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Der Roman erzählt von Henry Morton Stanleys berühmter Expedition im Jahre 1871. Der Leser begleitet den Seemann John Shaw dabei, wie er Stanley durch die Tiefen Afrikas folgt und dabei viele Strapazen erleidet. Durch die im Buch vorhandene Ironie, werden nach und nach viele Klischees entlarvt, die oft in Kolonialliteratur versammelt sind.1946 wurde Lennart Hagerfors als Sohn schwedischer Missionare geboren und wuchs im Kongo auf. An der Universität Stockholm studierte er Philosophie und skandinavische Literatur. Er arbeitete einige Jahre als Literaturkritiker bei der Zeitung Aftonbladet und später als Chefredakteur bei Bonniers Litterära Magsin. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1979. Heute lebt der Autor in Stockholm.-
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Seitenzahl: 219
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Lennart Hagerfors
SAGA Egmont
Die Wale im Tanganjikasee
Aus dem Schwedischem von Verena Reichel nach
Valarni i Tanganyikasjön
Copyright © 1987, 2017 Lennart Hagerfors og Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711523780
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
den 15. Januar 1871
Heute morgen ist mir etwas widerfahren, was vielleicht mein Leben verändern wird. Oder ist alles womöglich nur Einbildung, eine Ausgeburt meines verkaterten Hirns.
Ich erwachte von einer harten, metallischen Stimme in der Gasse vor dem kleinen Haus, das ich seit einigen Monaten gemietet habe. Wie ein scharfes Messer durchschnitt die Stimme Rufe und Gelächter der Vorübergehenden, übertönte sogar das Keifen der Nachbarn und das Geschrei ihrer Kinder.
«Mister Shaw! Sind Sie da?»
Gestützt auf meinen Ellenbogen richtete ich mich zu einer halb liegenden Haltung auf. Meinen pochenden, schmerzenden Kopf beschlich eine unangenehme Vorahnung kommender Unverschämtheiten von irgendeinem Handlanger des englischen Konsulats. Zum Zeitvertreib pflegten sie weniger bedeutende Landsleute auf der Insel zu schikanieren. Doch als der Ruf sich wiederholte, unterschied ich einen neutralen, kalten und deutlichen Ton in der Stimme, der eher auffordemd als herablassend war.
Mit dem rechten Ellenbogen stieß ich die Negerin an, die ich gleich nach meiner Ankunft hier in Sansibar gekauft hatte, und bedeutete ihr mit einer Geste, sich in die Küche zu verziehen. Sie wickelte sich einen schlabberigen, schmutzigen Stoffetzen um die Hüften und schlurfte auf nackten Füßen hinaus, einen säuerlichen Duft von Schweiß, Geschlecht und ranzigem Öl hinterlassend.
Sobald ich mich aufsetzte, brach mir der Schweiß aus. Es war offenbar schon spät am Vormittag, und vor dem einzigen Fenster des kleinen grauen Zimmers blitzten und flimmerten die Sonnenreflexe so stark, daß ich die Augen schließen mußte. Hinter meinen geschlossenen Augenlidern sah ich eine Reihe von Sonnen vorbeirollen, die ihr Licht nadelspitz in den empfindlichsten Teil meines Gehirns bohrten. Als ich die Augen wieder öffnete, konnte ich die wohlbekannten Gegenstände im Zimmer nur mit Mühe erkennen: den Holztisch und die beiden Stühle, meinen Koffer und mein Akkordeon, die Kalebassen mit Palmwein und die Whiskyflaschen, die übelriechenden Bündel der Frau mit ich weiß nicht was …
«Mister Shaw! Sind Sie zu Hause?»
Für einen Augenblick hatte ich die Stimme vergessen. Es berührte mich unangenehm, daß sie sich wieder in Erinnerung brachte.
Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen, und ein furchtbares, blendend weißes Licht fiel ins Zimmer. Bevor ich die Hand schützend vor die Augen halten konnte, gewahrte ich eine Silhouette in dem hereinflutenden Lichtstrom. Ich stand auf und wankte ins Dunkel neben der Tür.
«Mister Shaw?»
«Das bin ich», krächzte ich mit einer Stimme, die noch nicht vom nächtlichen Schleim befreit war.
