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Der letzte Band der beliebten Kinderbuch-Reihe von Harry Voß! Der Schlunz hat seine Erinnerung wiedergefunden - das heißt aber noch lange nicht, dass er am Ziel seiner Reise angekommen ist. Wer ist die ""olle Barbara""? Wo sind seine Eltern? Was muss Schlunz tun, um endlich all das zurückzubekommen, was ihm gehört? Und dann ist der Schlunz auf einmal verschwunden. Da findet Lukas ""Das Buch Schlunz"" unter dem Bett. Darf er es einfach lesen? Und was wird sich da offenbaren? Außerdem ist bald Ostern. Was bedeutet das und wie wird der Schlunz es erleben?
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Seitenzahl: 370
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Harry Voß
Der SchlunzBand 7
Der Schlunzunddas letzte Geheimnis
Zum Autor vom „Schlunz“:
Harry Voß wurde 1969 in Dillenburg geboren (auf der Landkarte zwischen Gießen und Siegen) und ist in dem schönen hessischen Dorf Eibelshausen aufgewachsen. Als Kind ist er dort zum Kindergottesdienst und zur Jungschar gegangen und hat durch die Bibellese-Zeitschrift „Guter Start“ das Bibellesen kennengelernt. Das hat ihm so gut gefallen, dass er als Jugendlicher selbst in Jungschar und Kindergottesdienst mitgearbeitet hat. Weil er die Arbeit mit den Kindern so klasse fand, besonders Kinderbibelwochen und Jungscharfreizeiten, wollte er das auch beruflich machen. Sein Traumberuf: Kindermissionar. Darum hat er in Darmstadt Religionspädagogik studiert. Und jetzt ist sein Traum wahr geworden: Harry ist Kindermissionar beim Bibellesebund. Er führt in Gemeinden Kinderbibelwochen durch, fährt mit Kindern auf Freizeiten und hat 10 Jahre lang sogar die Kinder-Bibellese-Zeitschrift „Guter Start“ als verantwortlicher Redakteur geleitet.
2007 hatte er das Vergnügen, sein erstes Buch schreiben zu dürfen: „Der Schlunz“. Das war eine klasse Sache, aber jetzt spuken ihm schon wieder neue Ideen im Kopf herum. Harry spielt für sein Leben gern Theater, mag Peter Pan und Mary Poppins und möchte am liebsten für immer ein kleiner Junge bleiben.
Mit seiner Frau Iris und seinen Kindern Elisa und Josia lebt er in Gummersbach, geht dort zur evangelischen Kirchengemeinde und arbeitet ehrenamtlich in der CVJM-Jungschar mit
Impressum
© 2010 by Verlag Bibellesebund MarienheideSCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten5. Auflage 2014© 2019 der E-Book-Ausgabe
Bibellesebund Verlag, Marienheide
https://shop.bibellesebund.de/
Autor: Harry Voß.
Coverillustration: Daniel Fernández Adasme
Covergestaltung: Julia Plentz.
ISBN 978-3-95568-308-5
Hinweise des Verlags
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
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Inhalt
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1
Als die Weihnachtsferien zu Ende waren, wäre Lukas am liebsten gar nicht zur Schule gegangen. Sein Freund, der Schlunz, lag noch krank und erschöpft im Bett. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere, schlief schlecht und weinte viel. Und da sollte Lukas einfach im Klassenzimmer sitzen und so tun, als sei alles in Ordnung? Aber ihm blieb nichts anderes übrig. Mama bestand darauf: Der Schlunz sollte in Ruhe gesund werden, Lukas und Nele mussten ganz normal zur Schule.
Lukas war in der fünften Klasse, seine Schwester Nele in der vierten. Morgens gingen sie den Schulweg gemeinsam. An der Rathausstraße trafen sie auf Anna, die auch ins fünfte Schuljahr ging, aber in die Nachbarklasse. »Wo ist der Schlunz?«, fragte sie gleich.
»Krank«, antwortete Lukas. Er hatte keine Lust, schon am frühen Morgen die furchtbare Geschichte zu erzählen, die der Schlunz am Heiligen Abend erlebt hatte.
»Hast du das noch nicht gehört?«, platzte Nele geradewegs heraus. »Der Schlunz ist an Weihnachten fast erschossen worden!«
»Was?« Anna hielt sich erschrocken beide Hände vor den Mund.
»Ja!« Nele ereiferte sich beim Erzählen. »Da war doch dieser Killer, der wollte den Schlunz töten! Niemand weiß warum, das ist ganz schlimm! Und der Schlunz weiß es natürlich erst recht nicht, denn er hat ja sein Gedächtnis verloren, das weißt du ja noch, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Anna aufgeregt.
»An Heiligabend klingelte Lukas’ Handy. Wir saßen gerade alle im Wohnzimmer beim Weihnachtsbaum und haben die Geschenke ausgepackt. Und ich hab so eine schöne Kerze vom Schlunz geschenkt bekommen, weißt du, so eine Mäuschen-Kerze, total süß. Auf jeden Fall hat dann das Handy geklingelt und jemand wollte den Schlunz sprechen. Dann ist Schlunz mit dem Handy nach draußen gegangen. Und nach einer Weile haben wir gemerkt, dass er gar nicht mehr wiederkam. Und alle haben gerufen und ihn gesucht. Und dann haben wir ihn halb tot in einem Gebüsch am Waldrand gefunden.«
»Das ist ja furchtbar«, sagte Anna.
»Ja! Der Schlunz hat nachher erzählt, da war ein alter Opa, der wollte ihm was über seine Eltern erzählen. Du weißt ja, dass der Schlunz immer noch seine Eltern sucht, ja? Aber der Opa hat ihm nichts erzählt, stattdessen war da dieser Killer und der hat auf den Schlunz geschossen, aber der Schlunz konnte noch abhauen. Und dann hat der Opa mit einem Stein nach dem Schlunz geworfen, dann ist der Schlunz ohnmächtig geworden. Und so haben wir ihn gefunden. Ja, ja, so war das!«
Anna schaute entsetzt zu Lukas: »Stimmt das, Lukas?«
»Ja«, sagte Lukas und dachte sich: Zumindest so ungefähr stimmte das. Es war natürlich viel komplizierter, aber das hatte Nele alles nicht mitbekommen. Schlunz und Lukas forschten nun schon ein halbes Jahr lang nach der Familie vom Schlunz. Im April letzten Jahres hatte die Familie Schmidtsteiner den Schlunz völlig verdreckt und verwahrlost im Wald gefunden. Er wusste nicht, wie er dahin gekommen war, und auch nicht, wo seine Eltern waren. Noch nicht mal seinen Namen wusste er. Das Einzige, an das er sich erinnerte, war das Wort Schlunz. Seitdem wohnte der Schlunz bei Familie Schmidtsteiner und teilte sich mit Lukas ein Zimmer. Die Polizei versuchte herauszufinden, wo seine Eltern wären. Aber bis jetzt ohne Erfolg. Lukas und Schlunz aber hatten in der Zwischenzeit selbst schon einiges herausgefunden: Eine wichtige Spur führte nach Darmstadt. Dort kannte sich Schlunz ein bisschen aus. Sie waren dort einmal in einer Kneipe gewesen, in der hatten ihn zwei Männer wiedererkannt. Aber erzählt, woher der Schlunz kam, hatten die Männer nicht. Außerdem sahen Schlunz und Lukas vor ihrer eigenen Haustür immer mal wieder einen silbernen Audi TT Roadster Cabriolet mit Darmstädter Nummernschild. Eine Frau mit Kopftuch und Sonnenbrille saß darin und beobachtete den Schlunz. Im letzten Sommer hatte ein Killer versucht, den Schlunz zu töten. Der war dann aber ins Gefängnis gekommen. Und kurz vor Weihnachten war er wieder ausgebrochen. Dieser Killer hatte nun an Heiligabend auf den Schlunz geschossen und war dann abgehauen. Der Opa, von dem Nele erzählt hatte, war einer der beiden Männer aus der Kneipe in Darmstadt gewesen. Wilfried Dobermann war sein Name. Vor Weihnachten war er urplötzlich in Niederkirchen aufgetaucht. Schlunz hatte ihn einmal angesprochen, aber der Mann hatte nicht erklärt, warum er hier in der Stadt war. Dieser alte Mann jedenfalls, der Wilfried Dobermann, war es, der dem Killer an Heiligabend geholfen hatte, den Schlunz aus dem Haus zu locken. Und er war es auch, der den Stein nach dem Schlunz geworfen hatte.
