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Der Mord an Samuel Backett stellt Detektiv Chefinspektor Robert Nettles von New Scotland Yard vor ein Rätsel. Keiner kennt den Toten, niemand weiß etwas über ihn. Backett scheint es nicht zu geben – und doch liegt er tot am Straßenrand. Dass der Fall mehr als übliche Routine ist, merkt Nettles daran, dass ihn plötzlich der Geheimdienst einzuschüchtern versucht. Er scheint sich in einem Labyrinth aus Geheimnissen zu verstricken. Und als er die Spur eines Serienmörders aufnimmt, bekommt der Fall eine völlig überraschende Wendung.
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Seitenzahl: 826
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© Lehmanns Media, Berlin 2013
Helmholtzstraße 2-9
10587 Berlin
Cover: Creative Commons/CC0 1.0 by Unuplusunu
ePublishing: Benjamin Zuckschwerdt
Er hatte die Stelle lange zuvor schon ausgewählt. Sie war von der Hauptstraße nicht direkt einsehbar und wenig befahren. Ein idealer Platz. Nur hin und wieder würde hier jemand vorbei kommen und die Ruhe stören, die er für sein Werk ausgesucht hatte.
Die Landschaft lag mit saftigem Gras bewachsenen Hügeln vor ihm. Dazwischen standen kleine Wäldchen. Hier und da säumten Buschreihen, in denen sich Hasen und andere Tiere verstecken konnten, die schmalen Straßen. Steinmauern bildeten natürliche Zäune für das Weidevieh.
Er fuhr mit seinem Jeep langsam die Straße entlang, sich immer wieder prüfend umsehend. Jeder Zeit rechnete er mit Durchziehenden, die wandernd die Gegend erkundeten und ihn enttarnen oder bei seiner Arbeit stören könnten. Menschen waren neugierig und schreckten nicht davor zurück, ihn von seiner Tätigkeit abzuhalten, indem sie näher kamen und vielleicht sogar ansprachen.
Am Ende der schmalen Straße stand ein kleines Haus, idyllisch eingeklemmt zwischen einigen hohen Koniferen, die man eher in der Toskana vermutet hätte. Er kannte die wenigen Menschen, die regelmäßig zu Besuch kamen und dort ein und ausgingen. Wochenlang hatte er die Umgebung ausgekundschaftet. Und dennoch war es die Erfahrung, die ihn leitete. Früh am Morgen hatte er noch einmal die Einfahrt aufgesucht und die vorbeifahrenden Autos auf der Hauptstraße, die nur zweispurig und ziemlich schmal war, genau beobachtet.
Eine Person war zu dem kleinen Haus gefahren, obwohl es Sonntag war. Dieser Besuch kam regelmäßig, zweimal in der Woche, und blieb einige Stunden. Es war eine ältere Frau, die so alt wirkte wie sie wahrscheinlich auch war. Er wusste, dass sie sich nicht beobachtet fühlte. Das entnahm der Mann der unbeschwert aussehenden Körperhaltung. Er hielt sich im Hintergrund und wartete einen späteren Zeitpunkt ab, um seinen Platz verlassen zu können, ohne gesehen zu werden. Sie kam sonst nicht am Sonntag. Irgendetwas war anders, das konnte er spüren. Dennoch musste er sein Werk vollenden. Er konnte nicht mehr warten.
Er ließ seinen Jeep langsam die seichte Neigung hinunterrollen und stoppte am Straßenrand. Er überprüfte abermals die Umgebung. Es war der späte Nachmittag eines namenlosen Sonntages. Die Gegend immer wieder prüfend, öffnete er die Heckklappe und zog eine Plane mit einem schweren Gegenstand hervor. Die Decke, die als Sichtschutz gegen Neugierige diente, legte er sorgfältig an die Seite. Niemand würde ihn vermissen und niemand hatte gesehen, wie er seiner habhaft wurde. Als er seine schwere Last platziert hatte, sah er noch einmal über die Landschaft. Nichts rührte sich. Es war still. Kein Geräusch störte das Arrangement.
Seine Planung hatte einen anderen Verlauf genommen, aber so war es auch gut. Hier, in der hereinbrechenden Herbstnacht, war der Ort ideal und würde nicht sofort Aufsehen erregen. Es herrschte Friedhofsstille. Nicht einmal Vogelgezwitscher oder Geräusche, die der Wind erzeugte, waren zu vernehmen.
Zufrieden rollte er die Plastikfolie, die den Körper schützte, zusammen und legte sie in den Jeep zurück. Dann stieg er ein, fuhr ein wenig die Anhöhe hoch und wendete. Auf der kleinen Kuppe der schmalen Straße, verharrte er einen Augenblick, weil er am Horizont eine Bewegung registrierte, die sogleich zwischen den Hügeln wieder verschwand.
Er beeilte sich und war längst verschwunden, als eine Fahrradfahrerin gemächlich heran kam.
Sabina Jacobi hatte einen Brief von ihm aus Großbritannien erhalten und war außer sich vor Freude. Er, der große Regisseur für Horrorfilme, hatte ihren Psychokrimi, den sie zur Übersetzung ins Englische teuer bezahlt hatte, tatsächlich gelesen und wollte nun die Autorin persönlich kennen lernen.
Da sie nicht genug Geld hatte, war ein Flugticket nach London in dem Brief beigefügt und Finley Connor hatte ihr geschrieben, dass er sie wollte vom Flughafen abholen wollte.
