Der Säbel von Roussillon - Paul Schaffrath - E-Book

Der Säbel von Roussillon E-Book

Paul Schaffrath

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  • Herausgeber: cmz
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Sechs Freunde zur Studentenzeit. Zwei tödliche Stichwaffen. Und Spätsommer in der Provence. Im malerischen Städtchen L'Isle-sur-la-Sorgue wird ein beliebter Antiquitätenhändler im Affekt erstochen. Nur einen Tag später kommt ein zweiter Antiquitätenhändler in Saint-Rémy-de-Provence ebenfalls zu Tode. Krüger, der Bonner Kommissar, macht mit seiner Freundin Carmen in der Nähe Urlaub und besucht lieber die Tatorte als irgendwelche Sehenswürdigkeiten. Mit dem Unter­suchungsrichter Bertrand Bonnefoy aus Avignon und dank unerwarteter Unterstützung durch Detective Chief Inspector John Blackmore aus Oxford beginnt per Auto, per Schnellboot und zu Fuß die Jagd nach dem Täter. Um dem Mörder auf die Spur zu kommen, müssen Krüger und Blackmore sich jedoch mit ihrer eigenen Vergangen­heit beschäftigen …

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Seitenzahl: 451

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Die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG behält sich der Verlag ausdrücklich vor. Jede unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Winrich C.-W. Clasen, Jahrgang 1955, Studium der Romanistik, Evangelischen Theologie und Kunstgeschichte in Bonn; Verleger in Rheinbach. Seit 2011 schreibt er unter dem Pseudonym Paul Schaffrath Kriminalromane. Der Säbel von Roussillon ist sein neunter Roman.

Paul Schaffrath

Der Säbel von Roussillon

Provence-Krimi

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über https://www.dnb.de/DE/Home/home_node.html abrufbar.

© 2024 by cmz-Verlag

An der Glasfachschule 48, 53359 Rheinbach, Tel. +49-2226-912626, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat & Schlussredaktion:

Clemens Wojaczek, Rheinbach

Satz (Adobe Garamond Pro 11 auf 14,5 Punkt)

mit Adobe InDesign CS5.5:

Winrich C.-W. Clasen, Rheinbach

Zitat auf S. 5 aus:

Georges Brassens, Die Chansons. Französisch / Deutsch;

herausgegeben und aus dem Französischen übertragen von Gisbert Haefs, Mandelbaum Verlag, Wien 2021, S. 21

Papier (90g Lux Creamy mit 1,8f. Vol.):

Arctic Paper S.A., Poznań / Polen

Umschlagfoto (Avignon bei Sonnenuntergang):

Jürgen Tenckhoff, Hennef

Umschlaggestaltung:

Johann Clasen, Bochum / Lina C. Schwerin, Hamburg

eBook-Erstellung:

Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN 978-3-87062-371-5 (Paperback)

ISBN 978-3-87062-373-9 (eBook)

001 • 20241017

www.paul-schaffrath.de

www.tenckhoff.de

www.cmz.de

Les vivants croient qu’ je n’ai pas d’ remords

A gagner mon pain sur l’ dos des morts;

Mais ça m’ tracasse et, d’ailleurs,

J’ les enterre à contrecœur …

J’ suis un pauvre fossoyeur.

Die Lebenden meinen, ich hätte keine Bedenken,

für meinen Broterwerb über Leichen zu gehen;

aber das kommt mich schon hart an,

ich vergrabe sie widerwillig …

Ich bin ein armer Totengräber.

Georges Brassens

Inhalt

Die Hauptpersonen

Cocktail für eine Leiche

Oxford 1984: Der Sinn des Lebens

Das Fenster zum Hof

Oxford 1984: Vertigo

Die drei Musketiere

Oxford 1984: Dirty Harry

Fight Club

Oxford 1984: Bonjour Tristesse

Taxi Driver

Oxford 1984: Stayin’ alive

Pretty Woman

Bonn 1984: Ein mörderischer Sommer

Tote tragen keine Karos

Oxford 2016 – Das Auge

Ragtime

Oxford 2016 – French Connection

Grasgeflüster

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Oxford 2016: Was vom Tage übrig blieb

Auf der Jagd nach dem grünen Diamanten

Das Mädchen und der Kommissar

Speed

Der Rausch

Der Dialog

Deadline

Boulevard der Dämmerung

Die 39 Stufen

Ziemlich beste Freunde

Verlorene Illusionen

Psycho

Déjà Vu

Nachbemerkungen

Die Hauptpersonen

2016

Krüger (52 J.)

Erster Kriminalhauptkommissar

– hat auch nach zweiunddreißig Jahren noch alles im Blick

Carmen Rasche (44 J.)

Universitätssekretärin

– lässt im Urlaub die Zügel schleifen

Bertrand Bonnefoy (54 J.)

Untersuchungsrichter

– guckt den Touristen beim Arbeiten zu

John Blackmore (55 J.)

Detective Chief Inspector

– muss sich der Vergangenheit stellen

Ashley Davies (29 J.)

freie Mitarbeiterin der Polizei

– ist eine Bereicherung

Marius (25 J.)

Gendarm

– wächst trotz seiner Korpulenz über sich selbst hinaus

René Roux

fährt zwei dicke Autos

Renée Roux

passt nicht in die Umgebung

Monsieur Dumartin

verbreitet schlechte Laune

Isabelle Dumartin

verschließt die Augen vor allem

Kevin Durand

geht dunklen Geschäften nach

1984

John Blackmore (23 J.)

angehender Ermittler

– ist über jeden Verdacht erhaben

Paul Gascoigne (24 J.)

angehender Händler

– findet Treppensteigen anstrengend

Peter Miller (24 J.)

angehender Händler

– hadert mit Pech und Liebe

Alice Montague (22 J.)

Studentin

– hat leider einen falschen Freund

Harold Morrison (21 J.)

Student

– will für sich stets das Beste

Frederick de la Tour (23 J.)

Student

– kocht stets sein eigenes Süppchen

Zeit: hauptsächlich fünf Tage im September 2016 und drei Tage im Mai 1984

Schauplätze: Villeneuve-lès-Avignon (Gard), Arles (Bouches-du-Rhône), Roussillon (Vaucluse) und diverse andere Orte in der Provence; Oxford (Oxfordshire); Bonn (Nordrhein-Westfalen)

Karte der Provence (1:1000000; Ausschnitt), in: Die Riviera. Das südöstliche Frankreich. Korsika. Die Kurorte in Südtirol an den oberitalienischen Seen und am Genfer See. Handbuch für Reisende von Karl Bædeker, Mit 37 Karten, 41 Plänen und 6 Grundrissen, Fünfte Auflage, Verlag von Karl Bædeker, Leipzig 1913, nach S. 222.

Cocktail für eine Leiche

Sonntag, 25. September 2016. Das Foto des Verfassers neben dem Artikel war ausgesprochen unscharf, dafür waren seine geschriebenen Worte um so deutlicher.

»Am gestrigen Abend starb unter bisher ungeklärten Umständen einer der beliebtesten Mitbürger unserer Stadt«, so hat es der Bürgermeister von L’Isle-sur-la-Sorgue gegenüber unserer Zeitung formuliert. Paul Gascoigne ist vor zwölf Jahren aus England in die Provence gekommen, mit seinen profunden Kenntnissen, mit seiner Freundlichkeit und mit seinen Second-Hand-Möbeln, die sein Geschäft rasch zum Mittelpunkt des Antiquitätenmarktes auf dem von der Sorgue umflossenen Zentrum haben werden lassen. Der beleibte Engländer wurde von einem Kollegen tot aufgefunden; er lag zwischen zwei barocken Truhen auf dem Rücken. In seinem Herzen steckte ein Brieföffner in Form eines Dolches, wahrscheinlich die Tatwaffe.

»Er nimmt ja kein Blatt vor den Mund«, sagte Krüger.

»Kann er ja schlecht«, sagte Carmen. »Wie soll der Herr sonst darauf schreiben?« Eine Gelegenheit zu einem Kalauer ließ sie selten aus.

Krüger würdigte sie keines Blickes. Diese Art Witze war deutlich unter seinem Niveau, wie so vieles im Leben.

Carmen ließ die Samstagsausgabe von La Provence sinken und betrachtete ihren Freund, der gespannt zugehört hatte. In der Hand hielt er regungslos das letzte Stück Baguette, das er mit Orangenmarmelade bestrichen hatte; augenscheinlich hatte er vergessen, die Bewegung abzuschließen.

