Der Sarekmann - Lennart Hagerfors - E-Book

Der Sarekmann E-Book

Lennart Hagerfors

0,0

Beschreibung

In den Nachrichtensendungen häufen sich die Katastrophenmeldungen. Der Sarekmann sieht die Menschheit kurz vor der Apokalypse stehend. Deswegen will er sich einem charismatischen Religionslehrer anschließen, doch dazu muss er zuerst zu einer Reise durch das Sarek-Gebirge aufbrechen. Seine Reise bringt ihm viele interessante Begegnungen ein, bis er eines Tages plötzlich eines Mordes angeklagt wird....1946 wurde Lennart Hagerfors als Sohn schwedischer Missionare geboren und wuchs im Kongo auf. An der Universität Stockholm studierte er Philosophie und skandinavische Literatur. Er arbeitete einige Jahre als Literaturkritiker bei der Zeitung Aftonbladet und später als Chefredakteur bei Bonniers Litterära Magsin. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1979. Heute lebt der Autor in Stockholm.-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 284

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lennart Hagerfors

Der Sarekmann

SAGA Egmont

Der SarekmannAus dem Schwedischem von Verena Reichel nach

Sarekmannen

Copyright © 1993, 2017 Lennart Hagerfors og Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711523896

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Ich bin der sarekmann.Heute, an diesem messerscharfen Spätsommertag im Jahr der Unwirklichkeit 1986, habe ich zum erstenmal entdeckt, daß man mich in der Druckerschwärze der Tagespresse den Sarekmann getauft hat. Ich bin ein Phantom, ein entfernter Verwandter des Phantombilds von Olof Palmes Mörder in den Zeitungen und auf den Plakaten der Polizeifahndung, ja, ich bin ein Phänomen, ähnlich dem radioaktiven Niederschlag in der schwedischen Fjällwelt: ich existiere, habe aber kein Gesicht, es gibt mich, doch man kann mich nicht anfassen.

Ich will erzählen, wie ich zu diesem öffentlichen Gespenst geworden bin, in jenem Jahr, als sich alles in einen endlosen Sumpf verwandelte, in dem wir von Grasbüschel zu Grasbüschel sprangen, um nicht hilflos im Bodenlosen zu versinken.

Der Raum, in dem ich mich befinde, mißt 3 × 4 × 2,5 Meter. Die Klimaanlage rauscht leise, und ich höre den fernen Verkehrslärm von der Straße tief unter mir. Die Luft ist sehr trokken. Ich bin in Untersuchungshaft, unter dem Verdacht, im Sarekfjäll einen Menschen ermordet zu haben. In den einleitenden Verhören wurde ich beschuldigt, Fakten zu vertuschen und frei zu erfinden, und außerdem unterschlage ich angeblich Informationen über eine, wie es heißt, «fundamentalistische, religiös-ökologische Organisation namens Arche, deren Programm terroristische Anschläge nicht ausschließt».

Mein Dasein müßte sich wohl eigentlich im Zustand der Auflösung befinden. So ist es aber nicht. Dieses Stadium liegt hinter mir. Unter der Obhut der staatlichen Polizeibehörden habe ich paradoxerweise wieder festen Boden unter die Füße bekommen. Eingesperrt in diesem kleinen Raum, kann ich wieder anfangen, die handfeste Wirklichkeit um mich herzu begreifen: Bett, Tisch, Stuhl. Jeden Tag übe ich mich darin, die Namen der Dinge zu buchstabieren.

Zugleich muß ich mich aber auch in diesen Sommer zurückschreiben, als ich durch eine Wirklichkeit hetzte, in der sich bei jedem Schritt unter mir eine Falltür auftat. Ich muß diese Geschichte selber schreiben, mein eigenes Kartenblatt vorlegen, da sich der von der Presse begonnene Bericht über den Sarekmann schon im Augenblick seiner Entstehung aus einer erfundenen in eine öffentliche Geschichte verwandelt. Ich will nicht zulassen, daß sie die Erzählung ganz und gar an sich reißen, sie nach ihrem Gutdünken ausdeuten, sie mit einem Ende und einem Sinn ausstatten, den sie überhaupt nicht hat. Ich will nicht, daß ihre zusammengeschusterte Erklärung des Hergangs, ihr «Verständnis», die Erzählung in eine versöhnliche Synthese zwingt, sie mit einem nicht vorhandenen Sinn versieht.

Ich selbst habe keine Wahrheit anzubieten. Ich habe keine Wahrheit, kein Ganzes gefunden. Alles, was ich fand, war ich selbst inmitten einer Erzählung.

Als ich in der engen diele der kleinen Wohnung den Rucksack schulterte, verlor ich das Gleichgewicht und wäre beinahe in den Garderobenspiegel gefallen. Es war nicht zu fassen, daß ich eine Fjällwanderung mit diesem enormen Gewicht auf den Schultern plante.

In der U-Bahn, auf dem Weg zum Hauptbahnhof, klammerte ich mich schweißüberströmt an einen Haltegriff. Ich kam mir albern vor mit einem Rucksack auf dem Buckel, der fast fünfundzwanzig Kilo wog. Die polnische Unterwäsche, die ich trug – ich hatte sie im Ausverkauf erstanden –, war viel zu warm. Ich erinnere mich, daß mir die billigen ostdeutschen Sandalen einfielen, die ich ein Jahr zuvor gekauft hatte, mit sehr dicken und weichen Sohlen. Ich habe mich nie an den federnden, etwas schaukelnden Gang gewöhnt, den sie bewirkten. Kleidung sollte nicht zuviel Aufmerksamkeit verlangen.