Schnell hatte sie ihr Gepäck zusammen und stand schon eine Woche vor dem Flug bereit. Frisch gewaschene, gebügelte und sorgfältig gefaltete Wäschestücke für ein zu erwartendes feuchtes England. Es war schon Ende August und der Sommer in ihrer Stadt schien kein Ende zu nehmen. Sabina kramte ihre englische Wachsjacke aus der hintersten Schrankecke und besah sich die Nähte. Das Wachsspray stand in ihrem Hobbyraum und sie musste vor der Reise noch die Jacke bearbeiten, damit sie einem Dauerregen standhielt.
Allen ihren Freunden erzählte sie von ihrem Glück und sie freuten sich mit ihr und vielleicht waren sie auch ein wenig neidisch, weil ein so berühmter Regisseur eines ihrer Werke ernst nahm und sie sogar einlud zu kommen. Auf seine Kosten. Sie sollte sein Gast sein, hatte er geschrieben und sie sollte ein wenig mehr Zeit mitbringen.
Das musste sie einfach auch ihrem Chef erzählen, der gerne ihren überfälligen Urlaub bewilligte.
Auf dem Flughafen in Heathrow war sie eigenartiger Weise die erste Person bei dem Gepäckband. Schnell hatte sie die erste Kontrolle durchlaufen und alle anderen Fluggäste irgendwie hinter sich gelassen. Sie sah nur die Zollbeamten und das Flughafenpersonal, die sie freundlich anlächelten.
Sabina Jacobi konnte sich keinen Reim darauf machen, wieso sie von allen angelächelt wurde. Niemand kannte sie hier. Da kam ein Mann auf sie zu, den sie sofort als ihren Gastgeber erkannte, und wollte sie gerade begrüßen, als sie ihren roten Koffer auf dem Gepäckband vorbei ziehen sah.
Sie drückte ohne viel Aufhebens ihr Handgepäck, bestehend aus einer khakifarbenen Umhängetasche mit ihrem wertvollsten Besitz, einem Netbook und ihrer sämtlich darauf gespeicherten Geschichten, in seine Hände und sagte hektisch „Entschuldigung… Bitte … können Sie das kurz halten? Ich komme sofort. Dort ist mein Koffer“, und drehte sich auch schon um und rief ihrem Koffer hinterher „Halt! Stopp! Moment mal, anhalten!“ Sie erwischte ihn fünf Meter vor der Schleuse, in der er zu verschwinden drohte, um noch eine Runde zu drehen. Das würde Zeit kosten und die Gefahr bestand, dass sie dann nicht mehr mit ihrem Lieblings-Regisseur allein sein konnte. Er war hier in London schlicht zu bekannt und wenn die anderen Passagiere erst einmal mitbekamen wer er war, würden sie ihn sicher belagern. Sie wollte mit dem Mann ihres Interesses vor dem Massenansturm verschwunden sein.
Sabina angelte ihren Koffer grazil zwischen zwei größeren Koffern hervor … ein Stück. Ihr Koffer verhakte sich mit dem Rad an der Unterseite eines anderen Koffers. Die schweren Gepäckstücke konnte sie nicht gleich trennen und klemmten irgendwie aneinander, wie zwei Boxer, die auf Zeit spielten. Sabina stieg behände auf den Rand des Gepäcklaufbandes, um ihren Koffer zu befreien. Das nachrückende Gepäck erschwerte die Aktion und sie drohte, das Gleichgewicht zu verlieren. Mit dem zweiten Fuß trat sie auf die hintere Kante, konnte ihren Koffer mit einem Ruck aus der Umklammerung befreien und zog ihn an sich heran. Durch den Schwung und das Gewicht ihres Koffers, den sie in der Luft herum schwenkte, verlor sie Zusehens den Halt auf den schmalen Laufbandrändern. Sie drehte sich in der Luft mit dem Koffer in der Hand um die eigene Achse und versuchte dabei das Gleichgewicht wieder zu erlangen. Da streifte sie, an ihrer neuen tänzerisch erkämpften Position, ein anderes vorbeiziehendes Gepäckstück. Ihr Fuß wurde mitgerissen und sie strauchelte und landete auf den Koffern mitten auf dem Laufband, wie ein Käfer auf dem Rücken und mit in der Luft wackelnden Beinen. Das Laufband lief ungerührt weiter und der Schlund, mit der Plastikplane davor, kam bedrohlich näher. Schnell erhob sie sich, nahm ihren Koffer wieder in die Hand und angelte erneut mit einem Fuß zum Rand, rutschte jedoch ab, verlor das Gleichgewicht und trat ins Leere. Der Koffer landete auf sicherem Hallenboden, während sie sich noch halb in der Luft drehte, weil der andere Fuß noch nicht am Rand, sondern auf dem Laufband war, und landete kopfüber auf dem Boden. Irgendwie schaffte sie es, sich abzurollen und erhob sich schließlich mit hochrotem Kopf. Sie zupfte ihre Kleidung zurecht und versuchte ihre vermutlich völlig derangierte Frisur mit einigen Handgriffen zu ordnen. Mit entschlossenem Blick und einem Lächeln, hob sie ihren Koffer auf, zog die Handhalterung heraus und mit einer eleganten Drehung ging sie auf ihren Gastgeber zu.
Der hatte sich die gesamte Szene angesehen und bog sich vor Lachen.
Ihr war es unheimlich peinlich und ihr schoss das Blut in den Kopf. Hochrot schaute Sabina auf den Boden und blieb vor ihm stehen.
„Moin“, entfuhr es ihr spontan „äh, hallo“ und hielt ihm ihre Hand hin. „Ich bin Sabina Jacobi, Sir“, fügte sie schnell an.
