Der Ruf der Wellen - Nora Roberts - E-Book

Der Ruf der Wellen E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Die klaren Wasser der Karibik können tödlich sein …

Die junge Meeresarchäologin Tate und der Taucher Matthew haben eine gemeinsame Leidenschaft: die Suche nach verborgenen Schätzen. In den türkisfarbenen Wellen der Karibik wollen sie in einem Wrack ein geheimnisvolles Amulett finden, dem magische Kräfte zugeschrieben werden. Doch ein schrecklicher Unfall zerstört ihre aufkeimende Liebe. Jahre später begegnen sie sich wieder, und noch einmal tauchen sie gemeinsam ab – in gefährliche Gewässer und widersprüchliche Gefühle …

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Seitenzahl: 735

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Das Buch

James Lassiter hatte fast sein ganzes Leben damit verbracht, nach Schätzen zu tauchen, die das Meer in seinen unergründlichen Tiefen versteckt hielt. Seine Leidenschaft hatte ihm zwar seine Frau genommen, ihm aber auch seinen Sohn Matthew geschenkt. Am Ende bezahlte er sie mit seinem Leben. Bei einem Tauchgang zu einem Wrack vor der Küste Australiens ermordete ihn sein gieriger Begleiter, Silas VanDyke, da dieser befürchtete, Lassiter würde ihm bei der Bergung eines geheimnisumwitterten Amuletts zuvorkommen.

Acht Jahre später setzen Matthew und sein Onkel Buck noch immer alles daran, das Schmuckstück zu finden, und sich an VanDyke zu rächen. Gemeinsam mit Ray Beaumont und dessen hübscher Tochter Tate machen sie sich auf die Suche nach dem Amulett. Während sich Matthew und Tate unter den sanften Wogen des Ozeans immer näher kommen, entdecken sie auf einem spanischen Wrack reiche Schätze.

Doch dann geschieht ein schrecklicher Unfall, und mit einem Schlag ist alles verloren, die Liebe zwischen Matthew und Tate scheint zerbrochen. Ein neuer Sieg für Silas VanDyke?

Jahre später wagen Matthew, Buck und die Beaumonts einen letzten Versuch...

Die Autorin

Nora Roberts zählt zu den erfolgreichsten Autorinnen Amerikas. Seit 1981 hat sie über 100 Romane veröffentlicht, die in knapp 30 Sprachen übersetzt wurden. Für ihre internationalen Bestseller erhielt sie nicht nur zahlreiche Auszeichnungen, sondern auch die Ehre, als erste Frau in die Ruhmeshalle der Romance Writers of America aufgenommen zu werden. Nora Roberts lebt in Maryland.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDie AutorinWidmungERSTER TEIL - Vergangenheit
PrologErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes Kapitel
ZWEITER TEIL - Gegenwart
Erstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes Kapitel
DRITTER TEIL - Zukunft
Erstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes Kapitel
Copyright

Ruth Langan und Marianne Willman gewidmet, für die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft

ERSTER TEIL

Vergangenheit

Die Gegenwart birgt nicht mehr als die Vergangenheit, was sich in der Wirkung zeigt, ist in der Ursache längst angelegt.

HENRI BERGSON

Prolog

James Lassiter war vierzig Jahre alt, athletisch gebaut, attraktiv, stand in der Blüte seiner Jahre und erfreute sich bester Gesundheit.

Eine Stunde später sollte er tot sein.

Vom Deck des Bootes aus sah er nichts als klare, blaue Wellen und die leuchtenden Grün- und tiefen Brauntöne des großen Riffs, das unter der Oberfläche des Korallenmeeres wie Inseln schimmerte. Weiter im Westen hoben und senkten sich perlende Schaumkronen in der Brandung und brachen sich an den vorgelagerten Korallenbänken.

Von seiner Position auf der Backbordseite aus beobachtete Lassiter die Formen und Schatten der Fische, die sich wie lebendige Pfeile durch jene Welt bewegten, für die er genauso geboren war wie sie. Die Küste Australiens konnte er in der Ferne nur ahnen, um ihn herum gab es nichts als die Weite des Ozeans.

Es war ein wunderschöner Tag, das glasklare Wasser schimmerte, hin und wieder durchbrochen von hellen, golden glänzenden Lichtstrahlen, der Wind wehte sanft, und am Himmel war nicht eine einzige dunkle Wolke zu sehen.

Unter Lassiters Füßen schwankte das Deck sanft auf der ruhigen See. Kleine Wellen schlugen rhythmisch gegen den Schiffskörper. Und unten, sehr tief unten, lag ein Schatz, der nur darauf wartete, entdeckt zu werden.

Zurzeit arbeiteten sie am Wrack der Sea Star, einem britischen Handelsschiff, das zwei Jahrhunderte zuvor am Great Barrier Reef gesunken war. Seit über einem Jahr schufteten sie nun, nicht selten bis zur Erschöpfung und nur von Schlechtwetterpausen, Geräteausfall und ähnlichen Widrigkeiten unterbrochen, um die Schätze ans Tageslicht zu bringen, die ihnen die Star hinterlassen hatte.

Dabei war James durchaus klar, dass es noch andere Schätze gab. Seine Gedanken verließen die Sea Star und das atemberaubende und zugleich gefährliche Riff und schweiften weiter nach Norden zu den sanften Gewässern der Westindischen Inseln. Zu einem anderen Wrack, einem anderen Schatz.

Zum Fluch der Angelique.

James fragte sich, ob es tatsächlich das mit Juwelen besetzte Amulett war, auf dem der Fluch lag, oder nicht vielmehr die Frau, die Hexe Angelique, deren Macht – so hieß es – immer noch an den Rubinen, den Diamanten und dem Gold haftete. Die Legende besagte, dass sie dieses Geschenk ihres Ehemannes, den sie angeblich ermordet hatte, an dem Tag getragen hatte, als sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.

Die geheimnisvolle Geschichte um die Frau und das Schmuckstück faszinierte ihn. Die Suche nach dem Amulett, die in Kürze beginnen sollte, hatte für ihn eine persönliche Bedeutung. Es ging ihm dabei nicht allein um Reichtum und Ruhm, sondern vielmehr um den Fluch der Angelique und die damit verbundene Legende.

James Lassiter war mit der Schatzsuche, den Geschichten über gesunkene Schiffe und der Beute, die das Meer versteckt hielt, groß geworden. Sein ganzes Leben lang war er getaucht, und schon immer hatten sich seine Träume um diese Themen gedreht. Sie hatten ihm seine Frau genommen und ihm einen Sohn geschenkt.

Er wandte sich von der Reling ab, um Matthew zu betrachten. Der Junge war inzwischen fast sechzehn und sehr groß, aber sein Körper würde sicher noch kräftiger werden. In der schmalen, sehnigen Gestalt erkannte James vielversprechende Anlagen. Matthew hatte das gleiche eigenwillige Haar wie sein Vater, allerdings weigerte sich der Junge standhaft, es kurz schneiden zu lassen, sodass einige Strähnen jetzt, während Matthew die Tauchausrüstung überprüfte, wie ein Vorhang vor sein Gesicht fielen.

Er hatte in den letzten ein oder zwei Jahren seine kindliche Rundlichkeit verloren und mehr Konturen bekommen. Ein Engelsgesicht, hatte eine Kellnerin früher einmal gesagt und den Jungen damit dermaßen in Verlegenheit gebracht, dass er rot anlief und eine Grimasse schnitt.

