Der Schlunz - Harry Voß - E-Book

Der Schlunz E-Book

Harry Voß

4,9

Beschreibung

Eigentlich sollte es ein wunderschöner Familiensonntag werden. Der zehnjährige Lukas und seine Familie hatten nach dem Gottesdienst ein Picknick außerhalb der Stadt geplant. Doch das gemütliche Beisammensein auf der grünen Wiese erfährt ein jähes Ende, als aus dem Wald ein fremdes Kind auftaucht: verwahrlost, verwirrt und einsam. Der Schlunz. Da niemand weiß, wohin der Schlunz gehört, bleibt er erst einmal bei Lukas' Familie wohnen. Doch das fremde Kind bringt mit seinem Temperament und seinen unbequemen Fragen viel Wirbel in den Alltag der ganz normalen Christenmenschen. Und Lukas beginnt Abschied zu nehmen von seinem Wunsch, der brave Junge zu sein, und erforscht mit Schlunz zusammen die Geheimnisse der Familiengeschichte…

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Harry Voß

Der Schlunz

Eine Koproduktion des Bibellesebundes, Marienheide mit dem R. Brockhaus Verlag im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten

4. Auflage 2008

ISBN 978-3-87982-271-3 (Bibellesebund, Print)

Bestell-Nr. 3301

ISBN 978-3-417-26032-8 (SCM R.Brockhaus, Print)

ISBN 978-3-417-21014-9 (E-Book)

Bestell-Nr. 226.032

© 2007 by Verlag Bibellesebund Marienheide

SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten

Gesamtgestaltung: Georg Design, Münster (www.georg-design.de)

Illustrationen: Thomas Georg, Münster

Druck: CPI–Ebner & Spiegel, Ulm

1

Eigentlich sollte der Sonntag, an dem alles anfing, ein richtig schöner Tag werden. So hatte sich Lukas das zumindest vorgestellt: Ein Picknick mit der Familie im Wald und den ganzen Tag mit Papa Fußball spielen.

Morgens hatte auch noch alles danach ausgesehen. Obwohl es erst Mitte April war, schien die Sonne so warm, als wäre es schon fast Sommer. Lukas und Nele waren bester Laune. Sie hatten sich heute noch so gut wie gar nicht gestritten, und das, obwohl Nele morgens wieder viel zu lange das Bad blockiert hatte, wie Lukas fand. Konnte das denn so lange dauern, ihre dünnen Härchen zu diesen albernen Zöpfchen zu flechten, die dann den Rest des Tages waagerecht vom Kopf abstanden? Lukas war immer ruck, zuck fertig mit seiner Morgenwäsche: Wasserhahn auf, Wasser ins Gesicht, Wasserhahn zu, Ende.

Mama hatte alles, was zu einem leckeren Picknick gehört, in einen großen Korb gepackt: Obst, Brötchen, Joghurt, Limo und jede Menge Kekse. Und Papa hatte außer den Federballschlägern auch den Fußball eingepackt. Das war klasse! Papa spielte überhaupt nicht gern Fußball. Aber wenn er selbst schon mal den Ball einpackte, dann würde Lukas ihn sicher schnell dazu überreden können, mit ihm ein wenig im Wald Fußball zu spielen.

Direkt nach dem Gottesdienst waren sie losgefahren. Wenn es nach Lukas und Nele gegangen wäre, hätten sie auch gleich nach dem Frühstück losfahren können. Aber da kannten Mama und Papa nichts: Am Sonntag war Gottes- dienst-Tag. Und Lukas und Nele beschwerten sich meistens nicht darüber, denn im Grunde genommen war es sonntags in der Gemeinde ja auch ganz schön. Die »Sendung mit der Maus« zu Hause vor dem Fernseher wäre natürlich noch schöner gewesen. Oder eben ein Picknick im Grünen, das schon morgens um zehn Uhr begann. Aber darüber brauchte man mit Mama und Papa gar nicht zu reden. »Der Gottesdienst ist unsere Verabredung mit Gott«, sagte Mama immer, wenn Lukas oder Nele hin und wieder doch mal den Sonntagmorgen zu Hause verbringen wollten.

Aber jetzt saßen sie endlich alle auf der Picknickdecke und genossen die Sonne und die Kekse. Die Wiese, auf der sie saßen, lag an einem Hang, und alle saßen so auf der Decke, als wären sie im Kino. Hinter einem Hügel und ein paar Bäumen konnte man unten noch die letzten Häuser von Niederkirchen erkennen. Die waren aber wirklich weit weg. Hier oben auf der Wiese befanden sie sich ganz und gar abseits der Stadt. Bis heute waren sie auf dieser Seite des Ortes noch nie gewesen. Es war ganz still. Man konnte jedes kleine Geräusch hören.