Umflutet von Licht stand vor mir ein etwa dreißigjähriger Mann. Er war kleingewachsen. Sein Gesicht hatte außerordentlich mürrische, düstere Züge. Um den Mund hatte er scharfe Falten, die Backenknochen traten hervor, die Stirn war hoch und breit. Der Körper war klein, aber kompakt, wie aus einem Guß. Es war kein schöner Mann.
Zuerst schien er Schwierigkeiten zu haben, in der Dunkelheit des Zimmers etwas zu erkennen. Dann wandte er sich mir zu, und für einen kurzen Augenblick begegnete ich dem Blick seiner blaugrauen Augen, bevor dieser langsam an meinem Körper nach unten wanderte. Irgend etwas im Schritt fesselte seine Aufmerksamkeit, und ich war gezwungen, den Nacken zu beugen, um nachzusehen, was es war. Durch den Schlitz der Unterhosen – sonst hatte ich nichts an – zeigte mein Glied mit einer komischen Geste schräg nach hinten aufs Bett, als wolle es dorthin zurück. Unter seinem Blick, der keinen Moment zur Seite wich, mußte ich meine halbe Erektion in die Unterhose zurückstopfen. Es kam mir in den Sinn, daß ich mich schon lange nicht mehr geniert hatte.
«Entschuldigung.»
«Keine Ursache.»
Er selbst stand gerade aufgerichtet da, die zur Faust geballte Linke in die Hüfte gestemmt. In der Rechten hielt er eine kurze Gerte. Den Tropenhelm nahm er nicht ab. Seine Kleidung war einfach, aber von guter Qualität: geschmeidige Lederstiefel, eine Jacke aus feiner Baumwolle und eine derbe Khakihose.
Nachdem er mich gemustert hatte, wandte er sich der Einrichtung des Zimmers zu, horchte beim Geklapper aus der Küche auf und warf meiner Sklavin einen nüchternen Blick zu, als sie neugierig hinter dem Vorhang hervorspähte, der die beiden Zimmer trennte. Als ich sie mit einer Geste wegscheuchte, löste sich meine Lähmung, und ich rückte ihm einen Stuhl hin.
«Womit kann ich dienen?»
Zuerst schien er meine Frage nicht gehört zu haben, sondern verharrte in seinem versteinerten Nachdenken. Dann streckte er sich, faßte mich ins Auge und begann zu sprechen. Kein einziges Mal schaute er weg, kein einziges Mal blinzelte er. Das breite, kräftige Gesicht war unbeweglich, bis auf den hängenden Schnurrbart, der auf eine nahezu obszöne Weise auf und ab hüpfte.
«Mein Name ist Stanley. Henry Morton Stanley. Journalist bei der amerikanischen Zeitung New York Herald, beauftragt von ihrem Chef James Gordon Bennet junior, eine Expedition ins Innere Afrikas zu unternehmen. Ich biete Ihnen den Posten des dritten Mannes an, Sie werden der dritte Europäer bei der Expedition sein, die planmäßig in einigen Wochen von Sansibar aus starten wird. Sie bekommen einen Sold von 300 Dollar pro Jahr, haben einen Diener zur Verfügung und die Möglichkeit, auf einem eigens für Sie angeschafften Esel zu reiten. Dafür verlange ich von Ihnen, daß Sie die Verantwortung für das Boot übernehmen, das ich zum Tanganjikasee mitzunehmen beabsichtige, daß Sie Träger und Soldaten beaufsichtigen und daß Sie pflichtschuldigst jeden Auftrag ausführen, den ich Ihnen gebe. Kurz gesagt – ich verlange, daß Sie dieser Expedition Ihr Leben weihen.»
Es war, als wäre jemand vom Mond gekommen und hätte mich um meine Dienste gebeten. New York Herald? Karawane ins Innere Afrikas? Von Übelkeit überwältigt, mußte ich mich auf den Stuhl setzen, den ich ihm hingestellt hatte. Mein Lehen als Seemann und der Aufenthalt hier auf Sansibar waren zugleich so reich und so arm an Ereignissen, wie ich es gerade noch verkraften konnte. Ein Boot zum Tanganjikasee tragen? Wo liegt dieser See überhaupt?