Inzwischen wirkte er recht verwegen, und die blauen Augen, die er von James geerbt hatte, blickten häufiger wütend als gelassen drein. Das Temperament der Lassiters und das fast schon sprichwörtliche Pech der Lassiters, dachte James mit einem Kopfschütteln. Kein leichtes Erbe für einen heranwachsenden Jungen.

Eines Tages, überlegte er, vielleicht schon sehr bald, würde er endlich dazu in der Lage sein, seinem Sohn all das zu geben, wovon sein eigener Vater geträumt hatte. Und der Schlüssel dazu wartete geduldig in den tropischen Meeren der Westindischen Inseln.

Eine unbezahlbare Halskette aus Rubinen und Diamanten, mit einer Geschichte behaftet, mit einer Legende belastet und mit Blut befleckt.

Den Fluch der Angelique.

James’ Mund verzog sich zu einem dünnen Lächeln. Sobald er das Amulett in seinen Besitz gebracht hatte, würde das Pech, das die Lassiters so lange verfolgt hatte, enden. Er brauchte lediglich ein wenig Geduld.

»Beeil dich mit den Sauerstoffflaschen, Matthew. Es wird langsam spät.«

Matthew blickte auf und strich sich die Ponyfransen aus den Augen. Hinter dem Rücken seines Vaters stieg gerade die Sonne auf. Mit diesen Strahlen im Hintergrund sieht er aus wie ein König, der sich für die Schlacht bereitmacht, dachte Matthew. Wie immer überwältigten ihn Liebe und Bewunderung und erschreckten ihn in ihrer Intensität.

»Ich habe deinen Druckmesser ausgewechselt. Den alten will ich mir mal genauer ansehen.«

»Du passt wirklich gut auf deinen Alten Herrn auf.« James legte Matthew einen Arm um den Hals und deutete spielerisch einen Ringkampf an. »Heute hole ich dir ein Vermögen nach oben.«

»Lass mich mit dir tauchen! Ich möchte heute an VanDykes Stelle die Morgenschicht übernehmen.«

James unterdrückte einen Seufzer. Matthew war noch nicht imstande, seine Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Ganz besonders nicht, wenn es sich um Aversionen handelte. »Du weißt doch, in welchen Teams wir zusammenarbeiten. Du und Buck, ihr taucht heute Nachmittag, VanDyke und ich machen die Morgenschicht.«

»Ich will nicht, dass du mit ihm runtergehst.« Matthew schüttelte den Arm seines Vaters ab. »Ich habe mitbekommen, wie ihr beide euch gestern Abend gestritten habt. Er hasst dich, das habe ich an seiner Stimme gehört.«

Dieses Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit, dachte James, aber er zwinkerte seinem Sohn zu. »Missverständnisse kommen zwischen Partnern nun einmal vor. Das Entscheidende ist, dass VanDyke den Großteil des Geldes bereitstellt. Soll er doch seinen Spaß haben, Matthew. Für ihn ist diese Schatzsuche nicht mehr als der Zeitvertreib eines gelangweilten, reichen Geschäftsmannes.«

»Er kann ums Verrecken nicht tauchen.« In Matthews Augen war dies ein Kriterium, an dem die Qualitäten eines Mannes gemessen wurden.

»Er ist gut genug, nur mangelt es ihm in vierzig Fuß Tiefe ein wenig an Stil.« James hatte keine Lust, die Auseinandersetzung fortzusetzen, und zog seinen Neoprenanzug an. »Hat Buck sich den Kompressor angesehen?«

»Ja, er hat den Fehler repariert. Dad –«

»Lass gut sein, Matthew.«

»Nur dieses eine Mal.« Sein Sohn blieb hartnäckig. »Ich traue diesem verweichlichten Idioten nicht.«

»Deine Ausdrucksweise lässt immer mehr zu wünschen übrig.« Silas VanDyke, trotz der heißen Sonne gepflegt und blass wie stets, kam lächelnd hinter Matthews Rücken aus der Kabine. Es amüsierte und ärgerte ihn gleichzeitig, dass der Junge höhnisch zurückgrinste. »Dein Onkel braucht dich unter Deck, Kleiner.«

»Heute will ich mit meinem Vater tauchen.«

»Tut mir Leid, das passt mir gar nicht. Wie du siehst, habe ich meinen Taucheranzug bereits an.«

»Matthew!« In James’ Stimme schwang ein ungeduldiger Befehlston mit. »Sieh nach, was Buck von dir will.«

»Jawohl, Sir.« Mit trotzigem Blick verschwand Matthew unter Deck.

»Der Junge hat die falsche Einstellung und unmögliche Manieren, Lassiter.«

»Der Junge kann Sie auf den Tod nicht ausstehen«, erwiderte James belustigt. »Ich würde sagen, damit beweist er einen gesunden Instinkt.«

»Diese Expedition neigt sich ihrem Ende zu«, konterte VanDyke, »genau wie meine Geduld und meine Großzügigkeit. Ohne mich wären Sie innerhalb einer Woche pleite.«

»Vielleicht.« James zog den Reißverschluss seines Anzugs hoch. »Vielleicht aber auch nicht.«

»Ich will das Amulett, Lassiter. Sie wissen, dass es da unten liegt, und ich bin davon überzeugt, Sie wissen genau, wo. Ich will es! Ich habe dafür bezahlt, und ich habe für Sie bezahlt.«

»Sie haben für meine Zeit und für mein Können bezahlt, nicht für mich. Die Regeln bei einer Bergung sind eindeutig, VanDyke. Wer den Fluch der Angelique findet, ist sein rechtmäßiger Besitzer.« Und ganz bestimmt würde er nicht auf der Sea Star gefunden werden, so viel stand fest. Er stieß VanDyke leicht mit der Hand vor die Brust. »Und jetzt gehen Sie mir aus dem Weg.«

Jene Beherrschung, die er auch in Vorstandssitzungen an den Tag legte, hielt VanDyke davon ab zuzuschlagen. Er gewann seine Machtkämpfe grundsätzlich mit Geduld, Geld und Überlegenheit. Geschäftlicher Erfolg, das wusste er, war ganz einfach eine Frage der Beherrschung.

»Wenn Sie mich zu hintergehen versuchen, werden Sie es bereuen.« Sein Tonfall klang jetzt sanft, und der schwache Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen. »Das verspreche ich Ihnen.«

»Zur Hölle, Silas, wie ich diese Situation genieße!« Leise lachend, betrat James die Kabine. »Lest ihr Jungs dort unten Schundhefte, oder was? Lasst uns loslegen.«

Mit ein paar schnellen Bewegungen prüfte VanDyke oben die Sauerstoffflaschen. Das Ganze war schließlich nur ein Geschäft. Als die Lassiters an Deck kamen, legte er gerade seine eigene Ausrüstung an.

Die drei waren ihm abgrundtief unterlegen, dachte VanDyke bei sich. Offensichtlich hatten sie vergessen, wer und was er war. Er war ein VanDyke, und er hatte immer bekommen, verdient oder sich genommen, wonach ihm gerade der Sinn stand. Und er hatte vor, so lange auf diese Art zu verfahren, wie er davon profitierte. Glaubten die drei allen Ernstes, dass es ihm etwas ausmachte, wenn sie sich gegen ihn zusammentaten und ihn ausgrenzten? Es war wirklich höchste Zeit, sie loszuwerden und sich ein neues Team zu kaufen.

Buck, sinnierte er, dieser rundliche Kerl, dessen Haar sich bereits lichtete, wirkte wie ein schwacher Abklatsch seines attraktiven Bruders. Treu wie ein Welpe – und genauso intelligent.