Das alles hatte Nele natürlich nicht kapiert. Wie sollte sie auch? Schlunz und Lukas hatten ja niemandem von ihren Nachforschungen erzählt. Weder Nele noch Mama und Papa, auch nicht der Polizei oder den Kinderpsychologen, die sich unentwegt mit dem Schlunz beschäftigten, damit sein Gedächtnis wiederkam. Schlunz wollte, dass alles geheim blieb. Also beschloss Lukas, sollte es auch heute Morgen geheim bleiben. »Ja, so war das«, schloss Lukas laut seine Gedanken und damit auch die Erzählung von Nele ab.
»Der arme Schlunz«, sagte Anna. Dann berichtete sie von ihren Weihnachtsgeschenken und auch Nele zählte laut auf, was sie alles von wem geschenkt bekommen hatte.
2
Zu Beginn der Schulstunde sollte jeder im Stuhlkreis vor der Tafel erzählen, was er in den Ferien erlebt hatte. Die meisten erzählten natürlich, was sie zu Weihnachten bekommen hatten. Herr Rotbraun-Bohnenhang, der Klassenlehrer, trug eine Krawatte mit aufgesticktem Weihnachtsbaum. Damit war ja wohl klar, was er zu Weihnachten bekommen hatte. Er fuhr mehrfach mit seinen Händen über den Schlips, während nach und nach die Schüler ihre Geschenke aufzählten. Als Lukas an der Reihe war, sagte er nur: »Ich hab neue Fußballschuhe zu Weihnachten bekommen.«
Da platzte Kai auch schon heraus: »Bei euch war an Heiligabend die Polizei!«
Elli, die neben Kai saß, stimmte ihm zu: »Ja, das hab ich auch gehört! Jemand wollte den Schlunz töten!«
Etliche Kinder atmeten laut und erschrocken ein.
»Wo ist der Schlunz überhaupt?«, fragte Michi in das Gemurmel der Kinder hinein. »Ist er tot?«
»Nein!«, sagte Lukas zu laut. Er wollte nicht schon wieder mit der Geschichte anfangen.
»Ist er wieder in den Wald zurückgelaufen?«, fragte Kai und grinste frech.
»Quatsch!«, beschwerte sich Lukas.
Schließlich fragte auch Herr Rotbraun-Bohnenhang: »Lukas, willst du uns nicht erzählen, was mit deinem Freund passiert ist?«
Lukas seufzte. Na gut. Bevor die anderen noch mehr Unsinn über den Schlunz verbreiteten, wollte Lukas lieber selbst erzählen, was ihnen an Heiligabend zugestoßen war. Also erzählte er die Geschichte ungefähr so, wie Nele sie vorhin schon mal wiedergegeben hatte.
»Wieso haben die Leibwächter nicht aufgepasst?«, fragte Erkan. Alle aus der Klasse hatten mitbekommen, dass seit Ende der Herbstferien letzten Jahres der Schlunz Tag und Nacht von zwei bis drei Polizisten bewacht wurde. »Personenschutz« nannten sie das. Inzwischen hatte nämlich auch die Polizei kapiert, dass der Schlunz wirklich in Gefahr war. Seitdem stand rund um die Uhr ein schwarzer Mercedes vor dem Haus der Schmidtsteiners. Mindestens zwei, meistens drei Personen saßen darin und passten auf. Die Polizisten begleiteten Schlunz überall hin, sogar bis in die Schule oder in den Kindergottesdienst. Der schwarze Mercedes wartete dann vor der Schule, bis Schlunz und Lukas wieder nach Hause gingen.
»Die Leibwächter haben mit uns Weihnachten gefeiert«, antwortete Lukas auf Erkans Frage. »Die waren bei uns im Haus. Es hat doch in dem Moment niemand damit gerechnet, dass ausgerechnet an Heiligabend der Killer zuschlägt.«
»Aber jetzt steht noch ein zweites Polizeiauto vor eurem Haus, ein großer, weißer Lieferwagen«, erzählte Erkan. »Den hab ich gesehen, als ich einmal in den Ferien Kevin besucht habe, der in eurer Straße wohnt.«
»Ja, der ist auch von der Polizei«, gab Lukas zu.
»Was machen die damit?«, fragte Erkan. »Ist da ein Gefängnis drin?«
»Da sind Kameras drin«, sagte Lukas. »Und Mikrofone und Funkgeräte und so was. Damit der Schlunz noch besser beschützt ist. Weil der Killer ja abgehauen ist, kann er jederzeit wiederkommen. Und weil die Polizei weiß, dass es jetzt schon zwei sind, die ihn töten wollen, hat sie noch mehr Polizisten ums Haus gestellt, die den Schlunz schützen sollen.«
Eigentlich, und das erzählte Lukas nicht, wollte die Polizei den Schlunz schon ganz aus dem Haus rausholen. Zwei Kommissare von einer extra eingerichteten »Sonderkommission« schlugen vor, den Schlunz an einen geheimen Ort zu bringen, den niemand kannte, noch nicht mal die Schmidtsteiners. Dort sollte er so lange bleiben, bis die Verbrecherbande geschnappt wäre. Aber das konnten die Schmidtsteiners den Polizisten zum Glück ausreden. Lukas und Nele bettelten wie wild, und auch Mama und Papa halfen mit, die Männer von der Polizei zu überreden, den Schlunz bei ihnen zu lassen. Hier könnte er sich nach dem Schreck der letzten Tage am besten erholen, sagten sie. Und immerhin brauchte der Schlunz eine Familie. Und einen Freund, nämlich Lukas. Nach langem Hin und Her ließen sich die Polizisten darauf ein, aber sie wollten den Personenschutz erhöhen. Seitdem stand zusätzlich zu dem schwarzen Mercedes dieser große Wagen mit den hohen Antennen vor dem Haus. Angeblich sollten auch noch mehr Personenschützer in verschiedenen Verstecken das Haus von allen Seiten beobachten. Aber die hatte Lukas bis jetzt noch nicht entdeckt. War ja auch gut so. Die sollten ja auch nicht entdeckt werden. Wenn Lukas sie gesehen hätte, hätte ein Killer sie sicher erst recht gefunden.