Stanley spazierte um mich herum und versuchte dabei, meine Aufgaben bei der Expedition, ihre Organisation und Ausrüstung usw. näher zu beschreiben. Ich hörte nicht zu. Seine Stimme kam aus weiter Ferne, während die ganze übrige Welt sich um den kleinen Punkt herum zu konzentrieren schien, dem mein Katzenjammer entsprang. Wie kam es, daß dieses gewaltige Projekt plötzlich zusammengepreßt worden war, um sich durch das Nadelöhr meines Katzenjammers zu zwängen, meines von Überdruß erfüllten, ausgehöhlten Bewußtseins?
Und dann dieser eigentümliche Mann, der vor Energie zu bersten schien und daherredete, als habe man ihm die Zukunft ins Kreuz hineinoperiert.
«Wer hat Ihnen meinen Namen genannt?»fragte ich müde.
«Das englische Konsulat. Dort sagte man mir, Sie seien ein armer Schlucker, faul, aber nicht unbegabt, und Sie würden bald gänzlich versacken, wenn nichts Entscheidendes in Ihrem Leben passiere. Jetzt ist es passiert. Ich habe beschlossen, Sie mitzunehmen.»
«Warum?»
«Ich kann Sie gebrauchen. Folgen Sie mir!»
In diesem Moment kam meine Negerin mit zwei Bechern Palmwein aus der Küche geschlichen, die sie schweigend auf den Tisch stellte. Nach einem kleinen Knicks ging sie rückwärts hinaus, mit vorgebeugtem Oberkörper, so daß ihre runden Brüste hin- und herschaukelten. Stanley trat einen Schritt vor, packte sie am Arm und zog sie in die Mitte des Zimmers zurück.
«Gehört sie Ihnen?»
Als ich nickte, begann er sie zu mustern und abzutasten wie ein Wissenschaftler, der zum erstenmal ein seltenes Säugetier untersucht. Er drückte an ihrem Kopf herum, kniff sie mit steif ausgestreckten Armen in Brüste und Hinterbacken. Sie blieb regungslos stehen, witternd gleichsam, bereit, beim ersten Anzeichen einer drohenden Gefahr zu flüchten.
Als er zufrieden schien, stieß er ein kurzes, schrilles Gelächter aus und gab ihr einen kleinen Schubs in Richtung Küche, in der sie rasch verschwand. Er wischte sich die Hände an einem Taschentuch ab und nahm wieder seine Wanderung um mich und den Tisch herum auf. Schließlich blieb er vor den Flaschen stehen.
«Trinken Sie?»
«Manchmal.»
Seltsamerweise schien ihm das zu gefallen.
«Von jetzt an müssen Sie Ihre Gelüste zügeln.»
Nie und nimmer habe ich Sehnsucht nach strapaziösen Abenteuern gehabt und schon gar nicht davon geträumt, das Innere Afrikas zu erforschen. Ich bin durch und durch bequem und liebe die einfachen Genüsse, ohne deshalb ein Wüstling zu sein. Harter Arbeit bin ich stets aus dem Weg gegangen. Hin und wieder habe ich mich wohl gefühlt mit einer einfachen Tätigkeit an Bord eines stabilen Schiffes, an Tagen, wenn das Meer still ist und die Himmelskuppel sich hoch und friedlich wölbt. Im Hafen gehe ich den üblichen Vergnügungen nach, hure und saufe wie alle anderen auch. Glücklich bin ich eigentlich nur die wenigen Male, wenn ich genug Ruhe habe, um auf meinem Akkordeon zu spielen.
Irgend etwas blockierte mich. Es war, als steckte ich in einem Engpaß fest und eine gewaltige Flutwelle rollte auf mich zu. Ich fühlte mich wie ein kleiner Pfropfen auf einer unermeßlichen Energie. Jemand hatte mich dazu auserwählt, vielleicht durch einen Zufall, als Leiter an etwas teilzunehmen, dessen Tragweite ich keineswegs überblicken konnte. Zugleich aber ließ mich das Angebot eigentümlich kalt. Es war, als sei es nicht an mich gerichtet. Es traf mich nur zufällig.
«Welches Ziel hat die Expedition?»
«Ein Entdeckungsreisender weiß nie im voraus, was entdeckt werden soll. Wüßte er das, brauchte er nicht zu reisen, nicht wahr?»
