Perlingers Büro und wurde hereingebeten.
Zu ihrer Verwunderung schien Perlinger in bester Laune zu sein. Er stand am Schreibtisch im edlen, hellgrauen Anzug, begrüßte sie mit Handschlag und bat sie auf dem Stuhl vor dem Tisch Platz zu nehmen. Er setzte sich dahinter. Alex schätzte ihn auf Ende Fünfzig. Für sein Alter hatte er eine gute Figur. Sein volles, graues Haar ließ ihn wesentlich jünger aussehen. Er schien gerade aus dem Urlaub gekommen zu sein. Sein auffälliger brauner Teint und die Wandleuchte im Hintergrund ließen sein helles Haar wie einen Heiligenschein leuchten. Alex konnte gar nicht wegschauen. Es fiel ihr trotzdem schwer, die Situation einzuschätzen.
Seine kleinen, aufgeweckten Augen, umrahmt von einer eckigen, goldenen Brille, musterten sie eindringlich. „Frau Brückner, leider treffen wir uns unter keinen guten Umständen. Erst fällt mein geschätzter Kollege Jochen Ackermann aus und jetzt erwischt es seinen Stellvertreter Kriminalrat Bauer. Das ist schlimm. Wie mir zu Ohren gekommen ist, haben Sie sich leider nicht so gut mit Herrn Bauer verstanden?“
Auf seine bedeutungsvolle Pause blieb Alex nichts anderes übrig, als sich zu erklären. „Ja, ich hatte mit ihm so meine Probleme. Im Fall Conrad Beck stellte sich heraus, dass Kriminalrat Bauer ein Freund der Familie Beck war. Er behinderte meine Arbeit und die meines Teams erheblich. Ich habe ihn darum gebeten, die Ermittlungen wegen Befangenheit abzugeben.“
Der Kriminaldirektor lachte laut auf. „Sie brauchen mir nicht zu erzählen, was Eberhardt Bauer darauf antwortete. Ich kannte ihn sehr gut. Ich fand es von Ihnen aber sehr mutig, sich ihm entgegenzustellen. Nur bleibt mir jetzt nichts anderes übrig, den Fall Bauer und den Fall Beck an Hauptkommissar Chris Bergmann weiterzureichen. Sie sind raus.“
„Aber wieso?“, fragte Alex ungläubig.
Perlinger klopfte auf den Ordner, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. „Ich habe die Akte gelesen. Jedes Mal, wenn Sie bei der Familie Beck ermittelt haben, hat sich Frau Beck bei Bauer beschwert. Und der hat Sie jedes Mal wieder zurückgepfiffen. Wenn ich das mal so ausdrücken darf.“ Alex bestätigte es durch ein kurzes Kopfnicken. Sie wusste nicht, worauf er hinauswollte.
Perlinger klopfte erneut auf die Akte. „Wie ich hieraus entnehme, haben Sie Frau Beck oder ihren Sohn im Verdacht, Conrad Beck erschossen zu haben. Sie können mir doch nicht erzählen, dass Sie nach den ganzen Vorfällen noch objektiv gegen Frau Beck und ihre Familie ermitteln können.“
„Tut mir leid, ich kann Ihnen nicht folgen. Haben wir bei unseren Ermittlungen einen Fehler gemacht?“, wollte Alex wissen.
Dr. Perlinger lächelte versöhnlich. „Frau Brückner, das muss ich Ihnen doch nicht erklären, sie gelten jetzt als befangen und damit uns niemand etwas vorwerfen kann, werden wir es so handhaben.“
Alex fühlte sich wie eine Verliererin. Seine Stimme riss sie wieder aus ihren Gedanken. „Im Ministerium haben meine Kollegen und ich festgelegt, keinen weiteren Stellvertreter für den Posten des Fachkommissariatsleiters einzusetzen. Jochen Ackermanns Gesundheitsprognose sieht positiv aus, seine Bypass-OP hat er gut überstanden und wenn nichts dazwischenkommt, steht er uns nach seiner Reha wieder zur Verfügung. Daher haben wir beschlossen, eine Doppelspitze kommissarisch einzusetzen. Sie und Chris Bergmann werden die Führung im Kriminalbereich 1 als leitende Hauptkommissare einstweilen übernehmen.“
Alex wusste gar nicht, ob sie richtig hörte.
