Der Schmerz verlassener Eltern - Claudia Haarmann - E-Book

Der Schmerz verlassener Eltern E-Book

Claudia Haarmann

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie generationsübergreifender Familienschmerz zu Kontaktabbrüchen führt

Anders als in ihrem Buch »Kontaktabbruch in Familien« nimmt die Autorin hier die Perspektive der verlassenen Eltern ein und eröffnet neue und entlastende Sichtweisen auf die eigene Biografie, die Familiendynamiken sowie auf die Beziehung zum erwachsenen Kind.

Bricht ein erwachsenes Kind den Kontakt ab, fühlt es sich für die vielen betroffenen Eltern wie ein Beben an. Fassungslos versuchen sie zu verstehen, was geschehen ist. Das Zerwürfnis hinterlässt eine tiefe Scham, ein Gefühl von Schuld und den Drang nach Rechtfertigung. Die erfahrene und auf dieses Thema spezialisierte Therapeutin Claudia Haarmann steigt tief in Familiengeschichten ein, um die Ursachen von Kontaktabbrüchen zu beleuchten. Durch Fallgeschichten und Experteninterviews erklärt sie einfühlsam und anschaulich, warum der Bruch nicht plötzlich kommt und welche Rolle gesellschaftliche Aspekte sowie die Bindungserfahrungen der Elterngenerationen bei Familienkonflikten spielen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 273

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wie generationsübergreifender Familienschmerz zu Kontaktabbrüchen führt

Bricht ein erwachsenes Kind den Kontakt ab, fühlt sich das für die vielen betroffenen Eltern wie ein Beben an. Fassungslos versuchen sie zu verstehen, was geschehen ist. Die erfahrene und auf dieses Thema spezialisierte Therapeutin Claudia Haarmann steigt tief in Familiengeschichten ein, um die Ursachen von Kontaktabbrüchen zu beleuchten. Durch Fallgeschichten und Experteninterviews erklärt sie einfühlsam und anschaulich, welche Rolle gesellschaftliche Aspekte sowie die Bindungserfahrungen der Elterngenerationen bei Familienkonflikten spielen.

Sie nimmt die Perspektive der verlassenen Eltern ein und eröffnet neue und entlastende Sichtweisen auf die eigene Biografie, Familiendynamiken sowie auf die Beziehung zum erwachsenen Kind.

Über die Autorin

Claudia Haarmann, geboren 1951, arbeitete lange als freie Journalistin und ist heute Heilpraktikerin für Psychotherapie. Schwerpunkt ihrer Arbeit sind die Bindungs- und Beziehungsdynamiken in Familien und deren Auswirkungen im Erwachsenenalter. Sie berät heute Eltern und erwachsene Töchter und Söhne, die sich mit familiären Kontaktabbrüchen auseinandersetzen. Ihre Bücher Mütter sind eben Mütter und Kontaktabbruch in Familien sind erfolgreiche Longseller.

www.claudia-haarmann.de

Claudia

Haarmann

Der

Schmerz

verlassener

Eltern

Kontaktabbruch als emotionales Erbe verstehenund Wege damit umzugehen

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2024 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: FAVORITBUERO, München

Umschlagmotive: Eric Isselee / Shutterstock.com

Redaktion: Dr. Daniela Gasteiger

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

Printed in Germany

ISBN 978-3-641-31671-6V001

www.koesel.de

Gewidmet meiner großen Freude

für Linus und Nathan

»Bewusstsein gibt uns die Freiheit, eine Wahl zu treffen.«

Moshé Feldenkrais

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1: Zwei Welten, von denen die Eltern glaubten, es sei nur eine

Kapitel 2: »Ich spreche ihre Sprache nicht mehr« oder Kontaktabbrüche, ein Generationenkonflikt?

Kapitel 3: Auch Eltern sind Kinder ihrer Zeit – Kindheiten in Not

Kapitel 4: Wir Eltern wollten alles richtig machen und konnten es nicht – die Kriegskinder

Kapitel 5: Vergessen, wirtschaftswundern, anpassen – Kindheit in einer belasteten Zeit

Kapitel 6: Als sei es unaussprechbar – die Bedeutung des familiären Schweigens

Kapitel 7: Was uns trennt und was uns zusammenbringt – Kommunikation in einem anderen Licht gesehen

Kapitel 8: Das ganze Bild oder Was möglich ist

Weitere Literatur

Einleitung

Die glückliche Familie ist wie ein Phantom, nach dem man sucht. Nichts wünschen wir uns mehr als ihren Zusammenhalt und ein freundliches, liebevolles Miteinander, eine Familie als einen Ort, der Sicherheit gibt. Das ist eine menschliche Sehnsucht, und dieser Wunsch wird angesichts der Katastrophen um uns herum noch verstärkt. Die Realität ist anders. Familie steht oftmals für Konflikt, es wird geschimpft, beklagt, geschwiegen und geweint und sogar das Miteinander aufgekündigt.

Vom eigenen Kind verlassen! Nie hätte man sich das ausmalen können. Wohin mit all dem Schmerz, mit all den unbeantworteten Fragen? Für Sie, als Mutter oder Vater, die das betrifft, ist dieses Buch geschrieben.

Entgegen der landläufigen Meinung handelt es sich bei dieser Kündigung von Töchtern und Söhnen nicht um Familien, in denen erschreckende Zustände vorherrschen. Kontaktabbrüche treffen Menschen »wie du und ich«, Familien »wie deine und meine«. So ein heftiger Konflikt trifft Freunde und Verwandte, Nachbarn und Bekannte, er findet sich überall.