Unterhalb meines Kinnbartes sah ich Schweißtropfen über die dicken Fettwülste an meinem Bauch sikkern und sich in den Falten verteilen. Hin und wieder blieben Tropfen in den Brusthaaren hängen, wo sie ein wenig schaukelten, bevor sie weiterrollten und schließlich den Rand meiner grauen Unterhosen durchfeuchteten. Meine Hand lag sonderbar leblos auf dem Tisch, und meine nackten Füße auf dem gestampften Lehmboden schienen jemand anderem zu gehören.
Stanleys Stiefel blieben genau vor mir stehen. Er rief einen Namen, worauf ein schwarzer Diener ins Zimmer gerannt kam und ihm ein Papier und einen Stift überreichte. Er legte beides selbst vor mich auf den Tisch und tippte mit dem Finger ganz unten aufs Papier. Ohne zu lesen, was darauf stand, schrieb ich meinen Namen auf den fetten feuchten Fleck, den sein Finger hinterlassen hatte.
«So. Von nun an unterstehen Sie meinem Befehl.»
«Was wollen wir im Inneren Afrikas?»fragte ich nochmals.
Er antwortete nicht, sondern drehte sich um und ging mit festen Schritten durch die lichtüberflutete Tür hinaus. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, als auch schon die Frau in der Küche in Weinen und Klagen ausbrach.
Erst da merkte ich, wie durstig ich war. In zwei Zügen leerte ich die beiden Becher mit Palmwein.
den 1. Februar 1871
Nach dem Kalender sind zwei Wochen vergangen, seit Stanley mich angestellt hat. Sie waren so ereignisreich, daß ich jegliches Zeitgefühl verloren habe. Vielleicht waren es zwei Jahre, seit wir uns in meiner Hütte begegnet sind, die Erfahrungen zweier Jahre scheinen zwischen damals und jetzt zu liegen. Die Eigenbewegung der Zeit dagegen gleicht einem Sturmwind: zwei Wochen sind in einem Zeitraum davongewirbelt, der zwei Tagen entspricht.
Es ist, als fänden die Gedanken in diesen beiden Wochen keinen rechten Halt. Nicht einen Augenblick lang habe ich mich wirklich anwesend gefühlt. Mein Körper war von einem Fieber der Gesundheit durchglüht. Ich befand mich in einem Abstand, war beiseite gestellt. Von wem?
Zwei Jahre, zwei Wochen, zwei Tage? Was spielt das für eine Rolle? Ich bin bei Stanley, und zusammen haben wir unsere Expedition ausgerüstet.
Nichts hat uns hindern können. Hier gibt es kaum einen einzigen Basar oder Markt, kaum ein neu eingelaufenes Schiff, kaum einen Kaufmann und kaum ein Warenlager, die wir nicht besucht haben. Stanley ist unermüdlich. Selbst die verkommensten Negerviertel haben wir auf der Jagd nach Ausrüstung für unsere Expedition durchkämmt. Der Gestank nach Exkrementen, gärenden Müllkippen, Fisch in allen nur erdenklichen Stadien der Fäulnis, Rauch von Feuern und der abgestandene Geruch köchelnder Gerichte, all das drängte sich uns in den engen Gassen auf. Schmutzige, mit Schwären bedeckte Kinder, mit aufgetriebenen Bäuchen und geschwollenem Nabel, kamen aus den baufälligen Hütten gerannt und bettelten uns aufdringlich an. Stanley hielt sie sich mit seiner Gerte vom Leib, ich mit Knien und Armen. Unsere Waden waren vom Gehen im lockeren Sand wie abgestorben, und der Schweiß rann in Strömen (zumindest bei mir, Stanleys Haut war anscheinend zu trocken zum Schwitzen). Noch nie habe ich soviel Wasser getrunken – Wasser!
Kaum weniger mühselig war es in den Arabervierteln, ganz zu schweigen von dem Bezirk, in dem die mohammedanischen Inder wohnen. Dort, in den gewundenen Gassen mit weißgekalkten Häusern, Portalen und Alkoven, mit in den Torwegen postierten Sklaven und, weiter drinnen, schweigsamen Haremsfrauen und Sklavinnen, die in den Innenhöfen herumschlichen, wo sich die Baumwollstoffe zu riesigen Bergen türmten, das Elfenbein wie Holz gestapelt war, Kisten und Körbe mit Werkzeug, Draht und Glasperlen aufeinandergestellt waren, dort schwitzte ich aus anderen Gründen. Der unergründliche, geduldige und überlegene Blick des Orientalen, seine Fähigkeit, dem Europäer ein Gefühl der Unsicherheit und Ungeduld zu geben, als habe er selbst ihm irgendein Wissen voraus, all das berührte mich unangenehm. Sie bewegten sich mit kühler Würde, im vollen Bewußtsein der tiefen Quellen sinnlicher Genüsse, die ihnen in Form von Macht und Ehre, Speisen und Frauen durch ihren Reichtum zur Verfügung stehen. Sie sind allesamt falsch, jedoch beneidenswert.
