Der Schatten des Baphomet - Stefan Grabinski - E-Book

Der Schatten des Baphomet E-Book

Stefan Grabiński

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Beschreibung

Stefan Grabiński (* 26. Februar 1887 in Kamionka Strumiłowa, heute Ukraine; † 12. November 1936 in Lwów) war ein polnischer Schriftsteller und Autor von Horrorliteratur, der gelegentlich auch als "der polnische Poe" bezeichnet wurde. Grabiński arbeitete in Lemberg und Przemyśl als Lehrer und wurde für seine in Demon ruchu gesammelten Eisenbahngeschichten bekannt. Eine Anzahl seiner Werke wurden von Miroslaw Lipinski ins Englische übersetzt und als "The Dark Domain" publiziert. Andere Werke, wie zum Beispiel Szamota's Mistress, wurden verfilmt. Grabiński starb im Jahr 1936 an Tuberkulose.

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Stefan Grabinski

Der Schatten des Baphomet

Düstere Welten - Band 5

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Stefan Grabinski – Der Schatten des Baphomet

Düstere Welten – Band 5

Stefan Grabinski – Der Schatten des Baphomet

1. eBook-Auflage – März 2013

© vss-verlag Hermann Schladt

Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von http://www.freepics.com/

Übersetzung: Izabella Steffens

Lektorat: Hermann Schladt

Wie ein Blitz

Pomian war bereit. Er erhob sich vom Schreibtisch, streckte den vom stundenlangen, nächtlichen Sesselhocken krumm gewordenen Rücken und lächelte. Er war bereit. Vor ihm türmte sich ein Stoß frisch beschriebener Blätter - vermutlich die letzten Akkorde seines Schaffens und Lebens. Das Werk war vollendet. Liebevoll legte er die Hand auf das Manuskript. Die in dieser Nacht geborenen Gedanken, gebannt in schöpferische Worte in diesem außergewöhnlichen Augenblick, schienen noch durchpulst vom Blut des Geburtsvorgangs, noch nicht erstarrt zur toten Form des Buchstabens . . .

Auf der linken Seite des Schreibtisches unter dem Briefbeschwerer lag das Testament, geschrieben mit der sicheren, ruhigen Hand eines Menschen, der freiwillig aus gewichtigen Gründen die Arena des Lebens verlassen will. . . Noch einmal überflog er das Schriftstück. Alles war in Ordnung: die Unterschrift, das notarielle Siegel, die Namen der Zeugen . . .

In der Mitte des Schreibtisches, auf einer Mappe ein paar Briefe: an den Bruder, an die Verwandten in Krakau und an die Mutter. Den letzten las er noch einmal durch und wurde nachdenklich . . . Das teuerste, das heiligste Wesen, das er auf der Welt hatte! Die Ärmste, ob sie den Schlag, den er ihr zufügen wird, überlebt?

Er spürte, wie ihm Rührung die Kehle zuschnürte. Tränen, unmännliche Tränen traten in seine Augen.

»Mutter, liebste, beste, ich konnte nicht anders! . ..«

Hastig steckte er den Briefbogen in den Umschlag und klebte ihn zu. Die wichtigsten Dinge waren erledigt; nichts stand mehr der Vollstreckung der Tat entgegen, die ihm das Gewissen gebot. Vor ihm lag hell und gerade wie eine königliche Paradestraße sein Weg. Es war Zeit, ihn zu beschreiten ... Er schaute auf die Uhr. Es war elf Uhr vormittags. So blieb ihm nur noch eine Stunde. Er zog sich um, trank eine Tasse heiße Schokolade, zündete sich eine Zigarette an und ging hinaus. Inzwischen war es viertel zwölf geworden. Bis zum Zigeunerwäldchen, das als Treffpunkt vorgesehen war, brauchte man eine gute halbe Stunde; er beschloss, diesen Weg zu Fuß zurückzulegen. - Die Bewegung würde ihn erfrischen und beleben. Er ging schnellen, elastischen Schrittes und blickte rasch und beinah fröhlich bald nach links, bald nach rechts.