Finley Connor antwortete noch immer grinsend „Herzlich willkommen, in England. Sag bitte Finley und das Sir lassen wir auch weg, ja?“
„Okay, ja, danke“, und starrte ihn erwartungsvoll an.
„Wie war dein Flug?“ fragte Finley und gab ihr die Tasche mit dem wichtigen Inhalt zurück.
„Keine besonderen Vorkommnisse. Alles Bestens. Danke der Nachfrage.“
„Nicht dafür. Komm, wir sollten verschwinden. Gleich kommen die anderen Passagiere und es wird hier voll. Wir unterhalten uns im Taxi.“ Er wies mit der Hand in die Richtung aus der Sabina zuvor gekommen war und sie begriff, dass sie einfach nur vorgelassen worden war, damit sie schnell aus dem Flughafengebäude entkommen konnten. Es war eine Menschentraube zu sehen, die aus der Zollkontrolle quoll, um sich ebenfalls ihr Gepäckstück vom Laufband abzuholen. Finley griff nach ihrem Koffer, den sie neben sich abgestellt hatte.
Sabina war es unangenehm, dass er ihren Koffer hinter sich herzog und sie versuchte nach ihm zu greifen. Doch Finley Connor ließ sich nicht beirren und lief los ohne sich umzudrehen. Schnell setzte auch sie sich in Bewegung, nachdem sie sich die Tasche so über die Schulter hängte, dass sie ihr niemand entreißen konnte. Eine Sicherheitsvorkehrung, falls sie in Gedrängel geraten sollten. Er lief schnell und sie versuchte mitzuhalten. Während sie den langen Gang zur großen Halle liefen, musterte Sabina ihr Idol.
Finley Connor war ungefähr einen Meter achtzig groß und sah richtig gut aus. Seine Nase war nicht zu groß und auch nicht zu klein und kerzengerade. An seinen Schläfen schimmerte es weiß und machte ihn noch attraktiver. Das Haupthaar war hellblond und vollkommen dicht. Seine Augen waren groß und strahlend blau und von blonden dichten Wimpern und Augenbrauen eingerahmt. Die Figur normal, nicht zu dick und nicht zu dünn, seinem Alter angemessen. Einen Bauchansatz konnte sie nicht erkennen, da er über der Hose ein lockeres Polohemd trug. Sein glatt rasiertes Gesicht hatte einige Falten zu viel, aber sie störten nicht und die Lachfalten um die Augen und auf der Stirn standen ihm sehr gut. Alles sehr sympathisch. Sein Schritt war schnell, fast federnd und seine Beine waren vollkommen gerade, wie auch die Stellung seiner Füße.
Finley sah sich um, prüfte die Menschenmassen mit einem alles aufnehmenden Blick und steuerte eine Glastür an. Sie verließen die Gepäckhalle und traten in eine Art riesige Wartehalle, die voller Menschen war. Noch waren die Fluggäste mit ihrem Gepäck und mit dem Einchecken beschäftigt und bemerkten nicht, wer hier mitten unter ihnen die Halle durchquerte.
„Sabina, wir müssen dort hinaus. Dort stehen die Taxis.“ Finley Connor zeigte in die Richtung und ging los. Sabina Jacobi versuchte Schritt zu halten.
Die Trauben wartender Menschen an diversen Schaltern in der großen Eingangshalle sahen auf die Tafeln oder in ihre Flugpapiere. Gepäckstücke wurden auf Förderbänder gelegt, auf denen sie auch gleich gewogen werden konnten. Freundliche Mitarbeiter von diversen Fluggesellschaften nahmen Platzwünsche entgegen. Sie ließen sich Tickets geben und bearbeiteten die einzelnen Zettelchen in den vorgefertigten heftähnlichen Umschlägen oder die Ausdrucke von Internetbuchungen mit tausendfach geprobten und mit immer gleicher Geste und Mimik und hörten sie geduldig den nervösen Fluggästen zu. Die meist jungen Mitarbeiterinnen, in ihrer gleich aussehenden Uniform und der oft zu starken Schminke wirkten, als seien sie ferngesteuerte Roboter. Sie hörten alle Kleinigkeiten und konnten genauso schnell und sicher antworten, wie sie die Tickets abstempelten oder mit einem kleineren Ticketersatz austauschten und dem Fluggast zurück gaben, oft mit dem Hinweis, dass dies bei der Stewardess im Flugzeug vorzuzeigen sei, weil sich darauf die Sitzplatznummer befand.
Der London Heathrow Airport hatte fünf Terminals, deren Ausmaße aus der Vogelperspektive gleich groß aussahen. Sabina Jacobi hatte einen Fensterplatz und konnte beim Anflug den Flughafen gut sehen. Ihr Heimatflughafen hatte nur einen zentralen Terminal, dafür war er größer. Die Szenen, die sich in den Warte- und Abflughallen und an den Duty Free Shops abspielten, glichen sich.
Finley Connor steuerte zielstrebig einen bestimmten Ausgang an und sah sich nach Sabina um, als ob er sich sorgte, sie im aufkommenden Getümmel zu verlieren. Sabina hatte in der Tat etwas Mühe seinem schnellen Schritt zu folgen und so machte sie ab und zu einen Satz, so als würde sie hüpfen, und holte wieder auf.