»Krüger, du kannst ruhig weiter essen, wenn du möchtest«, sagte sie. »Den Rest des Artikels kann ich dir auch noch übersetzen.«

Hastig steckte der Angesprochene den Bissen in den Mund und sagte dann etwas undeutlich: »Wie weit ist das Städtchen von hier weg? Wir wollten uns doch dort die Trödelsachen ansehen, oder?«

»Damit du wieder über Leichen stolperst, wie vor einem Jahr auch schon?«

Carmen spielte auf den Urlaub im Herbst 2015 an, den Krüger wider Willen angetreten hatte. Das Ziel war nämlich nicht England gewesen, wie sonst so oft, sondern die Provence. Den Unmut ob des gemeinsam gewählten französischen Urlaubsziels hatte der Bonner Hauptkommissar seine Freundin in den ersten Tagen durchaus spüren lassen, war aber mit Land und Leuten mehr als versöhnt gewesen – vor allen Dingen mit den abgelebten Leuten –, als die erste Leiche auftauchte, zu der sich wenig später eine zweite gesellte. Krüger war aufgeblüht, hatte einen neuen Freund gefunden, der zudem aus einem ähnlichen Metier stammte – Bertrand Bonnefoy war der ermittelnde Untersuchungsrichter in der Mordsache – und hatte zu Hause die Ferien als eine der besten seines Lebens bezeichnet. Manchmal neigten auch Hamburger zu Übertreibungen.

»Die ist wahrscheinlich schon weggeräumt«, sagte er, »die Leiche, meine ich. Da kann man nicht mehr drüber stolpern.« Er überlegte. »Und wenn der Dolch noch steckte, ist es ziemlich verwegen anzunehmen, dass er eben nicht die Tatwaffe darstellt. Ich glaube kaum, dass der Mörder sein Gegenüber erst erschossen und ihn dann nachträglich, um das Einschussloch zu kaschieren, noch erstochen hat.«

Carmen grinste. Irgendwie war es doch nett, ihrem Freund zuzuhören, den sie jetzt schon über sechs Jahre kannte. Vielleicht sollte sie doch einmal heiraten, aber ihren Mann dann immer noch mit dem Nachnamen anzusprechen, wäre entschieden zu merkwürdig. Also lieber eine wilde Ehe, die ohnehin lustiger war als eine normale mit Reihenhaus, Wohnmobil und Kindern und in der es zudem einen Nachnamen gab, der längst den Stellenwert des Vornamens eingenommen hatte. Wie er wohl wirklich hieß? Immerhin hatte er im letzten Jahr den Anfangsbuchstaben verraten, ein A. Aber womöglich hatte er sie auch damit wieder nur auf den Arm nehmen wollen; bei ihm wusste man das nie so genau. Irgendwann würde sie schon noch seinen bürgerlichen Vornamen erfahren.

Krüger studierte gedankenverloren den Inhalt seiner Teetasse, der fast zur Neige gegangen war.

Das war anscheinend dem Besitzer des kleinen Hotels Atelier nicht entgangen, der gerade die Terrasse im Innenhof betreten hatte, auf deren Tischchen morgens für die erste Mahlzeit des Tages appetitlich gedeckt worden war. Das Feriendomizil lag in einer Seitenstraße von Villeneuve-lès-Avignon, der Papststadt Avignon gegenüber, auf der anderen Seite der Rhône, und war im vergangenen Jahr einer der Schauplätze des Falles der verfeindeten Brüder gewesen.

Frédéric de la Tour grinste. »Noch einen Tee, Monsieur le commissaire?«, fragte er freundlich. »Oder lieber etwas Vernünftiges? Einen schwarzen Kaffee vielleicht?« Er sah auf die Uhr. Fast zehn. »Oder schon einen Pastis?«

Carmen übersetzte leise.

Krüger betrachtete den Hotelier skeptisch. »Alkohol am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen? Ich glaube: Nicht!« Etwas unfreundlich setzte er dann hinzu: »Oder wollen Sie nicht gerne allein trinken?«

»Na, na.« Carmens Miene war nicht genau zu entnehmen, was sie dachte. Bezog sie sich jetzt auf den Hotelbesitzer oder auf ihren Freund? »Lass man gut sein.« Ein freundlicher Blick galt de la Tour. »Aber wir kommen gerne am Spätnachmittag wieder und langen dann richtig zu.«

Krüger grinste. »D’accord!«, sagte er.

»Ist dein Französisch doch noch nicht eingerostet?« Carmen erwiderte das breite Grinsen. »Aber wie gesagt: Wenn ich etwas übersetzen soll …«

»Now for something completely different«, sagte de la Tour, der in Hemel Hempstead im Osten Englands geboren war, sein heimatliches Idiom aber inzwischen mit französischem Akzent sprach, da er schon Jahrzehnte in der Provence wohnte.

»Jetzt zu etwas ganz anderem«, sagte die Übersetzerin pflichtschuldigst, was ihr einen bösen Blick von Krüger eintrug.

»Englisch ist meine zweite Muttersprache, weißt du doch.«

»Das glaubst auch nur du. Nach dem dritten Glas Ale vielleicht …«

»Wenn ich etwas fragen dürfte«, überging der Hotelier den kleinen Disput. »Haben Sie schon vom Mord in L’Isle-sur-la-Sorgue gehört? Ich dachte nur, wo Sie doch vom Fach sind …«

»Und im letzten Jahr beinahe Sie überführt haben, das wollten Sie doch sagen.«

»Nun mal langsam.« Carmen fühlte sich bemüßigt, mäßigend einzugreifen. »Was ist eigentlich aus der Steuerhinterziehung geworden? Sie mussten damals doch mit zum Untersuchungsrichter, oder?«

Beschämt nickte de la Tour. »Das hat sich glücklicherweise aufgeklärt, nachdem ich meinen Steuerberater gewechselt habe. Und außerdem habe ich etwas gelernt. Genügsamkeit, nicht Gier. Damit kommt man weiter. Und die Hoffnung auf bessere Zeiten, natürlich.«

Er räusperte sich. Leicht schien ihm das kleine Geständnis nicht zu fallen. »Wahr sind nur die Träume, die wir spinnen, und die Sehnsüchte, die uns treiben, damit wollen wir uns bescheiden.«

»Ein Cineast!«, sagte Carmen begeistert. »Die Feuerzangenbowle, oder etwa nicht?«

De la Tour sah sie verständnislos an. »Nee, das war ein Zitat von einer Lebensweisheitenseite im Netz, das ich mir gemerkt habe, weil ich es so passend finde.« Er sah den Kommissar offen an. »Das waren Großmannsträume von mir, das mit dem Hotel mit unverbaubarem Blick auf den Papstpalast. Davon habe ich tatsächlich leichten Herzens Abstand genommen. Zu Weihnachten habe ich mich dann der Hotelseite booking.com angeschlossen, meine Webseite überarbeiten lassen und kann mich inzwischen vor Übernachtungsanfragen nicht mehr retten.«

»Aha«, sagte Krüger. Er hatte nicht richtig zugehört und stattdessen den Artikel über den ermordeten Antiquitätenhändler langsam nachgelesen. »Und ja, von dem Mord wissen wir.«

»Ich dachte nur …« Der Hotelier druckste wie ein kleiner Junge herum. »Wo Sie doch jetzt hier sind. Und wo doch Paul Gascoigne ein Landsmann von mir ist. Und wo er doch auch aus Oxford kommt.«

»Haben Sie eigentlich mal über Ihre Art der mündlichen Rede nachgedacht?«, fragte der Kommissar etwas scharf. »Da war kein einziger vollständiger Hauptsatz dabei. Und zudem haben Sie jeden Satz mit wo begonnen, wo weil wirklich besser gepasst hätte.«

»Lenk nicht ab.« Carmens linke Augenbraue war nach oben gerutscht, was einer kleinen gelben Karte gleichkam.

Erst wenn beide Augenbrauen oben waren, war Gefahr im Verzug; das wusste Krüger aus langer leidvoller Erfahrung. Dann musste er schweigen. Und der Duden auch.

»Dann erzählen Sie doch mal«, sagte Carmen, »was Sie von Ihrem Staatsgenossen wissen.«

De la Tour seufzte. Dasselbe Verhalten wie im letzten Jahr: Der deutsche Kommissar hörte im Hintergrund zu, wie seine Freundin die Ermittlungen führte – was ja eigentlich seine Aufgabe war. Aber diese Deutschen waren schon ausgesprochen merkwürdig. Er räusperte sich erneut.

»Wir kennen uns seit Studienzeiten, Paul Gascoigne, Peter Miller, John Blackmore und ich. Also seit den finsteren achtziger Jah—«

»Haben Sie eben Blackmore gesagt?«, unterbrach ihn Krüger rüde.

»Ja, wieso?«

»Das war ein interessanter Kollege, mit dem ich während zweier Fälle länderübergreifend gearbeitet habe, wenn Sie den Detective Chief Inspector bei der Thames Valley Police in Oxford meinen.«

»Den meine ich. Er hat nach dem Studium rasch eine Karriere bei der Kriminalpolizei eingeschlagen. Blackmore ist überall zu genießen, solange er abends sein Bier vor sich stehen hat.« De la Tour betrachtete nachdenklich die efeubewachsene Wand der Frühstücksterrasse, ging hinüber und zupfte zwei vertrocknete Blätter heraus. »Jedenfalls damals. Ich habe ihn seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.«

»Und Sie vier stammen alle aus Oxford?« Carmen trank den letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse wieder ab.