Eigentlich war es ganz gut, dass die Angelegenheit eine solche Wende genommen hatte. Am schwersten waren die Momente des Zögerns, des Ringens um einen Entschluss gewesen; heute, wo er nun vor der Ausführung stand, empfand er ein Gefühl großer Erleichterung, so als wäre ihm ein Stein, der ihn seit Jahren bedrückte, vom Herzen genommen. Er durfte stolz auf sich sein, ging es doch hier nicht um einen einfachen, gewöhnlichen Ehrenstreit oder um die Beseitigung eines persönlichen Zwists. Pomian hatte eine »Sendung« zu erfüllen und würde möglicherweise sein eigenes Leben dafür hingeben müssen. Entweder er oder Pradera, eine dritte Möglichkeit gab es nicht. Den Tod fürchtete er nicht, denn er glaubte nicht an ihn; ein Leben jenseits des Grabes war für ihn etwas so Sicheres und Natürliches wie die Tatsache, dass auf die Nacht der Tag folgt...

Er verlangsamte seinen Schritt. Von einer Bank auf der Grünanlage erhob sich eine Blumenverkäuferin und kam mit den Augen eines zaghaften Rehs auf ihn zu.

»Rosen, Orchideen!« pries sie schüchtern ihre Ware an. »Erst heute Morgen frisch geschnitten.«

Er suchte zwei Rosen aus: zwei purpurfarbene, üppig erblühte; eine steckte er ins eigne Knopfloch, die andere schob er in ihr Mieder. Sie wurde dunkelrot wie die Blume an ihrer Brust.

»Ich danke Ihnen.«

»Adieu, schönes Mädchen.«

Er überquerte die Grünanlage und tauchte ein in die Häuserflucht der nächsten Straße. Ganz an ihrem Ende schimmerte eine Schwadron Kavallerie, mit Standarten, Lanzen, rhythmischen Pferdebewegungen. Nach einer Weile gesellten sich die Klänge einer Militärkapelle und die Menge der Gaffer hinzu . . . Das alles bewegte sich vom Ende der Straße ihm entgegen. Die Ausläufer der Menschenlawine erreichten und umfluteten ihn. Sie umfluteten, doch verschlangen ihn nicht - er blieb für sich, zerschnitt mit seinem Körper das gierige Magma und riss sich eine Bahn die Straße hinauf nach Podwale zu. Plötzlich blendete ihn ein weißer Fleck; aus dem Getümmel der Vielfalt stach dieses eine Motiv hervor und machte auf sich aufmerksam. Ein lächerliches, banales Motiv. Jemandes weiße Pikeeweste. Haha, kurios! Kaum zu glauben! Vielleicht, weil dieser Mensch den Hut vor ihm zog?

Wer war das? Wer war dieser hochgewachsene Stutzer? Die flüchtige Begegnung zweier Augenpaare sagte nichts; ein völlig unbekanntes Individuum. Warum hat er gegrüßt? Keine Ahnung. Hahaha! Vielleicht hat er gemerkt, dass ich so penetrant auf seine Weste gestarrt habe? Vielleicht hat er meine Bewunderung und Anerkennung für dieses weiße Kleidungsstück gespürt? Und sich mit einer Verbeugung dafür bedankt. Hahaha! Wie leicht man doch manche Menschen beglücken kann ...

Das Gewühl wogte vorbei, die Musik verebbte hinter der Straßenbiegung im Häusermeer. Pomian wandte sich ab und blickte geradeaus. Vor ihm lag zusammengeballt zu einem einzigen großen Knäuel die Stadt wie ein von Riesenhand zusammengepresstes Panorama. Ein paar Fabrikschlote rauchten gemächlich. Im Norden verwob ein glutroter Dunststreifen den Rand der Zitadelle mit dem Fluss.

Er passierte die Stadtgrenze. Vor dem Restaurant »Zum Papagei« erblickte er Danielskis Auto. Sie warteten schon auf ihn. Czorsztyhski kam ihm mit ausgestreckten Armen entgegen und sah den Freund besorgt und forschend an.

»Wie fühlst du dich, Tadzik?«

Pomian spürte in des Freundes Stimme ein Beben.

»Ausgezeichnet! Wie noch nie in meinem Leben. Ich danke euch, meine Lieben, dass ihr so pünktlich zur Stelle seid. Fahren wir?«

»Ohne Verzug. Wir haben ja nur noch zehn Minuten Zeit.«

Sie stiegen ein. Der Wagen fuhr los und hüllte sich sogleich in einen Staubschleier. Pomian, dem nicht entging, dass Danielski ihn von der Seite her verstohlen beobachtete, schlug ihm leicht mit der Hand aufs Knie.