Sogar Stanley wurde im Umgang mit ihnen steif und nervös. Als Preis und Qualität der Waren erörtert wurden, traten seine Kinnbacken hervor, und die Knöchel der Hand, mit der er die kurze Reitgerte umklammerte, wurden weiß. Es sah aus, als würde er gleich explodieren. Hin und wieder zeigten seine Blässe und ein kurzer Hustenanfall, daß die Explosion nach innen losgegangen war. Verdammte Araber!
Manchmal hat uns Farquhar begleitet. William L. Farquhar ist nach Stanley der Ranghöchste, also derjenige unter den Expeditionsteilnehmern, der direkt über mir steht. Seine Ernennung läßt mich argwöhnen, daß auch Stanley Fehler machen kann. Farquhar ist nämlich jeden Tag betrunken gewesen, was man von mir durchaus nicht sagen kann. Er ist groß und dick, viel fetter als ich, sein rötliches Gesicht endet in einem schütteren Spitzbart, und aus seinem Mund quellen ständig Schwaden von Fusel.
Irgendwann habe ich Stanley gegenüber angedeutet, wie unpassend es sei, ihn mitzunehmen. Aber er lachte nur und erwiderte:
«Keine Angst. Auf dem Karawanenpfad, viele Meilen von den ungesunden Bars dieser Stadt entfernt, werden seine Qualitäten als guter Seemann und scharfsinniger Mathematiker für uns von unschätzbarem Wert sein.»
Seemann und Mathematiker? Auf einer Expedition ins Innere Afrikas? Stanleys Planung ist so minuziös und dabei so unergründlich, daß selbst ich, der seine Gedanken ganz aus der Nähe verfolgt, Schwierigkeiten habe, ihn zu verstehen.
Zuerst dachte ich, Farquhar hätte irgend etwas gegen Stanley in der Hand. Sonst würde er nicht so ruhig und selbstsicher auftreten. Heute schäme ich mich für diesen Verdacht. Es verhält sich wohl eher umgekehrt. Als ich Farquhar zum erstenmal begegnete, schaute er mich amüsiert mit seinen blanken Augen an und sagte:
«Das macht Zwei Seeleute in der Karawane.»
Dann stieß er ein freudloses Gelächter aus. Aber diese Äußerung gefiel Stanley. Ich frage mich bloß, welche inneren Qualitäten dieser Mann besitzen mag, was Stanley eigentlich in ihm sieht. Einstweilen begegne ich ihm mit Respekt.
Bisher habe ich mir von den Negern, die Stanley angestellt hat, nur drei mit Namen merken können. Der eine wird Bombay genannt, ein robustes Mannsbild mit graumelierten Haaren. Er ist zum Hauptmann der Eskorte ernannt, das heißt, der Soldaten. Ihm untersteht eine Schar von Unteroffizieren, von denen ich nur einen beim Namen kenne, Mabruki. Er ist mir aufgefallen, weil er verkrüppelt ist. Eine Hand ist abgestorben – er wurde einmal bestraft, indem man ihn mit gefesselten Handgelenken an einem Ast hängen ließ.
Der dritte ist in Wirklichkeit kein Neger, sondern ein Araber. Als Dolmetscher und persönlicher Diener hat Stanley einen hübschen Araberjungen namens Selim angestellt.
Sowohl Bombay als auch Mabruki sollen an einer früheren Expedition teilgenommen haben, unter der Leitung von zwei Leuten namens Burton und Speke, wenn ich Stanley richtig verstanden habe.