Von diesem Moment an ist meine Erinnerung völlig klar. Ich tat einen Schritt auf die Dinge zu. Die langsame Bewegung der Zeit begann nun auch im Takt meines Herzschlags zu ticken. Hier hat es angefangen. Hier bekamen die Ereignisse den Anschein der Wirklichkeit.

Als ich die Bahnhofshalle durchquerte, ging die Müdigkeit in Erschöpfung über. Die Beine schliefen ein, die Schultern wurden taub. Zugleich bemerkte ich, daß es trotzdem ziemlich einfach war, mich vorwärts zu bewegen, wenn ich eine vorsichtige, ein wenig kreisende Gangart einschlug. Es machte mir Freude, meine Bewegungen streng ökonomisch einzuteilen. Gemächlichkeit und Berechnung. Keine überflüssige Geste, kein unnötiger Schritt.

Natürlich hat alles früher angefangen. Aber wann? Ich weiß es nicht. Aufs Geratewohl setze ich dort an, wo in meinem Gedächtnis so etwas wie eine Grenze, ein Anfang erscheint. Bestimmte Szenen sind deutlich, andere diffus, «im Verschwinden begriffen». Jede Episode steht hilflos für sich allein.

Die Ereignisse vor der Bahnfahrt ins Fjäll sind von der Zeitachse abgetrennt, durcheinandergeschüttelt und zu einem schwer deutbaren Muster verstreut. Die Erinnerung ist wie in trübes Badewasser versenkt.

Ich wähle die Kreuzung von Birger Jarlsgatan und Kungstensgatan in Stockholm um sieben Uhr abends am 7. Januar 1986. Die Temperatur um null Grad, Schneematsch. Die Stadt schwarzweiß, nein, braungrau. Sie wirkte wie geräumt, als hätte man die Menschen evakuiert. An der Kreuzung steht ein älteres Wohnhaus mit ein paar Läden im Erdgeschoß, hier gibt es eine Tankstelle, eine Kirche und einen kleinen Park. Eine Miniaturstadt. Zeichen einer Vergangenheit. Irgend etwas war geschehen, doch der Sinn, mit dem die Vergangenheit lockte, war verlorengegangen.

Ich zögerte. Ein paar Autos fuhren vorbei. Wie aus Versehen bog ein Volvo in die Kungstensgatan ein und parkte. Ein Paar stieg aus, der Mann vergewisserte sich, daß die Türen verriegelt waren, während die Frau ihren Mantel zuknöpfte. Dann verschwanden sie in einem Hauseingang, als würden sie sich schämen, daß sie sich zeigen mußten.

Ich ging weiter durch die Kungstensgatan, bis zur Sankt-Eriks-Volkshochschule. Ich war indifferent, oder vielleicht unbewohnt, unmöbliert, eine wandernde Montage. Vom Eingang der Schule aus gelangte man in einen großen, blaßgelben Korridor. Verschiedene Plakate erzählten von griechischen Felseninseln und tiefblauen Meeren. An einem schwarzen Brett hingen eine Menge Kommunikationsversuche: verlorene Handschuhe, geänderte Unterrichtsstunden, Fußball und Chorgesang.

Im ersten Stock fand ich den Unterrichtsraum. Rings um einen großen Tisch saßen mehrere Frauen und Männer, die mich erstaunt musterten und zögernd nickten. Der Kurs lief bereits seit einigen Wochen. Ich war «ein Neuer». Da waren sie und hier war ich. Jede Geste, jedes Räuspern, jedes Wort von mir war etwas, woraus sie ihre Schlüsse zogen. Mein eigener Körper wurde mir zum Feind, zum Verräter, dem man nicht freie Hand lassen durfte.

Dann trat der Lehrer ein. Zunächst bemerkte ich ihn nicht. Ich war so überrascht, weil die übrigen Schüler plötzlich aufstanden und sich verbeugten, daß ich ihn erst sah, als er fast an dem kleinen Tisch angekommen war, der als Katheder diente. Zu meiner Verwunderung merkte ich, daß ich selbst eine Verbeugung andeutete und meinen Hintern ein paar Millimeter vom Stuhl lüpfte.

Der Lehrer hieß Georg Usk. Er war sehnig und hager, und die dünnen Haare hingen ihm über Kragen und Ohren. Er schielte ein wenig. Er schob die Ärmel des Pullovers hoch und entblößte seine glatten, haarlosen, goldbraunen Arme, über die sich ein Muster aus schwellenden Adern und straff gespannten Sehnen spannte. Er trug ein kariertes Hemd, einen dicken Pullover, Jeans und derbe Stiefel. Direkt unter dem linken Auge zuckte ein Muskel. Er sah aus, als habe er seit mehreren Tagen nichts gegessen. Als er auf dem Weg zu seinem Platz hinter mir vorbeiging, streifte mich ein trockener, muffiger Geruch nach Pfeifentabak und lange getragenen Wollsachen.