»Lolek, du bist heute so sonderbar. Hat dir Ida wieder eine Szene gemacht?«

Der Freund lächelte, gab sich geschlagen.

»Bravo, Tadzik! Deine Haltung gefällt mir. Man könnte glauben, du führest zu einer Hochzeit.«

Über den Köpfen der Fahrenden rauschten die Kronen der ersten Fichten: Sie hatten den Zigeunerwald erreicht. Czorsztyhski erhob sich vom Sitz und beobachtete stehend durch den Feldstecher eine Stelle in der Ferne.

»Ich glaube, die anderen sind noch nicht da«, sagte er nach einer Weile mit einem Gefühl der Erleichterung.

»Das ist gut«, erwiderte ebenfalls befriedigt Danielski. »Dann warten wir eben. Ist mir lieber, wenn wir zuerst da sind.«

Das Auto beschrieb einen weiten Bogen, überquerte einen schmalen Waldweg und hielt auf einer von Bäumen umschlossenen Lichtung. Es war fünf Minuten vor zwölf.

Der Arzt holte einen Klappstuhl aus dem Koffer, stellte ihn auf und begann das chirurgische Besteck darauf zurechtzulegen. Die Klinge einer Lanzette, die er ans Licht hielt, gefiel ihm nicht. Daraufhin entkorkte er ein Fläschchen mit einem Sublimat, hielt einen Wattebausch an die Flaschenöffnung, tränkte ihn mit der Flüssigkeit und reinigte das Blatt des beanstandeten Instruments. Seine bedächtigen, wie in Minuten und Sekunden eingeteilten Bewegungen reizten Czorsztyhski.

»Mußten Sie denn ausgerechnet hier, fast mitten auf der Wiese, Ihren Kram ausbreiten«, bemerkte er ärgerlich und wies mit einem diskreten Blick auf Pomian, der sich gerade umwandte.

»Aber Julek, so lass doch unseren lieben Doktor in Ruhe seine Vorbereitungen treffen. Es wird genug Platz sein.«

Inzwischen sondierte Danielski das Terrain. Das kurze seidenweiche Gras der kleinen Lichtung, in das da und dort blaue Vergissmeinnicht eingestreut waren, breitete sich wie ein Teppich zu ihren Füßen aus.

»Glatt und eben wie ein Tisch«, stellte er an Czorsztyhski gewandt fest. »Also auf 30 Meter Entfernung, wie?«

»Ja. Doch überlass das mir! Ich messe selber ab.«

Danielski lächelte. »Natürlich. Du hast die längeren Beine«, sagte er leise.

Vom Rathausturm her wallten Wogen eherner Glockenklänge an ihr Ohr. Es war zwölf Uhr mittags.

»Der Herr Gegner verspätet sich. Wollen wir noch lange warten?« fragte Danielski ungeduldig.

»Es muss in letzter Minute etwas Wichtiges dazwischengekommen sein«, erklärte Pomian und zündete sich eine Zigarre an. »Eine Stunde sollten wir wenigstens noch warten.«

»Mit Verlaub«, protestierten die Freunde einmütig. »Mit Verlaub, mein Lieber! Wenn er nicht bis halb eins erschienen ist, schreiben wir ein Protokoll. So war es abgemacht, das weiß die andere Seite ganz genau.«

»Wie ihr wollt«, entgegnete er gleichgültig, während er die blauen Rauchspiralen seiner Zigarre mit dem Blick verfolgte.

Czorsztynski nahm ein Paar Pistolen aus dem Futteral und gab sie dem Gefährten zur Begutachtung.

»Alles in Ordnung«, konstatierte Danielski nach einer Weile. »Je sechs Patronen in den Magazinen; das genügt. . .«

Ein nervöses Autohupen unterbrach ihn. »Endlich!« sagte Pomian, atmete erleichtert auf und warf die Zigarre weg.

Dem Auto entstiegen zwei dunkle, schlanke männliche Gestalten.