Matthew war noch ein Junge, eifrig, dreist und trotzig. Ein verhasster kleiner Wurm, den VanDyke mit Vergnügen zertreten würde.

Und dann war da natürlich James, hart und wesentlich gerissener, als VanDyke es ihm zugetraut hätte. Nicht nur jemand, den er ausnutzen konnte. Der Mann bildete sich offenbar allen Ernstes ein, er könnte Silas VanDyke überlisten.

James Lassiter glaubte doch tatsächlich, er könnte den Fluch der Angelique finden und behalten, jenes legendäre Amulett, dem so viel Macht nachgesagt wurde. Von einer Hexe getragen und von vielen heiß begehrt. Und dieser Wunsch hatte ihn leichtsinnig gemacht. Doch VanDyke hatte Zeit, Geld und Mühe investiert, und er pflegte keine unprofitablen Investitionen zu tätigen.

»Heute lohnt sich die Jagd.« James schnallte seine Sauerstoffflaschen fest. »Ich rieche es förmlich. Silas?«

»Ich bin bereit.«

James sicherte seinen Bleigürtel, setzte die Tauchermaske auf und rollte sich ins Wasser ab.

»Dad, warte –«

Aber James hob nur zum Abschied den Arm und verschwand unter der Wasseroberfläche. Die Welt unter ihm war still und großartig. Das Blau des Meeres wurde von Sonnenstrahlen durchbrochen, die klar und weiß schimmernd durch die Oberfläche drangen. Höhlen und Festungen aus Korallen wurden sichtbar, die eigene geheime Welten bildeten.

Ein Riffhai mit gelangweilt dreinschauenden, schwarzen Augen bog ab und glitt durch das Wasser davon.

Hier fühlte sich James weit mehr zu Hause als an der Luft, und er tauchte, gefolgt von VanDyke, immer tiefer. Das Wrack war bereits weitgehend freigelegt, von Gräben umgeben und seiner Schätze beraubt. Korallen überzogen den zerborstenen Bug und verwandelten das Holz in ein Phantasiegebilde aus Farben und Formen, die mit Amethysten, Smaragden und Rubinen besetzt schienen.

Vor ihm lag ein lebendiger Schatz, ein Kunstwerk, entstanden aus Meerwasser und Sonne.

Es war immer wieder ein Vergnügen, es zu betrachten.

Als sie mit der Arbeit begannen, fühlte sich James immer wohler. Das Schicksal der Lassiters hatte sich gewendet, dachte er verträumt. Schon bald würde er reich und berühmt sein. Er lächelte in sich hinein. Nach langen Bemühungen war er endlich über den entscheidenden Hinweis gestolpert, nachdem er Tage und Stunden damit zugebracht hatte, die Spur des Amuletts zu verfolgen und Stück für Stück aneinander zu fügen.

Dieses Arschloch VanDyke tat ihm fast ein wenig leid, denn am Ende würden die Lassiters das Amulett finden, in anderen Gewässern, auf ihrer eigenen Expedition.

James ertappte sich plötzlich dabei, wie er nach einer Koralle griff, um sie wie eine Katze zu streicheln. Er schüttelte ein paarmal den Kopf hin und her, wurde aber das benommene Gefühl nicht los. Eine Alarmglocke schrillte in einem Teil seines Gehirns, weit entfernt und sehr schwach. Als erfahrener Taucher kannte er die Anzeichen. Ein- oder zweimal hatte er bereits die ersten Symptome eines Stickstoffkollapses erlebt, allerdings noch nie in einer derart geringen Tiefe. Sie hatten noch keine dreißig Meter erreicht.

Dennoch klopfte er an seine Sauerstoffflaschen. VanDyke beobachtete ihn, er wirkte hinter seiner Maske kühl und abschätzend. James gab das Zeichen zum Auftauchen. Als VanDyke ihn wieder nach unten zog und auf das Wrack zeigte, war er nur leicht irritiert. Nach oben, signalisierte er noch einmal, aber wieder hielt VanDyke ihn zurück.

James geriet nicht in Panik. Er war kein Mann, der schnell panisch wurde. Er wusste allerdings, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, obwohl er keine klaren Gedanken fassen konnte. In dieser Welt war VanDyke ein Amateur, machte er sich bewusst, er kannte das Ausmaß der Gefahr nicht, also würde er, James, wohl deutlicher werden müssen. Er kniff die Augen zusammen, holte aus, verfehlte jedoch mit seiner Hand VanDykes Luftschlauch.

Der Überlebenskampf unter Wasser spielte sich langsam ab, verbissen und unheimlich ruhig. Fische stoben wie Bahnen bunter Seidenstoffe auseinander, dann versammelten sie sich wieder, um das dramatische Schauspiel zwischen Jäger und Gejagtem zu verfolgen. James spürte, wie sein Bewusstsein schwand, ihm wurde übel, und er verlor zunehmend die Orientierung, während immer mehr Stickstoff in seinen Körper hineingepumpt wurde. Er kämpfte dagegen an, und es gelang ihm, sich ein Stück in Richtung Wasseroberfläche zu bewegen.

Dann aber vergaß er, warum er überhaupt fortwollte. Er begann zu lachen. Luftblasen drangen aus seinem Mund, als ihn der Tiefenrausch überwältigte. Er umarmte VanDyke in einem langsam kreisenden Tanz, wollte ihn an seiner Begeisterung teilhaben lassen. Es war so schön hier, umgeben von goldenem und blauem Licht, Edelsteinen und Juwelen in tausend unbeschreiblichen Farben, die nur darauf warteten, geerntet zu werden.

Er war dazu geboren, in diesen Tiefen zu tauchen.

Schon bald sollte James’ Begeisterung der Bewusstlosigkeit weichen. Und dann einem ruhigen, erlösenden Tod.

Als James’ Körper zu zucken begann, streckte VanDyke die Hand nach ihm aus. Der Mangel an Koordination war ein weiteres Symptom. Eins der letzten. Mit einer ausholenden Bewegung löste VanDyke den Luftschlauch. James blinzelte noch einmal verwundert und erstickte.

Erstes Kapitel

Schätze. Golddublonen, Pesostücke. Mit ein wenig Glück konnte man sie einfach vom Meeresgrund ernten wie Pfirsiche von einem Baum. Zumindest, dachte Tate beim Tauchen, behauptete das ihr Vater.

Doch ihr war klar, dass man dazu eine Menge mehr benötigte als Glück, so viel hatte sie in ihrer bereits zehn Jahre währenden Tauchkarriere längst gelernt. Man brauchte außerdem noch Geld, Zeit und viel Geduld, ganz zu schweigen von der notwendigen Erfahrung, monatelanger Recherche und natürlich der richtigen Ausrüstung.

Doch während sie durch das kristallklare Wasser der Karibik auf ihren Vater zuschwamm, war sie durchaus bereit, sich auf das Spiel einzulassen.

Schließlich fand sie es keineswegs unangenehm, den Sommer ihres zwanzigsten Lebensjahres an der Küste von Saint Kitts zu verbringen und in dem wunderbar warmen Wasser mit seinen bunt schillernden Fischen und Korallenskulpturen in sämtlichen Farben des Regenbogens zu tauchen. Jedem Tauchgang ging eine ganz besondere Vorfreude voraus. Was mochte sich unter dem weißen Sand verbergen, versteckt unter grünen Fächern und Seegras, vergraben unter fein gewundenen Korallenformationen?

Es ging ihr nicht um den Schatz, das hatte sie erkannt, es war die Jagd, die sie faszinierte.