Hier werde ich unsicher. Wie begann er seine Unterrichtsstunde? Nach meiner Erinnerung sagte er mit tiefer, warmer Stimme einige Worte in einer mir gänzlich unbekannten Sprache. Aber das kann völlig falsch sein. Vielleicht war es ein Traum – ich habe nach der ersten Stunde viel von Usk geträumt und bin oft verschwitzt und beklommen aufgewacht –, in dem er eine Sprache benutzte, die ich zuerst für Holländisch, dann für Isländisch hielt, um schließlich einzusehen, daß es etwas anderes war. Sämtliche Schüler meldeten sich auf altmodische Art mit erhobener Hand, eifrig wie Erstkläßler. Usk ließ sie warten. Er lächelte, und die schielenden Augen suchten die Schüler ab wie zwei voneinander unabhängige Scheinwerfer. Dann wurde er ernst, wandte sich einer Frau zu und nickte. Sie erhob sich und stieß einen räuspernden Laut aus, «hrsch» oder so ähnlich. Dann mußte jeder der Reihe nach dieses Geräusch hervorbringen. Auch ich wurde dazu aufgefordert. Trotz meines wachsenden Unmuts tat ich wie geheißen. «Hier pflegen wir aufzustehen, wenn wir sprechen», wies er mich zurecht. Ich erhob mich übertrieben langsam, sagte das Wort und setzte mich mit einem Ruck wieder hin. Vielleicht war es in diesem Moment, als ich den räuspernden Laut aus meiner Kehle fahrenließ, daß etwas in mir aufriß. Irgend etwas veränderte sich. Ich weiß bloß nicht, ob es in der Sankt-Eriks-Volkshochschule passierte oder im Traum.

Jedenfalls weiß ich, daß er in dieser Stunde den Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten im Islam erläuterte. Er sprach über die Sehnsucht der arabischen Völker sowie der ihnen nahestehenden Kulturen nach einer Richtschnur, einem Weg fort von der egozentrischen Oberflächlichkeit des Abendlandes mit seiner Todesangst, die Atomwaffen entstehen ließ und für alle Zukunft Erde, Luft und Wasser zerstörte.

Er sprach mit monotoner, rhythmischer Stimme, weit entfernt vom Alltagston des privaten Gesprächs. Er hielt eine Rede, er predigte. Das wichtige war nicht, was er sagte, nicht das Wissen, das er uns vermitteln wollte, sondern Klang und Rhythmus der Sprache, der feste, materielle Charakter der Schlüsselworte: Gesetz, Schrift, Volk, Mann, Frau, Muttersprache, Vaterland. Es war schwierig, im Kopf zu behalten, daß er vom Islam sprach. Der Unterricht erzeugte das geradezu körperliche Gefühl einer Schwere in der Brust, einen Geschmack von Süße, ein Gefühl von Schuld.

Später im Traum – es ist indessen nicht ausgeschlossen, daß es wirklich in der Stunde geschah – wurde der Unterricht mit einem spielerischen Exerzitium in der rätselhaften Sprache beendet. Ich weiß noch, daß wir alle aufstehen mußten, um Worte zu skandieren wie «Sang», «Ham», «Mapa», «Blut», «Ort». Der Kopf wurde schwer, die Kiefer unbeholfen und träge.

Unversehens befiel mich Müdigkeit. Ich verspürte Langeweile, Ekel. Die Hosen klemmten im Schritt, die Achselhöhlen wurden feucht, und es war, als sei jede Hautfalte mit einem Streifen Schmutz bedeckt. Ich flüchtete hinaus auf die Straße. Dort fand ich mich von einer übersprudelnden Munterkeit überrascht, Beschwingt ging ich mit schnellen Schritten auf die nächstgelegene U-Bahn-Station zu.

Mit gewalt musste ich den rucksack ins Schlafwagenabteil bugsieren. Ich stellte ihn auf den Boden, ohne auch nur den Versuch zu machen, ihn mit ausgestreckten Armen auf die Gepäckablage zu stemmen.

Bis zur Abfahrt des Zuges war es fast noch eine halbe Stunde. Ich setzte mich auf das untere Bett, das für mich reserviert war, und brach in Gelächter aus. Der Schritt von der Schwermut zur Ausgelassenheit ist manchmal genauso klein wie der vom Pathetischen zum Lächerlichen.

Ich wusch mich im Waschbecken und betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Ich erkannte mich kaum wieder. Das Gesicht sah kantiger und gröber aus, als habe es sich chamäleonartig meiner robusten Kleidung und der schweren Ausrüstung angepaßt.

Ich schob das Fenster herunter und ließ die kühle Luft ins Abteil strömen. Schritte auf dem Bahnsteig, Stimmen, kleine Elektroautos, die herbeigebraust kamen und mit ihren klappernden Wagen im Schlepptau in irgendeinem dunklen Winkel verschwanden. Allmählich trafen die Reisenden ein. Wie sie mit ihrem Gepäck in den Händen angewandert kamen, war es schwer, sich vorzustellen, daß sie gewöhnlich ein triviales Leben führten. Sie schienen allesamt aus einer Art öffentlicher Anonymität zu kommen: mit Hotels, Konferenzen, wichtigen Verabredungen, Geschäftsessen. Es fiel schwer, sich einen von ihnen unterm Weihnachtsbaum zu denken.

Meine Reisegefährten waren jedoch anders. Es waren große Männer in den mittleren Jahren, mit blonden Bärten und schütterem Haar. Der eine trug eine riesige, knallrote Damentasche, die an einer Ecke aufgeplatzt war, und einen kleineren, aber sehr viel älteren Koffer, der von einer Schnur zusammengehalten wurde. Ihr weiteres Gepäck bestand aus Plastiktüten und einer dicken Holzplanke, die sie auf den Boden legten. Sobald sie eingestiegen waren, wurde das Gedränge im Abteil geradezu komisch. Sie kamen und gingen, verstauten das Gepäck und verteilten es wieder um, lachten mit dröhnenden Bässen, rissen Bierdosen auf und aßen ihre mitgebrachten Kebabs. Ihre Kinder und Frauen, die ihnen zum Abschied winken wollten, drängten sich ins Abteil, um es zu begutachten. «Da liegt einer», sagte eine der Ehefrauen, als sie mich zusammengekauert in einer Ecke meines Bettes entdeckte. Die Kinder probierten die Wasserhähne aus, bewarfen sich lachend und kreischend mit den Kissen und wurden schließlich von ihren Vätern umarmt und hinausgeschoben, die dann mit ihren breiten Hintern die Fenster blockierten, bis der Zug mit einem Ruck anfuhr. Die beiden Männer sprachen sich mit Mackan und Gösta an, und sie aßen und tranken in einem fort, bis sie schnarchend einschliefen.