»Danke, Lukas, dass du uns davon erzählt hast«, schloss der Klassenlehrer die Erzählrunde ab. Die Kinder setzten sich auf ihre Plätze und Lukas war froh, dass sie ihn nicht noch mehr ausgefragt hatten. Es gab da nämlich noch etwas sehr Wichtiges, das Lukas auch nicht erzählt hatte: Der Stein, den der Schlunz an den Kopf bekommen hatte, hatte dazu geführt, dass er sich wieder erinnern konnte. Der Schlunz hatte sein Gedächtnis wieder! Das hatte der Schlunz ihm noch in derselben Nacht erzählt. Aber er sagte auch, noch fühle er sich zu schwach, um Lukas alles zu berichten, was ihm wieder ins Bewusstsein gekommen war. Das wolle er tun, wenn er wieder zu Kräften gekommen war. Damit hatte sich Lukas an jenem Abend zufriedengegeben. Das war aber nun schon über vierzehn Tage her. Doch erzählt hatte Schlunz bisher noch nichts. Am liebsten hätte Lukas jeden Tag einmal gefragt: »Erzählst du mir heute, was alles geschehen ist?« Aber das traute er sich nicht. Er wollte seinem Freund auch nicht zu viel zumuten. Der sollte jetzt erst mal in Ruhe gesund werden.
Während der Frühstückspause kam Elmar an Lukas’ Tisch und hatte beide Arme hinter dem Rücken versteckt. »Rechts oder links?«, fragte er schüchtern.
»Rechts«, sagte Lukas.
Mit einem Schwung zischte der linke Arm von Elmar hinter dem Rücken hervor und hielt eine selbst gebastelte Karte in der Hand. Leider hatte Elmar nicht richtig aufgepasst, denn durch den Schwung stieß er mit der gebastelten Karte Lukas’ Trinkflasche um. Sie donnerte auf den Tisch und übergoss Lukas’ Hose mit Apfelsaft. »O nein!«, schrie Lukas und stellte die Flasche schnell wieder auf. Aber zu spät. Durch die nassen Flecken auf seinen Beinen sah er aus, als hätte er in die Hose gemacht.
»Entschuldigung«, sagte Elmar leise und wollte seine Karte schon wieder zurücknehmen. Schnell streckte Lukas seine Hand aus und fragte: »Was hast du da? Ist das für mich?«
»Für den Schlunz«, sagte Elmar und überreichte Lukas die Karte. Sie war mit einer Bastelschere schief und krumm ausgeschnitten und in der Mitte einmal zusammengeknickt. Außen stand mit großen Buchstaben: »Gute Besserung«, dazu war ein großes Kreuz aufgemalt.
»Ein Kreuz?«, wunderte sich Lukas. »Schlunz ist doch nicht gestorben!«
»Nein«, sagte Elmar, »das ist so ein Kreuz, wie ihr es im Kindergottesdienst hängen habt. Das soll doch an Jesus erinnern, oder?«
»Ja«, sagte Lukas. Er wollte lächeln, aber die Flecken auf seiner Hose waren ihm so peinlich, dass sein Lächeln sehr gequält wirkte.
»Schlunz hat mir doch mal gesagt, weil ich selbst keinen Freund habe, soll ich Jesus als Freund nehmen, weißt du noch?«
»Ja.«
»Und seitdem komme ich zu euch in den Kindergottesdienst. Und Adelheid, die den Kindergottesdienst leitet, erzählt immer von Jesus. Und sie sagt, Jesus ist immer bei uns wie ein Freund. Und das finde ich schön.« Er lächelte verschämt und versteckte seine Hände wieder hinter dem Rücken. »Und da dachte ich, jetzt, wo Jesus mein Freund ist, kann ich dem Schlunz auch eine Freundekarte basteln, die an Jesus erinnert. Du und Nele, ihr seid doch auch Freunde von Jesus, habt ihr gesagt, ja?«
»Ja.«
»Und Schlunz hat gesagt, er braucht Jesus nicht als Freund. Er hat ja dich. Aber als du eben erzählt hast, wie krank der Schlunz ist, hab ich gedacht, vielleicht will Schlunz ja jetzt auch Jesus als Freund haben.« Er stockte. »Also, ich meinte natürlich ... zusätzlich. Also, nicht anstatt dich. Du und Jesus, euch beide als Freund. Weil, ich hab mich nämlich so gefreut, dass der Schlunz mich zum Kindergottesdienst eingeladen hat und ich jetzt Jesus als Freund habe.«
»Aha.«
»Genau. Das wollte ich sagen.« Elmar holte seine Hände hinter dem Rücken wieder hervor und knetete kurz seine Finger. Dann sagte er schnell: »Also, dann«, und hielt Lukas wie zu einer höflichen Verabschiedung seine rechte Hand hin, dabei warf er aber zum zweiten Mal die Trinkflasche um. Diesmal knallte die Flasche nicht nur auf den Tisch, sondern rutschte geradewegs Lukas auf den Schoß und vergrößerte den Saftfleck auf Lukas’ Hose. Lukas schrie auf und sprang von seinem Stuhl. Die Flasche knallte auf den Boden und hinterließ unter dem Stuhl nun eine große, gelbliche Pfütze.
»Entschuldigung«, stammelte Elmar.
Einige der Jungen, die das mitbekommen hatten, schrien laut los vor Lachen.
»Was ist denn da los?«, fragte Herr Rotbraun-Bohnenhang, der vorne an seinem Schreibtisch saß. Lukas stand mit ausgebreiteten Beinen vor seinem Stuhl. Ein nasser Fleck breitete sich von oben bis unten auf seiner Hose aus und unter dem Stuhl war eine Pfütze zu sehen.
»Lukas hat in die Hose gemacht!«, brüllten Kai und Michi und klatschten sich mit beiden Händen ab.
»Danke, Elmar«, sagte Lukas und bemühte sich, es so freundlich wie möglich klingen zu lassen.