Und hin und wieder hatten sie tatsächlich Glück. Tate erinnerte sich noch gut an das erste Mal, als sie im Sand einen Silberlöffel entdeckt hatte. An die Überraschung und die Begeisterung, mit der sie den schwarz angelaufenen Gegenstand in der Hand hielt und sich fragte, wer damit wohl seine Suppe gegessen hatte. Vielleicht der Kapitän einer reich beladenen Galeone? Oder die Dame des Kapitäns?

Sie dachte an den Tag, als ihre Mutter geduldig an einer Formation herumgehämmert hatte, die im Laufe der Jahrhunderte durch chemische Reaktionen unter Wasser entstanden war. Dachte an den Aufschrei und dann an das glückliche Lachen, als Marla Beaumont einen goldenen Ring freilegte.

Diese gelegentlichen Glückstreffer erlaubten es den Beaumonts, sich mehrere Monate im Jahr der Jagd nach mehr zu widmen, nach mehr Glück, nach weiteren Schätzen.

Während sie Seite an Seite nebeneinander herschwammen, berührte Raymond Beaumont seine Tochter am Arm und zeigte auf eine Schildkröte, die träge an ihnen vorbeipaddelte.

Das Lachen in den Augen ihres Vaters sagte alles. Sein Leben lang hatte er hart gearbeitet, jetzt genoss er die Früchte seiner Mühen. Tate bedeuteten Augenblicke wie dieser mehr als alles andere.

Gemeinsam schwammen sie weiter, verbunden durch ihre Liebe zum Meer, zu seiner Stille, seinen Farben. Ein Schwarm von Fischen mit glänzenden schwarzen und goldenen Streifen schwamm vorbei. Aus purem Übermut vollzog Tate eine langsame Rolle und sah direkt in das Sonnenlicht, das sich über ihr an der Wasseroberfläche brach. Aus ihrer Kehle drang ein Lachen, das sich in tausend Luftbläschen auflöste und einen vorwitzigen Zackenbarsch verschreckte.

Sie tauchte tiefer, folgte den zielstrebigen Bewegungen ihres Vaters. Unter dem Sand lagen unzählige Geheimnisse, unter jeder Erhebung konnte sich das Silber eines Piraten verbergen. Tate rief sich in Erinnerung, dass sie weniger nach den fächerförmigen Unterwasserpflanzen oder den Korallenkämmen Ausschau halten sollte als vielmehr nach möglichen Hinweisen auf versunkene Schätze.

Sie befanden sich in den sanften Gewässern der Westindischen See, auf der Suche nach dem Traum eines jeden Schatzsuchers. Ein unberührtes Wrack, auf dem der Legende nach der Schatz eines Königs verborgen lag. Bei diesem ersten Tauchgang wollten sie sich zunächst einmal mit jenem Gebiet vertraut machen, das sie bereits in Büchern, auf Seekarten und Skizzen eingehend studiert hatten. Sie würden die Strömungen erkunden, die Gezeiten kalkulieren. Und vielleicht – ganz vielleicht – würden sie Glück haben.

Tate wandte sich einem Sandhügel zu und begann, schnell mit der Hand zu fächern. Ihr Vater hatte ihr diese einfache Methode gezeigt, als sie noch ein kleines Mädchen war und ihn mit ihrer grenzenlosen Begeisterung für sein neues Hobby, das Tiefseetauchen, überraschte.

Im Laufe der Jahre hatte er ihr noch viel mehr beigebracht. Den Respekt vor dem Meer und allem, was darin lebte. Und vor dem, was dort versteckt lag. Tates größte Hoffnung bestand darin, eines Tages etwas für ihn zu finden.

Sie sah ihn an, beobachtete, wie er einen niedrigen Korallenkamm untersuchte. Sooft er auch von Schätzen, die von Menschenhand gemacht waren, träumte, so sehr liebte Raymond Beaumont doch die Kunstwerke, die das Meer schuf.

Da Tate nichts unter dem Hügel entdeckte, schwamm sie weiter auf der Suche nach einer besonders hübsch gestreiften Muschel. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ein dunkler Schatten schnell und geräuschlos auf sie zusteuerte. Tates erster, lähmender Gedanke galt einem Hai, und ihr Herz setzte einen Moment lang aus. Wie sie es gelernt hatte, griff sie mit einer Hand nach ihrem Tauchermesser und machte sich bereit, sich selbst und ihren Vater zu verteidigen.

Doch dann entpuppte sich der Schatten als Taucher. Er mochte geschmeidig und schnell wie ein Hai sein, aber es war eindeutig ein Mann. Erleichtert stieß Tate einen Strudel von Luftbläschen aus, bevor sie daran dachte, ihren Atem wieder zu regulieren. Der Taucher gab erst ihr und dann dem Mann, der hinter ihm schwamm, ein Handzeichen.

Kurz darauf befand sich Tate Taucherbrille an Taucherbrille mit einem grinsenden Gesicht. Die Augen des Mannes waren so blau wie die See, die sie umgab. Sein dunkles Haar bewegte sich in der Strömung. Tate erkannte, dass er über sie lachte – zweifellos hatte er ihre Reaktion auf den unerwarteten Besuch richtig gedeutet. In einer beschwichtigenden Geste hob er die Hände, bis sie ihr Messer wieder an der Wade befestigt hatte. Dann zwinkerte er und grüßte lässig zu Ray hinüber.

Während dieser stummen Begrüßung studierte Tate die Neuankömmlinge eingehend. Ihre Ausrüstung war solide und wies alles auf, was ein Wracktaucher brauchte – einen Beutel für eventuelle Funde, ein Messer, einen Kompass am Handgelenk und eine Taucheruhr. Der Mann in dem schwarzen Neoprenanzug war jung und schlank. Er gestikulierte mit breiten Händen. Seine schlanken Finger wiesen die Narben und Verletzungen eines erfahrenen Jägers auf.

Der zweite Mann hatte eine Glatze und war um die Taille ziemlich rundlich, unter Wasser bewegte er sich jedoch so wendig wie ein Fisch. Tate musste feststellen, dass er mit ihrem Vater zu einer stillschweigenden Übereinkunft gelangt war. Sie wollte protestieren. Immerhin war das hier ihr Gebiet, sie waren zuerst da gewesen.

Aber sie konnte nichts anderes tun, als die Stirn runzeln, während ihr Vater mit zwei Fingern das Okay-Zeichen machte. Dann verteilten sich alle vier, um die Gegend zu erkunden.

Tate arbeitete sich zu einem neuen Hügel vor, um dort weiterzusuchen. Den Recherchen ihres Vater zufolge waren im Hurrikan vom 11. Juli 1733 vier Schiffe der spanischen Flotte nördlich von Nevis und Saint Kitts gesunken. Zwei von ihnen, die San Cristobal und die Vaca, waren bereits ein paar Jahre zuvor in der Bucht von Dieppe gefunden und geborgen worden, doch die Santa Marguerite und die Isabella lagen weiterhin unentdeckt und unberührt auf dem Meeresgrund.

Den Schiffsdokumenten und Manifesten war zu entnehmen, dass diese Schiffe weit mehr als bloß eine Ladung Zucker von den Inseln transportiert hatten. Offenbar hatten sich Juwelen, Porzellan und über zehn Millionen Pesos in Gold und Silber an Bord befunden. Und erfahrungsgemäß hatten Passagiere und Seeleute damals obendrein ihre privaten Reichtümer auf dem Schiff versteckt.