Ich holte meinen Computer aus dem Rucksack. Das war nicht einfach, denn einer der Männer hatte den Rucksack auf eine Ablage gehoben. Meine gute Laune trübte sich ein wenig, als ich das Gerät aufs Bett stellte und mich auf den Bauch legte, um mich ein bißchen zu zerstreuen. Er wog an die drei Kilo. Wozu diese überflüssige Last herumschleppen? Die Ausrüstung war doch schon schwer genug. Neben mir, im Schein der Leselampe, gewahrte ich ein Paar Turnschuhe und ein Paar Stiefel, die die beiden Männer auf die Planke gestellt hatten. Da fiel mir siedendheiß ein: Meine Stiefel standen noch zu Hause in der Diele! Ich hatte die Turnschuhe angezogen und vergessen, die Stiefel einzupacken. Den verflixten Computer hingegen hatte ich nicht vergessen.

«Stiefel vergessen» tippte ich ein, um meinen Schnitzer zu bestätigen und festzuschreiben. Ich wollte noch etwas hinzufügen, beispielsweise, daß ich in Gällivare oder sonstwo ein neues Paar kaufen könnte, aber ich verlor die Lust.

Ich ging aufs Klo, um zu pinkeln. Im Spiegel sah mein Gesicht nur noch käsig aus. Es war, als hätten die beiden Männer im Abteil jegliche Energie und Lebenslust beschlagnahmt und mit in den Schlaf genommen. Ich fühlte mich einsam und traurig.

Im Gang stellte ich mich ans Fenster und schaute hinaus in die Sommernacht. Aber es war weder Tag noch Nacht. Eher sah es aus wie Abenddämmerung oder Morgengrauen. In den Talmulden, etwa einen Meter über dem Boden, hingen dünne Nebelschwaden. In einer Gruppe von Gehöften leuchtete eine Lampe in einem Fenster, eine Reihenhaussiedlung war mit Straßenbeleuchtung ausgestattet, und an den Bahnübergängen bimmelten altmodisch die Signale.

Ein Mann trat aus einem Abteil und steckte sich eine Zigarette an. Er nickte mir zu und schaute zum Fenster hinaus. Nach einer Weile fragte er mich, ob ich eine Fjällwanderung vorhätte. Er selbst war unterwegs zum Tierpark von Padjelanta und begann, über die Ausrüstung zu reden. Lachend erzählte er, welche Schwierigkeiten ihm die Wahl des Schuhwerks bereitet habe. Es hieß, sich zwischen Wanderschuhen und Gummistiefeln zu entscheiden.

In ersteren würden die Füße von außen naß, in letzteren von innen. Da er sich nicht habe entscheiden können, habe er beide mitgenommen, doch auf dem Weg zum Zug sei ihm klargeworden, daß es zu schwer würde, ein zusätzliches Paar zu tragen. Daher habe er wählen müssen und sich für die Wanderschuhe entschieden. Nun müsse er die Gummistiefel loswerden.

Er verstummte, steckte sich die nächste Zigarette an und setzte sich auf einen der Klappsitze. Hemd und Hose war anzusehen, daß er eine richtige Fjällwanderung vorhatte. Die Haare waren dunkel und kurz geschnitten, und der Ansatz einer Glatze war zu sehen. Sein Aussehen war so alltäglich, daß es schwerfällt, sich daran zu erinnern.

Nach minutenlangem Schweigen, während dessen nichts anderes zu hören war als das Rattern des Zuges auf den Schienen und ein Husten im Nachbarabteil, fragte ich ihn nach der Größe der Stiefel. «Dreiundvierzig», antwortete er zerstreut. Ich dachte an die sonderbare Planke, die in meinem Abteil am Boden lag. Warum nahm jemand auf eine Bahnfahrt von Stockholm nach Norrland eine Planke mit? Einer der beiden Männer in meinem Abteil, vielleicht auch beide, mußten aus unerfindlichen Gründen in eins der waldreichsten Gebiete Europas eine Planke mitschleppen.

Er war schon bei seiner dritten Zigarette, als ich mich aufraffte und ihm erzählte, daß ich meine Stiefel zu Hause vergessen hätte, und ihn fragte, ob ich ihm seine abkaufen könne. Zuerst blickte er mich erstaunt an, dann strahlte er und sagte: «Aber klar. Da haben wir ja beide Glück.»

Er verschwand in sein Abteil und kam mit einem Paar nagelneuer Gummistiefel zurück. Für fünfzig Kronen waren sie mein.

Ich konnte nicht einschlafen. Es war schon nach zwölf, und im Abteil war es feucht und stickig. Ich muß dennoch eingenickt sein, denn ich erwachte davon, daß der Zug mit einem Ruck zum Stehen kam. Draußen war es absolut still, weswegen ich vermutete, daß wir nicht an einem Bahnhof hielten. Mackan und Gösta schnarchten und wälzten sich stöhnend herum. Aus einem anderen Abteil war jetzt deutlich ein trockener Husten zu vernehmen. Ich holte den Computer hervor und schrieb: «Es ist schwer zu schlafen. Jemand hustet.» Dann klappte ich den Deckel zu, legte mich auf den Rücken und lauschte mit offenem Mund. Es wurde ganz still. Das Husten hörte auf. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, und ich beschloß, das Gerät trotz allem mit auf die Fjällwanderung zu nehmen.