Pomian blickte beunruhigt hinüber; seine scharfen Augen erkannten, dass der Gegner nicht dabei war. »Wo ist Pradera?« fragte er leise. Indessen tauschten die Sekundanten eine kühle, zeremonielle Verbeugung. Auf den Gesichtern der beiden dunklen Gestalten waren Zeichen starker Gemütsbewegung erkennbar.

Es muss etwas passiert sein, dachte Pomian und ging rasch auf sie zu.

»Meine Herren!« sagte mit seltsam veränderter Stimme einer von Praderas Zeugen. »Sie müssen uns die Verspätung verzeihen. Es hat sich etwas nicht Vorherzusehendes ereignet... Kazimierz Pradera ist tot. . .«

»Nicht möglich!« stieß Pomian äußerst bestürzt hervor.

»Leider. Es ist die traurige Wahrheit. Minister Kazimierz Pradera starb vor knapp einer halben Stunde eines gewaltsamen Todes, ermordet von der Hand eines unbekannten Attentäters. Meine Herren! Lassen Sie uns, ohne Rücksicht auf Ihr Verhältnis zu ihm, das Andenken dieses ungewöhnlichen Menschen ehren.«

Pomian, kreidebleich, nahm mechanisch den Hut ab. Die anderen folgten seinem Beispiel. Eine Zeitlang herrschte bedrückendes Schweigen. Dann begab sich die aus sechs Männern bestehende Gruppe langsamen, schwerfälligen Schrittes zurück zu den wartenden Autos. Unterwegs blieb Pomian ein paarmal stehen; sein unsteter, irgendwie verwunderter Blick irrte über die Konturen der Bäume, wanderte ratlos über das Strauchwerk, verharrte reglos im Raum. Man musste den wie geistig Abwesenden ins Auto schieben.

Als sie um die Ecke bogen und in die Senatorenstraße einfuhren, rissen ihn die Stimmen der Zeitungsverkäufer aus seiner Erstarrung:

»Minister Pradera ermordet!«

»Heimtückischer Mordanschlag! Das Opfer: Minister Pradera!!

»Grauenvoller Tod von Minister Pradera!«

»>Kurier< mit Sonderbeilage zum Tod des Ministers! Sonderbeilage im >Kurier!< Sonderbeilage!«

»Morgendepesche der >Umschau<! Tragisches Ende eines Ministers!« »Pradera tot!«

»Pradera Opfer einer politischen Mafia! Morgendepesche! Morgendepesche!«

»Heimtückischer Mordanschlag auf den Minister!«

Besuch im Palais in der Jasnastraße

Der Antagonismus zwischen Pomian und Pradera hatte seine Vorgeschichte. Er war organischer, grundsätzlicher Natur, reichte bis zu den Wurzeln fundamentaler Dinge, die über den Umkreis der persönlichen Beziehungen zweier überragender Persönlichkeiten hinausgingen. Dieser in seinem Wesen einzigartige Konflikt überschritt die Grenzen privater Händel und berührte den Bereich allgemeiner Interessen. Er gehörte zum Komplex öffentlicher Angelegenheiten, ging alle an, betraf jedes bewusst denkende Individuum. Daher schien der Schatten, der auf die Galerien des kleinen Palais in der Jasnastraße gefallen war, seine dunklen Spuren weit über die Grenzen des behaglichen Domizils des Ministers auszudehnen, indem er den Trauerflor düsterer Rätsel auf die Abläufe des gesellschaftlichen Lebens warf. Instinktiv fühlte man, es ist ein folgenschweres Ereignis eingetreten, der »Fall Pradera« ist der Epilog eines Kampfes um bestimmte Werte, der nicht erst seit heute oder gestern stattgefunden hat, das Ende des Ringens um bestimmte Grundsätze, die tragische Lösung eines Konflikts, dessen Motive sich periodisch durch alle Jahrhunderte menschlicher Existenz auf Erden wiederholen. Man fühlte zwar etwas, war sich jedoch der Tragweite des Ereignisses nicht völlig bewusst: Dazu war die Gesellschaft damals leider noch nicht herangereift. Man erahnte dieses und jenes zwischen den Zeilen der Presseartikel, manchem dämmerte einiges aus dem Wust der Broschüren, die ad hoc die geheimnisvolle Affäre in der Jasnastraße »kommentierten und analysierten« - doch niemand konnte sich zu einer tiefschürfenden und endgültigen Darstellung des Problems aufschwingen: Wie so üblich bei uns, gab es nur Andeutungen, zaghafte, auf Schritt und Tritt hinter den Schutzwall des üblichen sich zurückziehende Vermutungen und die Tatsache verharmlosende, banale und seichte Hypothesen.