Keiner der Expeditionsteilnehmer darf ein Halbblut sein. Stanley hat mir klargemacht, was für erbärmliche Menschen das sind. Sie sind unzuverlässig, kriecherisch und grausam und haben kein Ziel in diesem Leben. Es mangelt ihnen an Charakter, und sie taugen weder zu Trägern noch zu Soldaten oder Vorgesetzten. Das einzige, was sie zum Handeln anspornen kann, ist ihre Liederlichkeit. Hier auf der Insel gibt es keine Gruppe, die sich so rasch fortpflanzt wie sie.
Mehrere Tage lang ließ Stanley sich kaum blicken. Er stattete zuerst dem amerikanischen und dann dem englischen Konsul seinen Besuch ab. Letzterer trägt den Namen Doktor Kirk. Stanley spricht mit ehrerbietigem Widerwillen von ihm. Als ich ihn einen Tag nach dem Besuch bei Doktor Kirk traf, wirkte er gereizt, hellte sich aber auf, als er mich sah.
«Du bist ein einfacher, gradliniger Kerl», sagte er und schlug mir auf den Arm.
Trotz eines gewissen Schmerzes, denn der Schlag hatte einen empfindlichen Nerv getroffen, freute ich mich über die Wertschätzung, die er mir erwies.
Jedenfalls, die Vorbereitungen für die Reise sind abgeschlossen. In einem riesigen Lagerschuppen, der dem amerikanischen Konsul Webb gehört, ist jetzt alles gestapelt. Die Ausrüstung hat so gigantische Ausmaße, daß es mir unbegreiflich ist, wie das alles ins Innere Afrikas verfrachtet werden soll. Allein diese Berge von Stoffballen, die als Zahlungsmittel für die Ernährung der Expedition und als Tribut für die Häuptlinge dienen sollen, machen einen Wert aus, der das Fünffache von dem darstellt, was ich in meinem ganzen Leben verdienen werde. Dazu kommen die Lebensmittel, Kochtöpfe, zwei demontierte Boote, Seile, Schnüre, Zelte, Sättel, Segeltuch, Teer, Werkzeuge, Munition, Flinten, Hacken, Arzneien, Bettzeug, Geschenke für die Häuptlinge und eine Sonderausrüstung für uns Europäer wie Kleider zum Wechseln, Hygieneartikel und Delikatessen.
Außerdem hat Stanley zweiundzwanzig Esel erworben, die alle keinen Sattel hatten. Endlich gab es Arbeit für Farquhar. Erstaunlich schnell schaffte er es, für jeden Esel einen Sattel anzufertigen.
In den letzten Tagen habe ich kaum ein Wort mit Stanley gewechselt. Aber das liegt an den praktischen Umständen. Farquhars Arbeit mit den Sätteln und mit der Berechnung der Proviantmenge hat Stanley gezwungen, mehr bei ihm als bei mir zu sein.
Eines Nachmittags, nachdem er den ganzen Tag kein Wort mit mir gesprochen hatte und wir im Begriff waren, uns vor seinem Haus zu trennen, sah er mich lange mit seinen graublauen Augen an, die niemals blinzeln. Dann sagte er:
«Shaw, bald werden wir sehen, was für ein Kerl in dir steckt. In Udschidschi, mitten in der tiefsten Dunkelheit, wirst du vielleicht einen Schimmer des Lichts erblicken. Und dann werden wir sehen, ob du dich dieser Gabe als würdig erweist.»
Ich muß ein überaus verständnisloses und einfältiges Gesicht gemacht haben, denn er lachte geniert auf und gab mir einen harten, aber kameradschaftlichen Schlag auf die Wange. Dann machte er militärisch kehrt und stiefelte ins Haus. Worauf immer er angespielt haben mag, ich fühlte mich dessen nicht würdig.
Im übrigen habe ich bemerkt, daß Leute, die ich nicht kenne, mich jetzt in den Gassen grüßen. Sie wissen, wer ich bin: einer von den Leitern der größten Expedition, die jemals aus Sansibar aufgebrochen ist, um von Bagamojo aus den Marsch zu beginnen. Oft lädt man mich auf ein Glas ein.
Jetzt ist Nacht. In nur wenigen Tagen werden wir uns nach Bagamojo einschiffen, wo wir bleiben, bis wir Träger besorgt haben. Heute abend fühle ich mich einsam. Meine Sklavin habe ich schon an meinen Nachbarn verkauft, ein unausstehliches Halbblut, Besitzer der wüstesten Kneipe von ganz Sansibar. Er hatte schon lange ein Auge auf sie geworfen und überbot den üblichen Preis. Sie weinte und jammerte, wie es die Neger zu tun pflegen, sie ist ja auch noch nicht alt, aber sie wird sich wohl bald an ihren neuen Herrn gewöhnen. Im Moment fehlt sie mir jedoch. Für das Geld werde ich unter anderem ein paar Freunde zu einem ordentlichen Gelage einladen, bevor ich abreise.