Demnach mussten beide Wracks voller alter Kostbarkeiten sein, und ihre Entdeckung würde darüber hinaus zu den großen Funden dieses Jahrhunderts zählen.

Da Tate weiter nichts von Interesse fand, steuerte sie in Richtung Norden. Die Nähe der anderen Taucher schärfte ihren Blick und ihren Instinkt. Ein Schwarm hell leuchtender Fische schwamm wie ein perfekt geformtes V um sie herum, ein bunter Farbfleck inmitten der vielen Farben. Glücklich bewegte sie sich hindurch.

Trotz der Anwesenheit der anderen konnte Tate sich an kleinen Dingen erfreuen. Sie suchte unermüdlich weiter, fächerte Sand beiseite und studierte mit Begeisterung die Fische.

Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Stück Felsen, aber ihre Erfahrung ließ sie direkt darauf zusteuern. Sie war nur noch einen Meter entfernt, als plötzlich eine Gestalt an ihr vorbeiglitt. Verärgert musste Tate zusehen, wie jemand mit einer vernarbten, langgliedrigen Hand nach dem vermeintlichen Felsstück griff.

Idiot, dachte sie und wollte gerade wenden, als sie erkannte, was der Taucher da in der Hand hielt. Es war kein einfaches Stück Fels, sondern der verkrustete Griff eines Schwerts, das er aus den Fängen der See befreit hatte. Er grinste unter seinem Mundstück und schwenkte triumphierend seine Beute.

Obendrein besaß er auch noch die Dreistigkeit, damit zu salutieren und ein Muster durch das Wasser zu schneiden. Als er sich in Richtung Oberfläche bewegte, folgte Tate ihm. Prustend tauchten sie auf.

Sie spuckte ihr Mundstück aus. »Ich habe es zuerst gesehen!«

»Das glaube ich kaum.« Immer noch grinsend, hob der Taucher seine Maske an. »Auf jeden Fall warst du zu langsam. Wer etwas findet, darf es behalten.«

»Die goldenen Regeln der Bergung«, sagte sie und bemühte sich, gelassen zu wirken. »Du hast in meinem Gebiet getaucht.«

»Meiner Ansicht nach befandest du dich in meinem. Vielleicht hast du ja beim nächsten Mal mehr Glück.«

»Tate, Liebling!« Vom Deck der Adventure winkte Marla Beaumont. »Das Essen ist fertig. Bring deinen Freund doch mit an Bord.«

»Wenn es Ihnen keine Umstände macht?« Mit ein paar kräftigen Bewegungen erreichte der Taucher das Heck der Adventure. Klappernd landete der Schwertgriff an Deck, gefolgt von seinen Flossen.

Tate verfluchte den Tag, der eigentlich der Beginn eines wunderbaren Sommers hätte werden sollen, und ging ebenfalls an Bord. Dabei ignorierte sie die ritterlich angebotene Hand und zog sich allein über die Reling. Kurz darauf kamen ihr Vater und der andere Taucher an die Oberfläche.

»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Tates Begleiter fuhr mit einer Hand durch sein nasses Haar und lächelte Marla charmant an. »Matthew Lassiter.«

»Marla Beaumont. Willkommen an Bord.« Tates Mutter strahlte Matthew unter dem breiten Rand ihres geblümten Sonnenhutes an. Sie war eine auffallend schöne Frau mit blasser Haut und einer schlanken Figur, die sie unter einem weiten, fließenden Hemd und großzügig geschnittenen Hosen verbarg. Zur Begrüßung zog sie ihre Sonnenbrille ab. »Wie ich sehe, haben Sie meine Tochter Tate und meinen Mann Ray bereits kennen gelernt.«

»Sozusagen.« Matthew schnallte seinen Bleigürtel ab und legte ihn und die Maske beiseite. »Hübscher Kahn.«

»Oh ja, danke.« Marla sah sich stolz um. Obwohl sie sich für Hausarbeit sonst nicht begeistern konnte, tat sie doch nichts lieber, als die Adventure auf Hochglanz zu halten. »Und das dort drüben ist Ihr Boot?« Sie zeigte zum Bug. »Die Sea Devil.«

Bei dem Namen entfuhr Tate ein Schnauben. Das passt, dachte sie, sowohl zu dem Mann als auch zu seinem Boot. Anders als die Adventure erstrahlte die Sea Devil nicht etwa in ihrem Glanz. Das alte Fischerboot benötigte dringend einen neuen Anstrich und erinnerte aus der Entfernung an eine schwimmende Badewanne auf der strahlend blauen See.

»Nichts Besonderes«, bemerkte Matthew, »aber sie läuft.« Er ging zur Reling und hielt den anderen Tauchern seine Hand hin.

»Gutes Auge.« Buck Lassiter klopfte Matthew auf den Rücken. »Dieser Junge ist mit einer ganz besonderen Gabe gesegnet«, stellte er mit einer Stimme fest, die so rau wie zerbrochenes Glas klang. Dann streckte er etwas verspätet seine Hand aus. »Buck Lassiter, und das ist mein Neffe Matthew.«

Tate ignorierte die Vorstellungszeremonie, verstaute ihre Ausrüstung und stieg aus ihrem Anzug. Während die anderen den Schwertgriff bestaunten, verschwand sie im Deckshaus und ging in ihre Kabine.

An sich war es nicht ungewöhnlich, musste sie zugeben, während sie nach einem übergroßen T-Shirt kramte. Ihre Eltern freundeten sich ständig mit irgendwelchen Fremden an, luden sie an Bord ein, bewirteten sie. Ihr Vater hatte eben nie die vorsichtige, misstrauische Art eines erfahrenen Schatzjägers entwickelt. Stattdessen legten Marla und Ray immer wieder die für die amerikanischen Südstaaten so typische Gastfreundschaft an den Tag.

Normalerweise fand Tate diesen Wesenszug liebenswert, gelegentlich wünschte sie allerdings, sie würden dabei ein wenig wählerischer sein.

Sie hörte, wie ihr Vater Matthew zu seinem Fund gratulierte, und presste die Lippen zusammen.

Verdammt, dabei hatte sie das Schwert zuerst gesehen.

Sie ist beleidigt, dachte Matthew, während er Ray seine Beute zu einer eingehenden Begutachtung reichte. Eine typisch weibliche Angewohnheit. Und es bestand keinerlei Zweifel daran, dass der kleine Rotschopf weiblichen Geschlechts war. Ihr kupferfarbenes Haar mochte so kurz wie das eines Jungen geschnitten sein, ihren winzigen Bikini füllte sie jedoch perfekt aus.

Und obendrein war sie ziemlich hübsch, fand er. Ihr Gesicht wirkte zwar etwas kantig, und die Wangenknochen waren scharf genug, dass ein tastender männlicher Finger sich daran schneiden konnte, aber sie hatte große, wunderschön grüne Augen. Augen, so erinnerte er sich, die unter Wasser und dann an Bord spitze kleine Pfeile auf ihn abgefeuert hatten.

Was sie umso interessanter machte.

Und da sie offenbar eine Zeit lang im selben Teich tauchen würden, konnte es für ihn ganz vergnüglich werden.

Matthew saß mit gekreuzten Beinen auf dem vorderen Sonnendeck, als Tate wieder herauskam. Sie hatte sich mittlerweile fast wieder beruhigt und warf ihm einen schnellen Blick zu. Seine Haut war gebräunt, und um seinen Hals baumelte an einer Kette ein silberner Peso. Sie hätte ihn gern gefragt, wie und wo er ihn gefunden hatte.