»Herrschaften!« warnte eine sachliche Stimme in einer der Zeitungen, »Herrschaften! Wir sollten doch tunlichst vermeiden, metaphysische Elemente in die Sphäre des gewöhnlichen Verbrechens einzubringen! Alles, nur das nicht! Wir würden uns da nur grenzenlos blamieren!«

Die Warnung wirkte heilsam. Seitdem hielt man den Fall in den engen Grenzen der »praktischen Vernunft«. Die Meute der Polizisten-Spürhunde schnüffelte in gewohnter Weise nach der Spur, die zum Mörder führte, und die Untersuchungsrichter strapazierten gemäß der alt-«bewährten« Methode ihre Gehirnkästen bei verbissenen, routinierten Zeugenvernehmungen.

Es kam nichts dabei heraus. Nach einem Monat Ermittlungen war die Untersuchung an einem toten Punkt angelangt. Die Angelegenheit war in eine Sackgasse geraten, es gab keinen Ausgang, weder auf der linken, noch auf der rechten Seite. Man hätte eigentlich zum Rückzug blasen müssen, doch dazu fehlte es bereits an Mut.. . und an Ehrlichkeit sich selbst gegenüber.

Pomian war der einzige, der von Anfang an das Wesen dessen, was sich zugetragen hatte, begriff. Nach' den ersten Tagen der Benommenheit, hervorgerufen durch das völlig überraschend eingetretene Ereignis, kam er allmählich wieder zu sich und begann zu analysieren. Langsam traten die Folgen des Schlages, der ihn so völlig überraschend getroffen hatte, in den Hintergrund und machten einer ungeheuren, immer tiefer in die Sache eindringenden Verwunderung Platz. Das seltsame Zusammentreffen der Umstände, jene außergewöhnliche Gleichzeitigkeit des eingetretenen Todes und des nicht zustande gekommenen Duells, war anscheinend nicht dem Zufall zuzuschreiben. Er sah darin geheimnisvolle Bedeutungen. Was am 22. September geschehen war, wies darauf hin, dass seine Absicht, mit der er sich schon lange getragen hatte, rechtens gewesen war. Das »Schicksal« hatte sich auf seine Seite gestellt und war dem Todesstoß zuvorgekommen, den er Pradera hatte versetzen wollen. Die Hand des Mörders, die das Messer in das Herz des Ministers stieß, war nur ein blindes Werkzeug. Er starb, weil er sterben sollte, weil er sterben musste. Zwar wäre es Pomian lieber gewesen, wenn es einen Kampf mit gleichen Chancen gegeben hätte, doch die Höheren Mächte hatten anders entschieden: Ein anderer hatte »das« für ihn ausgeführt. Doch warum tat es ein anderer? Warum stellvertretend für ihn?

Vielleicht, damit der Todesstoß sicherer und unfehlbarer war - vielleicht auch, um ihn, Pomian, vor eventuellen Folgen des Duells zu schützen. Offensichtlich war ihm beschieden, am Leben zu bleiben und das begonnene Werk zu vollenden. Er war der »Idee« zuliebe verschont geblieben. Der tragische Tod des Gegners wurde für ihn zu einem Beweis für die Richtigkeit der »Sache«, in deren Namen er Pradera den Kampf auf Leben und Tod angesagt hatte. Pomian spürte mit einemmal, wie sich rings um ihn eine Atmosphäre übersinnlichen Wohlwollens ausbreitete, die jeden seiner Schritte zu behüten und ihn vor »bösen Abenteuern« zu schützen schien. So gab er sich denn der unsichtbaren Obhut mit der stillen Freude eines Kindes hin, ohne eine Spur von Stolz, wohl wissend, dass dies ein vorübergehender Zustand war, der nur so lange währen würde, wie es angeraten und nötig war.