»Ja. Das heißt: fast. Peter ist in Yorkshire geboren und bei uns im Süden …«

»Das klingt aber nach Italien«, sagte Carmen. »Süden.«

»… in Oxford nie richtig warm geworden. Nach dem Examen ist er in seine Heimat zurückgegangen. Und auch ihn habe ich nie wiedergesehen.« Der Hotelier musterte die Efeuwand, die immer noch genauso wie eben aussah. Die beiden Blätter steckte er geistesabwesend in die Hosentasche.

»Und Gascoigne?« Krüger mochte keine Pausen; die kosteten nur Lebenszeit. Es sei denn, er machte die Pausen selber, wenn er jemanden verhörte, um denjenigen dann zum Nachdenken vor oder zur Präzision bei den Antworten zu bewegen.

»Ach ja, Paul.« De la Tour wischte sich über die Augen. Der Tod seines Kommilitonen schien ihm nahezugehen. »Den habe ich zufällig in Avignon wiedergetroffen; das muss ein, zwei Jahre her sein. Er berichtete von seinem erfolgreichen Antiquitätenhandel, den er nur wenige Kilometer von Avignon entfernt aufgebaut hatte. Und er war genauso aufgekratzt und fröhlich, wie ich ihn in Erinnerung hatte.«

»Besaß er Feinde?«

»Krüger, du bist nicht im Polizeipräsidium«, sagte Carmen scharf. »Und den Schreibblock für deine Ermittlungen kannst du steckenlassen. Wir haben schließlich Ferien!«

De la Tour aber hatte beschlossen, Krüger zu antworten. »Gleich können Sie weiter Urlaub machen«, sagte er etwas unfreundlich zu Carmen. »Mir wäre es wichtig zu wissen, warum Paul sterben musste.« Das galt dem Kommissar.

»Feinde?«, wiederholte Krüger knapp.

Der Hotelier schüttelte den Kopf. »Kann ich mir nicht vorstellen. Wenn er sich nicht verändert hat, wird er bei den Franzosen genauso beliebt gewesen sein wie damals in Oxford während des Studiums. Es wäre wirklich sehr nett, wenn Sie vielleicht selbst doch …«

Krüger seufzte und warf Carmen einen flehentlichen Blick zu. Könnte ich vielleicht selbst doch, ausnahmsweise?, hieß das.

Seine Freundin seufzte ebenfalls und überlegte, während die beiden Herren ihr dabei gespannt zusahen. »Na gut«, sagte sie schließlich. »Auf eine Leiche mehr oder weniger kommt es ja nicht an. Auch nicht in den Ferien.«

Eine gute Stunde später nahm Krüger hinter Avignon mit viel zu viel Schwung die Abzweigung zur D901 Richtung Osten. Fontaine de Vaucluse war unübersehbar an jeder Ecke, an der ein Tourist falsch abbiegen konnte, auf einem zu großen Schild zu lesen. »Wolltest du da nicht mal hin?«

»Wollt’ ich nich’«, antwortete Carmen ziemlich salopp. »War ich schon. Ist immer zu voll, sind immer zu viele Touristen da und lohnt sich nicht. Von wegen Quelle der Sorgue. Im Sommer kannst du in eine Art Grotte hineinsehen, deren Boden von einer vom Grad der aktuell herrschenden Trockenheit abhängigen mittleren Wasserpfütze bedeckt ist; im Winter ist die Grotte nicht zu sehen, sondern nur Wasser. Mehr Wasser als im Sommer. Es ist mir schleierhaft, warum das so eine Sehenswürdigkeit geworden ist. Immerhin ist das Tal ganz nett, jedenfalls das, was ich in einem früheren Leben dort im Herbstdunst davon gesehen habe.«

»Okay«, sagte der Kommissar, der die Geschwindigkeit des grauen Qashqai verringert hatte, weil er gerade Le Thor durchfuhr. »Schon das nächste Örtchen ist unser Ziel.« In Gedanken war er längst beim Mordfall. Es war wirklich schade, dass es nicht der seine war; eine kleine Ermittlung, die rasch zum Ziel führte, das wäre doch zu schön. Einerseits … Andererseits hatte Carmen jedes Recht auf Urlaub, wie sie ihn mochte. Immerhin war er ihr zuliebe wieder in die Provence gefahren, die durchaus ihre Reize hatte. Vielleicht musste er zukünftig seine Sympathie zwischen dem englischen Königreich unter Queen Elizabeth II. und der französischen Monarchie unter Präsident François Hollande aufteilen. Er seufzte. Ein Lieblingsland reichte doch eigentlich. Hamburger waren sparsam.

»Zwei Lieblingsländer«, sagte Carmen, die Gedankenlesen beherrschte, was ihren Freund inzwischen nicht mehr verblüffte. Sie wäre eine exzellente Detektivin geworden, beruflich. Aber als Amateurin war sie auch nicht schlecht. »England und Frankreich. Wenn wir das eine Land satt haben, fahren wir in das andere.« Sie knuffte ihn freundlich. »Außerdem sind wir jetzt schon das zweite Mal in diesem Jahr in Frankreich. Das weißt du doch noch, oder? Burgund im Mai?«

»Dunkel, wenn überhaupt«, grummelte er. »Außerdem ist das nicht Frankreich. Das zählt noch zur europäischen Tiefebene.« Krüger erinnerte sich verschwommen an Abende mit ewigen Weinproben in Puligny-Montrachet, Nuits-Saint-Georges und Mercurey. Und an Flaschenetiketten, die mit zunehmendem Trinkgenuss immer unschärfer wurden. An die jeweils folgenden Tage erinnerte er sich nicht mehr.

Über Carmens Gesicht stahl sich ein wissendes Lächeln. Auch wenn Krüger es nicht wahrhaben wollte – die Zeit in Burgund hatte er genossen, und das nicht nur des Weins wegen.

Wenig später erreichten sie L’Isle-sur-la-Sorgue. Der Kommissar parkte den Wagen etwas mühsam zwischen einem bedenklich altersschwach aussehenden R4 und einem älteren weißen Ford in Form eines Kastenwagens. Viele Parkplätze in Frankreich und im gesamten europäischen Ausland waren für die vorherrschenden SUVs inzwischen zu eng geworden, aber den Besitzern dieser teuren Fahrzeuge war das egal; sie stellten sie ab, wo sie wollten, und zahlten die Knöllchen mit links. Seinen Nissan zählte er allerdings nicht zu den SUVs, auch nicht als einen kleinen, sondern betrachtete ihn als gehobene Limousine. Er stieg aus und rümpfte sofort die Nase. »Wahrscheinlich gehört die Karre Verleihnix, so wie die nach Fisch stinkt.«

»Dann hat er sich aber mit seinem Ford verfahren«, sagte Carmen. »Der gehört doch in die Bretagne.«

Krüger gluckste.

»Und jetzt?«, fragte sie.

»Du bist doch die Reiseleitung. Führ uns mal zum Trödelmarkt.«

»Du meinst die crime scene.«

»Oui«, sagte der vielsprachige Kommissar.

Das kleine Provencestädtchen hatte eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Mal gehörte es dem einen Grafen, mal dem anderen im Mittelalter. Irgendwann hatte es unter dem Schutz der im nahen Avignon residierenden Päpste gestanden, denen das Pflaster in Rom zu heiß geworden war und die während ihres Aufenthalts an der Rhône die Bewohner des Judenviertels von L’Isle-sur-la-Sorgue vor Verfolgung und Vertreibung geschützt hatten. Eigentlich lag der Ort mitten im Sumpfgebiet zwischen der Durance und der Sorgue, war aber seit Jahrhunderten durch Kanäle, deren Alter heute nicht mehr festzustellen war, trockengelegt worden. Umgekehrt konnten die Einwohner bei Bedarf die Umgebung unter Wasser setzen, so dass sie vor Feinden geschützt waren. Die zahlreichen kleinen Wasserstraßen hatten für den Beinamen Venedig des Comtat gesorgt, womit die Region bis zum Mont Ventoux gemeint war.

»Siehst du eine einzige Gondel?«, fragte Krüger, dem Carmen gerade den für den Besuch nötigen historischen Hintergrund verschafft hatte. »Ich nicht.« Er sah sich um. »Hier ist auch nicht mehr Wasser vorhanden als in Friedrichstadt, dem Venedig von Nordfriesland mit seinen drei Grachten. Und dort gibt es ebenfalls keine Gondeln. Pah. Soviel zur Wahrheit in Reiseführern.«

Carmen verzog keine Miene. Sie kannte die Tiraden ihres Freundes zur Güte, stets gegen Bürokratie jeder Art, gegen Tourismusämter, deren Sprachwörterbuch nur Superlative verzeichnete, und gegen Religion jedweder Couleur, bei der man missioniert und nicht in Ruhe gelassen wurde. Aber sie wusste auch, dass Krügers Missstimmigkeiten von dem einen auf den anderen Moment verfliegen konnten, wenn er etwas entdeckte, was ihn interessierte.

»Guck mal!«, sagte er begeistert.