Aber er grinste sie süffisant an. Manieren, Stolz und Neugier prallten an einer Mauer ab, hinter der sie sich in ungewohntes Schweigen hüllte, während die Unterhaltung um sie herum munter dahinplätscherte.

Matthew biss in eins von Marlas wunderbaren Sandwiches mit gekochtem Schinken.

»Toll, Mrs. Beaumont. Viel besser als der Fraß, den Buck und ich gewöhnt sind.«

»Nehmen Sie doch noch von dem Kartoffelsalat.« Geschmeichelt häufte Marla eine Portion auf seinen Pappteller. »Und nennen Sie mich ruhig Marla. Tate, komm doch her und nimm dir auch etwas zu essen.«

»Tate …« Matthew blinzelte in die Sonne, während er sie betrachtete. »Ein ungewöhnlicher Name.«

»Marlas Mädchenname.« Ray legte seiner Frau einen Arm um die Schultern. Er trug immer noch seine nasse Badehose und genoss die Wärme und die unverhoffte Gesellschaft. Sein silbernes Haar bewegte sich in der leichten Brise. »Tate taucht schon, seit sie ein kleines Mädchen war. Eine bessere Partnerin könnte ich mir gar nicht vorstellen. Marla liebt zwar auch die See und das Segeln, aber sie schwimmt so gut wie nie.«

Lachend füllte Marla sein Glas mit frischem Eistee auf. »Ich beobachte das Meer gern, aber sich darin aufzuhalten, ist eine ganz andere Sache.« Zufrieden lehnte sie sich mit ihrem Glas zurück. »Sobald es mir über die Knie steigt, gerate ich in Panik. Ich habe mich schon gefragt, ob ich vielleicht in einem früheren Leben ertrunken bin. In diesem gebe ich mich jedenfalls damit zufrieden, mich um das Boot zu kümmern.«

»Und was für ein Boot!« Buck hatte die Adventure bereits eingehend gemustert. Sie maß stattliche elf Meter. Das Deck war aus Teak und mit aufwendigen Holzarbeiten verziert. Er vermutete, dass es unter Deck zwei Kabinen und eine gut ausgestattete Kombüse gab. Ohne die in seiner Sehschärfe eingeschliffene Taucherbrille konnte er allerdings bestenfalls die riesigen Fenster des Steuerhauses ausmachen. Er hätte für sein Leben gern mal einen Erkundungsgang durch Motor- und Kontrollraum unternommen.

Nun, das konnte er später mit Brille noch nachholen. Aber auch ohne die Sehhilfe schätzte er, dass der Diamant an Marlas Finger gut fünf Karat schwer sein musste, und der goldene Reif um ihr rechtes Handgelenk war eindeutig antik.

Er witterte Geld.

»Nun, Ray …« Beiläufig leerte er sein Glas. »Matthew und ich tauchen schon seit ein paar Wochen in dieser Gegend. Euch haben wir bisher noch gar nicht bemerkt.«

»Das war auch unser erster Tauchgang. Wir sind aus North Carolina hergesegelt, gleich an dem Tag, als Tates Frühjahrssemester zu Ende war.«

Ein Collegemädchen. Matthew nahm einen großen Schluck Eistee. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Widerwillig wandte er seinen Blick von ihren Beinen ab und konzentrierte sich auf seinen Lunch. Damit hatte sich der Fall für ihn erledigt. Immerhin war er fast fünfundzwanzig und gab sich nicht mit hochnäsigen Collegegören ab.

»Wir werden den Sommer hier verbringen«, fuhr Ray fort. »Vielleicht bleiben wir sogar noch länger. Im letzten Winter sind wir ein paar Wochen lang vor der Küste von Mexiko getaucht. Dort gibt es mehrere interessante Wracks, aber die meisten sind schon geplündert. Trotzdem ist es uns gelungen, ein paar interessante Sachen hochzuholen. Nette Keramikgegenstände, ein paar Tonpfeifen.«

»Und diese wunderschönen Parfümfläschchen«, warf Marla ein.

»Dann sind Sie also schon eine Zeit lang dabei«, bohrte Buck weiter.

»Zehn Jahre.« Rays Augen leuchteten. »Fünfzehn sind es schon seit meinem ersten Tauchgang.« Er beugte sich vor, sprach jetzt von Jäger zu Jäger. »Ein Freund überredete mich damals zu einem Tauchkurs. Nachdem ich die Prüfung bestanden hatte, fuhr ich mit ihm nach Diamond Shoals. Schon nach dem ersten Versuch war ich süchtig.«

»Heute verbringt er jede freie Minute unter Wasser, plant seinen nächsten Tauchgang oder erzählt vom letzten.« Marla lachte. Ihre Augen leuchteten so grün wie die ihrer Tochter und schienen zu tanzen. »Und so habe ich eben gelernt, wie man mit einem Boot umgeht.«

»Ich jage schon seit über vierzig Jahren.« Buck schaufelte den Rest seines Kartoffelsalats in den Mund. Seit über einem Monat hatte er nicht mehr so gut gegessen. »Das liegt uns im Blut, wir haben es von unserem Vater geerbt. Bevor die Regierung auf stur schaltete, haben wir vor der Küste von Florida getaucht. Ich, mein Vater und mein Bruder. Die Lassiters.«

»Natürlich.« Ray schlug sich mit der Hand aufs Knie. »Von Ihnen habe ich gelesen. Ihr Vater war Big Matt Lassiter! Vierundsechzig fand er die El Diablo vor Conch Key.«

»Dreiundsechzig«, korrigierte ihn Buck grinsend. »Wir entdeckten nicht nur sie, sondern auch ihren Schatz. Genau die Sorte Gold, von der ein Mann träumt, Juwelen, Silberbarren. Ich hielt eine goldene Kette mit einem Drachen in der Hand. Ein verfluchter Golddrachen«, sagte er, hielt inne und lief rot an. »Tut mir leid, Madam.«

»Schon gut.« Fasziniert von seiner Geschichte, drängte Marla ihm noch ein Sandwich auf. »Was war das für ein Gefühl?«

»Kann man gar nicht beschreiben.« Buck biss herzhaft in den Schinken. »Seine Augen bestanden aus Rubinen, der Schwanz war mit Smaragden besetzt.« Er machte eine bittere Miene. »Der Drachen allein war ein Vermögen wert.«

Ray wendete den Blick nicht von ihm ab. »Stimmt. Ich habe die Bilder gesehen. Diablos Drachen. Und Sie haben ihn gefunden. Unglaublich.«

»Bis der Staat sich einschaltete«, fuhr Buck fort. »Jahrelang kämpften wir vor Gericht. Auf einmal hieß es, dass die Drei-Meilen-Zone an der äußeren Grenze des Riffs beginnt, nicht am Strand. Die Schweine hatten uns ausgeblutet, bevor es vorbei war. Am Ende bekamen sie alles, und wir gingen leer aus. Schlimmer als Piraten«, schloss er und trank sein Glas leer.