Pradera und er kannten sich schon lange, hatten gemeinsam die Schulbank gedrückt. Schon damals, beinah schon bei der ersten Begegnung im Gymnasium, hatten sie begriffen, dass sie krasse Gegensätze waren. Der Kontrast ihrer Charaktere und Geistesgaben trat bereits damals deutlich, manchmal sogar krass zutage. Selbst vom Physischen her waren sie auffallende und bemerkenswerte Gegensätze. Pradera, groß, stämmig und stark, war der beste Sportler der Schule, von den Schulkameraden geliebt und vergöttert. Pomian hingegen, mittleren Wuchses, schmal, mit eingefallenem Brustkorb, galt als morbider, schwächlicher Schönling.

Beide waren auffallende Erscheinungen, wenn auch völlig entgegengesetzten Typs. Praderas Mentalität, klar, heiter und nüchtern, erfasste die Wissenschaften vom Gesichtspunkt des Praktischen her. Er verfügte über enorme Fähigkeiten, hatte ein hervorragendes Gedächtnis, war ein As in Mathematik und in allen naturkundlichen Fächern.

Pomian war ein Träumer. Er sah die Phänomene des Lebens gefiltert durch den Destillierapparat seiner Seele und seines Herzens. Sie waren umwoben von den Nebeln des Geheimnisses und der Andeutungen. Er blickte mit vor Verwunderung geweiteten Augen eines großen Kindes in die Welt. Eine große, stille Trauer lag in diesen blauen, ein wenig müden Augen. Er war von leidenschaftlicher Frömmigkeit. Erzogen unter der zärtlichen Obhut seiner Mutter, einer ungewöhnlichen, phantasiebegabten und sehr empfindsamen Frau, war ihm von ihr die Neigung zur mystischen Weltsicht überkommen. Daher war er nicht sehr beliebt. Die Klassenkameraden mieden den »heiligen Pomian«, bezichtigten ihn heuchlerischer religiöser Schwärmerei. Und auch er hielt sich von den anderen fern. Ihn ärgerte der Zynismus der ausgelassenen Altersgefährten, die es als Ehrensache ansahen, »Katecheten und Pfaffen« zu verspotten und Slogans zu verkünden, die eilends mit darvinistischen Theorien verknüpft wurden. Der frühreife Junge, überempfindlich wie eine Mimose, verspürte eine instinktive Abscheu vor dem in Mode gekommenen Bespeien heiliger und geheimnisvoller Dinge.

Gegen Ende des Studiums »befreite« auch er sich von den engen Formen kirchlicher Dogmen, blieb aber trotz allem eine durch und durch religiöse Natur. Die frühere Frömmigkeit, die mitunter fast an Bigotterie gegrenzt hatte, wurde zu einem starken, von Jahr zu Jahr sich mehr vertiefenden Mystizismus.

Als sich nach achtjähriger Gymnasialzeit vor ihm und Pradera der freie und ungehinderte Weg zu selbständigem wissenschaftlichem Arbeiten und Forschen öffnete, nahm ihr Antagonismus sogleich einen entschiedenen Charakter an: Die nur halb bewusste Abneigung der vorangegangenen Jahre steigerte sich zu unerbittlichem, elementarem Hass. Von da ab führten ihre Wege sie in diametrale Richtungen. Und da beide trotz der unterschiedlichen Veranlagungen zu den aktiven Naturen gehörten, gern auf andere Einfluss nahmen und eine möglichst große Zahl von Menschen in das Fahrwasser ihrer Ideen und Losungen zogen, war der Konflikt unausbleiblich.

Es begann mit ihren Dissertationen. Als geistige Gegner wählten sie zum Thema ihrer Doktorarbeiten das gleiche philosophische Problem, das sie in extrem entgegengesetztem Geiste lösten. Praderas These obsiegte. Seine Ansichten über die »Theorie unterbewusster Zustände«, entwickelt in vorsichtiger, sachlicher Weise, intuitiv nicht über die sicheren Grenzen dessen ausufernd, was das Experiment und der gesunde Menschenverstand ergaben, entsprach den Überzeugungen der Professoren mehr als die nebulösen und gewagten Kalkulationen des Träumers, die mit der Patina einer krankhaften Mystik überzogen waren.