„Verstehe ich das richtig, ich werde gerade befördert?“
Dr. Perlinger senkte den Kopf und schaute sie über seine Brille an. „Es sieht ganz so aus. Allerdings heißt das auch mehr Arbeit für Sie und Ihren Kollegen. Ich hoffe, Sie nehmen unseren Vorschlag an?“
Es dauerte einen kurzen Augenblick, ehe Alex zustimmend nickte. „Ja, das würde ich gern.“
„Wenn Sie Fragen haben, stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Ansonsten wird Ihnen auch Frau Becker, die Sekretärin von Jochen Ackermann, bei Schriftsachen behilflich sein.“
Alex traute dem Frieden noch nicht.
„Heißt das, ich darf keine Ermittlungen mehr durchführen?“
Er lächelte wieder mit seiner freundlichen Miene.
„Doch, doch, der nächste Fall geht wieder an Sie. Ich werde die Kollegen nachher zusammenrufen und ein kurzes Statement abgeben. Einverstanden, Frau Brückner?“
Er stand auf und hielt ihr die Hand vor die Nase. Alex erhob sich ebenfalls und beide schüttelten sich die Hände.
Regungslos stand Alex am Fenster ihres Büros und ließ das eben Erlebte noch einmal Revue passieren. Eigentlich hatte sie mit einer Suspendierung gerechnet und nun eine Beförderung erhalten. Trotzdem widerstrebte es Alex, Bergmann ihren Fall abgeben zu müssen und auch noch mit ihm zusammenzuarbeiten. Er gehörte zu ihren größten Widersachern im Kommissariat. Sie hatte einmal zufällig hören können, wie er mit den Kollegen über sie sprach. Er vertrat die Ansicht, dass so etwas wie sie an den Herd gekettet gehöre, statt erfahrenen Kollegen die Stelle wegzunehmen. Das arrogante Arschloch sollte ihr nur blöd kommen mit seinem dämlichen Machogehabe.
Das Telefon klingelte und Dominik meldete sich. „Hallo, Alex, ich bin wieder im Lande.“
„Was? Ich habe dich viel später erwartet. Bist du schon auf dem Hof?“
„Ja, Ich würde dich gern abholen. Wann hast du denn Feierabend?“
Alex übermannte ein Glücksgefühl, sie lehnte sich an ihren Schreibtisch. „So gegen 16 Uhr. Ich werde heute etwas früher Schluss machen, aber eher komme ich bestimmt nicht weg.“
„Wir gehen schön Essen, es gibt viel zu erzählen. Was ist mit den Kindern?“
„Die sind mal außen vor. Lisa übernachtet bei ihrer Freundin und die Jungs sind im Ferienlager. Wir haben sturmfrei“, jubelte Alex in den Apparat, dann fragte sie ungeduldig: „Was ist denn mit Wien? Hat alles geklappt? Ich bin so neugierig.“
Dominiks Stimme klang geheimnisvoll. „Erzähle ich dir alles heute Abend.“ Er hielt einen kleinen Augenblick inne. „Du hast mir echt gefehlt. Ich hole dich um 4 Uhr ab. Bis dann, Schatz.“
Alex legte den Hörer in die Station zurück. Sie freute sich auf heute Abend und dachte an ihre erste Begegnung vor ein paar Wochen.
Sie steckte mitten in den Ermittlungen ihres ersten Falles und er gehörte zu ihren Hauptverdächtigen. Dominik Kobenstein, ein großer internationaler Künstler. Seine Kunstwerke waren in der Welt sehr begehrt und hochbezahlt. Ausgerechnet bei der ersten Befragung verliebte sie sich Hals über Kopf in ihn. Die heimliche Liaison wäre ihr beinahe auf die Füße gefallen. Sie hatte unter Beobachtung gestanden bei ihrem ersten großen Fall, Mutter von drei Kindern und mitten in einer Scheidung.
Leider blieb ihnen heute nur diese eine Nacht. Schon morgen flog Dominik weiter nach Australien. Das „Museum of Sydney“ richtete eine Ausstellung seiner Bilder und Kunstwerke aus. Die letzten zweieinhalb Ferienwochen würde sie mit den Kindern nachkommen, um dort mit ihm den ersten gemeinsamen Urlaub zu verbringen. Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen, schon die Vorstellung daran, machte sie glücklich.
Sie betrat das Großraumbüro, um ihr Team über den neuen Stand zu informieren. In der Mitte vom Raum stand Chris Bergmann, leicht breitbeinig, kraftvoll, sportlich und sprach zu ihren Kollegen. Schräg hinter ihm stand grinsend an einen Schreibtisch gelehnt, mit verschränkten Armen, sein Mitarbeiter Kommissar Lasse Scholz, ein großer schlaksiger Typ mit kurzgeschorenem Haar.