»Wie schrecklich für Sie«, murmelte Marla. »All das durchzumachen, um zu guter Letzt doch mit leeren Händen dazustehen.«

»Es brach dem alten Mann das Herz. Danach ist er nie wieder getaucht.« Buck lockerte seine Schultern. »Nun, es gibt andere Wracks, andere Schätze.« Er betrachtete sein Gegenüber abschätzend und wagte aufs Geratewohl einen Vorstoß. »Wie die Santa Marguerite, die Isabella.«

»Ja, irgendwo in dieser Gegend müssen sie liegen.« Ray erwiderte Bucks Blick gelassen. »Da bin ich mir ganz sicher.«

»Kann sein.« Matthew hob den Schwertgriff hoch, drehte ihn in seiner Hand. »Ebenso gut könnten beide Schiffe aber auch aufs Meer hinausgetrieben sein. In den Berichten werden keine Überlebenden erwähnt. Nur zwei Schiffe, die am Riff gesunken sind.«

Ray hob einen Finger. »Nun, aber es gab Augenzeugen, die gesehen haben wollen, wie die Isabella und die Santa Marguerite untergingen. Überlebende berichteten, dass die Wellen immer höher schlugen und die Schiffe unter sich begruben.«

Matthew sah Ray an und nickte. »Vielleicht.«

»Matthew ist ein Zyniker«, bemerkte Buck. »Er sorgt dafür, dass ich auf dem Boden der Tatsachen bleibe. Ich werde Ihnen etwas sagen, Ray.« Er beugte sich nach vorn. Seine blassblauen Augen wirkten lebhaft. »Ich habe in den letzten fünf Jahren meine eigenen Recherchen angestellt. Vor drei Jahren haben der Junge und ich diese Gewässer über sechs Monate lang durchkämmt – hauptsächlich die zwei Meilen zwischen Saint Kitts und Nevis und das Gebiet um die Halbinsel. Wir haben alles Mögliche gefunden, bis auf die beiden Schiffe. Aber ich weiß, dass sie hier liegen.«

»Nun ja …« Als Ray an seiner Unterlippe zupfte, wusste Tate, dass er angestrengt überlegte. »Ich glaube, Sie haben an der falschen Stelle gesucht, Buck. Womit ich keineswegs sagen will, dass ich mehr darüber weiß. Die Schiffe legten in Nevis ab, aber nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte, steuerten die beiden verschwundenen Wracks weiter nördlich an der Spitze von Saint Kitts vorbei, bevor sie zerschellten.«

Bucks verzog die Lippen. »Das habe ich mir auch überlegt. Das Meer ist schließlich groß, Ray.« Er warf Matthew einen Blick zu und erntete ein lässiges Schulterzucken. »Ich habe vierzig Jahre Erfahrung, und der Junge taucht, seitdem er laufen kann. Was uns fehlt, ist finanzielle Unterstützung.«

Ray, der es vor seinem vorzeitigen Ruhestand zum Generaldirektor einer großen Brokerfirma gebracht hatte, erkannte ein Geschäft, wenn es ihm angeboten wurde. »Sie suchen einen Partner, Buck? Darüber müssen wir uns unterhalten. Bedingungen und Prozentsätze aushandeln.« Er stand auf und lächelte kurz. »Warum gehen wir nicht in mein Büro?«

Marla sah ihrem Mann und Buck schmunzelnd nach. »Dann werde ich mich im Schatten niederlassen und über meinem Roman vielleicht ein bisschen einnicken. Ihr jungen Leute könnt euch sicher selbst beschäftigen.« Mit ihrem Eistee und einem Taschenbuch ließ sie sich unter einem gestreiften Sonnensegel nieder.

»Ich denke, ich schwimme zur Devil und reinige meine Beute.« Matthew griff nach einer großen Plastiktüte. »Darf ich mir die ausleihen?« Ohne Tates Antwort abzuwarten, lud er seine Sachen hinein und ergriff seine Sauerstoffflaschen. »Willst du mir nicht helfen?«

»Nein.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Ich dachte, du möchtest vielleicht auch sehen, was sich unter der Kruste verbirgt.« Er gestikulierte mit dem Fundstück und wartete ab, ob ihre Neugier siegen würde oder ihre Wut. Er brauchte sich nicht lange zu gedulden.

Mit einer unwilligen Bemerkung griff Tate nach der Plastiktüte, schleppte sie die Leiter hinunter und sprang damit ins Wasser.

Aus der Nähe betrachtet, sah die Sea Devil noch mitgenommener aus. Tate schätzte die Strömung ab und schwang sich über die Reling. Ein leichter Fischgeruch stieg ihr in die Nase.

Die Ausrüstung war sorgfältig verpackt und gesichert, aber das Deck musste dringend geschrubbt und gestrichen werden. Die Fenster des winzigen Steuerhauses, in dem eine Hängematte schwang, waren mit Salz und Ruß verschmiert. Ein paar umgedrehte Eimer und eine zweite Hängematte dienten offenbar als Sitzgelegenheiten.

»Es ist wirklich nicht die Queen Mary.« Matthew verstaute seine Sauerstoffflaschen. »Aber es ist auch nicht die Titanic. Nicht schön, aber seetauglich.«

Er nahm Tate die Tasche ab und stopfte seinen Taucheranzug in einen großen Plastikbehälter. »Möchtest du etwas trinken?«

Tate sah sich demonstrativ langsam um. »Habt ihr etwas ohne Bakterien?«

Matt öffnete den Deckel einer Eisbox und fischte eine Pepsi heraus. Tate fing sie in der Luft auf und ließ sich auf einem Eimer nieder. »Ihr lebt offensichtlich an Bord.«

»Stimmt.« Er verschwand im Steuerhaus. Während sie ihn dort herumpoltern hörte, berührte sie das Schwert, das auf dem anderen Eimer lag.

Hatte es den Gürtel eines draufgängerischen spanischen Kapitäns mit spitzenbesetztem Hemd geziert? Hatte er damit Piraten getötet oder es nur aus Eitelkeit getragen? Vielleicht hielt er es mit seiner Hand umklammert, als Wind und Wellen sein Schiff hin und her warfen.

Und seither hatte niemand mehr sein Gewicht gespürt.

Sie blickte auf und stellte fest, dass Matthew sie vom Steuerhaus aus beobachtete. Verlegen zog Tate ihre Hand zurück und nahm betont lässig einen Schluck Pepsi.

»Wir haben auch ein Schwert zu Hause«, sagte sie ruhig. »Sechzehntes Jahrhundert.«

Dass sie ebenfalls nur den Griff gefunden hatten und dieser obendrein zerbrochen war, behielt sie für sich.

»Freut mich für euch.« Matthew nahm den Schwertgriff und ließ sich damit auf dem Deck nieder. Seine spontane Einladung bereute er bereits. Es half ihm wenig, sich klar zu machen, dass sie noch sehr jung war. Jedenfalls nicht angesichts des nassen T-Shirts, das jetzt an ihrem Körper klebte, und der glatten, sonnengebräunten Beine, die unglaublich lang wirkten. Und ihre Stimme – halb Whiskey, halb Limonade  – passte nicht zu einem Kind, sondern zu einer erwachsenen Frau.

Tate zog die Stirn kraus und beobachtete, wie er geduldig den Rost entfernte. So viel Feingefühl hätte sie diesen vernarbten, rauen Händen gar nicht zugetraut.