Das entschied Pomians Schicksal. Verbittert über den Misserfolg verzichtete er ein für allemal auf eine wissenschaftliche Karriere und wandte sich der Kunst zu. Nach drei Jahren inneren Ringens, Zweifelns und Haderns erblühte während vieler irrsinniger schöpferischer Nächte die exotische Blume seiner Poesie. Pomian erklomm gleich zu Beginn die höchsten Höhen. Dem Zauber, der von seinen eigenartigen und gleichsam wahnerregenden Werken ausging, erlagen auf Anhieb viele Leser und Kritiker. Dieser junge, kaum mehr als zwanzig Jahre zählende Mann schuf eine eigene Schule, gewann Schüler und Nachahmer, hatte aber auch verbissene Gegner. Wie konnte es auch anders sein! Seine starke, ursprüngliche und originelle Individualität stellte die Menschen vor die unausweichliche Alternative: Entweder unterwarf man sich ihm bedingungslos, oder man lehnte ihn ohne Wenn und Aber ab. Der leidenschaftliche Rhythmus seiner Werke löste rückhaltlose Bewunderung oder stürmischen Protest aus.

So folgte denn auf eine Reihe lobender, ja enthusiastischer Beurteilungen eine Woge giftiger Kritik.

An die Spitze der Gegenbewegung stellte sich damals zum ersten Mal Kazimierz Pradera. Obzwar nicht gerade berufen, zumal er doch eher Gelehrter als Literat war, griff er aus Gründen »prinzipieller Natur« zur Feder und begann in den Zeitungen eine verbissene Kampagne gegen den Rivalen. Die künstlerische Seite der Werke überging er »diskret« und überließ sie den »Leuten vom Fach« - statt dessen bekämpfte er in aller Brutalität Pomians Ideologie. Diese war seiner Ansicht nach für die Gesellschaft schädlich, da sie auf Irrwege führte.

In einem seiner mit Galle und Selbstbewusstsein versetzten Artikel schrieb er: »Pomian versucht, uns seine Weltanschauung in ungewöhnlich suggestiver Weise aufzudrängen, indem er Fiktionen schafft, die so stark wie ein Narkotikum wirken und daher besonders gefährlich sind. Der Einfluss dieses zweifelsohne fähigen Mannes kann meines Erachtens verheerende Folgen haben. Pomians krankhafte und absonderliche Werke können sehr leicht unsere Gesellschaft auf die Abwege zügelloser Phantasie und utopischer Mystik führen. Daher betrachte ich es als meine heilige Pflicht, an dieser Stelle auf die Unhaltbarkeit seiner Thesen hinzuweisen, die ganz einfach falsch sind, auch wenn sie sich den Mantel der Wissenschaftlichkeit und Gelehrtheit umhängen. Meine Herren! Das ist nur Pose und Schein, hinter denen sich die hysterischen Auswüchse einer brodelnden Phantasie verbergen. Wir brauchen eine gesunde Literatur, eine gesunde, jawohl, eine gesunde ...«

Pomian nahm den hingeworfenen Fehdehandschuh auf und antwortete - mit neuen poetischen Werken. So wurde ein zähes Ringen entfesselt, das jahrelang andauern sollte: ein grandioses, in seiner Weise einzigartiges Duell zwischen einem Wissenschaftler und einem Künstler.

Pomian kämpfte für seine Weltanschauung nicht, weil er seine Ambitionen befriedigen oder sich eine kleingeistige Genugtuung verschaffen wollte, die ihm der Sieg seiner Ideologie eintragen würde, nein, ihm ging es darum, die Allgemeinheit zu gedanklichen Höhen zu führen. Er wollte die Augen dieser »Athener« auf den Himmel und die hehrsten Geheimnisse lenken. Er beschloss, sein ungewöhnliches, außerordentliches Talent als Brandopfer auf dem Altar »des Unbenennbaren« darzubringen. Er sah, wie die Gesellschaft, hypnotisiert von der Gier nach Leben und Genuss, verzaubert durch den Kult hohler Losungen, im hoffnungslosen Sumpf des Materiellen versank. Sah, wie ihre Schwingen sich unabänderlich jeden Tag ein wenig mehr den prosaischen Niederungen entgegen senkten, wie sich allenthalben feistes Genießertum breitmachte, wie sich rücksichtslose Einstellung und Karrierismus Bahn brachen. Mithin nahm er den Kampf auf im Namen des Geistes und seiner Unsterblichkeit, im Namen der Ideale, die das Diesseits mit dem Jenseits verbinden - er wollte von ganzem Herzen und mit ganzer Kraft ein allgemeines Erwachen der Menschen bewirken, damit sie wenigstens einen Schimmer der großen Wahrheit in den angststarren Augen der Wahnsinnigen sähen oder den am Rande des Abgrunds Stehenden die grauenvollen Runen unter Schauern der Furcht vorläsen. . . Sein Schaffen sollte für sie so etwas wie eine Brücke über die Schlucht von Tschufut-Kale sein, die, einer riesigen geistigen Klammer gleich, die Kluft zwischen dem Diesseits und Jenseits überspannt und von der aus die geheimnisvollen Gefilde am anderen Ufer zu schauen sind . . .