Gegen Morgen fiel ich in einen tiefen Schlaf. Als der Schaffner mich um sieben Uhr weckte, waren Mackan und Gösta mitsamt ihrem sperrigen Gepäck verschwunden. Das einzige, was sie vergessen hatten, war die Planke. Sie lag verlassen auf dem Boden des Abteils.

Warum bin ich der aufforderung gefolgt, mich in den Sarek zu begeben? Ich, der ständig versucht hat, die Grenzen des Daseins um mich her enger zu ziehen, der einen privaten Bereich abgesteckt hat, in dem alles überschaubar und kontrollierbar ist. Ich habe mich ohne große Umstände aus diesem abgesicherten Gelände herausführen lassen. Warum? Aus Dummheit? Habe ich aus Unvernunft meine Zirkel verlassen, um anderen die Regie zu übergeben? Wohl kaum. Es war mir glasklar, was ich tat. Woher nahm ich den Mut? Von nirgendwo. Es war keine Frage des Mutes. Nein, ich hatte weder Angst, noch fürchtete ich die Konsequenzen. Ich war bloß neugierig. Übte Usks Persönlichkeit oder seine Botschaft eine Anziehung auf mich aus? Seine physische Gestalt, so aufdringlich mit ihren unausgesprochenen Vertraulichkeiten, flößte mir vor allem Unbehagen ein, seine «Lehre» war grotesk, banal und abstoßend.

Das einzige Motiv, das ich mir selber vorstellen kann, war, daß ich mich angesprochen, aufgefordert fühlte. Es gab Menschen, die etwas von mir wollten, die mich bemerkt, mich gesehen, mich erwählt hatten. Aus welchen Gründen, war nebensächlich. Das wichtige war, daß ich in einen Plan einbezogen war, daß mein Leben einen Sinn hatte, der weiter reichte als das Überleben im Alltag.

Noch nie zuvor hatte sich jemand auf diese Weise an mich gewandt. Zwar empfand ich dunkel eine Trauer darüber, daß die, welche sich an mich wandten, kein Gesicht hatten. Oder war es vielleicht das, was mich am meisten anzog?

Ich fühlte mich in stockholm wohl, auch im Winter, wenn es dunkel war und ständig ein kalter Wind wehte und der Schnee sich in schmutzigen Hügeln türmte. Es gefiel mir, herumzustreifen und in Restaurants und Wohnungen zu spähen, die dezent gemütliche Einrichtung zu ahnen, das Auge in dem sanften Licht ausruhen zu lassen, in dem Menschen sich über Teller und Gläser beugten oder in tiefen Sesseln versunken waren oder sich von einem Zimmer zum anderen bewegten. Wenn ich aber selbst in eine Kneipe schlüpfte, war ich oft enttäuscht. Da überkam mich das Gefühl, als hätte jemand, mit dem ich unbedingt hätte sprechen müssen, soeben das Lokal verlassen. Oft befand ich mich am richtigen Platz, jedoch zum falschen Zeitpunkt. Vielleicht hätte Stockholm eine Heimat werden können, wenn ich zu einem anderen Zeitpunkt dort gelebt hätte, beispielsweise in den fünfziger Jahren.

Stockholm war eher ein Arbeitsplatz als eine Heimat. Seit zwei Jahren jobbte ich dort als Busfahrer. Vor gut drei Jahren habe ich meinen Beruf als Sozialarbeiter aufgegeben. Einige Jahre lang hatte ich freigebig Geldanweisungen für die bedürftigen Männer und Frauen der Stadt ausgestellt. Diese Arbeit tat ich gewissenhaft wie eine Postbeamtin. Alle meine redlichen Bemühungen, mir ein ordentliches Verantwortungsbewußtsein zuzulegen, scheiterten jedoch. Versuchte ich, mich hin und wieder für einen Einzelfall einzusetzen, wurde ich von dem Betreffenden mit unangemessenen Forderungen überschüttet: mehr Geld, mehr Mitgefühl, Verfügung über meine Wohnung, mein Telefon, meine Freizeit. Ich glaube nicht, daß ich einen einzigen von ihnen zu einem würdigeren Leben emporgezogen habe. Hingegen bin ich selbst bei mehreren Gelegenheiten gedemütigt und bedroht worden. Am schlimmsten war es, wenn sie meine Liebe forderten.

Als Busfahrer ist der Kontakt mit den Mitmenschen flüchtig und provisorisch genug, daß ich ihn ertragen kann.

Ich wohnte – mein Mietvertrag besteht immer noch – in einem kleinen Einzimmerappartement in der Högalidsgatan. Deine Wohnung verrät mehr über dich als dein geheimstes Tagebuch. Meine Eltern bewohnen eine große Dreizimmerwohnung in der St. Eriksgatan, und meine jüngere Schwester hat eine hübsche Zweizimmerwohnung in Östermalm. So verschieden sind wir.

Es war meine Schwester, die mich für den Kurs in Religionswissenschaft anmeldete. Die Initiative kam so überraschend, daß ich sie für ein Omen nahm, eine leichte Berührung durch die Hand des Schicksals.