Was er wohl meinte? Die kleinen Brücken, die über den Kanal führten, an dem sie gerade entlangschritten? Ihre alten, schmiedeeisernen Geländer? Die Blumen in den Kästen daran, die trotz der kühleren Nächte weiterhin heftig blühten? Das große Schaufelrad mitten im Flüsschen, das in früheren Zeiten wohl eine der Ölmühlen angetrieben hatte? Oder vielleicht die vielen kleinen Marktstände, die alles Mögliche feilboten und an denen sich schon jetzt eine beachtliche Anzahl von Leuten vorbeidrängelte, so dass sich die Gerüche vom Käsestand, von der Fischbude und dem Honig- samt Parfumtisch überlagerten? Dabei war es für einen Sonntag im Herbst, an dem bestimmt viele Touristen unterwegs sein würden, noch bemerkenswert ruhig.

»Da drüben«, sagte Krüger.

»Was meinst du denn?«

»Na, genau gegenüber.« Er steuerte auf einen Stand mit ausrangierten VHS-Kassetten, speckigen DVDs, ehemals blanken CDs und abgegriffenen Langspielplatten der siebziger Jahre zu, deren Umschlaghüllen verblasst waren. Fast schien es, als habe er Carmen vergessen. »Vielleicht finde ich es ja hier«, murmelte er.

Sie trat neben ihn. »Suchst du etwas Bestimmtes?«

»Eigentlich immer noch das Bootleg vom Deep-Purple-Konzert in Paris vom 17. März 1973 in der Mark II-Besetzung mit dem exorbitanten Orgelsolo von Jon Lord bei Smoke on the Water.«

»Klingt nach einer seltenen Briefmarke.«

Der Kommissar wandte sich beleidigt ab und durchstöberte die Platten unter dem Buchstaben D. Seine Freundin drehte ihm den Rücken zu und ging zum nächsten Stand, an dem es Seidenschals in allen Längen und Farben gab.

Wenig später waren die beiden allerdings schon wieder miteinander versöhnt und hatten in einem kleinen Straßencafé Platz genommen. Es war heiß, die Sonne schien, eine Platane besaß noch alle Blätter, so dass ausreichend Schatten vorhanden war, und die Kellnerin warb für einen neuen Cocktail namens Martin-Pêcheur. Auf Carmens Nachfrage erklärte sie das Rezept für den Eisvogel, dessen blaues Gefieder sich in der Farbe des Getränks wiederfand: Wodka, Curaçao bleu, Limonensaft, Sprite und Eiswürfel.

»Lecker!«, sagten beide gleichzeitig und grinsten, während sie geruhsam die vorbeikommenden Passanten beobachteten. Während sich die Cocktails reduzierten, sprachen sie wie immer bei solchen Gelegenheiten über Gott und die Welt.

Schließlich stand Krüger auf. »Auf zu neuen Ufern.«

»Auf die andere Kanalseite?«

Der Kommissar verdrehte die Augen und marschierte auf die kleine Brücke zu, die ihn zu weiteren Ständen des Sonntagsmarktes führen würde. Carmen folgte und hängte sich bei ihm ein; zusammen suchten sie den Stand, an dem am Freitagabend der englische Antiquitätenhändler das Zeitliche gesegnet hatte.

»Das sind doch antike Barocktruhen, oder?«, sagte sie schließlich etwas ungenau und deutete auf zwei große Möbelstücke aus Kirschbaumholz, die in der Sonne glänzten. »Sehen aber wie neu aus. Wahrscheinlich werden sie vom Industrielack zusammengehalten.«

»Barock fällt in dein Fachgebiet; ich selber interessiere mich nur für barocke Formen bei—« Gerade noch rechtzeitig sah Krüger, wie beide Augenbrauen seiner Freundin in die Höhe gezogen wurden, und schwieg lieber. Wenn die Augenbrauen nämlich ganz oben waren, blieben nur noch wenige Augenblicke für die Flucht.

Aber sie waren am richtigen Ort: Ein weiß-rotes Absperrband der Police nationale mit der Aufschrift Police nationale hing, mit einem Ende noch sorgfältig auf dem blanken Truhendeckel festgeklebt, von dem danebenstehenden Mahagonitisch mit Schubladen schlaff herunter. Eine Schublade war halb herausgezogen, so dass sich hineinsehen ließ. Sie war leer, bis auf feines bräunliches Pulver, das zu einer schräg verlaufenden Linie zusammengeschoben worden war.

Plötzlich sagte eine wohlvertraute Stimme hinter Krüger: »Mon cher ami, qu’est-ce que tu fais au lieu de crime?«

Carmen übersetzte automatisch: »Mein lieber Freund, was machst du denn am Schauplatz des Verbrechens?«

Dem Kommissar kam der Satz irgendwie bekannt vor. Stammte der nicht aus dem vergangenen Jahr? Er drehte sich langsam um.

Oxford 1984: Der Sinn des Lebens

Donnerstag, 17. Mai. Der Raubvogel saß hoch oben auf der Südseite des Glockenturms am Magdalen College, ziemlich genau in der Mitte des rechten, langgestreckten Fensters, und betrachtete den gegenüberliegenden botanischen Garten. Es war früher Nachmittag, und auf den Wegen zwischen den mehr als fünftausend Pflanzen aus aller Welt bewegten sich aufgrund des sonnigen Wetters Mitte Mai deutlich mehr Passanten als sonst.

Wie aus dem Nichts erschienen plötzlich fünf Tauben und landeten trotz ihrer etwas plumpen Körper elegant in einer Reihe über dem linken Turmfenster, in sicherer Entfernung vom Raubvogel. Ein unvoreingenommener Beobachter hätte vielleicht von misstrauischen Blicken gesprochen, die die fünf Vögel dem bedeutend größeren Artgenossen zuwarfen.

»Wenn das jetzt Dreharbeiten wären«, sagte das dunkelhaarige Mädchen am Rondell des Botanischen Gartens und deutete auf die Vögel, die man mit bloßem Auge gerade noch erkennen konnte, »würde ich auf Für eine Handvoll Dollar tippen.« Sie nahm die ausgestreckte Hand wieder herunter. »Mit Clint Eastwood. Fünf outlaws und der Held. Natürlich in Schwarz gekleidet.«

»Wir wissen, dass du deine Tage lieber im Kino als im Hörsaal verbringst.« Ein übergewichtiger junger Mann von Anfang zwanzig warf ihr einen Blick zu, den sie wie immer nicht deuten konnte. Machte er sich wieder über sie lustig? Oder war es seine Art, ihr mitzuteilen, dass er sie über die Maßen schätzte?

»Lass mal, Paul.« Ein zweiter junger Mann trat neben ihn. »Wenn Alice nicht will, will sie nicht.« Er entfernte einen unsichtbaren Grashalm von seiner hellen Khakihose und rückte den Kragen des dunkelgrünen Poloshirts gerade.

»Hi, John.« Alice sah den Angesprochenen freundlich an. »Wie immer makellos gekleidet – womit du hier natürlich aus dem Rahmen fällst. Was willst du eigentlich mal werden? Dressman?«

John lachte verlegen und sah zu Boden. »Kommissar«, sagte er so leise, dass es eigentlich niemand hören konnte. Doch Alice hatte es sehr wohl gehört, beschloss aber, es nicht zu kommentieren. In ihren Kreisen beschäftigte man sich nur, wenn man dazu aufgefordert wurde, mit law and order.

Ein dritter junger Mann – schlank, Blue Jeans, breite Schultern – kam auf dem Fahrrad angefahren, was ihm einen Verweis eines gerade vorbeikommenden Angestellten des Botanischen Gartens eintrug. »Absteigen!«

»Can ye talk mair slow?«, sagte Harry.

Der Angestellte sah ihn verständnislos an.

Harry grinste und ließ ihn stehen.

Paul sah den Radfahrer feixend an. »Und das hieß?«

»Rede mal ein bisschen langsamer. Also mit schottischer Wortwahl und schottischem Akzent.«

Alice und die anderen lachten.

»Immer noch deine Schottenmarotte?«, fragte John.

Harry lehnte das Fahrrad gegen die Bank, nickte aber nur.

»Wie steht’s jetzt, Harry?«, fragte Paul.

»Sieben zu sechs, monsieur. Also für mich. Siebenmal nicht erwischt. Sechs Ermahnungen.«

»Das monsieur kannst du weglassen. Habe ich schon mal gesagt.« Paul sah ihn strafend an. »Gascoigne mag zwar mein französischer Nachname sein, aber ich bin Engländer. Seit Generationen.«

»So alt bist du nun ja noch nicht.« John lachte freundlich. »Nun zu dir, Harry. Alle sechs Ermahnungen stammen aus einer Woche.«

»Mit dem Fahrrad bin ich aber schneller hier«, sagte Harry und ignorierte seinen Freund. Schmachtend war wahrscheinlich das richtige Adjektiv für den Blick, mit dem er das Mädchen bedachte.