Vor ein paar Stunden habe ich mir eine Flasche genommen und bin allein einen der schönsten Strände Sansibars entlanggewandert. Ich fühlte mich verlassen, dem Weinen nahe. Es ist eigenartig. Jetzt, wo alles eigentlich anfangen soll, wo ich mich als Mann bewähren, wo mein Leben endlich ein Ziel bekommen soll, ist es, als stünde ich vor dem Ende.
Ich erbrach mich in den Sand. Ich wollte nicht mehr mitmachen. So ist es.
Die Meeresbrise war wunderbar erfrischend, aber mir war übel. Die Wellen spülten sanft über den Strand, und weiter draußen zeichneten sich die Silhouetten der Boote ab, die den Sund zwischen Sansibar und dem Festland befahren. Alles schien so einfach und selbstverständlich. Aber ich gehörte nicht dazu. Ich war ein Fehler. Wie zum Teufel kann Stanley zwei Leute wie Farquhar und mich mitnehmen?
«Es gibt eine Chance von dreiunddreißig Komma dreiunddreißig Prozent, eine Expedition ins Innere Afrikas zu überleben», hat Farquhar neulich mit einem widerwärtigen Grinsen gesagt. In der Mathematik kennt er sich ja aus.
Als ich nach Hause kam, fühlte sich mein Magen leer und unruhig an. Da ich weder einen Essensvorrat hatte noch jemanden, der mir etwas zubereitet, mußte ich zu dem verdammten Halbblut gehen. Er begrüßte mich mit einem zufriedenen Lächeln und sagte, er habe sie schon mehrmals ausprobiert.
«Ich habe ein gutes Geschäft gemacht», stellte er fest.
Ich sah sie vorbeihuschen, bevor sie hinter einem Vorhang verschwand. Sie warf mir einen kurzen, haßerfüllten Blick zu. Ich hätte sie beide umbringen können.
Die Gedanken bringen mich zum Schwitzen, und ich muß ständig hinauslaufen, um meine Blase zu entleeren. Diese verdammte Hure! Dieses verdammte Halbblut! Es wird guttun, morgen mit Stanley zu reden. Und endlich aufzubrechen!
Jetzt will ich schließen – aber es ist ein Trost zu schreiben. Vor meinem schäbigen Haus steht dicht und dunkel die afrikanische Nacht mit ihrer salzigen, abgestandenen Luft. Sie ist voller Geheimnisse. Die Glühwürmchen wissen Bescheid. Zwischen den Häusern hallt das Zirpen der Grillen. Und noch andere Geräusche, die ich nicht näher bestimmen kann, dringen durch mein einziges Fenster herein. Da draußen – da drüben – über den Wäldern, Savannen und Bergen wartet das tiefere Dunkel. Dort leben, in einer dichten, magischen Gemeinschaft, Haut an Haut, Neger, die das Meer nie gesehen haben. Ich gehöre da nicht hin.
Die Neger hier in Sansibar lachen manchmal über mich, als wüßten sie etwas von mir. Ich weiß nichts von ihnen.
Ich denke an meine Heimat, an den ersten Biß in einen Weihnachtsapfel, an den kalten, feuchten Morgennebel über einer gepflasterten Straße, an die Wärme in einem Pub, während draußen der Schnee in großen Flocken fällt. Ich denke sogar an meine Mutter, an ihr bestes Sonntagskleid und den langen Sonntagsspaziergang, den wir Hand in Hand machten, während Papa daheim seinen Rausch ausschlief.
den 15. Februar 1871
Fast zwei Wochen sind vergangen, seit ich zum letztenmal geschrieben habe. Ich habe es nicht geschafft. Alle Kräfte werden aufgezehrt von der Mühsal, Tag für Tag und Stunde für Stunde zu bewältigen. Ich habe nicht einmal mein Akkordeon angerührt. Was mir fehlt, ist jedoch nicht Zeit. Mir fehlt die Ruhe. Ich suche die Einsamkeit, doch zugleich leide ich darunter, ich meide die Gesellschaft der anderen, sehne mich aber nach Gemeinschaft.