Lukas drehte seinen Kopf und sah nach hinten. War da nicht jemand? Es schien ihm, als hätte nah bei ihnen etwas geknackt. War da jemand auf Holz getreten? Lukas konnte nichts erkennen. Also drehte er sich wieder zurück und nahm noch einen Keks aus der Dose.

»Lukas, nicht nur Kekse essen«, sagte Mama, »nimm auch mal einen Apfel!« Mama hatte den Picknickkorb zwischen ihren Beinen stehen und bewachte ihn wie eine Dino-Mama ihre Dino-Eier. Papa war gerade dabei, das Kerngehäuse eines Apfels sorgfältig vom Stiel zu kauen. Seine Haare lagen ordentlich gekämmt nebeneinander. Und Nele hatte sich bereits über den zweiten Joghurt hergemacht. Vom ersten Joghurt klebten ihr schon Spuren am Pullover und den zweiten verteilte sie gerade gleichmäßig an Kinn und Unterarm.

Knack!

Lukas drehte sich wieder nach hinten um. Da war doch jemand! Wurden sie beobachtet? Lukas stand auf und versuchte, das Wäldchen links von ihnen mit Blicken zu durchdringen. Aber er sah niemanden. Komisch. Trotzdem hatte er das Gefühl, als würde er beobachtet. Das war unheimlich.

»Papa, komm, wir spielen Fußball«, lenkte er sich schnell ab.

Papa runzelte die Stirn: »Ach Lukas, muss das sein?«

»Bitte, Papa! Du hast doch extra den Ball eingepackt!«

»Ja, schon«, sagte Papa matt. Für ihn musste Fußball spielen eine echte Qual sein, so wie er gerade guckte. Das konnte Lukas gar nicht verstehen. Fußball war so ziemlich das Beste außer ferngesteuerten Autos, was die Menschheit erfunden hatte!

»Nur fünf Minuten«, legte Lukas nach.

Papa seufzte. »Na gut. Fünf Minuten!«

»Super! Los!« Damit sprang Lukas auf und kickte den Ball über die Wiese.

»Wartet, ich spiele mit!«, rief Nele, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und verteilte damit die Joghurt- reste über die komplette Backe bis zum rechten Ohr.

Natürlich spielten sie länger als fünf Minuten. Nele gab sich große Mühe. Aber sie war einfach furchtbar ungeschickt. Mehr als einmal trat sie mit ihrem Fuß am Ball vorbei, obwohl der Ball direkt vor ihr lag. Einmal sogar mit so einem Schwung, dass ihr Schuh drei Meter durch die Luft flog. Auch Papa war nicht der geborene Fußballspieler. Aber egal. Mit Papa Fußball zu spielen, war so ziemlich das Schönste, was sich Lukas vorstellen konnte. Lukas war schon zehn, genau genommen zehndreiviertel, denn im Juli würde er schon elf. Er war der sportlichste in der Familie und von daher auch um einiges dünner als Nele, obwohl die erst acht war.

»Papa! Zu mir!« Lukas rannte Papa entgegen, um einen Pass annehmen zu können. Aber dann – womm – versetzte Papa dem Ball einen derartigen Stoß, dass er im hohen Bogen über die Wiese flog. Er landete in dem dichten Wäldchen aus Nadelbäumen, das direkt an die Wiese grenzte.

»Super Schuss, Papa!«

Lukas lief zum Rand des Wäldchens. O weia. Wie sollte er hier den Ball finden? Auf dem Boden konnte man vor lauter herumliegenden Ästen und Zweigen kaum laufen. Unmengen von Brennnesseln wucherten dort, sodass Lukas schon ahnte, dass er kaum durchkommen würde. Er stakste ein paar Schritte in das Unterholz hinein. Das Holz unter seinen Füßen knackte, als würde ein Bett unter einem Riesen zusammenbrechen.

Und dann geschah es: Lukas hörte ein dumpfes Geräusch und im selben Augenblick flog der Ball mitten aus dem Unterholz auf ihn zu und landete ganz in seiner Nähe. Lukas bekam so einen Schreck, dass er mit lautem Krachen und Knacken nach vorne in die Äste fiel. Hinten im Gebüsch, von wo der Ball gekommen war, krachte und knackte es ebenfalls. Und zwar so laut und ausdauernd, dass Lukas wusste: Da rannte jemand. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Ob er jetzt ermordet würde? So schnell wie möglich richtete sich Lukas auf und rief: »Papa! Hilfe!«

Als er wieder stand, sah er im Wald jemanden rennen. Aber der lief nicht auf ihn zu, sondern flüchtete. Und es war auch kein Erwachsener, es war ein Kind! Plötzlich packte Lukas ein Gemisch aus Neugier und Mut – so schnell er konnte, rannte er dem fremden Kind hinterher.