Alice verdrehte die Augen und breitete die Arme aus, als der vierte Freund eintraf. »Endlich, Peter. Ich dachte schon, du kämest gar nicht.« Sie zog ihn an sich, musste sich jedoch auf die Zehenspitzen stellen, um ihm einen etwas lauten Kuss zu geben, woraufhin der Harry Genannte sein Gesicht verzog.

Das Mädchen sah sich suchend um. »Fehlt noch einer.« Sie strich sich eine ihrer braunen Locken hinter das Ohr, was diese aber nicht weiter interessierte, da sie sofort wieder hervorkam. »Aber Freddy ist wie üblich zu spät. Na ja, wer zu spät kommt, muss sehen, was für ihn übrig bleibt. Gehen wir los?«

Ohne abzuwarten, ob jemand ihr folgte, marschierte Alice in Richtung der Anlegestelle für die Stocherkähne unterhalb der Magdalen Bridge über den Cherwell. Sie war sich sicher, dass ihr alle Jungs folgen würden. Wie immer.

John hielt etwas mühsam das Gleichgewicht, da er aufrecht am Heck des Bootes stand. Punting hieß der Sport – besser gesagt: die leichte Freizeitbeschäftigung –, bei dem mit langen Stangen, die ein wenig in den Boden des nicht sonderlich tiefen Flüsschens gesteckt wurden, die flachen Kähne vorwärtsgestakt wurden. Manches Mal versuchten die Insassen denjenigen, der die knapp fünf Meter lange Holzstange hielt, mittels Schaukeln ins Wasser zu befördern.

Harry war es gelungen, neben Alice Platz zu nehmen. Da der Kahn ohne Kiel bei sieben Metern Länge nur etwa neunzig Zentimeter breit war, saß er auf Tuchfühlung, was ihr gar nicht gefiel. Sie versuchte mehrfach, von ihrem Nachbarn abzurücken, woraufhin dieser sich noch breiter machte.

Peter beobachtete das Treiben misstrauisch. Eigentlich war Alice seine Freundin, aber bei Frauen war er sich nie sicher, ob sie nicht am nächsten Tag ihre Meinung geändert hatten und sich dem nächsten vorbeifliegenden, gut aussehenden Mann an den Hals warfen. Und als gut aussehend würde wohl jeder Harry bezeichnen. Damit blieb wenigstens sein schlechter Charakter etwas verdeckt, dachte Peter.

John fing einen hilfesuchenden Blick von Alice auf. Er nahm kurz eine Hand von der Stange und sah auf die Armbanduhr. »Noch zehn Minuten, schätze ich. Dann sind wir in Marston bei The Victoria Arms. Ein Bier für jeden, und nach dem Pubbesuch könnte doch Harry mal im Wasser stochern, oder?«

Alice strahlte John dankbar an, was wiederum Peter einen Stich versetzte. Es ist doch immer dasselbe, dachte er; interessiert sich mal ein Mädchen für mich, sind sofort zehn Mitbewerber zur Stelle, um das Ganze zunichte zu machen. Er seufzte.

Harry zog die Augenbrauen zusammen; fast sah er gefährlich aus.

Von der Schönheit der kleinen Reise auf dem sanft dahinfließenden Cherwell, vorbei an den alten Gebäuden der verstreuten Universitätsgebäude mit ihrem warmen Cotswolds-Gelb, kleinen Wäldchen, Bootsanlegestellen und anderem, bekam John nicht viel mit. Stattdessen konzentrierte er sich aufs Staken, studierte die Gesichter der Mitfahrer und wunderte sich erneut, wie vielfältig und wie großzügig die Natur mit Aussehen und Charakter umging.

Alice zog am Saum ihres kurzen Rocks, um ihn etwas zu verlängern, was ihr im Sitzen aber nicht gelang. Über der weißen Bluse trug sie einen bunten Pullunder von Benetton – womit sie in der Masse der Mädchen in St Hilda’s nicht weiter auffiel.

John war sogar der Meinung, dass sich am Mädchencollege bestimmt eine Menge Geld sparen ließe, wenn man auf die Pullover mit Wappen verzichten und zur italienischen Modemarke wechseln würde, deren Kleidung ohnehin alle trugen. Kurz strich sein Blick über ihren Busen, aber manchmal mussten Wunschträume Wunschträume bleiben. Alice gehörte zu Peter. Punkt.

Der gemütliche Paul schwitzte wie immer, unabhängig von der Außentemperatur und leider zu jeder Jahreszeit. Sein Tweedjackett, das er winters wie sommers trug, tat ein Übriges, um seine Körpertemperatur auf konstanten 37,2° zu halten. Aber das gehörte zu ihm, genauso wie seine Freundlichkeit allen gegenüber, sogar Harry, der sich häufiger über ihn lustig machte. (»So umfangreich, wie du bist, warst du doch als Zwilling vorgesehen, oder?«)

John wich gerade noch rechtzeitig einem entgegenkommenden Kahn aus, der von einem schmächtigen Mädchen gesteuert wurde, das das augenscheinlich professionell machte und dem das Staken viel leichter als ihm zu fallen schien. Er fuhr sich mit der linken Hand über die Stirn und wischte ein paar Schweißtropfen ins Wasser, bevor er mit der Musterung fortfuhr.

Der lange Schlacks sah blass aus; aber das tat Peter eigentlich immer. Und sein Schicksal – der Vater war vor ein paar Monaten gestorben – lastete schwer auf seinen Schultern. Eigentlich tat er ihm leid, aber John wusste auch nicht, wie er ihm helfen konnte. Am besten war es, man lud ihn zu allen gemeinsamen Unternehmungen ein und überging Gespräche über tote Angehörige. Ein, zwei Mal hatte Peter ihm etwas von seiner Familie erzählt, als sie allein waren, und John hatte nur zugehört – was er gut konnte. Schweigen hatte schon viele Leute zum Reden gebracht, wie es sein Mentor formuliert hatte. Aber vor allem musste Peter sein manchmal aufbrausendes Temperament in den Griff bekommen.

Freddy war wie üblich abwesend. Er war ein unsteter Charakter. John war sich nicht sicher, ob er zu allen aufrichtig war. Manchmal hatte er das Gefühl, dass Freddy neben seinem Studium mit lukrativeren Dingen beschäftigt war. Vielleicht musste er ihm bei Gelegenheit auf den Zahn fühlen.

Ein kurzer Blick auf Alice – sie schien die Minuten bis zur Anlegestelle beim Pub zu zählen –, dann versuchte John, Harry näher zu betrachten, ohne dass dieser etwas merkte. Harrys Augen standen zu dicht nebeneinander, das Kinn war etwas spitz geraten und die schwarzen Haare zu strähnig. Schon früh hatte John sich, im Vorgriff auf seine geplante Karriere, mit dem Typus des Verbrechers beschäftigt. Seit Cesare Lombrosos Zeiten und dessen Schädelvermessungen hatte jedoch die Genauigkeit, mit der Gestalten der Unterwelt als solche identifiziert wurden, eher abgenommen. Heutzutage war man vorsichtiger mit seinen Urteilen, aber wenn der angehende Kommissar sich nicht täuschte, hatte Harry mit den breiten Schultern doch schon einiges auf dem Kerbholz: einen kleinen Diebstahl aus der Bibliothek, eine Körperverletzung, nach der die Thames Valley Police es bei einer deutlichen Ermahnung belassen hatte, und einen Autounfall ohne Verletzte, bei dem das Fahrzeug nur geliehen und der Fahrer natürlich völlig unschuldig gewesen war. Ansonsten konnte Harry richtig nett sein; er war ein großartiger Geschichtenerzähler, der jeden Pubabend bereicherte, und er war großzügig, wenn er mal Geld hatte. Ein schwieriger Charakter, dachte John.

Was Alice wohl an ihnen fand? Vielleicht studierte sie auch nur die Charaktereigenschaften aller fünf (auch wenn Freddy heute fehlte), um irgendwann den perfekten Ehemann zu finden, der alle guten Eigenschaften vereinte. Dream on, dachte John. Wenig später ließ er den Kahn langsam ans Ufer gleiten und vertäute ihn an einem der in den weichen Boden gehauenen Holzpflöcke unterhalb des Pubs.

The Victoria Arms, das wie viele der Gasthäuser in und um Oxford auf das siebzehnte Jahrhundert zurückging, lag etwas oberhalb des Cherwell. Auf der sanft ansteigenden Rasenfläche standen die bei allen Pubs gleichen runden, seltener auch eckigen Holztische, an deren Füßen die Sitzbänke befestigt waren; einige Tischplatten lagen bedenklich schräg, so dass man gut daran tat, die stets bis zum Rand gefüllten Pints erst abzustellen, wenn man einen ordentlichen Schluck daraus getrunken hatte.

»Ihr könnt mir ein Oxford Ale von Morrell’s mitbringen«, sagte John und setzte sich an einen Tisch näher zum Pub hin, dessen Tischfläche ihm waagerecht erschien. Er gähnte. »Ich habe jetzt eine Stunde gestanden. Dann habe ich auch ein Recht, mich bedienen zu lassen.«

»Schon recht«, sagte Alice. »Wird gemacht.« Peter, Paul und Harry folgten ihr. Natürlich.