Schließlich waren sie im Freien und Finley fragte: „Wie ist zur Zeit das Wetter in Deutschland?“
„Oh, es ist noch recht warm. Das Herbstwetter lässt sich diesmal Zeit. Und hier? Ich hatte im Internet nach dem Wetter gesehen, aber die Wolken scheinen sich hier ständig durch Neue zu ersetzen.“
„Der Wind treibt die Wolken schneller vom Atlantik über die Insel hinweg, da es kaum Hindernisse gibt, wie zum Beispiel hohe Bergmassive. Und der Weg bis London ist kurz. Die Temperaturen sind bisher auch noch sehr mild. Dieser Sommer war wärmer, als alle Jahre davor. Jetzt scheint es allmählich regnerischer zu werden. Heute Morgen hat es geregnet. Eben echt typisch englisches Wetter. Mal so, mal so“, erklärte Finley schmunzelnd.
Finley Connor hob seine Hand, um ein Taxi heran zuwinken. Wie aus dem Nichts kam ein schwarzes Auto herangesaust.
„Top!“ rief Sabina erfreut. „Ich werde gleich in ein echtes englisches Taxi einsteigen“, und strahlte.
Finley schaute sie erstaunt an. „Hast du noch nie in einem Taxi gesessen?“
„Doch, schon. Aber nicht in so einem. Das ist Kult.“
„Kult? Was ist Kult?“
„Tja … ähm, das ist etwas, was total in ist.“„Oh, okay. Ja, ich verstehe.“ Finley hielt ihr die Tür auf und Sabina stieg ein.
Es war kein Taxi aus einem Film oder einer Vision, sondern ein ganz normales englisches Taxi. Es sah von außen eher klein aus, war aber innen geräumig. Die Passagiere konnten sich gegenüber sitzen oder auch nicht. Wer die Wahl hat, der hat die Qual.
Das Gepäck stellte Finley hinter dem Sitz des imaginären Beifahrers ab. Der Taxifahrer saß auf der rechten Seite hinter einer Trennwand aus Glas, die auf und zu geschoben werden konnte. Privatsphäre für die Gäste konnte somit garantiert werden. Wenn man allein im Taxi saß, erklärte oft der Taxifahrer die Sehenswürdigkeiten dem Besucher.
Finley Connor gab dem Fahrer eine Adresse, der nickte und betätigte einen Knopf an dem Taximeter, bevor er los fuhr. Die Uhr lief, das Taxi folgte den Bodenmarkierungen entlang der großen Eingangshalle des Flughafens. Flott umfuhr er andere Taxis und schwenkte schließlich nach links in einen Kreisel, um danach auf eine Schnellstraße einzubiegen.
Sabina musterte Finley, der sie ebenso interessiert ansah.
Sie schwiegen. Schließlich musste er grinsen und sie auch.
Sabina hatte das Gefühl, dass sie rot wurde. Verlegen sah sie schnell aus dem Fenster.
Die Landschaft flog an ihren Augen vorbei. Der Taxifahrer schien die Geschwindigkeitsbegrenzung zu überschreiten und tauchte in die überfüllten Straßen Londons ein. Der Verkehr war mörderisch, aber das Taxi schien immer wieder Schlupflöcher zu finden. Sie kamen schnell voran.
Schließlich brach Finley das Schweigen und erklärte Sabina die Sehenswürdigkeiten, an denen sie vorbeikamen. Sie konnte den Ausführungen gut folgen und erkannte den Piccadilly Circus, der mitten im Zentrum lag. In einem angesagten Viertel, wie Finley es ausdrückte, in einer Seitenstraße zum Leicester Square, war seine Firma, die Translation Filmcompany.
Der Taxifahrer musste einige Umwege fahren, um in die St. Whitcomp zu gelangen. Viele Einbahnstraßen und Fußgängerzonen machten die direkte Zufahrt zu einem Irrweg. Sabina hätte den Weg nie wieder gefunden, geschweige denn wieder zurück. Vor einem altehrwürdigen Haus aus der Jahrhundertwende hielt das Taxi. Finley bezahlte und schnappte sich wieder ihren Koffer, stieg aus und hielt Sabina die Tür auf.
Sie stand vor einem Gebäude mit Backsteinfassade. Der abgesetzte Stuck war weiß getüncht und steinerne himmlische Engelsfiguren bewahrten die Erker vor dem Absturz. Eine Steintreppe mit breitem Steinhandlauf führte zu einer mächtigen Holztür mit einem polierten Messingschild. Daneben befand sich ein schwerer Türklopfer mit einem Löwenkopf, der in der Höhe eines Durchschnittsmenschen angebracht war. Eine Klingel gab es zusätzlich. Ein riesiger Messingbriefschlitz mit dezenten Applikationen prangte in Hüfthöhe. Ein Schild, ebenfalls aus glänzendem Messing, befestigt an der rechten Hauswand, verriet, dass hier die Zentrale der Translation Filmcompany war.
Finley hielt die Eingangstür für Sabina auf und sie staunte. Ein bombastischer Eingang mit verschiedenfarbigem Marmor auf dem Boden und an den Wänden überwältigte sie. Ein kleiner Kronleuchter erhellte den großzügigen Eingangsbereich. Die Translation Filmcompany befand sich im Erdgeschoss, die über fünf Stufen aus rötlichem Marmor zu erreichen war.
Finley drückte gegen die Tür ohne zu klopfen oder zu klingeln. Sie betraten eine geräumige Wohnung, die zu Büroräumen umgebaut worden war. Sabina stand im Eingang und ließ den Raum, mit einer Höhe von gut vier Metern, auf sich wirken. Stuckumrandung und Kronleuchter an der Decke, Messingbeschläge an allen Türen und Bilder mit aufwendigen goldfarbenen Rahmen an den Wänden. Möbel, Lampen und Dekorationen waren dem Stil der viktorianischen Bauzeit des Gebäudes angepasst und mit modernen Einrichtungsgegenständen geschmackvoll kombiniert.