Elmar zitterte mit seinen Lippen, als wollte er etwas Wichtiges sagen, dann bückte er sich, hob die Trinkflasche vom Boden auf und hielt sie in die Luft: »Es stimmt nicht, Herr Rotbraun-Bohnenhang!«, rief er. »Lukas hat nicht in die Hose gemacht. Das ist nur Apfelsaft! Die Flasche stand da auf dem Tisch, dann hab ich sie aus Versehen angestoßen, und dann ist sie soooo«, und um zu zeigen, wie die Flasche umgefallen war, kippte er sie im Zeitlupentempo nach vorne, genau auf seine Hose zu, »und soooo«, er schien den Vorgang genau nacherzählen zu wollen, aber als er die Flasche auf den Kopf hielt, floss noch mal so viel Apfelsaft aus der Flasche. Natürlich nicht in Zeitlupe, sondern in einem riesigen Platsch. Genau über Elmars Hose. »Oh«, machte Elmar und stellte die Flasche wieder auf den Tisch. Nun hatte Elmar genauso große Flecken auf der Hose wie Lukas. Die Kinder in der Klasse wieherten vor Lachen. Elmar schaute kurz zwischen Lukas’ Hose und seiner eigenen Hose hin und her und beendete seinen Vortrag: »So war das.«
3
Am Nachmittag stellte Lukas die Karte von Elmar so auf den Schreibtisch, dass Schlunz sie sehen konnte, sobald er seine Augen aufschlug. Dann setzte er sich an seinen Tisch und begann mit den Hausaufgaben. Bald darauf hörte er, wie Schlunz fragte: »Bin ich schon gestorben?«
Lukas drehte sich zu Schlunz um und grinste. »Nein«, sagte er. »Aber fast.«
Schlunz lag im Bett und hatte die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. Er wirkte noch müde und krank. »Warum ist da ein Kreuz auf der Karte?«
»Die Karte ist von Elmar«, sagte Lukas. »Das Kreuz soll an Jesus erinnern.«
»An Jesus? Das erinnert eher an eine Todesanzeige. Und auf Grabsteinen sind doch auch immer Kreuze drauf.«
»Das stimmt«, grinste Lukas. »Aber Elmar hat gesagt, das Kreuz soll an Jesus erinnern. Und im Grunde stimmt es ja auch. Das Kreuz steht für Jesus. Jesus ist am Kreuz gestorben.«
»Am Kreuz?«
»Ja.«
Schlunz blinzelte und zog seine Stirn in Falten. »Wie stirbt man denn am Kreuz?«
»Indem man daran festgenagelt wird«, antwortete Lukas.
»Am Kreuz festgenagelt? Das muss aber ein großes Kreuz sein.«
»Ist es auch.« Lukas nahm die Karte von Elmar in die Hand und betrachtete das gezeichnete Kreuz. »Als Jesus zum Tod verurteilt worden ist, hat man ihn an ein Kreuz genagelt. Das Kreuz war so groß, dass Jesus dranpasste.« Er zeigte Schlunz die Karte und fuhr mit seinem Finger über den Querbalken. »Hier hingen die ausgebreiteten Arme, und hier«, jetzt fuhr er mit dem Finger über den aufgerichteten Balken, »hing der Körper.«
»Ist ja brutal.«
»Ist es auch. So ist Jesus gestorben.«
»Der Arme.« Schlunz reckte eine Hand unter der Decke hervor. »Zeig mir mal die Karte von Elmar.«
Lukas gab sie ihm. Schlunz betrachtete das Kreuz und murmelte: »Ein Kreuz für Jesus.« Er schaute Lukas an: »Wenn ich mir ein Zeichen für Jesus ausdenken sollte, würde ich eine Sprechblase malen. Weil Jesus so viel von Gott erzählt hat. Oder jemand, der einem anderen hilft. So wie Jesus es getan hat.« Er schaute wieder auf die Karte. »Aber ein Kreuz ...«
»Das Kreuz ist das Zeichen für Jesus«, sagte Lukas noch einmal.
»Und ich dachte immer, wenn ich das auf Todesanzeigen sehe, es ist das Zeichen für Tod.« Er sah wieder Lukas an, dann schien ihm etwas einzufallen: »Schau mal, wenn im Lexikon steht, wann einer gestorben ist, ist auch immer ein Kreuz gezeichnet. Das bedeutet dann: Gestorben 1550 oder so.«
»Das stimmt«, überlegte Lukas. »Ein Kreuz bedeutet Jesus und es bedeutet Tod.«
»Schon krass«, Schlunz sah wieder auf die Karte. »Da hat Jesus so viel Gutes getan, aber wenn sich die Leute ein Zeichen für ihn aussuchen, nehmen sie ausgerechnet eins, das daran erinnert, dass er gestorben ist.« Dann zog er seine Augenbrauen hoch und schaute wieder zu Lukas. »Aber ihr habt doch gesagt, er ist wieder lebendig geworden.«
»Ist er ja auch.«
»Warum nehmen sie das dann nicht als Zeichen für Jesus?«
»Wie soll man das denn zeichnen?«
»Keine Ahnung. Jemand, der fröhlich in die Luft springt zum Beispiel. Oder ein leeres Grab oder ein leerer Sarg. Aber doch nicht so ein Kreuz.« Schlunz klappte die Karte auf und las vor: »Lieber Schlunz, ich wünsche dir gute Besserung und dass du schnell wieder gesund wirst. Danke, dass du mich in den Kindergottesdienst eingeladen hast, damit ich Jesus als Freund kriege. Adelheid hat mir ein Kärtchen geschenkt, darauf steht: ›Jesus spricht: Ich lebe und ihr sollt auch leben.‹ Das kenne ich inzwischen schon auswendig. Das sag ich mir jeden Tag. Und das wünsche ich dir auch. Jesus lebt und du sollst auch leben. Dein Elmar.« Schlunz kicherte leise, er strahlte übers ganze Gesicht dabei. »Der Elmar«, sagte er dann vergnügt vor sich hin. »Innen schreibt er, ich soll auch leben, und außen malt er ein Kreuz.«
»Ja«, sagte Lukas, »aber nicht das Tod-Kreuz, sondern das Jesus-Kreuz.«
Schlunz klappte die Karte wieder zu und gab sie Lukas. »Der Elmar ist nett.«
Lukas stellte die Karte wieder so auf, dass Schlunz sie vom Bett aus sehen konnte. Auf dem Schreibtisch lagen schon einige andere Karten, die Schlunz gute Besserung wünschten. Eine war von Adelheid Budenprunk, der Leiterin vom Kindergottesdienst, der Adelheid, von der auch Elmar in seiner Karte gesprochen hatte. Dann lagen da noch viele andere Karten von Leuten aus der Gemeinde oder aus der Verwandtschaft. Schlunz drehte sich umständlich im Bett um, sodass er mit seinem Gesicht zur Wand schaute. »Und jetzt muss ich noch mal schlafen«, sagte er müde.
»Geht es dir denn noch nicht besser?«
»Noch nicht richtig«, sagte Schlunz und klang schon wieder schläfrig.