Harry setzte das Bier ab. Es war bereits das zweite, und wie immer trank er auch dieses zu schnell, so dass der Alkohol seine Wirkung bereits entfaltet hatte. Lauernd sah er Peter an. »Und – was macht ihr zwei Schönen heute Abend?«

»Nichts Besonderes.« Der Angesprochene wusste nicht so recht, was Harry vorhatte.

»Dann weiß ich aber etwas: Wir klettern auf den Turm vom Magdalen College und hissen dort, also auf der Seite, die zur High Street geht, die Fahne mit dem Wappen der Universität Cambridge.«

John lachte. »Das nenne ich endlich mal eine innovative Idee, nachdem das letzte Bootsrennen zwischen Oxford und Cambridge zu unseren Ungunsten ausgegangen ist. Wie ich dich kenne, hast du die Flagge schon, oder?«

Harry nickte. »Wir haben nur ein Problem. Nachts ist das Tor zum College abgeschlossen. Und die Mauern sind zu hoch, um mit einer Leiter einfach auf die andere Seite zu gelangen.«

Von unverhoffter Seite kam Unterstützung.

»Das lass mal meine Sorge sein.« Alice hatte die Szene auf dem Boot wohl schon vergessen. »Wie ihr wisst, bin ich seit Beginn dieses Semesters Angehörige dieses ehrwürdigen College, das sich seit etwas mehr als einem Jahrzehnt mit der Realität angefreundet und auch Mädchen zugelassen hat. In St Hilda’s waren mir entschieden zu wenig Jungs.«

Die vier Herren lachten.

»Zum einen kenne ich den Pförtner«, fuhr Alice fort, »zum anderen habe ich einen Schlüssel zu seiner Loge neben dem Haupteingang, und drittens–« Sie unterbrach sich. »Ja, ja, ich weiß. Die Aufzählung ist etwas missglückt. Jedenfalls, was ich noch sagen wollte, ist Matthew mir noch einen Gefallen schuldig. Also rein kommt ihr. Und in den Glockenturm auch.«

»Okay. Wer kommt mit?« Harry sah John herausfordernd an. »Du bestimmt nicht, oder? Du kannst ja nie, wenn irgendein Paragraph davon betroffen sein könnte, Herr Kommissar.«

Der angehende detective überhörte ihn wie immer. »Ich kann aber wirklich nicht. DI Strange hat mich zum Abendessen eingeladen, und die Gelegenheit, sozusagen aus erster Hand etwas über seinen schon legendären Kollegen Morse zu hören, will ich mir nicht entgehen lassen.« Fast tat es ihm leid, dass er verhindert war. Endlich einmal ordentlich über die Stränge schlagen zu können – woraus sonst sollte ein erfülltes Studentenleben bestehen? Außer natürlich aus dem regelmäßigen Genuss alkoholischer Köstlichkeiten. Der Sinn des Labens …

»Okay, dismissed«, sagte Alice. Ein freundliches Lächeln folgte.

»Prima«, sagte Harry und rieb sich die Hände. »Mitternacht. Dunkelheit. Drei Jungs und ein Mädchen.« Ein schmieriges Grinsen folgte. »Freddy kommt sowieso nicht.«

Wenn das mal gut geht, dachte John. Aber Paul und Peter reichten bestimmt aus, um Harry, falls nötig, in die Schranken zu weisen, dessen war er sich sicher.

Das Fenster zum Hof

Sonntag, 25. September 2016. John Blackmore hatte schlecht geschlafen. Die Matratze war viel zu weich, die Bettdecke viel zu kurz, die er obendrein noch teilen musste, und zu allem Überfluss waren gegen zwei mehrere Nachtschwärmer lautstark den Flur entlanggepoltert. Und das sollte Urlaub sein? Wahrscheinlich wäre es doch besser gewesen, er hätte auf seine innere Stimme gehört und nicht auf die seiner Freundin. Ein paar Tage in Dorset am Meer oder an einem der Seen im Lake District hätten es auch getan. Der Detective Chief Inspector aus Oxford drehte den Kopf und linste auf die andere Bettseite.

Ashley schlief noch. Ihre rotblonden Locken waren im Nacken zusammengebunden, so dass er das schöne Gesicht betrachten konnte, das selbst im Schlaf zu einem kleinen Lächeln verzogen war. Wie mit einer dezenten Pfeffermühle verteilt, waren Hunderte kleiner, zum Teil winziger Sommersprossen zwischen Augen und Kinn arrangiert worden, die sich in der Nähe der Nase ballten und über das Dekolleté weiter nach unten fortsetzten. Die Bettdecke war etwas zurückgerutscht, so dass er in Muße ihre schönen Maße bewundern konnte.

Zum wiederholten Male fragte er sich, was sie an ihm fand. Er war inzwischen Mitte Fünfzig, besaß einen nicht mehr kleinen Bauchansatz und, zwecks Kaschierens desselben, mehrere maßgeschneiderte Anzüge – der einzige Luxus, den er sich leistete. Noch knappe zehn Jahre, wenn die Götter und seine Gesundheit es zuließen, dann hatte er das für ihn gültige Ruhestandsalter von fünfundsechzig Jahren in der Thames Valley Police erreicht und konnte endlich das tun, was er wollte. Aber was wollte er dann eigentlich tun, wenn er nicht mehr arbeiten musste, es aber ab und zu möglicherweise noch konnte?

Reisen – vielleicht, obwohl er jedes Mal froh war, wieder zu Hause in Horspath mit einem guten Whisky am eigenen Kamin zu sitzen. Oder endlich einmal seine Sammlung Hunderter von Langspielplatten zu katalogisieren und zu vervollständigen. Einen Pubführer für die Gasthäuser im Themsetal schreiben – auch keine schlechte Idee, vor allem, was die Recherchemöglichkeiten für das Buch anging: freie Getränke, freies Essen … Blackmore seufzte. Es gab so viele überflüssige Dinge, die man tun konnte, wenn man Lust dazu hatte. Und natürlich die benötigte Zeit.

Ashley regte sich im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite. Blackmore wartete auf einen Satz von ihr; manchmal redete sie nämlich nachts, ohne sich nach dem Aufwachen daran erinnern zu können. Einmal hatte sie laut und deutlich »Ein Glas Rioja, por favor!« gesagt, dabei trank sie nur selten Rotwein und schon gar keinen spanischen. Seine Freundin seit dreieinhalb Jahren überraschte ihn mit ihren vielen Facetten immer wieder aufs Neue.

Und seine große Liebe? Julie King verheiratete Boulton hatte sich nach einem heftigen Aufflackern ihrer Beziehung aus der Studentenzeit doch wieder von ihm getrennt; über den Mord an ihrer Tochter Jessica vor sechs Jahren, den Blackmore mit dem deutschen Kommissar Kruger aufgeklärt hatte, war sie nie wirklich hinweggekommen. Moment, Kruger hieß Krüger, und besaß keinen Vornamen. Mit dieser Marotte ging er fast als exzentrischer Engländer durch. Leider stammte er nicht von der Insel.

Blackmore gähnte. So früh aufzuwachen, war seinem Beruf geschuldet. Gab es einen Mordfall, spielte der normale Tagesrhythmus ohnehin keine Rolle mehr. Und diesen dann in den Ferien, die oft nur zehn, selten vierzehn Tage lang waren, wiederzufinden, war jedes Mal höchst schwierig. Ein Mordfall, genau. Manchmal fehlte ihm, wenn es über längere Zeit im Dienst ruhig war, der Nervenkitzel, die Spannung, ob er den Täter fassen würde, bevor sich der heiße Fall in einen oft nicht mehr aufzuklärenden cold case verwandelt hätte.

Versuchen weiterzuschlafen, war zwecklos; also stand er lieber auf und schlurfte zum Fenster. Er wiederholte den abgrundtiefen Seufzer vom Vorabend. Statt der erhofften Aussicht auf den Papstpalast in Avignon, auf die kaputte Brücke bis zur Mitte der Rhône oder wenigstens auf ein provençalisches Gässchen mit alten Häusern gab es hier nur einen Haufen Garagen mit Mülltonnen daneben. Der Concierge des Hotel Mercure hatte sein Französisch – beziehungsweise das, was Blackmore dafür hielt – missverstanden oder, wahrscheinlicher, ignoriert und ihm ein Doppelzimmer mit Fenster zum Hof gegeben … Soviel zu Ferien, bei denen auf keinen einzigen Tag auch nur der Hauch eines Schattens fiel.

»Einen wunderbaren guten Morgen, mein Schatz«, sagte Ashley.

Auch das erstaunte ihn immer wieder: Wachte sie auf, war sie sofort hellwach und konnte es mit ihrer unbändigen Energie nicht abwarten, bis die nächste gemeinsame Unternehmung begann.

Blackmore unterdrückte den Anflug eines weiteren Gähnens und überlegte eine passende Entgegnung. Ehe er aber etwas sagen konnte, redete sie schon weiter.