Besucherstühle, Tischchen mit Boulevardblättern und Präsentationsmappen verrieten, dass es hier durchaus turbulent werden konnte. Sabina mutmaßte, dass hier auch Castings durchgeführt wurden. Hinter den hohen Holztüren wurden sicher Gespräche zwischen Regisseuren und Produktionsmanagern geführt, während sich die Kandidaten in dem Flur über die Zeitungen hinweg einschätzten. Gleich neben dem Eingang war ein Tresen eingebaut, der die Anmeldung der Filmcompany darstellte. Es saß oder stand niemand dahinter und Finley Connor griff über den Tresen und schnappte sich einen Schlüssel.
Sie hörte einige Stimmen aus den umliegenden Räumen. Ein junger Mann, bunt gekleidet wie ein Paradiesvogel, kam aus einem der Räume und rief fröhlich „Eh! Finny. Aaaah, da ist ja unser Besuch schon.“ Er sprach gekünstelt, lief mit schwingenden Hüften direkt auf Sabina zu und streckte ihr seine Hand grazil entgegen. Er hatte einen französischen Akzent und war anscheinend eine Frau, gefangen in dem Körper eines Mannes. „Willkommen in England, Chéri. Ich bin Pierre LaFort, Cosmétique, Friseur, Dekorateur und Zuhörer in allen Lebenslagen. Alles in einer Person.“ Dabei sah er Sabina lächelnd von oben nach unten an. „Chic, mon Dieu“, sagte er und musterte sie genau.
„Hallo, ich bin Sabina Jacobi.“
„Oui, oui, Madame, das wissen hier alle schon“, sagte Pierre LaFort und winkte mit der Hand ab. „Finny kann doch nichts für sich behalten“, scherzte er weiter. „Wir sehen uns, Chéri. Richte dich erst einmal ein. Wenn du etwas auf dem Herzen hast, dann wende dich ruhig an mich“, sagte er zu Sabina und verschwand so schnell wie er gekommen war in dem gegenüberliegenden Raum.
Finley lachte und führte Sabina in den Raum, der gegenüber dem Eingang am Ende des großzügigen Flures lag. Ihren Koffer parkte er vor einem riesigen Schreibtisch, der genauso alt sein konnte, wie das Haus und ebenso restauriert war.
„Entschuldige Pierre, aber er ist einfach so. Man muss ihn so nehmen wie er ist. Pierre ist so etwas wie das Mädchen für alles in Sachen Schönheit und Deko.“ Finley machte eine Bewegung mit beiden Händen in den Raum. „Er hat das alles dekoriert und ist ein wahrer Künstler in seinem Fach. Er kann aus einem grauen hässlichen Entlein einen wunderschönen Schwan machen und umgekehrt. Und wenn man will, dass alle etwas Bestimmtes erfahren, dann erzählt man es am besten, wenn Pierre in der Nähe ist“, erklärte Finley den Auftritt des Franzosen.
„Ich finde ihn nett. Pierre kommt aus Frankreich? Ich meine, wegen des Akzents.“
„Ja, er kommt aus Paris und hat hier ein neues Zuhause gefunden.“
Sie schaute sich im Raum um. Ein riesiges Regal, bespickt mit Büchern, stand an der einen Wand und füllte es vollkommen aus. An der anderen Seite hing ein Bild. Künstlerisch sicher wertvoll, dachte sie, aber es gefiel ihr nicht. Sie fand es zu modern. Davor stand ein zweisitziges wuchtiges Sofa aus braunem Leder. Ein Tisch in entsprechender Höhe und je ein Sessel, rechts und links davon. Der Boden bestand aus Holzparkett im Grätmuster. Er war offenbar frisch abgezogen worden, denn Gebrauchsspuren waren kaum zu sehen und das Holz war noch nicht vom Licht nachgedunkelt. Die hohen Fenster waren aus Holz, weiß angestrichen und doppelt. Die Fenster, samt den Messinggriffen, konnten noch aus der Gründerzeit stammen.
Finley Connor setzte sich auf einen riesigen Lederstuhl, der farblich zu den anderen Möbeln passte. Sabina suchte sich einen der anderen Ledersessel aus und sank in eine atemberaubende Gemütlichkeit, aus der man nicht mehr hinaus wollte. Die Kälte, die Leder zuweilen ausstrahlte, war hier nicht zu spüren. Das Leder war weich und warm. Die Oberfläche nicht zu glatt, sondern erinnerte an Nubuk.
Da ging auch schon die Tür auf und es kam eine Blondine herein geschwebt, die mit einem roten Minirock bekleidet war, der kaum mehr als ein breiter Gürtel war. Ein hautenges weißes T-Shirt mit großzügigem Ausschnitt betonte ihre Körperrundungen und die knallroten Highheelstiefel in glattem Lederlack streckten ihre Beine ins Unendliche. Der voluminöse Mund und die langen Fingernägel, mit denen es schwer sein musste, an einer PC-Tastatur die richtigen Buchstaben zu treffen, waren im gleichen Rot-Ton. Die Augenbrauen hatte sie zu Strichen zurechtgezupft und ihre langen Haare wallten offen beim Gehen hin und her. Ihre Brüste, die eigentlich viel zu groß waren, hüpften bei jedem Schritt von rechts nach links. Sabina vermutete eine Brustvergrößerung. Sie waren entschieden zu groß, für die doch sonst eher zierlich wirkende junge Frau.
Die Blondine steuerte, ohne Sabina eines Blickes zu würdigen, Finley entgegen und die Brust präsentierend. „Hi, Finley, Liebling“, hauchte sie verführerisch.