Meine Schwester heißt Angelica, ist ausgebildete Juristin und arbeitet in einem Anwaltsbüro. Sie ist voller Arbeitseifer und leidet deswegen oft an Schlafmangel. Jeden zweiten Abend macht sie Überstunden. An den freien Abenden treibt sie Sport. Im Winter fährt sie Slalom, im Sommer macht sie Sporttauchen, Sie liebt Sportarten mit viel Ausrüstung. Oft kämpfen widerstreitende Kräfte in ihrem Inneren. Ich habe beobachtet, wie sie zwei Stunden lang schluchzend Tennis spielte.

Angelica und Papa, der gerade von seinem Amt als Seelsorger pensioniert worden ist, sind sich sehr nahe. Es gefällt ihm, wenn sie die «altmodische Intoleranz» der Kirche kritisiert und angriffslustig dafür plädiert, man müsse sich den «heutigen Verhältnissen» anpassen. Sonntag nachmittags besuchen sie zusammen Ausstellungen und machen Waldspaziergänge.

Papa hat das, was man eine optimistische Lebenseinstellung nennen könnte. Er ist ein moderner Christ, interessiert sich für die Sportschau, Familienautos und Angelsport. Hin und wieder zieht er sich mit einem Roman zurück, und manchmal blättert er zerstreut in theologischen Zeitschriften. An der Fußgängerampel wartet er stets das grüne Licht ab, und im Restaurant senkt er zwei Minuten lang den Kopf zum Tischgebet. Mich hat er immer in allem unterstützt, was ich mir vorgenommen habe. Das Wesentliche sei, wie er ständig betont, daß ich die «humanistische Grundeinstellung» behalte, die unser Zuhause geprägt hat.

Mama ist «nervenleidend», wie meine Tanten es nennen. Ein Jahr nach meiner Geburt wurde sie in die Psychiatrische Klinik von Beckomberga eingewiesen. In dieser Zeit wurde sie auf vorbildliche Weise von Papa, seinen Schwestern und den Gemeindemitgliedern unterstützt. Schließlich blieb ihr keine andere Wahl, als die Krankenhauskleidung und die Neurose abzulegen und wieder zu Hause einzuziehen. Von sich selbst pflegt sie zu sagen, sie habe sich «im Leben nicht ganz zurechtgefunden». Mama ist die einzige Person, deren Nähe mich quält. Es gab Momente, in denen ich sie geliebt habe.

Letztes Weihnachten haben wir wie üblich bei meinen Eltern gefeiert. Ich half Mama, das Essen vorzubereiten. Schweigend und mit behutsamen Bewegungen legten wir die Heringshappen in Glasschälchen, schnitten den Schinken auf und rührten ängstlich die Soße für den Stockfisch an. Mama vergaß sich oft bei dieser Tätigkeit, stand nur da und betrachtete mich mit einem melancholischen Lächeln. Angelica und Papa diskutierten im Wohnzimmer die Wirtschaftslage. Papa begrüßte die Zusammenarbeit zwischen Volvo und Refaat El-Sayeds Biotechnikunternehmen Fermenta. Das würde die Beziehungen zwischen Einwanderern und Urschweden stärken und verbessern, wie er es ausdrückte.

Angelica fiel das Stillsitzen schwer. Sie kam in die Küche und beobachtete unsere stillen Vorbereitungen. Ich dachte, ich würde einen Schlag bekommen, wenn ich sie berührte. Sie verschwand wieder ins Wohnzimmer und rückte den Baum an einen unauffälligen Platz. Dann räumte sie den Tisch ab und deckte mit einem funktionelleren Geschirr, packte alten Christbaumschmuck weg, den Mama bereitgelegt hatte, und lief hinaus, um exotische Speisen einzukaufen, die auf den Weihnachtstisch fremder Länder gehören.

Beim Essen machte Papa einen Fehler. Das ist sonst Mamas Spezialität. Er bedauerte, keine Enkel zu haben. Angelica geriet außer sich vor Zorn, nannte ihn einen Egoisten und behauptete, die meisten Leute würden sich aus egoistischen Gründen Kinder zulegen. Sie würden Gefühle und enttäuschte Hoffnungen auf ein wehrloses Geschöpf projizieren. «Solche Leute sollten sich besser einen Hund zulegen», sagte sie und ging aufs Klo.

Als sie wiederkam, hatte sie rotgeweinte Augen. Sie sagte, sie sei überanstrengt, und legte sich in Papas Bett. Ich half Mama beim Abdecken, während Papa sich die Fernsehnachrichten anschaute. Dann nahm ich meinen Anorak und ging nach Hause.

Was macht berge für menschen so verlockend? Was läßt manche Menschen unglücklich werden, wenn sie sich im Schatten des Berges aufhalten? Trotz meiner Neigung zu Schwindel – oder vielleicht gerade deswegen – haben Höhen mich stets angezogen. Ich könnte jedoch kaum ständig in Gebirgsgegenden leben. Das würde zu große Anforderungen an mich stellen.

Die Ebene und der Wald sind die Landschaft der Routine. Das heißt Arbeit, Dörfer, Städte. Das heißt Menschen, die sich versammeln, Feste veranstalten, sich quer über eine Dorfstraße hinweg streiten, sonntags Gottesdienste abhalten. In Kriegszeiten ziehen gewaltige Armeen gegeneinander auf, und kaum einer weiß, worum gekämpft wird.