»Wir könnten nach L’Isle-sur-la-Sorgue fahren; dort ist heute nämlich der Antiquitätensonntag, der in sämtlichen Gazetten der Gegend annonciert wird. Der Papstpalast läuft uns ja nicht weg.«

Blackmore lachte. »Stimmt. Den können wir immer noch bei Regen besichtigen.«

»Außerdem«, sagte Ashley, »gab es vorgestern in diesem schönen Ort einen hübschen kleinen Mord.«

Der englische Ermittler schaltete einen Gang zurück, so dass er die Einhundertachtzig-Grad-Kurve in Châteauneuf-de-Gadagne geruhsam durchfahren konnte. Sein dunkelblauer Mercedes der E-Klasse hatte inzwischen zweihundertzwanzigtausend Kilometer auf dem Buckel, fuhr aber ohne Murren jede vom Fahrer gewünschte Strecke. Selbst das Rechtsfahren auf den Straßen des Kontinents erfolgte ohne Widerrede.

»Also nochmal«, sagte Ashley gerade. »Du glaubst wirklich, dass ausschließlich Geld die Wurzel allen Übels ist, aller Morde?«

Er nickte, was sie nicht mitbekam, da sie gerade einem gutausehenden Franzosen im weißen Unterhemd und mit stählernem Oberkörper nachsah, was wiederum der Detective nicht registrierte, da er seinerseits zwei jungen Französinnen in kurzen Röcken mit seinem Blick folgte, bis diese hinter einer Straßenecke verschwanden.

»Was ist denn mit Eifersucht, mit Affekt, mit übersteigerten Besitzansprüchen? Gehörst du mir nicht mehr, dann gehörst du auch keinem anderen mehr – das nennt sich, glaube ich, wenn anschließend beide tot sind, erweiterter Suizid.«

»Und Neid.« Blackmore steuerte auf Le Thor zu und gab wieder Gas. »Machtgier. Habsucht. Rache. Wenn ich länger darüber nachdenke, fällt mir bestimmt noch mehr ein.«

»Drogen«, sagte Ashley.

»Das ist kein Motiv. Das sind Lebensmittel.«

Das folgende Lachen, das Blackmore natürlich mit seiner Bemerkung provozieren wollte, hatte es ihm bei ihrer ersten Begegnung schon angetan und ihn glücklicherweise seitdem auch nicht wieder verlassen. »Also in der allgemein verträglichen Form von Gras«, fügte er noch hinzu.

Die Hoffnung auf ein kleines Gesprächsgeplänkel war leider trügerisch, weil seine Freundin den Reiseführer von Lonely Planet durchblätterte und nicht mehr zuhörte. »Ich beherrsche nur eine Sache zur Zeit, die aber hundertprozentig«, hatte sie mal gesagt. »Multitasking ist was für Börsenfritzen mit ihren tausend Telefonen.«

Blackmore suchte am Ortseingang von L’Isle-sur-la-Sorgue nach einem Parkplatz und stellte den Mercedes schließlich vorsichtig in einer fast zu engen Lücke neben einem weißen Kastenwagen und einem Nissan Qashqai mit deutschem Kennzeichen ab, nachdem ein alter R4 herausgefahren war. Er holte das Jackett seines maisgelben Sommeranzugs vom Rücksitz und zog es über. Nur das Fehlen der Krawatte signalisierte, dass er nicht im Dienst war. Mit seinen leicht zu langen Haaren und den grauen Schläfen konnte er fast als Franzose durchgehen. Allerdings trug er Socken in den hellbraunen Slippern, was ein waschechter Franzose nie tun würde. Jedenfalls hatte Alain Delon das nie getan, soweit sich der DCI erinnerte, jedenfalls nicht in dem Swimming-Pool-Film mit Romy Schneider. Er wartete, bis Ashley seinen Arm genommen hatte und sie losgegangen waren. Dann fragte er: »Heute Morgen hast du doch etwas von einem Mord gesagt, bevor wir den Gang ins Frühstückszimmer noch etwas hinausgeschoben haben, nicht wahr?«

Ashley errötete. »Stimmt. Habe ich. Glaube ich. Meine Erinnerung an unsere Unterhaltung ist etwas nebulös.«

»Wo hast du denn von dem Mord erfahren?«

»Aus der Zeitung. Stand in La Provence.«

»Seit wann kannst du denn Französisch?«

»Schon immer. Mein Großvater zweiten Grades …«

»Heißt was?«

»Der zweite Mann meiner Großmutter ersten Grades.«

Blackmore stöhnte. »Wie gut, dass du keine Verdächtige bist, die ich zu verhören hätte. So viel Unsinn auf einem Haufen. Die Zeitung, bitte.«

»Eines nach dem anderen. Mein Großvater, den ich dankenswerterweise bis Mitte Zwanzig haben durfte, hat mit mir stets nur Französisch gesprochen. Er sagte immer, irgendwann sei das britische Empire am Ende, und dann sei es gut, wenn man sich auf dem Kontinent auch in einer zweiten Sprache verständigen könne.«

»Das ist womöglich gar nicht so dumm. Vor allem, wo jetzt May nach der Abstimmung dabei ist, als Premierministerin die Minderheitsmeinung unserer Landsleute, nämlich Europa aufzugeben, in die Tat umzusetzen.«

»Wieso Minderheitsmeinung?«

»Warte mal. Ich habe mir, weil ich das nachrechnen wollte, die Zahlen vom Juni-Referendum aufgeschrieben.« Der DCI entnahm seiner Brieftasche einen zweimal akkurat gefalteten Zettel und las vor: »Bei der Abstimmung über den sogenannten Brexit haben 51,89 Prozent unserer Landsleute für ein Verlassen der Europäischen Union gestimmt.«

»Das reicht doch. Mehrheit ist Mehrheit, und wenn es nur eine Stimme mehr als die Hälfte ist.«

Er nickte und fuhr dann fort: »Aber abgestimmt haben nur 72,21 Prozent der Bevölkerung.«

Ashley rechnete rasch. »Dann waren aber nur 37,469769 Prozent für den Brexit. Also von allen, meine ich. Etwas mehr als ein Drittel.«

»Sag’ ich doch«, sagte Blackmore. »Minderheitsmeinung. Hast du übrigens noch mehr Nachkommastellen?«

»Einige.« Ashley lachte freundlich. »Aber die ändern auch nichts am Ergebnis. Ein Armutszeugnis, finde ich. Europa politisch, wirtschaftlich, kulturell einfach links liegen zu lassen. Warte mal ab, was die Leute in zehn Jahren dazu sagen.«

»Wenn der nächste Volkstribun kommt, oder?«

»Genau. Der verkauft dann wieder das Gegenteil von dem, was die Wähler wollen, ihnen als ihr Bestes.«

Blackmore lachte. »Wie seit den Zeiten im alten Rom. Aber jetzt zu etwas völlig anderem: Was stand denn nun in der Zeitung?«

»La Provence berichtet vom Tod eines beliebten Antiquitätenhändlers in L’Isle-sur-la-Sorgue. Die Tatwaffe steckte noch, als man ihn fand. Ein antiker Brieföffner.«

»Das klingt ja fast nach einem Mord im Affekt. Einen herumliegenden Brieföffner zu wählen – wer tut denn so etwas? Bei einem echten Mord hätte der Täter vielleicht besser geplant und sich für eine vernünftigere Todesart entschieden. Ein Brieföffner bricht ja auch mal ab, wenn er auf eine Rippe stößt.«

»Bessere Todesart, well?«, fragte Ashley. »Dynamit?«

Blackmore lachte. »Das ist zu laut. Nein, weißt du, ein Revolver, falls man zielsicher ist, ein Schal, wenn man es leise mag, Gift vielleicht, wenn man eine Frau—«

»Na, hör mal!« Ashley zog ihren Arm weg. »Die wenigsten Geschlechtsgenossinnen wissen, wie man mit Gift jemanden umbringt, es sei denn, sie sind Apothekerinnen. Nee, nee, das ist ein altes Klischee. Gerade von dir hätte ich mir mehr erwartet.«

»Was denn?«, fragte Blackmore unschuldig.

»Na ja, phantasievollere Todesarten. Stromschläge zum Beispiel, die keiner nachweisen kann. Oder Luft. Injiziert. Oder …«

»Du entwickelst dich mit deinen Überlegungen gerade zu einem Flintenweib. Nachts möchte ich dir jedenfalls nicht begegnen.«

Ashley lächelte breit. »O doch, das möchtest du sehr gerne. Und tust es auch schon …«

Blackmore fragte sich, wann er das letzte Mal rot geworden war. Wahrscheinlich vor längerer Zeit im Pub bei einer der vielen, meist dienstlichen Unterhaltungen mit seiner damaligen Sergeantin Rosie Mannering, inzwischen geschiedene Brooks, zu der er sich durchaus ein etwas näheres Verhältnis gewünscht hatte. Aber seit einiger Zeit war sie nicht mehr in Oxford tätig, sondern – ausgerechnet – nach Cambridge gewechselt. »Stand noch etwas über den Toten drin?«, erkundigte er sich, um hauptsächlich von seiner Verlegenheit abzulenken.