Ihr Team, Hauptkommissarin Regina Wegener, Kommissarin Antonia Schellenberger und ihr Computerspezialist Matze Bösemann standen den beiden gegenüber.
„Was ist denn hier los?“, fragte Alex in die Runde. Sie spürte ihren Ärger aufsteigen. Alle Augen richteten sich auf sie. „Habe ich etwas verpasst?“
Regina meldete sich als Erste. „Also, wie ich es verstanden habe, informierte uns Herr Bergmann gerade, unser neuer Chef zu sein.“
Alex lief auf Bergmann zu und schaute ihn provozierend an.
„Da muss Herr Bergmann etwas falsch verstanden haben, wir beide wurden gerade kommissarisch als gleichberechtigte Doppelspitze benannt. Ich betone gleichberechtigt. Das heißt Herr Bergmann, Sie können sich mit mir absprechen und mein Team kann ich in Zukunft selber informieren. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.“
Chris Bergmann schaute aufgebracht zu seinem jüngeren Kollegen, knurrte etwas in seinen Dreitagebart und funkelte Alex wütend an. „Dann möchte ich es nur klarstellen, alles, was den Fall Bauer betrifft, gehört ab jetzt in mein Revier, Sie und Ihr Team sind raus, das gilt auch für den Fall Beck, den können Sie mir gleich übergeben.“
Toni wandte sich empört an Alex, auch die anderen beiden sahen sie fragend an.
„Wieso bekommen die unseren Fall? Da steckt schon so viel Arbeit drin!“
Alex begann die Situation ihren Kollegen zu erklären. „Die Anweisung kommt von Dr. Perlinger. Wir sind raus und das K1 übernimmt.“ Sie unterdrückte ihren Ärger und schaute Bergmann fast gleichgültig an. „Ich werde die Akten in Ihr Büro bringen lassen“, teilte sie ihm kurz angebunden mit und wandte ihm den Rücken zu.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stapften Bergmann und Scholz aus dem Raum. Die angespannte Stille, die sie hinterließen, hämmerte in Alex’ Ohren. Bis Regina ihren Kollegen zuraunte: „Na, die Zusammenarbeit kann ja heiter werden.“
Alex’ Team wartete noch immer auf eine Erklärung.
„Ja, es tut mir leid. Wegen meines Streits mit Bauer gelte ich jetzt als befangen und muss alles, was damit zu tun hat, abgeben. Tragt bitte alles zusammen, was wir über Beck haben und Toni, bringst du die Akten dann bitte rüber? Hat aber bis morgen Zeit, wir müssen schließlich erst alles aktualisieren und ordnen, auch wenn Bergmann herumtobt. Und wir behalten auf jeden Fall eine Kopie von Allem.“
Toni grinste. „Alles klar Chefin und herzlichen Glückwunsch zur Beförderung.“
Matze hielt einen Augenblick inne. „Wieso sprechen die von einem ,Fall Bauer‘? War das doch kein Unfall?“
Regina zuckte mit den Schultern. „Freilich muss der Unfall untersucht werden. Obwohl ich Bauer nicht leiden konnte, tut es mir leid um die Familie.“
Alex’ Miene verdüsterte sich. „Ja, du hast recht. So jung schon Witwe und er hat eine Tochter, die ist so alt wie Lisa. Das ist sicher schwer, wenn der Vater so früh geht.“ Etwas unschlüssig fügte sie hinzu. „Ich bin in meinem Büro.“
Regina hielt Alex auf. „Übrigens war vorhin der Kollege Schuster vom Einbruch hier und wollte dich sprechen. Ich konnte aber nicht so richtig erfahren, was er wollte.“
Erst jetzt dachte Alex wieder an ihren nächtlichen Besucher. „Gestern Nacht ist jemand in meinem Garten herumgeschlichen. Ich habe den Kommissar wegen der Einbrüche in unserem Wohngebiet gefragt. Vielleicht wollte mich jemand ausspionieren. Er wollte sich darum kümmern. Ich rufe ihn gleich an.“
„Das kannst du dir sparen“, winkte Regina ab. „Er hat mir gesagt, dass er erst morgen wieder im Haus ist.“
„Das klingt aber nicht gut“, mischte sich Toni ein. „Hast du nicht gesagt, du bist heute ganz alleine in deinem Haus.“