In den Bergen leben die Menschen abgesondert, und sie sprechen ungern miteinander. Die Männer sind oft bewaffnet und kämpfen aus persönlichen Gründen. Keiner hält Gottesdienste ab, hier spricht der einzelne mit seinem Gott. Hierher kommt man nicht, um die Mühen der Arbeit mit anderen zu teilen, sondern um einen Ausblick zu haben, um jemand anderem eine Landschaft zu zeigen, zu sagen: «Ab diesem Augenblick, an diesem hohen Aussichtspunkt, wird sich alles verändern.» Ein Vater spricht mit seinem Sohn über die Berufung, nicht über die Einteilung der Arbeit oder die Aufteilung des Erbes. Er spricht nicht vom Wachstum der Pflanzen, sondern von Leben und Tod.

In der Ebene treten sich Erzfeinde in Zwisten und Prozessen gegenüber. Auf dem Berg treten sie sich mit der Waffe in der Hand gegenüber, und nur einer von beiden kommt wieder herunter. In der Ebene sinniert der Mensch darüber, was aus seinem Leben werden soll. Auf dem Berg sinniert er darüber, was das Leben ist. Die Ebene kann im besten Fall Menschen hervorbringen, die Mitgefühl haben, die Verständnis zeigen für den, der anders ist, die imstande sind, so etwas wie Demokratie aufzubauen, im schlechtesten Fall Menschen, die von der Tyrannei der Diktatur gelähmt sind. Solche Menschen sind in den Bergen selten. Dorthin flüchtet einer, der sich der Ordnung der Ebene versagt.

Je älter ich werde, um so mehr habe ich den Segen der Wiederholung schätzen gelernt: sich abends ins Bett legen und die Gedanken um den Joghurt und den Kaffee kreisen lassen, die ich zum Frühstück zu mir nehmen werde, und um die wohlbekannten Haltestellen der Linie 54 und die fast gleich aussehenden Busse. Die Besonderheiten der einzelnen Fahrzeuge verstärkten auf paradoxe Art ihre Gleichartigkeit, genau wie die wechselnden Arbeitsschichten das Gefühl von Routine vertieften. Bestimmte freie Vormittage in der Woche formten sich deutlicher zur Routine als die mechanische Wiederholung der festen Arbeitszeit.

Ich erinnere mich an die Unterrichtsstunde, in der mir Usks spezielle Art zu husten auffiel. Er schien wie mit trockenem Staub gefüllt. Irgend etwas in seiner Kehle konnte sich nicht den in seiner Brust herumwirbelnden Partikelchen anpassen.

Es hat lang gedauert, bis ich anfing, auf seine Worte zu achten. Der Husten nahm meine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. Erst gegen Mitte der Stunde begann ich seine eschatologischen Phantasien zu verstehen. Der Mensch nähert sich dem Punkt in der Geschichte, an dem der endgültige Kampf, sowohl der äußere wie der innere, auszufechten ist. Die materialistische Revolution steht vor ihrem Zusammenbruch, die Wissenschaft ist steril und hochmütig, die Politik ein Sumpf von Kompromissen und Korruption, die Kunst nihilistisch und arrogant, die Menschen sind gehetzt, oberflächlich. Wie die Schweine leben sie in Angst vor physischen Unannehmlichkeiten und stehen ebenso fremd vor den rätselhaften Tiefen der Seele wie das Vieh. Es fehlt nicht an Zeichen: höhere Mächte haben uns durch den Fortpflanzungstrieb eine Warnung erteilt: Aids. Gott hat recht in seinem Hohn: statt Leben zeugt der Mensch Krankheit und Tod. Säuglinge werden aus dem Erdenleben abberufen, kaum daß sie es begonnen haben. Völlig gesund wurden sie von der Aufforderung erreicht: kehre zurück – und in aller Stille haben sie aufgehört zu atmen. Halbwüchsige Mädchen, die Gebärenden der Zukunft, hungern sich selber zu Tode. Die Zeit von Wasser, Luft und Erde ist vorbei. Wir befinden uns im Zeitalter des Feuers. Alles wird verbraucht, ausgebeutet, vergiftet. Die beiden gesellschaftlichen Erscheinungsformen des Materialismus, der Kapitalismus und der Kommunismus, sind stahlglänzende, verheerende Bestien.

«Und kommt bloß nicht an und sagt», fuhr Usk fort und starrte mich mit einem Auge an, «es habe immer schon Untergangspropheten gegeben und das Leben sei trotzdem weitergegangen. Die Entwicklung unseres Planeten in den letzten hundert Jahren ist einmalig. Nichts hat mehr Bestand. Nicht einmal das Universum. Die dem Leben innewohnenden Heilkräfte sind außer Kraft gesetzt. In kindischem Übermut hat der Mensch eine Verantwortung übernommen, der er niemals gewachsen sein wird. Jetzt brauchen wir Einen Großen Plan, Eine Aggressive Demut, Eine Innere und Äußere Revolution, bei der jeder gezwungen ist, aufzustehen und sich selbst, seine Angehörigen und seinen Besitz zu opfern, um die Initiative an Den Großen Beweger zurückzugeben, in dessen Handfläche alles ruht.»

Gegen Ende der Rede wurden seine dünnen Lippen feucht, und die Nasenflügel bewegten sich wie ein Vogel in langsamem Flug.

Es lag eine Drohung in der Art, wie Usk die Worte hervorsang, in seinen trockenen Hustenanfällen und dem asymmetrischen Suchen seiner Augen nach einem Ziel. Trotzdem hätten mich seine schwülstigen Wortkaskaden wohl ziemlich kalt gelassen, hätte sich meiner nicht ein schleichender Verdacht bemächtigt. Die Worte hatten fraglos einen Adressaten. Sie waren nicht an die übrigen Schüler gerichtet – an die, die schon Gläubige waren. Ich war der Humus, in den Usk sorgfältig seine Worte pflanzte. Ich war es, der eingeführt, vorbereitet werden sollte. Mit seiner Rede verfolgte er ein konkretes Ziel. Etwas erwartete mich.