Lukas war ein bisschen enttäuscht. Er hatte gehofft, Schlunz wäre jetzt endlich wieder gesund und alles wäre wieder wie vorher. Aber das war wohl noch nicht so. Bevor er sich wieder seinen Hausaufgaben zuwandte, sagte er noch: »Du, Schlunz?«
»Ja?«
Lukas zögerte kurz. »Ich freue mich auch, dass du noch lebst.«
»Ja«, sagte Schlunz leise, »ich mich auch.«
4
In den nächsten Tagen verbrachte Lukas so viel Zeit wie möglich in ihrem gemeinsamen Zimmer. Natürlich ging er weiterhin zweimal die Woche zum Fußballtraining. Das wollte er nicht ausfallen lassen. Aber darüber hinaus unternahm er nicht viel. Wenn er etwas für die Schule lesen musste oder wenn er Vokabeln für Englisch zu lernen hatte, setzte er sich dazu in Schlunz’ Bett. Er quetschte sich neben das Kopfkissen in die Ecke an der Wand und zog seine Beine an, um so wenig wie möglich Platz einzunehmen. Aber er wollte seinem Freund ganz nah sein. Manchmal wachte Schlunz kurz auf und lächelte Lukas fröhlich an. Dann fuhr Lukas ein warmer Strom durch den Bauch und er wusste, dass es gut war, hier zu sitzen. Einmal umfasste Schlunz sogar einen Fußknöchel von Lukas, als wäre das ein Kuscheltier, und schloss wieder die Augen. Lukas war froh, dass er so dem Schlunz etwas Gutes tun konnte.
An einem Nachmittag kam Tim Hansen vorbei und besuchte Schlunz und Lukas. Er setzte sich auf die Bettkante von Schlunz’ Bett und erzählte von seiner Familie, was er mit seinen Freunden erlebt hatte und dass er sein kleines Auto, einen alten BMW E 36, noch einmal so repariert hatte, dass er damit schneller fahren konnte als vorher. Tim war bereits 19 Jahre alt, aber seit dem Sommer war er so eine Art großer Bruder für den Schlunz geworden. Als Schlunz ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte er ihn mit Marius angesprochen. Schlunz redete oft von einem Marius. Der schien für ihn immer ganz wichtig gewesen zu sein. Und Tim schien ihm ähnlich zu sehen. Seitdem versuchte Schlunz immer mal wieder, Tim dazu zu bewegen, er solle doch zugeben, dass er Marius sei. Aber Tim blieb dabei: Er war Tim und nicht Marius.
Tim erzählte auch von Amy. Das war die Cousine von Lukas. Sie war kurz vor Weihnachten hochschwanger aus Berlin gekommen und hatte hier ihr Baby zur Welt gebracht. Kurz nach Silvester war Silke, ihre Mutter, aus Berlin angereist. Sie hatte sich zuerst furchtbar aufgeregt, dass Amy ohne Bescheid zu sagen abgehauen war. Aber dann war sie von dem Baby ganz begeistert, hielt es stolz in ihrem Arm und nahm sich vor, ab jetzt gut für Amy und das Baby zu sorgen. Das Baby hieß jetzt Laura, so wie die Puppe von Nele. Silke wünschte sich, dass Amy und Laura mit ihr nach Berlin kämen. Aber das wollte Amy nicht. Sie wollte bei den Schmidtsteiners bleiben und besonders bei Tim, der sich so nett um sie gekümmert hatte. Amy hatte Angst, wenn sie jetzt wieder mit ihrer Mutter in Berlin wäre, wäre alles wie vorher und sie würden sich nur streiten. Tim fragte im Ort und in seinem Freundeskreis so lange herum, bis er eine kleine Wohnung für Amy und Laura gefunden hatte. Silke redete wieder davon, Amy müsste doch ihren Schulabschluss nachholen. Und überhaupt, so etwas ginge doch nicht und sie könne doch gar nicht die Miete bezahlen und wer sollte sich denn um sie kümmern und so weiter. Da redete nicht nur Tim auf Silke ein, sondern auch Mama und Papa versprachen, dafür zu sorgen, dass es Amy in Niederkirchen gut ginge. Seitdem wohnte Amy also in Niederkirchen und Tim besuchte sie fast jeden Tag. Tims Eltern besorgten einen Kinderwagen und ganz viele Leute aus der Gemeinde brachten jede Menge Babykleidung herbei, eine Wickelauflage, Windeln und Babyspielzeug. Tim strahlte richtig, während er davon erzählte.
Amy war seitdem auch immer mal wieder zu Besuch bei Schmidtsteiners gewesen. Wenn sie mittags mit ihrer Laura im Kinderwagen einen langen Spaziergang durch Niederkirchen machte, kam sie manchmal vorbei und trank mit Mama einen Kaffee. Die kleine Laura lag so lange auf einer warmen Decke auf dem Küchenboden. Hiob, der zweijährige Cousin von Lukas und Nele, rannte an solchen Nachmittagen immer aufgeregt in der Küche auf und ab und schleppte für Laura alles an, woran er kam: Plastikbecher, Wäscheklammern, Handfeger, sogar einen Blumentopf samt Pflanze trug er einmal herbei. Mama konnte ihn Hiob gerade noch rechtzeitig abnehmen, bevor er den Topf auf die Decke fallen ließ.
Hiob gehörte eigentlich nicht zur Familie von Lukas und Nele. Tante Lydia, die Mutter von Hiob, hatte an Weihnachten ein Baby bekommen, und Hiob war nun schon seit den Herbstferien bei den Schmidtsteiners untergebracht. Das Baby hieß Jesaja. Es war mittlerweile zwar schon fast vier Wochen auf der Welt, aber weil es zu früh geboren war, lag es immer noch im Krankenhaus, in einer Station für Frühgeborene. Tante Lydia saß jeden Tag bei ihm und Onkel Torsten musste arbeiten gehen. Darum konnten sie sich noch nicht wieder um Hiob kümmern. Onkel Torsten und Tante Lydia hatten außer Hiob und dem neugeborenen Jesaja noch sieben weitere Kinder. Zwei von ihnen waren zur Betreuung bei Oma Erika in Kalk an der Schlefe, die anderen fünf mussten zu Hause bleiben, denn sie gingen schon zur Schule, aber auf Hiob konnte keiner von ihnen so lange aufpassen. Weil alle Kinder von Onkel Torsten und Tante Lydia biblische Namen hatten, nannten Lukas und Nele ihre Verwandten aus Glaubensthal manchmal die »Bibelfamilie«. Hiob war normalerweise der Schlimmste von allen und heulte fast den ganzen Tag. Aber wenn Amy mit Laura da war, war er wie ausgewechselt. Anderen Leuten haute er gern auf die Nase und rief dabei: »Nase – bats machen!« Bei Laura hatte er das nur ein einziges Mal versucht. Da hatte Mama ihm aber gleich gesagt: »Nein, Hiob. Bei dem Baby darfst du nicht batsch machen. Da musst du ei machen.« Mit »ei machen« meinte Mama, das Baby vorsichtig über die Wange zu streicheln und bei jeder Streicheleinheit »ei, ei« zu sagen. Mama nahm Hiobs Hand und führte sie vorsichtig über Lauras Wange. Hiob riss Augen und Mund auf, wippte mit dem Po und lachte vergnügt. Von da an hatte er es kapiert: Bei Baby Laura war nicht »batsch machen« angesagt, sondern »ei machen«.