Alles deutete darauf hin, dass er siegen würde. Die enorme Ausdruckskraft seiner Werke überzeugte auch die Widerstrebenden, faszinierte die Schwankenden, elektrisierte die Gleichgültigen. Mit der Freude des Schöpfers sah er, wie unter seinem Einfluss in der Gesellschaft bisher unbekannte Wirbel entstanden, die immer weitere Kreise zogen und sowohl einzelne wie auch ganze Gruppen mitrissen. Pomian war in aller Munde. Seine Werke, von allen Seiten kommentiert, mit Leidenschaft, wohl sogar Pedanterie erörtert und durchforscht, drangen in nahezu den letzten Winkel, weckten Interesse, eröffneten neue Perspektiven und Weiten. Eine frische und belebende Strömung setzte sich dank seiner in Bewegung. Die von der Sorge des Alltags gesenkten Stirnen der Menschen hoben sich, die müden Augen blitzten auf in der Hoffnung auf ein Jenseits . ..

Doch auch Pradera war nicht müßig, auch ihm gelang es, ein ganzes Heer von Anhängern um sich zu scharen, das bereit war, seine Bemühungen fanatisch zu unterstützen. Nachdem er den Lehrstuhl für Exakte Philosophie errungen hatte, schleuderte er von ihm aus Blitze des Verdammens auf das Lager des Gegners. Seine lapidaren und logischen Vorlesungen, die er sorgfältig und methodisch vorbereitete, konnten mit der Zeit zu einer tödlichen Waffe werden, um so mehr als auch er über eine starke und wie Damaszenerstahl biegsame Zunge verfügte. Mit eiserner Konsequenz riss der Professor jedes noch so zarte »Unkraut des Mystizismus« aus den Seelen seiner Hörer, vertrieb allen »störrischen Transzendentalismus«, zertrennte das blaue Gewebe der Träume und metaphysischen Sehnsüchte und ersetzte es durch die graue, kalte »Wirklichkeit« .. .

Als er nach etlichen Jahren Tätigkeit bedeutenden Einfluss gewonnen hatte, beschloss er, sein Wirkungsfeld auf das Gebiet der Politik auszudehnen und sich um ein Mandat zu bewerben. Das Glück war ihm hold: Er wurde Abgeordneter. Alsbald war sein Name aus den Berichterstattungen über die Sejmsitzungen nicht mehr wegzudenken: Seine energischen, durch kühle und kraftvolle Logik bestechenden Reden erregten allgemeines Aufsehen. In kurzer Zeit sammelte sich um seine Person der Klub der »Freunde des Staates«, der ihm mit rücksichtslosem Vorgehen den Weg nach oben bahnte. Als es ein halbes Jahr später zum politischen Umbruch kam und ein Teil des Kabinetts zurücktrat, erhielt Pradera einen Ministerposten.

Kräftig unterstützt von seiner Partei, deren Vertreter dank ihm in die neue Regierung einzogen und die Mehrheit im Parlament bildeten, begann er eine breitangelegte Kampagne. Die Richtung, die er der Politik aufzwang, entsprach in idealer Weise seinen philosophischen Grundsätzen, die er etliche Jahre zuvor vom Lehrstuhl aus verkündet hatte. Der Staatsmann Pradera war eine Umsetzung des Philosophen Pradera in die Praxis. Der Kurs, den der Minister in der Politik einschlug, wurde zu einer Verkörperung all der Gedanken und Ansichten, die er kurz zuvor seinen Studenten unterbreitet hatte.

Die Regierung Pradera legte ihrem Handeln die Losung zugrunde: »Expansion nach außen und Stärkung und Belebung der Wirtschaft im Inneren.«