Aus der ferne erinnerte die fjälllandschaft an eine Postkarte. Alles war dekorativ.

Als der Bus aus Gällivare sich Kebnats näherte und die Berge uns zu beiden Seiten umgaben, veränderte sich das Bild. Ich war überrascht von einer ungewöhnlichen Tiefenschärfe, die anderen Gesetzen zu folgen schien. Jeder Ausblick barg ein optisches Phänomen. Es erstaunte mich, wie deutlich ich aus sehr großer Entfernung die Konturen wahrnehmen konnte. Trotzdem war es unmöglich, Abstand, Größe und Form einzuschätzen. Zwei Hügel, die dicht beieinanderzuliegen schienen, waren in Wirklichkeit durch einen großen See getrennt. Der eine war eine kleine Erhebung neben der Straße, der andere ein Gebirgsmassiv zehn Kilometer weiter weg.

Die Berge verwandelten sich, wenn man sich ihnen näherte. Ein gleichmäßiger hellgrüner Hang entpuppte sich mal als undurchdringliches Weidendickicht, mal als steiniger, unwegsamer Abhang oder als Wiese mit Heidekraut und anderen Kriechpflanzen in Schattierungen von Grün, Rostbraun, Gelb, bis hin zu Rot.

Es war bemerkenswert, wie greifbar man das Hineinfahren in die Fjällandschaft erlebte. Ich wurde von einer Welt umschlossen, deren Proportionen mir völlig fremd waren.

Erst bei der Überfahrt nach Saltoluokta auf einem soliden Schiff, das schlecht in die wilde Umgebung paßte und dessen Passagiere eine Handvoll Wanderer und ein paar junge Lappen mit Hunden und Handgepäck waren, fiel mir flüchtig mein «Auftrag» ein. Allein der Gedanke erfüllte mich mit Widerwillen und einem so übermächtigen Gefühl von Unwirklichkeit, daß mir schwindelte und ich meinen Kopf mit beiden Händen umfaßte. Ich verdrängte den Gedanken, so gut es ging.

Die Fjällstation von Saltoluokta war ein rustikales Holzgebäude inmitten von Dickicht und Zwergbirken. Auf der Treppe vor dem Haupteingang, von wo aus man eine schöne Aussicht über den See hatte, stand ein älterer Wanderer und sprach mit einem Lappen über die Niederschläge von Tschernobyl. Ich kam auf dem Weg zum Duschraum im Keller an ihnen vorbei – es würde für lange Zeit die letzte Dusche sein, soweit ich verstanden hatte. Der Lappe sagte, jetzt werde er aufgeben. Man könne gegen Behörden, gegen Kraftwerkunternehmen, gegen Wind und Wetter kämpfen. Aber nicht gegen etwas, das sich Tausende von Kilometern weit entfernt bildete, unsichtbar war und vom Himmel fiel.

Ich verließ Saltoluokta und folgte dem Wanderweg Kungsleden nach Süden, einen Kilometer hinauf durch den Zwergbirkenwald. Dann bog ich nach Westen ab. Der Himmel war wechselnd bewölkt, und es war angenehm kühl. Trotzdem war ich aufgrund der Steigung bald naßgeschwitzt. Durch das enorme Gewicht des Rucksacks fühlte ich mich klobig und unbeweglich. Gleichzeitig merkte ich, daß es durchaus möglich war, auch steile Passagen zu bewältigen, wenn man sich behutsam und mit Bedacht bewegte.

Als ich zum Verschnaufen stehenblieb, war nur mein keuchender Atem zu hören. Die Sonne brach hinter einer Wolke hervor, und jedes Blatt, jeder Grashalm und jede nackte Wurzel traten mit einer Art übersinnlicher Schärfe hervor. Alles war so frisch, daß es aussah, als sei es eßbar. Aber das Fremde war da. Überall. Im Rentierfleisch, in den Pflanzen. Der Gedanke daran war so, als würde man sich selbst entfremdet. Etwas Unbekanntes rieb sich an jeder Sinneswahrnehmung. Es war, als befände man sich in einer einzigen großen Betrügerei.

Ein Stück weiter aufwärts, kurz über der Grenze der Zwergbirken, begegnete ich einem jungen Paar. Sie berichteten, sie seien acht Tage unterwegs gewesen und sehnten sich jetzt nach frischem Gemüse, einem ordentlichen Essen und der Sauna in Saltoluokta.

Gerade als ich den Paß zwischen Lulep Kikau und dem kleinen Gipfel Tjäpurisvaratj erreichte, kam Wind auf. Von der anderen Seite des Sees Pietsaure her zogen dunkle Wolken auf. Ich konnte gerade noch meinen Regenschutz überstreifen, als der Regen schon über mich kam. Bis hinunter zum See waren es knapp zwei Kilometer, und es regnete fast den ganzen Weg. Kurz bevor ich am See ankam, hörte es dann auf. Mitten in der Wolkendecke tat sich ein rundes Loch auf, in dem ich ein Stück hellblauen Himmel entdeckte. Genau dort, wo der Gebirgsbach in den See mündete, bildete sich ein sonnenbeschienener Fleck. Es sah aus wie ein Altarbild. Am Boden dieser schrägen Lichtsäule, einige hundert Meter entfernt, sah ich einen Mann, der sich in dem glitzernden Wasser die Hände wusch. Es war genau die Stelle, wo ich meine Begleiter treffen sollte.

Schlichte neugier ist eine viel stär