Der Januar zog sich dahin und Schlunz lag die meiste Zeit im Bett und schlief. Er verpasste alles, was Lukas und Nele in dieser Zeit erlebten. Schlunz war nicht dabei, als es in Niederkirchen so dick und fest schneite, dass sich alle Kinder des Ortes mit ihren Schlitten und Reifenschläuchen auf dem Ochsenberg trafen und dort um die Wette den Hang runter bretterten. Er war nicht dabei, als Lukas und Nele vor dem Haus einen dicken Schneemann bauten, der so groß war, dass Nele auf Lukas’ Schulter steigen musste, um den Schneemannkopf auf den Rumpf zu setzen. Der Klassenausflug zur Schlittschuhbahn in Oberklugstadt, die Schneeballschlacht mit den Kindern vom Kindergottesdienst – alles ohne Schlunz. Erst jetzt fiel Lukas auf, wie langweilig das Leben ohne Schlunz war. Dabei hatte es zehn Jahre lang bereits ein Leben ohne Schlunz gegeben. Wie hatte er das vorher bloß ausgehalten? Und wie würde sein Leben aussehen, wenn Schlunz wieder zu seiner Familie zurückkehren würde? Lukas beschloss, darüber erst nachzudenken, wenn es so weit war.
Es war der letzte Tag im Januar, als Lukas zusammen mit Mama ins Zimmer kam und Schlunz hellwach im Bett liegen sah. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und schaute zur Decke. Als Mama ihn so sah, lächelte sie, wuschelte Schlunz mit ihrer Hand über den Kopf und sagte: »Na, jetzt scheinst du wieder gesund zu werden.«
»Ja«, grinste Schlunz und sah aus, als hätte er schon wieder einen Streich im Kopf.
»Willst du denn nachher mal aufstehen und was Leckeres essen?«
»Ja.« Schlunz grinste breit. »Hähnchenschnitzel in Sahnesoße mit Salzkartoffeln und Prinzessböhnchen.«
Mama lachte. »Das war doch unser Weihnachtsessen.«
»Genau«, sagte Schlunz. »An Weihnachten bin ich in die ›Bitte-aussetzen‹-Schleife geraten. Und jetzt steigen wir da noch mal ein und spielen ab da weiter.«
Wieder lachte Mama. »Für uns ist das Leben seitdem aber weitergegangen. Wir haben schon Ende Januar.«
»Boah.« Schlunz schaute wieder zur Decke. »Ein ganzer Monat später.« Er schien zu träumen, dann sagte er fröhlich: »Wenn unser Leben ein Film wird, dann schneiden wir den Monat einfach raus, kleben die beiden Essen mit den Hähnchenschnitzeln aneinander und dann geht es nahtlos weiter.«
»Eine gute Idee«, sagte Lukas. »Und die Mathe-Arbeit, die wir letzte Woche geschrieben haben, fliegt damit auch raus. Und wir müssen die Arbeit noch mal schreiben. Jetzt weiß ich ja, was drankommt.«
»Wenn das so einfach wäre«, grinste Mama und ging zur Tür. »Ich fang dann schon mal an, das Festessen vorzubereiten.«
Als Mama draußen war, rollte sich Lukas auf seinem Schreibtischstuhl ganz nah an das Bett vom Schlunz heran. »Schön, dass du wieder fröhlich bist.«
»Ja«, sagte Schlunz, aber dann bekam sein Lächeln einen feuchten Glanz. Er sah Lukas in die Augen, als suchte er etwas Bestimmtes darin. Eine Antwort auf eine nicht gestellte Frage. Leise zog er seine Nase hoch und schniefte.
»Was hast du?«, fragte Lukas. »Ist dein Gedächtnis wieder verschwunden?«
Schlunz starrte Lukas weiter an. Es wirkte, als müsse Schlunz eine Geheimschrift in den Augen von Lukas entziffern. »Nein«, sagte er langsam.
»Ich hab niemandem davon erzählt«, sagte Lukas gleich. Vielleicht war das die ungestellte Frage.
»Das ist gut«, sagte Schlunz, aber er wirkte unsicher.
»Wann erzählst du mir, woran du dich wieder erinnerst?«
Schlunz seufzte. »Bald.«
»Warum nicht jetzt?«
Jetzt konnte Schlunz wieder mehr lächeln. »Ich muss das alles in meinem Kopf noch ein bisschen sortieren. Da ist so viel Schlimmes. Und Doofes. Und Gemeines. Und alles auf einmal.«
Lukas war enttäuscht. Jetzt wartete er schon so lange darauf, dass Schlunz endlich seine Geschichte erzählte. Und jetzt sollte es noch länger dauern. »Du hast doch alles schon so lange in deinem Kopf sortiert.«
»Ja«, sagte Schlunz, »ein bisschen. Aber noch nicht alles. Ich muss es mir erst mal aufschreiben. In mein Buch Schlunz.« Das »Buch Schlunz« war so eine Art Tagebuch, in das der Schlunz nun schon seit einigen Monaten alles aufschrieb, was ihm wichtig war. Manchmal saß er ganze Abende da und schrieb wie ein Weltmeister in sein Buch hinein. Und dann wieder wochenlang überhaupt nichts.
»Okay«, sagte Lukas dann. »Aber mach’s nicht zu spannend. Ich will doch auch wissen, was mit dir los ist und was du erlebt hast.«
Und wo deine Eltern wohnen, wollte Lukas noch hinzufügen. Aber das sagte er lieber doch nicht. An die Eltern vom Schlunz wollte er eigentlich gar nicht denken. Wenn seine Eltern noch lebten und der Schlunz sich jetzt auch wieder an sie erinnerte, dann würde er sicher bald wieder zu ihnen fahren und bei ihnen einziehen. Und dann wäre ihre gemeinsame Geschichte zu Ende. In den Ferien würden sie sich besuchen, vielleicht auch mal an einem Wochenende, aber nach und nach würde ihre Freundschaft wieder abbröckeln wie bei Freunden, die man im Urlaub kennenlernte, denen man versprach, sich oft zu schreiben, aber nach zwei, drei Briefen schlief der Kontakt doch wieder ein. Andererseits – was sollten das für Eltern sein, die ihren Jungen verloren und mehr als ein halbes Jahr lang nicht nach ihm suchten? Vielleicht war die Frau aus dem Audi sogar die Mutter von Schlunz und die versuchte, ihren Sohn aus dem Weg zu räumen? Oder Schlunz hatte gar keine Eltern und die Frau im Audi war die böse Großtante oder die Stiefmutter oder die alte Hexe? Und Schlunz war es gelungen, aus ihrem Hexenhäuschen zu fliehen, kurz bevor sie ihn in den Ofen steckte? Lukas schüttelte den Kopf. So ein Quatsch. Das gab es doch nur im Märchen. Er wollte nicht mehr darüber nachdenken.