»Lukas, was ist los?« Papa war am Rand des Wäldchens angekommen.

»Papa, schnell, da ist jemand!« Lukas rannte weiter. Der Fremde hatte bereits die andere Seite des Wäldchens erreicht und rannte über die Wiese. Lukas hinterher. Das Kind, das vor ihm weglief, war etwa so alt wie Lukas. Ein Junge. Er sah unordentlich und dreckig aus. Er lief nicht so schnell wie Lukas. Gleich würde Lukas ihn einholen. Da begann der Junge zu schreien. Er schrie wie ein Affe im Zoo und ruderte panisch mit seinen Armen durch die Luft. Lukas erschrak und verlangsamte sein Tempo. Was war denn jetzt los? Sah Lukas denn so gefährlich aus?

»Hey, warte doch!«, rief er. »Ich tu dir nichts!«

Der Junge drehte sich im Laufen um und schaute Lukas kurz an. Seine Augen waren weit aufgerissen. Für einen Augenblick schien es, als glaubte er Lukas. Dann schrie er erneut auf. Der Junge war in ein kleines Loch im Boden getreten, mit dem Fuß umgeknickt und zu Boden gefallen. Er hörte nicht auf zu schreien und begann auch wieder mit den Armen zu rudern.

»Lukas, was ist denn?« Papa war hinter Lukas angekommen.

»Der da war im Wald und hat uns beim Fußballspielen zugeschaut«, brach es aus Lukas heraus. Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Jungen, der immer noch schrie. »Als ich ihn entdeckt habe, ist er weggerannt und jetzt hat er sich wahrscheinlich den Fuß verknackst.«

Papa bewegte sich auf den Jungen zu. Der schrie noch mehr und schlug mit den Armen um sich, als könnte er damit alle Welt von sich fernhalten. »Ist ja gut«, redete Papa leise auf ihn ein, »ist ja gut.« Er setzte sich neben den Jungen und griff nach seinem Arm, um ihn zu beruhigen. Der Junge schrie weiter und schlug und trat nun heftig nach Papa.

»Ist ja gut«, sagte Papa immer weiter. Mit einem Ruck zog er den Jungen auf seinen Schoß und hielt ihn mit festem Griff wie ein Baby, das vor lauter Wut und Trotz schreit und trampelt.

Der Junge trat weniger heftig um sich und hörte dann ganz auf. Seine Schreie verstummten. Lukas hörte stattdessen kleine Schluchzer. Weinte der Kerl etwa? Er drückte sein Gesicht ganz tief in Papas Hemd. Seine Haare waren lang und fettig. Er trug ein rotkariertes Flanellhemd über einem hellen T-Shirt, dazu eine Stoffhose, wie man sie an einem guten Sonntag bei schönem Wetter draußen anzog. Dabei waren seine Sachen aber so verschmutzt, dass es für Lukas so aussah, als hätte der fremde Junge mehrere Nächte damit auf dem Waldboden geschlafen. An den Füßen trug er Stoffschuhe, viel zu dünn für diese Jahreszeit. Auch sie waren total zerschlissen. Ein Landstreicher! Ein Landstreicher in den warmen, schützenden Armen seines großen Papas. Und er weinte und weinte.

2

Lukas hatte gar nicht gemerkt, wie Nele und Mama dazu gekommen waren. Aber nun standen sie schon eine Weile schweigend nebeneinander und schauten zu, wie Papa diesen fremden Jungen in seinen Armen wiegte, als wäre er ein armes, verzweifeltes Baby. Mama und Papa schauten sich kurz an. Wie so oft schienen sie mit den Augen mehr abzusprechen als andere mit tausend Worten. In der einen Sekunde, in denen sie sich ansahen, schien Papa ihr erklärt zu haben, was vorgefallen war, warum er diesen Jungen nun im Arm hielt und was Mama nun am besten zu tun hätte. Und Mama schien in der einen Sekunde das alles kapiert zu haben. Denn sie setzte sich schweigend neben Papa und strich diesem kleinen Landstreicher liebevoll über die verschmierten, verschwitzten Haare.Immer und immer wieder.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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