„Hallo Susan“, sagte er fast gelangweilt, als sie sich auf ihn stürzte. Er stand schnell auf, um ihren Schwung elegant abzufangen und nicht unter ihren Brüsten begraben zu werden. Ihre Haare flogen um sein Gesicht und er hatte das Gefühl an ihren Haaren ersticken zu müssen. Sie umschloss seinen Hals und knickte ein Bein dabei nach hinten in die Höhe, dass die Länge der Highheels noch offensichtlicher wurde. Er versuchte der Umklammerung zu entkommen und schob sie sanft, aber bestimmt, an den Armen wieder von sich weg. Es war ihm offensichtlich peinlich vor seinem Gast.
„Wir haben Besuch“, sagte er und wies auf Sabina, die in dem wuchtigen Ledersessel vor dem Schreibtisch sitzen geblieben war, um die Szene auf sich wirken zu lassen. „Darf ich vorstellen? Sabina Jacobi aus Deutschland. ... Sabina, das ist Susan Clarkson. Susan erledigt die Einkäufe für das Team und die Schauspieler. Sie kümmert sich auch um das leibliche Wohl, in dem sie die Bestellungen entgegen nimmt oder ein geeignetes Lokal ausfindig macht. Eine Art Sekretärin für alle.“
Sabina war aufgestanden und reichte Susan Clarkson die Hand, die Sabina abschätzend musterte, aber brav ihrerseits Freude vortäuschte und zu ihr sagte: „Wie lange wirst du unser Gast sein?“ Der Unterton, dass Susan nicht über ihren Besuch erfreut war, konnte sie dabei nicht unterdrücken. Susan sah Sabina abschätzig von oben nach unten an.
„Das hängt davon ab, wie viel wir zu ändern haben. Ewig werde ich nicht bleiben können. Ich bin nicht nur Schriftstellerin, sondern habe eine feste Arbeitsstelle, die ich nicht so ohne weiteres aufgeben kann.“
Damit hatte Sabina klar gestellt, dass sie nicht vorhatte, sich zwischen Susan und Finley zu stellen. Und das schien Susan etwas zu beruhigen, denn sie lächelte nun etwas entspannter und fragte: „Du hast das Skript geschrieben? Alle sind begeistert davon. Ich fürchte, ich muss es mir doch noch durchlesen“, versuchte Susan Clarkson zu scherzen.
Das nahm Finley Connor zum Anlass und sagte zu Susan: „Du musst das Drehbuch lesen, damit du weißt, was die Schauspieler brauchen.“ Er zeigte auf eine englische Fassung auf seinem Schreibtisch. „Ein Exemplar liegt in deinem Büro. Bitte lies es“, mahnte er sie.
„Entschuldigung, aber ich war mit anderen Dingen beschäftigt“, antwortete Susan.
“Die waren sicher sehr wichtig. Wichtiger als unser nächster Film?“ sagte er sarkastisch, nickte dabei leicht und schaute sie vorwurfsvoll an. Er fragte sich, was wichtiger sein konnte, als Geld in die Firmenkasse zu wirtschaften, welches Susan mit vollen Händen ausgab.
Susan fingerte beschwichtigend an der Knopfleiste von Finleys Hemd herum, machte einen Schmollmund und sah ihn von unten an. „Finny, du weißt doch, dass ich erst so richtig in Fahrt komme, wenn es eng wird. Gib mir noch ein wenig Zeit“, bettelte sie. Susans Hände krabbelten, wie von Geisterhand, an der Knopfleiste zu seinem Hals hinauf und sie wollte ihn erneut umarmen.
Finley Connor hingegen versuchte sie noch immer loszuwerden und sich aus der erneuten Umklammerung zu befreien. „Ich hätte gerne Tee, echten englischen Tee für mich und meinen Gast“, sagte er und fügte an. „Lässt sich das einrichten zwischen deinen vielen Tätigkeiten?“
Trocken sagte sie halb zu Sabina gewandt: „Tja, dann will ich mal einen echten englischen Tee holen.“
„Du weißt ja, wie ich ihn gerne mag, nicht war?“ fügte Finley an „…und vergiss bitte nicht, zwei Tassen mitzubringen“, und untermalte seinen Wunsch mit zwei erhobenen Fingern.
Susan ließ Finley abrupt los und stolzierte mit wiegender Hüfte und hocherhobenen Kopf an Sabina vorbei und aus dem Raum.
Sabina war sprachlos. So etwas hatte sie höchstens mal im Film gesehen, aber noch nie im Original. „Beeindruckend“, entfuhr es ihr.
„Du musst entschuldigen. Wir waren am Anfang für kurze Zeit zusammen“, versuchte Finley den Auftritt zu erklären. „Aber diese Frau kostet einfach zu viele Nerven. Ich weiß nicht, ob du verstehst, was ich meine.“
„Doch, ich denke schon. Aber…, ich weiß, es geht mich nichts an…, aber Susan scheint das anders zu sehen.“
Finley blickte auf seinen Schreibtisch, als ob dort eine Erklärung zu finden wäre. „Susan hatte es nicht leicht in ihrem Leben“, begann er zu erzählen. „Sie wurde immer nur herumgeschupst, als Kind und dann als Jugendliche. Dann hatte sie sich schließlich diese Maske zugelegt.“
„Sie sollte sie selbst sein und sich nicht hinter einer Verkleidung verstecken.“
„Tja, wem sagst du das.“
Als die Tür wieder aufging, brachte Susan ein Tablett mit einer Teekanne, Stövchen, Milchkännchen, Zuckerdose und zwei Tassen inklusive Löffelchen darauf herein. Stumm stellte sie das Tablett auf einer Schreibtischecke ab. „Ihr nehmt Euch selbst?“ sagte sie dabei und verließ das Zimmer wieder, als Finley ihr hinterher rief: „Wir müssen unbedingt über deine Arbeit hier reden, ja?“ Sie schaute nicht zurück, sondern hob eine Hand mit erhobenem Mittelfinger. Finley ignorierte diese Geste und goss Tee in die Tassen und stellte die Kanne auf das Stövchen. Ein Stück Zucker und ein Tropfen Sahne fand in seiner Tasse noch Platz. Sabina nahm sich eine Tasse Tee ohne Zusätze und setze sich wieder auf den Sessel. Das Geschirr war ebenso spektakulär, wie die Einrichtung an sich. Weiß, mit golden verschnörkeltem Rand. Das Porzellan sah edel aus.