Nele steckte ihren Kopf zur Tür herein: »Hallo Schlunz! Stimmt es, dass du wieder gesund bist?«
»Fast«, sagte Schlunz.
Nele kam rein und trug eine Schale mit Blumenerde vor sich her. »Hier, schau mal. Das wollte ich dir schenken.«
Schlunz zog die Augenbrauen hoch: »Oh, ein Topf mit Dreck. Vielen Dank.«
»Nein«, sagte Nele streng, »das ist kein Dreck. Das ist ein Apfelsinenbaum.«
»Ein Apfelsinenbaum?« Schlunz kicherte laut los. »Ich seh nix.«
»Nein, jetzt kannst du ihn natürlich noch nicht sehen.« Nele setzte sich mit ihrer Schale auf Schlunz’ Bettkante. »Der Baum ist ja noch in der Erde.«
»Ein Baum in der Erde?«
»Ja, klar! Ich hab vor zwei Wochen eine Apfelsine gegessen, die total viele Kerne hatte. Ich hab Mama gefragt, warum Gott diese ekelhaften Kerne in die Apfelsinen reinsteckt. Die Apfelsinen sind viel leckerer ohne die Kerne. Mama hat gesagt, in den Kernen steckt schon wieder ein neuer Apfelsinenbaum drin. Wenn man die Kerne in die Erde steckt, wächst aus dem Kern ein neuer Baum. Da hab ich gedacht, ich schenk dir einen Apfelsinenbaum. Den Kern hab ich schon vor zwei Wochen in die Erde gesteckt. Ich hab ja gehofft, dass der Baum schon richtig groß ist, wenn du gesund bist. Aber bis jetzt ist noch nichts gewachsen.«
Endlich konnte Schlunz wieder lachen. So richtig laut und herzlich. Lukas lachte mit. Einerseits, weil er die Idee von Nele lustig fand, aber hauptsächlich, weil er froh und erleichtert war zu sehen, dass sein Freund, der Schlunz, schon wieder so laut lachen konnte.
»Mann, Nele«, rief Schlunz fröhlich, »so schnell wächst ein Baum doch nicht! Der braucht bestimmt noch bis zum Sommer!«
»Was? Bis zum Sommer?« Nele stellte ihre Schale auf dem Schoß ab, wühlte mit den Fingern in der Erde und holte den Apfelsinenkern hervor. »Meinst du?« Sie drehte den Kern vor ihren Augen hin und her. »Ich wundere mich schon die ganze Zeit, dass da noch kein Baum rauskommt. Ich hol jeden Tag den Kern aus der Erde und schau nach, aber nichts passiert!«
Da lachte Schlunz wieder. »Ach, Nele! Du darfst den Kern doch nicht andauernd aus der Erde holen! Der muss doch da unten im Dunkeln in Ruhe keimen können.«
»Echt?« Nele steckte den Kern mit den Fingern wieder in die Erde. »Na gut. Dann schau ich erst in zwei Wochen wieder nach. Aber wenn der Baum fertig ist, dann kriegst du ihn.« Sie grinste breit. »Und wenn es wieder Weihnachten ist, essen wir die ersten Apfelsinen von deinem Baum.«
Schlunz und Lukas lachten, während Nele stolz ihre Schale nach draußen trug. Einen kleinen Stich verspürte Lukas bei dem Gedanken an das nächste Weihnachtsfest. Wo würde Schlunz das wohl feiern?
5
Beim Abendessen waren alle aus der Familie fröhlich und ausgelassen. Mama war froh, dass der Schlunz endlich wieder lachte. Papa grinste beim Essen unentwegt, auch wenn er nicht so viel redete wie die anderen. Papa schien sich am meisten darüber zu freuen, dass nach der Sorge um den Schlunz nun endlich wieder Ruhe in die Familie einkehren konnte. Nele erzählte ohne Unterbrechung all ihre Erlebnisse der letzten Wochen, so als wäre der Schlunz vier Wochen lang auf einer großen Reise gewesen. Ein bisschen war es ja auch so. Denn immerhin hatte der Schlunz die meiste Zeit der vergangenen Wochen nur geschlafen oder gedankenverloren im Bett gelegen. Aber jetzt fasste Nele alles für den Schlunz noch einmal zusammen, egal, ob sie den Mund dabei voll hatte oder nicht. Ihre kleinen geflochtenen Zöpfchen wackelten dabei aufgeregt auf dem Kopf, als müssten sie einen Bewegungstanz zu ihrer Erzählung vorführen. Immer wenn Nele über ihre eigenen Geschichten lachen musste, spritzte das Essen aus ihrem Mund zwei Meter über den Tisch. Aber Schlunz lachte über jeden ihrer Witze, egal, ob er lustig war oder nicht. Der Spuk der letzten Wochen schien endlich vorbei zu sein. Endlich war das Strahlen in Schlunz’ Gesicht wieder so groß wie eh und je. Er sah wieder gesund und fröhlich aus. Auch Lukas freute sich bis hinter beide Ohren, obwohl er die langen, ausführlichen Geschichten von Nele nicht alle lustig fand. Aber das Lachen von Schlunz – das war ansteckend, und darum musste er mitlachen, wann immer Schlunz in schallendes Gelächter ausbrach. Auch Hiob heulte nicht. Er saß in seinem Hochstuhl, wippte wild mit seinem Hintern hoch und runter und lachte jedes Mal laut und frech, wenn auch Schlunz lachte. Dabei grapschte er mit einer Hand in die Luft, als wolle er dort eine unsichtbare Nase fangen. Mit der anderen warf er immer gerade das über den Tisch, wonach er greifen konnte. Meistens war das ein Löffel, der in der Nähe von Neles Joghurt lag.
Da klingelte es an der Haustür. Mama öffnete. Vor der Tür stand ein Mann. Er war etwa im Alter von Mama und Papa. Er hatte fast keine Haare mehr auf dem Kopf, und da wo welche hätten kommen können, waren sie gnadenlos abrasiert. »Guten Abend«, sagte er. »Darf ich mal Ihre Toilette benutzen?«
»Wie bitte?« Mama fasste sich mit der Hand vor den Mund.
»Dringend.« Der Mann kniff seine Beine zusammen.
»Wer sind Sie?«
»Alexander Lambrusco ist mein Name. Ich bin einer der Polizisten aus dem weißen Überwachungswagen da hinten. Aber kann ich Ihnen das auch später erklären, bitte? Sonst ist es vielleicht zu spät.«
Mama öffnete die Haustür, so weit es ging. »Na klar, kommen Sie herein. Gleich hier vorne, die erste Tür rechts ist die Toilette.«
Herr Lambrusco zischte ins Haus, vorbei an der Familie am Esstisch und verschwand im Gästeklo. Alle lachten.
Mama schloss die Haustür und setzte sich wieder zu den anderen. »Wir freuen uns, dass es dir wieder besser geht«, sagte sie zum Schlunz.
»Ich freu mich auch.« Schlunz strahlte.