»Warum sucht ihr Partner?«

Er blickte nicht auf. »Ich habe nie behauptet, dass ich einen Partner suche.«

»Aber dein Onkel –«

»So ist Buck nun mal.« Matthew zuckte mit den Schultern. »Er kümmert sich ums Geschäft.«

Tate stützte ihre Ellenbogen auf den Knien ab und legte ihr Kinn auf die Handballen. »Und worum kümmerst du dich?«

Er blickte hoch, und während seine Hände geduldig weiterarbeiteten, trafen sich ihre Blicke. »Um die Jagd.«

Das verstand sie nur zu gut. Sie lächelte ihm zu und hatte das Schwert zwischen ihnen offenbar vergessen. »Es ist toll, nicht wahr? Zu überlegen, was dort unten wohl liegt und dass man es entdecken könnte! Wo hast du die Münze gefunden?« Angesichts seines verwirrten Gesichtsausdrucks berührte sie die Silberscheibe an seiner Brust. »Den Peso.«

»Bei meinem ersten großen Fund«, erzählte er und wünschte, sie würde nicht so verdammt attraktiv und freundlich aussehen. »In Kalifornien. Dort haben wir eine Weile gelebt. Und du? Warum tauchst du hier, anstatt den Collegejungs den Kopf zu verdrehen?«

Tate warf den Kopf zurück und gab sich ganz cool. »Jungs sind langweilig«, erklärte sie, glitt von dem Eimer und ließ sich ihm gegenüber auf dem Deck nieder. »Ich stehe auf Herausforderungen.«

Das Zucken in seinem Magen warnte ihn. »Vorsicht, kleines Mädchen«, murmelte er.

»Ich bin zwanzig«, verkündete sie mit kühlem Stolz. Zumindest würde sie das gegen Ende des Sommers sein. »Warum lebst du hier draußen und tauchst nach Schätzen, anstatt dir deinen Lebensunterhalt zu verdienen?«

Jetzt grinste er. »Weil ich gut bin. Wenn du besser wärst als ich, gehörte das Schwert jetzt dir und nicht mir.«

Anstatt seine Bemerkung einer Antwort zu würdigen, nahm sie noch einen Schluck Pepsi. »Warum ist dein Vater nicht hier? Taucht er nicht mehr?«

»Könnte man sagen. Er ist tot.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Seit neun Jahren«, fuhr Matthew fort und säuberte dabei weiter das Schwert. »Wir tauchten gerade vor der australischen Küste.«

»Ein Unfall?«

»Nein. Er war zu gut, um zu verunglücken.« Er nahm die Dose, die sie abgestellt hatte, und trank ebenfalls einen Schluck. »Er wurde ermordet.«

Tate brauchte einen Augenblick, um zu reagieren. Matthew hatte so beiläufig gesprochen, dass sie die Bedeutung seiner Worte nicht gleich registrierte. »Mein Gott, wie –«

»Ich kann es nicht beweisen.« Er wusste nicht, warum er ihr überhaupt davon erzählte. »Er ging lebend runter, wir holten ihn tot herauf. Gib mir das Tuch dort.«

»Aber –«

»Das ist alles«, sagte er und griff selbst nach dem Stück Stoff. »Es bringt nichts, über die Vergangenheit zu grübeln.«

Tate spürte den Impuls, ihre Hand auf seine zu legen, fürchtete jedoch ernsthaft, dass er sie ihr am Gelenk abbeißen würde. »Aus dem Mund eines Wracktauchers klingt diese Bemerkung ziemlich seltsam.«

»Kleine, es geht darum, was man heute damit verdienen kann. Und das hier macht keinen üblen Eindruck.«

Verwirrt blickte Tate auf den Griff. Während Matthew weiter polierte, begann das Fundstück langsam zu glänzen. »Ich glaube, es ist aus dem achtzehnten Jahrhundert.«

Seine Augen lächelten. »Tatsächlich?«

»Ich studiere Meeresarchäologie.« Ungeduldig schob sie eine Haarsträhne beiseite. »Vielleicht hat es dem Kapitän gehört.«

»Oder irgendeinem anderen Offizier«, konterte Matthew trocken. »Jedenfalls brauche ich mir in der nächsten Zeit über Bier und Shrimps keine Gedanken zu machen.«

Erschrocken fuhr sie auf. »Du willst es verkaufen? Du willst es einfach verkaufen? Für Geld?«

»Bestimmt nicht für bunte Muscheln.«

»Interessiert dich denn gar nicht, woher es kommt oder wem es gehörte?«

»Nicht wirklich.« Matt drehte den sauberen Teil des Griffs der Sonne zu und beobachtete, wie er im Licht glänzte. »In Saint Bart’s gibt es einen Antiquitätenhändler, der mir einen guten Preis macht.«

»Das ist schrecklich. Du bist ein …« Tate suchte nach der schlimmsten Beleidigung, die sie sich vorstellen konnte. »… Ignorant.« Blitzschnell sprang sie auf die Füße. »Es einfach so zu verkaufen! Schließlich könnte es dem Kapitän der Isabella oder der Santa Marguerite gehört haben. Vielleicht ist es ein historischer Fund und gehört in ein Museum!«

Amateure, dachte Matthew entnervt. »Es gehört dahin, wohin ich es bringe.« Er stand auf. »Ich habe es gefunden.«

Tates Herz setzte aus bei dem Gedanken, dass das Schwert in einem verstaubten Antiquitätenladen landen könnte oder – noch schlimmer – von einem unbedarften Touristen gekauft und womöglich an der Wand seines Hobbyraums aufgehängt werden würde.

»Ich gebe dir hundert Dollar.«

Er grinste. »Du Rotschopf, allein für den eingeschmolzenen Griff würde ich mehr bekommen.«

Die Vorstellung ließ sie erblassen. »Das würdest du nicht tun. Das könntest du garantiert nicht.«

Als er herausfordernd seinen Kopf auf die Seite legte, biss sie sich auf die Lippe. Dann würde die Stereoanlage für ihr Zimmer im Studentenwohnheim eben warten müssen. »Zweihundert. Mehr habe ich nicht gespart.«

»Da versuche ich es doch lieber in Saint Bart’s.«

Tates Wangen bekamen wieder Farbe. »Du bist ein schrecklicher Opportunist.«

»Da hast du Recht. Und du bist eine Idealistin.« Als sie sich mit geballten Fäusten und funkelnden Augen vor ihm aufbaute, musste er lächeln. Über ihre Schulter hinweg konnte er auf dem Deck der Adventure eine Bewegung ausmachen. »Auf Gedeih und Verderb, Rotschopf. Sieht ganz danach aus, als ob wir fortan Partner wären.«

»Nur über meine Leiche.«

Matt packte sie an der Schulter. Einen Augenblick lang glaubte sie, er wolle sie über Bord werfen. Aber er drehte sie nur um, damit sie das Boot ihrer Eltern sehen konnte.

Schweren Herzens musste sie zur Kenntnis nehmen, wie ihr Vater und Buck Lassiter sich die Hände schüttelten.

Zweites Kapitel

Ein strahlender Sonnenuntergang zog in Gold- und Rosaschattierungen über den Himmel und verschmolz mit der See, gefolgt von einer für die Tropen typisch kurzen Dämmerung. Kurz darauf drangen von Bord der Sea Devil die kratzigen Klänge eines Transistorradios, das mit den harten Reggaerhythmen eindeutig überfordert war, über das stille Wasser herüber. Der Duft von gebratenem Fisch lag in der Luft, doch das vermochte Tates Stimmung kaum zu heben.

»Ich kapiere nicht, warum wir Partner brauchen.« Sie stützte ihre Ellenbogen auf dem schmalen Tisch in der Kombüse auf und runzelte hinter dem Rücken ihrer Mutter die Stirn.

»Dein Vater hat nun einmal einen Narren an Buck gefressen.« Marla streute gemahlenen Rosmarin in den Topf. »Es tut ihm gut, einen Kumpel in seinem Alter um sich zu haben.«

»Aber er hat doch uns«, murmelte Tate.

»Natürlich hat er das.« Marla lächelte ihr über die Schulter zu. »Aber Männer brauchen nun einmal Männer zur Gesellschaft, Schatz. Hin und wieder müssen sie einfach fluchen und laut rülpsen dürfen.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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