Finley nahm das Manuskript in die Hand und begann darin zu blättern. Sabina wartete geduldig. „Es ist ein gewalttätiges Buch. Wie bist du auf den Titel Star and Stripe gekommen?“
„Ich dachte an den Regisseur in meinem Thriller und wie ich die Frau nennen könnte. Ich habe mir vorgestellt, wie das in Amerika bildlich aussehen würde und hatte auf einmal die Idee mit der amerikanischen Flagge. Sie bildet mit den Sternen und den Streifen eine Einheit, eben die Vereinigten Staaten. Meine Darsteller im Verlauf der Geschichte irgendwie auch.“
„Das war eine gute Idee. Ich glaube, dass wir den Film auch so nennen werden. Der Aufwand wird sich lohnen und die Vorlage ist fantastisch und wenn wir das umgesetzt bekommen, dann wird der Film ein Knaller.“ Er machte eine kleine Pause und fügte mit erhobener Stimmlage feierlich an: „Seit Psycho von Alfred Hitchcock, ist das die beste Vorlage für ein Drehbuch.“
Sabina war überglücklich. Sie konnte es nicht fassen, dass er, der Regisseur Finley Connor, es so gut fand. Sie hatte Zweifel, weil sie es zu sexistisch einschätzte und die Befürchtung hatte, dass das Buch höchstens als Vorlage für einen Sexfilm ausreichte. Offenbar hatte sie sich geirrt und sie war sehr froh darüber, nicht in dieser Kategorie gelandet zu sein. Dennoch hatte sie keine Vorstellung, wie ein Drehbuch aussah. In ihrem Kopf war die Verfilmung schon komplett fertig. Aber wie kommt das, was in ihrem Kopf war, auf Celluloid?
„Ich habe mit dem Drehbuch begonnen. Leider bin ich doch noch nicht ganz fertig geworden. Aber ich möchte dich bitten, das was fertig ist, zu lesen und mir deine Meinung zu sagen. Noch können wir Änderungen einbauen.“
„Super. Ich bin gespannt, wie ein Drehbuch aussieht“, antwortete sie.
Damit waren die Weichen gestellt.
Er reichte ihr das Drehbuch und sie begann die ersten Seiten zu lesen, während Connor am Computer das Drehbuch zu Ende schrieb.
Am Nachmittag stellte Finley Sabina dem restlichen Team vor. Nicht alle waren gekommen, erklärte er, was an dem Sonntag lag. Sie waren ein kunterbunter Haufen völlig verschiedener Charaktere. Finley meinte, dass die Vielfalt die Ideen sprießen lasse. Jeder hatte unterschiedliche Vorschläge, die ein Regisseur zu einem Ganzen zusammenfügen konnte. So wurden Kinofilme gemacht. Aber eine vernünftige Grundlage, die Vorstellungskraft der Regieleute und die Umsetzung durch die Schauspieler, machten einen guten Film letztlich aus. Teamwork war am Set unerlässlich. Dazu kam ein Stab an Designern, Dekorateure, Kosmetiker und Friseure, Ausstatter, Bühnenbauer und die Kamera- und Tonleute. Hinter den Kulissen waren weitere Unsichtbare, die den Ablauf überwachten, den Film zurechtschnitten und die Musiker, die so manchen Gruselfaktor vertonten und die Spannung untermalten und sogar erhöhten. Die Anzahl der Akteure hinter der Kamera variierte je nach Thema, Ort der Handlung und welche Stars aufwarteten. Finley Connor hatte ein festes Team, das immer zusammenarbeitete. Sie lenkten und leiteten die anderen Mitarbeiter, die am Set benötigt wurden. Sie waren der Puffer zur Regie, das Sprachrohr zwischen Produktion, Aufnahme und Fertigstellung. Diese Leute wechselten sehr oft und mussten von Film zu Film neu eingewiesen und dirigiert werden. Manche wechselten während eines Drehs, was zu Unstimmigkeiten führen konnte. Das wollte Finley Connor durch eine feste Grundmannschaft abfedern. Er zog es vor, ein kleines festes Team zu haben, dessen Arbeitsweise er kannte und die er einschätzen konnte und die in der Lage waren, den anderen mitzuteilen, was gewünscht oder gefordert wurde.
Am Abend gingen Sabina Jacobi, Finleys Connor mit einigen Mitarbeitern gemeinsam in einem chinesisches Restaurant am Leicester Square essen. Bei dem Essen wurde natürlich über den Film gesprochen. Es war viel Arbeit im Vorfeld zu tun. Es wurde über das Werbeplakat gesprochen. Ein Spot für die Vorankündigung musste her und das Casting war terminiert. Finley Connor wollte auf die Vorschläge seines Teams zurückgreifen und kündigte ein gemeinsames Gespräch an, bei dem Vorschläge für die Hauptdarsteller gemacht werden sollte. Nach dem Essen, gingen alle ihre eigenen Wege und verabschiedeten sich von Sabina und Finley.