»Und bald geht es dir noch besser«, sagte Nele laut, »wenn nämlich mein Apfelsinenbäumchen gewachsen ist. Dann kannst du in deinem eigenen Zimmer Apfelsinen ernten.«
Schlunz strahlte immer noch übers ganze Gesicht.
Nele fügte hinzu: »Und dann fangen die Polizisten die blöden Killer, stecken sie ins Gefängnis, finden deine Eltern und du kannst für immer hier wohnen bleiben!« Sie grinste so breit, dass Lukas die Hähnchenreste in ihren Backenzähnen sehen konnte. Da grinste Schlunz nicht mehr. Mama schien das zu bemerken, denn sie sagte sofort: »Na, das sehen wir ja dann. Wenn Schlunz sich an seine Eltern erinnert und sie gefunden hat, will er ja sicher erst mal bei ihnen wohnen, nicht wahr?«
Schlunz bekam einen glasigen Blick und schaute Mama an, als wäre sie durchsichtig. »Ich weiß nicht«, sagte er leise.
Mama zuckte kurz mit ihren Mundwinkeln, offensichtlich wollte sie lächeln, aber das gelang ihr nicht. »Na klar«, sagte sie so aufmunternd wie möglich. Aber dann bildeten sich Sorgenfalten auf ihrer Stirn, als sie fragte: »Oder möchtest du etwa nicht?«
»Ich weiß nicht«, sagte Schlunz noch einmal und schaute traurig auf die Tischdecke. »Soll ich denn?«
»Tja«, sagte Mama. Dann sah sie erst mal zu Papa rüber. Papa beugte sich zu Schlunz vor und fragte: »Hast du denn inzwischen eine Idee, was mit deinen Eltern los ist?« Schlunz drehte sein Gesicht Papa zu, aber es sah aus, als schaue er durch ihn hindurch. Als er nicht antwortete, fragte Papa weiter: »Hast du Angst vor ihnen?«
Schlunz schüttelte langsam den Kopf. Papa legte seine Hand auf Schlunz’ Arm: »Du kannst so lange bei uns bleiben, bis sich bei dir alles geklärt hat. Wirklich.«
Jetzt nickte Schlunz, aber er schien in Gedanken wieder irgendwo ganz weit weg zu sein. Lukas wusste ja, dass der Schlunz sich wieder an seine Eltern erinnerte. Mama und Papa wussten das nicht. Trotzdem war der Schlunz so merkwürdig. Irgendetwas musste doch mit seinen Eltern passiert sein. Waren sie etwa selbst die Killer? Gehörten sie zu einer Gangsterfamilie? Hatten sie alle ihre Bekannten umgebracht und wollten nun auch den Schlunz töten? Lukas wollte nicht weiter darüber nachdenken. Und Schlunz sollte es auch nicht. Lukas klopfte Schlunz auf die Schulter und sagte: »Schlunz, wir sind doch Brüder! Ist doch logisch, dass du so lange bei uns wohnst! So lange du willst! Wenn du willst, bis an dein Lebensende!«
Da lächelte Schlunz wieder. Aber auch dabei sah Schlunz aus, als säße nur sein Körper hier auf dem Stuhl. Der Rest war irgendwo in einem fernen Land, weit, weit weg.
6
Die nächsten Tage verbrachte Schlunz damit, in seinem »Buch Schlunz« zu schreiben. Dabei ließ er sich auch von niemandem stören. Als der Arzt feststellte, dass Schlunz wieder gesund war, dauerte es nicht lange und Schlunz musste wieder zur Schule gehen. Das kostete ihn an seinem ersten Schultag viel Kraft, aber er beschwerte sich nicht. Elmar und die anderen begrüßten ihn stürmisch. Und auch Herr Rotbraun-Bohnenhang betonte mehrfach, wie sehr er sich freue, den Schlunz wiederzusehen. Aber am Nachmittag, sobald Schlunz mit den Hausaufgaben fertig war, schrieb er weiter in seinem Buch. So ging das jeden Tag. Lukas hatte ein paar Mal versucht, etwas darüber herauszufinden, aber Schlunz antwortete immer nur: »Wenn es fertig ist, Lukas!« In dieser Zeit kam es wieder öfter vor, dass der Schlunz nachts, wenn sie im Bett lagen, heimlich weinte. Schlunz weinte leise unter der Bettdecke, sicher sollte Lukas nichts davon hören. Aber Lukas hörte es und er machte sich Sorgen. Er hätte so gern nachgefragt. Aber er wollte den Schlunz auch nicht nerven. Trotzdem fühlte er sich so hilflos. Da drüben in seinem Bett lag der Schlunz, ein trauriger Junge, der wegen irgendetwas Schlimmen weinte. Und hier lag Lukas, sein bester Freund, der ihm so gern geholfen hätte, der das aber im Moment anscheinend nicht konnte. Lukas beschloss, für Schlunz zu beten. Leise, in seinen Gedanken.
Draußen wechselten sich warme und kalte Tage ab. Manchmal war es so kalt, dass die Scheiben an dem dunklen Mercedes vor der Haustür vollkommen zugefroren waren. Dann war es wieder mehrere Tage hintereinander so warm, dass Lukas den Eindruck hatte, der Winter war schon wieder vorbei. Seit ein paar Tagen entdeckte Lukas schon die ersten Schneeglöckchen im Gras neben dem Gartentor.
An einem Nachmittag kam Nele in Lukas’ Zimmer gestürmt, als Schlunz und Lukas beide noch an den Hausaufgaben saßen. »Du bist gemein, Schlunz!«, rief sie. In der Hand hielt sie ihren Blumentopf, aus dem natürlich immer noch kein Apfelsinenbaum gewachsen war. »Du hast gesagt, wenn man den Kern in Ruhe lässt, dann wächst er. Jetzt hab ich ihn in Ruhe gelassen, aber er ist immer noch nicht gewachsen! Du hast mich angelogen!«
Schlunz lachte und legte seinen Stift ab. »Nele, was glaubst du eigentlich, wie schnell so ein Baum wächst? Das ist doch keine Zauberbohne aus dem Märchen!«
»Wie lange soll das denn noch dauern?«
Schlunz lachte immer noch. Dann sagte er: »Also, Nele. Ich mach dir einen Vorschlag.«
»Ja, welchen denn?«
»Ich geh in den Keller und hol mir auch einen Blumentopf mit Erde. Dann leg ich auch einen Kern in meinen Topf. Und dann warten wir um die Wette, wer von uns beiden zuerst einen Apfelsinenbaum hat.«
»Pah, ich natürlich«, lachte Nele. »Ich hab ja schon einen Vorsprung!«
»Aber du weckst deinen Kern ja immer wieder aus seinem Wachstumsschlaf auf! Dann kann er ja nicht wachsen!«
»Wachstumsschlaf?«
»Ja! Der Kern muss da in aller Ruhe liegen. Und schlafen.«
»In der Erde schlafen?«
»Ja.«
»Das könnte ich nicht.«
Schlunz lachte wieder. »Du sollst das ja auch nicht, Nele. Du bist ja auch kein Apfelsinenkern.«