»Tat es. Der Tote war Engländer.«

»Ich dachte, der sei Antiquitätenhändler gewesen. Also Franzose.«

»Das eine schließt das andere ja nicht aus. La Provence schreibt, er sei vor längeren Jahren hierhin gekommen und hängengeblieben. Das gute Essen habe es ihm angetan, was man ihm nach zwei Jahren auch angesehen habe. Er war – Zitat – ›beliebt und beleibt‹.«

Blackmore lachte. »Von wo stammte er denn?«

»Das stand nicht im Bericht. Aber seinen Namen hat man erwähnt, Paul Gascoigne.«

Er stolperte und musste sich am Geländer der kleinen Brücke festhalten, die über einen der vielen Kanäle dieser »charmanten kleinen Stadt« führte, wie es im Reiseführer geheißen hatte.

»Ist dir nicht gut?«, fragte Ashley besorgt.

»Doch, doch. Das war nur der Schreck. Der Name ist ja nicht besonders häufig. Einer meiner engsten Freunde aus dem Studium hieß so; ich habe ihn allerdings vor vielen Jahren aus den Augen verloren.«

»Dann solltest du ihn dir vielleicht wirklich ansehen.«

»Den Toten?«

»Der wird schon in der Gerichtsmedizin sein oder wie sie das hier nennen. Nein, den Tatort meine ich. Komm mit!«

Gehorsam folgte der Detective seiner Freundin.

Vor Krüger stand, wie immer aus dem Ei gepellt – nur das modische Halstuch vom letzten Jahr fehlte –, Bertrand Bonnefoy, Juge d’ instruction. Mit dem Untersuchungsrichter aus Avignon hatten Carmen und er sich angefreundet und den damals rasch gelösten Fall in Bonnefoys Landhausküche mit einem großen Gelage gefeiert. Die etwas zu langen Haare des Franzosen waren mittlerweile ein bisschen grauer geworden, und um die Augen waren eine oder zwei Lachfalten dazugekommen. Ansonsten hatte er sich nicht verändert.

Bonnefoy begrüßte Carmen mit zwei angedeuteten Küssen, zuerst auf die linke, dann auf die rechte Wange; Krüger erhielt ein freundliches Lächeln und einen festen Händedruck.

»Die Umrisszeichnung mit Kreide um den Toten fehlt«, sagte sie und deutete auf den Boden zwischen den Truhen.

Bonnefoy erinnerte sich an ihre erste Begegnung in der Altstadt von Malaucène und lachte. »Es muss ja mal Abwechslung geben. Das Absperrband tut’s doch auch. Was macht ihr überhaupt hier? Soll ich raten?«

»Wir ermitteln«, sagte Carmen mit todernstem Gesicht. »Wie immer.«

»Ferien«, sagte Krüger. »Zumindest versuche ich es gerade. Aber meine wissbegierige Lebensgefährtin …«

»Das Epitheton Freundin gefällt mir besser«, maulte die Freundin und Germanistin. Dass sie außerdem Theologie studiert hatte, verschwieg sie inzwischen, da sie, je älter sie wurde, immer weniger von institutionalisierter Religion hielt.

»Freundin«, fuhr Krüger gehorsam fort, »war der Meinung, wir sollten uns den zufällig in der Nähe liegenden Tatort eines kleinen Verbrechens näher ansehen.«

»Also bitte!« Carmen funkelte den Kommissar an. »Du wärest doch den Rest der Tage in der Provence nur unglücklich gewesen, hättest du den Ort, an dem es geschehen ist« – sie hatte ihre heisere Gespensterstimme zu Hilfe genommen – »nicht selbst besichtigt.«

Bonnefoy genoss schon nach wenigen Minuten die Wiederbegegnung mit den beiden Deutschen. Der Routinefall – Dieb sticht Geschäftsinhaber nieder und flieht mit der Kasse; letztere war nämlich leer aufgefunden worden – versprach doch noch zu einem Stück leichter Unterhaltung zu werden. »Ehe ihr mir jetzt ein Loch in den Bauch fragt, erzähle ich lieber freiwillig, was passiert ist. D’accord?«

»Wir sind immer einverstanden, wenn du etwas vorschlägst«, sagte Krüger.

»Etwas Sinnvolles«, sagte Carmen, etwas leiser.

Bonnefoy verbiss sich ein weiteres Grinsen und begann.

»Vorgestern hat Paul Gascoigne, ein hier seit über zehn Jahren lebender Engländer, seinen Stand mit Möbeln und allerlei anderem alten Plunder aufgebaut. Als er am Abend die bei ihm immer gut gefüllte Kasse, die er zur Sicherheit aus dem Geschäft mitgenommen hatte, abschließen und mit nach Hause nehmen wollte, muss ihn jemand überrascht haben. Der Täter hat zugestochen und ist dann mit dem Geld geflüchtet. Wie viel es war, wissen wir nicht; zur Zeit suchen die Kollegen die Buchungsunterlagen.«

»Wieso hatte er den Schotter denn spazieren geführt?« Carmen hatte sofort einen unlogischen Punkt entdeckt.

»Hat es Spuren eines Kampfes gegeben?«, fragte der Bonner Kommissar.

»Langsam.« Der Franzose schüttelte den Kopf. »Der Reihe nach. Nein, es sieht so aus, als hätten sich Täter und Opfer gekannt. Zuerst wird ihre Unterhaltung auch noch friedfertig verlaufen sein; wir haben zwei leere Tassen mit Espressoresten gefunden.«

»Und dann hat die Macht des Schicksals zugeschlagen«, sagte Carmen theatralisch.

»Verdi?« Manchmal kannte Krüger sich auch in der klassischen Musik aus.

»Da liegst du aber leicht daneben«, sagte Bonnefoy. »Der Dolchstoß passiert in Ein Maskenball. Mit dem Komponisten hast du allerdings recht.«

»Wer hat denn überhaupt gesagt, dass der Tote Engländer ist?«, fragte Carmen. »Der Presse muss man ja nicht alles glauben.«

»Der englische Reisepass.«

Der Untersuchungsrichter holte sein Smartphone hervor, blätterte in einer Fotoapp herum und hielt den Bildschirm schließlich so, dass die beiden Deutschen lesen konnten. »Das hier zeigt im Dokument die letzte Seite links.«

Dort wurde im Falle eines Unfalls oder Ähnlichem der Besitzer des Passes gebeten, Adressen von Verwandten oder Freunden zu benennen. Die beiden handschriftlichen Einträge bezogen sich auf Oxford.

»Na ja«, sagte Krüger gedehnt. »Das besagt doch nur, dass der Tote dort jemanden kannte.«

Carmen war ebenfalls skeptisch. »Wenn meine beste Freundin in München wohnte, trüge ich doch sie ein, oder etwa nicht?«

Bonnefoy warf sich in die Brust. »Wir haben ja immer mehrere Pferde am Start. Sagt man das? Zwei Standnachbarn haben nämlich Stein und Bein geschworen, dass Gascoigne aus der englischen Universitätsstadt kam. Er scheint stolz darauf gewesen zu sein und hat es bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholt.«

Der Untersuchungsrichter sprach den Nachnamen des Toten französisch aus.

»Wenn er Engländer war«, sagte Krüger, »musst du auch die englische Diktion verwenden. Etwa so: ['gæskɔın].«

»Hast du auch die eckigen Klammern gehört?«, fragte Carmen den Franzosen, nie um eine sprachliche Albernheit verlegen.

Der polyglotte Richter grinste. »Of course!«

Krüger war mit den Gedanken ganz woanders. Er holte sein Mobiltelefon aus der Lederjacke und begann, etwas in der App mit seinen Kontakten zu suchen. Schließlich hielt er triumphierend das Gerät hoch. »Wenn wir Glück haben, stimmt die Nummer noch.«

»Wen meinst du denn?«, fragte Carmen.

»Ich habe doch inzwischen zweimal mit diesem freundlichen englischen Ermittler aus Oxford zusammengearbeitet, DCI John Blackmore, weißt du noch?«

Carmen nickte. »Zum einen der Sturz aus dem Fenster im zweiten Stock und zum anderen das Vermächtnis.« Sie referierte dem Untersuchungsrichter kurz die beiden Fälle, die sich 2010 in den Universiäten von Bonn und Oxford ereignet hatten. »Blackmore kann uns bestimmt unterstützen.«

Bonnefoy nickte zögerlich und überlegte. »Eigentlich eine gute Idee«, sagte er schließlich. »Wenn jemand anders die Arbeit tut, muss ich sie nicht selber machen.«

Krüger grinste. »Okay, dann rufe ich mal an. Bertrand, du sprichst ja auch fließend Englisch, redest du dann mit ihm?«

Der Angesprochene nickte.

Krüger betätigte ein paar Tasten und hielt das Handy danach ans Ohr.

Einige Meter hinter ihnen begann ein Telefon zu klingeln.

Oxford 1984: Vertigo

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