Nach dem Abendessen hatten Sabina Jacobi und Finley Connor noch eine ganze Weile mit einem Wein allein dagesessen. Susan war ebenso schnell verschwunden, wie die anderen. Sie sagte, sie wolle sich dem Skript widmen und Marc Winslow bot ihr an, sie nach Hause zu fahren.
Der Ablauf der kommenden Tage war durchorganisiert und würde jeden einzelnen im Team fordern, welches bei dieser Vorlage zahlenmäßig geringer ausfiel, als bei einem Außendreh. Man war unabhängig vom Wetter, was ein unglaublicher Vorteil war. Drehtage wurden nicht durch Regenwetter beeinträchtigt oder mussten ganz ausfallen. Ein wichtiger Aspekt, der die Produktionskosten niedrig hielt und das gesamte Vorhaben attraktiver erscheinen ließ. Sabina würde sich mit Finley über die Farben der Kostüme und Inneneinrichtung unterhalten und sogar dabei sein, wenn die Schauspieler ausgewählt wurden. Der Ort der Handlung für die wenigen Außenaufnahmen, war festgelegt. Es würde der Eingang zum Theater der Royal Shakespeare Company im Barbican Arts Centre werden. Alle Innenaufnahmen konnten im Studio gedreht werden. Die passende Kulisse wurde schon von Handwerkern geschreinert und in einem Studio vorbereitet. Die Wege zwischen den Außenbereichen und den Innenbereichen konnten gering gehalten werden und die Technik brauchte nicht über weite Strecken transportiert zu werden.
Ihr Buch eignete sich hervorragend für die Bühne. Das Bühnenbild war in gewisser Weise einfach und brauchte kaum verändert werden.
Aber als erstes wollte Finley mit Sabina in sein Haus. Er hatte ein Gästezimmer, das schon auf sie wartete. Und sie sollte sich so einrichten, dass sie sich wohl fühlte für die Zeit, die sie bei ihm wohnen würde.
„Ich habe eine liebe Haushälterin, Eleanor. Eine ältere Dame, die sich zu Hause langweilt und mir dann und wann nach Absprache etwas im Haushalt hilft. Kurz: sie hält meinen Singlehaushalt in erträglichen Grenzen.“ Dabei lächelte er ein charmantes Lächeln und erklärte. „Sie hat mir versichert, dass sie heute das Zimmer für dich herrichten wollte. Ich glaube, du wirst dich wohl fühlen“, sagte er zu Sabina und sie freute sich, dass sie bei ihm wohnen durfte. So nah bei ihrem Regisseur. Das war ein Abenteuer, das sie nicht zu hoffen gewagt hatte und jetzt war sie mittendrin. Mitten in einem wahrgewordenen schönen Traum. Bitte weckt mich bloß nicht, dachte sie immer wieder.
Er zahlte das Essen und die Getränke. Als sie das Lokal verließen, hatte die Nacht mit einer grandiosen Abenddämmerung, die Oberhand über den Tag erlangt. Zwischen den Regenwolken konnte man die Sonne rotviolett leuchten sehen und die angestrahlten Wolken sahen aus, wie riesige Tiere aus Watte, die immer wieder ihre Form veränderten. Allmählich wurden Sterne sichtbar und eine Mondsichel leuchtete zwischen zwei Wolkentürmen in die kommende Dunkelheit.
Finley führte Sabina durch Londons Straßen bis zu seinem Auto. Sie stiegen in einen großen schwarzen Volvo C90 und Sabina nahm auf der linken Seite platz. In Deutschland würde sie jetzt auf der Fahrerseite sitzen. Es war ein komisches Gefühl auf der verkehrten Seite zu sitzen.
Sie tauchten in die nächtlichen Straßen Londons ein. Die Sonne war inzwischen vollständig untergegangen und war nur noch als ein schmaler Lichtschein am Horizont zu erahnen. Es ging in Richtung Südwesten aus London heraus. Die Landschaft wurde unbewohnter, was Sabina an den wenigen Lichtern der Häuser erkennen konnte. Es war noch nicht so spät, dass die Menschen schon zu Bett gingen. Die Straße schlängelte sich durch kleine Ortschaften und zog sind wellenförmig über das Gelände. Der Verkehr ließ immer mehr nach und nur wenige Fahrzeuge kamen ihnen noch entgegen.
„Wir sind gleich da, dann kannst du dich frisch machen“, sagte Finley und bog von der Hauptstraße in eine Straße ein, die zu seinem Haus führte. Sabina konnte ein Straßenschild lesen auf dem Guildford Road stand. Hinter einer Hügelkette konnte man die Lichter Londons vermuten, die einen Lichtschein in den Nachthimmel warfen. Einige Kilometer weiter, erreichten sie eine Kreuzung. Finley fuhr in eine schmale Straße, die Hollow Lane hieß und deren Name auf einem Holzschild angekündigt war. Eine Straßenbeleuchtung gab es hier nicht. Finley lenkte den Volvo eine Steigung hinauf.
Direkt hinter der Kuppe des Hügels blinkten viele Lichter. Eine kleine Kreuzung, von der kleine Waldwege abgingen, schien eingerahmt von den Polizeifahrzeugen. Sie standen am Straßenrand und zwischen Büschen und Bäumen. Hier kamen sie nicht mehr weiter. Ein Polizeibeamter verweigerte ihnen die Weiterfahrt.
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