Hier in Bagamojo wurden Farquhar und ich jeder in einer Kammer an der Rückseite des Hauses einquartiert, das Stanley mit Beschlag belegt hat. Vor dem Haus, an dem offenen Platz, der Anfang und Ende der Karawanenstraße bildet, haben wir die Zelte aufgeschlagen. Nach der anderen Seite hin hat Stanley einen Pferch für die vielen Tiere der Expedition errichten lassen, und ringsherum patrouillieren Soldaten, um Diebe und Neugierige fernzuhalten.
Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht – ja sogar während der Nacht – herrscht ein unerträglicher Lärm rings um das Haus. Esel schreien, Soldaten rufen und lachen, Ziegen meckern, und Schweine schnüffeln unablässig. Der Gestank vom Kot der Tiere ist schwer zu ertragen, da mein einziges Fenster auf den Pferch hinausgeht.
Nachts schlafe ich unruhig, und tagsüber muß ich die hämischen Blicke der Soldaten aushalten. Aber keiner sagt mehr etwas.
Die letzte Nacht in Sansibar fing damit an, daß wir uns zu einer Gruppe von Europäern zusammenfanden – vor allem englische Seeleute –, die einander in Bars und auf Basaren kennengelernt hatten. Man wollte meine und Farquhars Abreise feiern. Wir spendierten eine Runde nach der anderen. Es war, wie wenn man beim Leichenschmaus über die Stränge schlägt. Ich fühlte mich ganz leer. Aber was fehlte mir eigentlich? Der Alltag? Die künftigen Abenteuer füllten mich nicht aus, dafür aber gingen mir die festen Gewohnheiten des Alltags ab. Es war ein Gefühl, wie wenn man plötzlich auf einem Ohr taub wird. Nur um ein Vielfaches stärker.
«Seht euch mal den Shaw an, wie verbissen der dreinschaut», sagte einer.
«Mach nicht so ein langes Gesicht», sagte ein anderer, «nimm ein Glas und freu dich auf deinen künftigen Ruhm!»
Wir aßen und tranken die halbe Nacht. Um drei brachen wir auf. Ich ging zu mir nach Hause – nach Hause? – und versuchte zu schlafen. Es ging nicht. Michjuckte es von Kopf bis Fuß.
Nachdem ich mich über eine halbe Stunde im Bett hin- und hergewälzt hatte, stand ich auf, zündete eine kleine Stallaterne an und machte mich zum Gehen fertig. Da ertönte ein verstohlenes Klopfen an der Tür. Es war Farquhar.
«Ich komme nicht mit», sagte er kurz.
Wir standen unbeweglich da und sahen uns bloß an. Das Licht meiner Stallaterne fiel von unten über sein Gesicht, und es wirkte grotesk aufgedunsen, mit dunklen Schatten, die einen starken Kontrast zu den gelblich ausgeleuchteten Partien blanker Haut bildeten.
Da fing ich an zu lachen. Schwankend tastete ich mich zum Bett zurück, während Farquhar sich still auf einen Stuhl setzte. Das Gelächter war nicht aufzuhalten. Farquhars Bemerkung hatte einen Pfropfen herausgezogen, und mit dem Gelächter flossen die ganze Expedition, jede Glasperle und jedes Feuersteingewehr aus meinem Körper heraus.
«Ich komme auch nicht mit. Stanley muß allein reisen. Er ist von einem anderen Schlag.»
Viel mehr wurde nicht gesagt. Wir standen auf und gingen wie Schlafwandler in die tropische Nacht hinaus. Draußen herrschte pechschwarze Dunkelheit. Die Stallaterne warf einen gelblichen Schein auf die Hauswände, über die sich mit Riesenschritten die grotesken Schatten unserer Beine bewegten. Schweigend durchquerten wir leere Gassen. Ein Hund schlüpfte vorbei, mit irgend etwas im Maul, ein paar Ziegen duckten sich an eine Hauswand, und warnend gackerten Hühner auf den Innenhöfen. In einem Haus hörten wir einen Säugling schreien, in einem anderen schluchzte verzweifelt eine Frau. Nur ein einziger Hund bellte uns an. Ich fühlte mich heimisch.