Es gibt natürlich Familien, in denen Missbrauch, Gewalt, massive Vernachlässigung und Entwürdigungen zum Alltag gehören, Atmosphären und Situationen, bei denen es den erwachsenen Kindern angeraten ist, die Familie zu verlassen. Über diese Familien schreibe ich nicht. Das ist ein eigener Bereich. Ein Kind, das im Elternhaus bedroht worden ist und sich weiterhin bedroht fühlt, muss diese Zäsur machen. Um schwerwiegende psychische Erkrankungen in einer Familie kann es an dieser Stelle auch nicht gehen.

Ich schreibe vielmehr über die Fälle, bei denen junge Erwachsene das Gefühl haben: Ich leide unter einem emotionalen Mangel, bekomme nicht das, was ich brauche, oder ich bekomme von etwas zu viel, was ich gar nicht möchte. Man würde sich wundern, wie »normal«, im Sinne von bekannt, es in den betroffenen Familien zugeht. Die Kommunikation spielt dabei eine große Rolle, sie ist oft schwierig, es gibt viel Unausgesprochenes und meist läuft sie schon lange auf kleiner Flamme und verebbt dann ganz. Und das ist, wie Sie sehen werden, keine vereinzelte Problematik, sondern eine Wahrheit, die einen erstaunlich großen Teil der Gesellschaft betrifft.

Seit dem Erscheinen meines Buches über Mütter und Töchter im Jahr 2008 werde ich mit Anfragen, mit Briefen, die von Familienzerwürfnissen berichten, überflutet; es sind verzweifelte und traurige Berichte, aber auch wütende. Seit dieser Zeit berate ich fast ausschließlich Eltern aus allen gesellschaftlichen Schichten und erwachsene Kinder, die sich mitten in diesen Konflikten befinden. Diese erwachsenen Kinder melden sich, weil auch für sie das Ganze überaus schmerzhaft und problematisch ist, aber die Gespräche mit den Eltern sind in ihrer Verzweiflung und Hilflosigkeit bedrückend. Hunderte an Gesprächsnotizen aus meinen Beratungen sind die Grundlage dieses Buches.

In erster Linie sind es Frauen, also betroffene Mütter und Töchter, die sich an mich wenden. Männer melden sich selten, anteilig sind es etwa 10 Prozent, die bei mir Unterstützung suchen. Vor allem den älteren Männern fällt es immer noch sehr schwer, über sich oder über emotionale Themen zu sprechen. Eine Tatsache, die natürlich einen Einfluss auf dieses Buch hat, es wird häufiger um Berichte von Frauen gehen.

Erstaunlich ist, dass es keine wissenschaftlichen Studien, wenig Literatur gibt, die die Hintergründe der Kontaktabbrüche untersuchen, vor allem nicht, was das Erleben der verlassenen Eltern betrifft. Und so habe ich mit diesem Buch versucht, meine Erfahrung, meine Gedanken und Erkenntnisse zu bündeln, um die Ursachen des Zwistes zu ergründen. Geleitet wurde ich dabei von dem Satz, der mich seit Langem begleitet und den Moshé Feldenkrais formuliert hat: »Bewusstsein gibt uns die Freiheit, eine Wahl zu treffen.« Meine Überzeugung ist: Wenn man ein Handwerkszeug hat, mit dem man die Familiendynamik aus einem gewissen Abstand sehen kann, wenn ein Erkennen der Hintergründe möglich ist, wenn das ganze Familienbild deutlich wird, dann erst entsteht eine Idee, warum dieser Schmerz die eigene Familie trifft. Erst damit taucht die Möglichkeit auf, etwas zu verändern. Die vielen ungelösten Fragen erfahren Antworten, das Gedankenkarussell hört auf, sich zu drehen.

Eine Information ist mir bei alldem wichtig. Das erwachsene Kind, das einem den Rücken zukehrt, wird nicht mehr zu verändern sein. Eine Änderung der Einstellung und des Verhaltens kann erst einmal nur bei den betroffenen Eltern selbst beginnen. Jeder Blick auf sich selbst, jedes Erforschen des eigenen Anteils, jede Erkenntnis über die Familiendynamiken verändert die Perspektive auf den Konflikt. Das ist aus meiner Erfahrung die realistische und gangbare Möglichkeit, die die verschlossene Tür zwischen den Generationen wieder öffnen kann. Dieses Buch zeigt, dass das kein Wunsch ist, sondern der Weg dahin.

Ich würde mir wünschen, dass dieses Buch Ihnen dabei hilft, mit dem Schrecken und dem Schmerz besser umgehen zu können, dass die Familiendynamik deutlicher wird. Und vielleicht kann das, was Sie als Ursache irgendwie schon ahnten oder wussten, mehr an die Oberfläche kommen. So, als würde ein Vorhang zur Seite gezogen, und man kann jetzt das ganze Bild, das vorher verschwommen war, genauer sehen. Dazu gehört auch zu erkennen, dass die gute Beziehung zwischen Eltern und Kind gelernt und selbst erlebt sein will, bevor sie weitergegeben werden kann. Eine nach heutigem Kenntnisstand stimmige Bindung hätte Vorbilder gebraucht. Und so kann die Frage nur heißen, was hat die Beziehungsfähigkeit der Elterngenerationen beeinflusst, dass dieses erhoffte Glück so brüchig ist? Dieser Frage werde ich in diesem Buch nachgehen. Vielleicht tut es aber auch gut, von anderen Betroffenen zu hören und Parallelen zu entdecken. Denn eines ist sicher, Sie sind mit dem Thema nicht allein. Mehr und mehr Familien sind davon betroffen.

Nicht alle Fragen können hier beantwortet werden. Dazu gehört das sehr kontrovers diskutierte Thema: Sind die erwachsenen Kinder ihren Eltern etwas schuldig? In der Bedeutung des Wortes »schuldig« steckt so etwas wie »haftbar sein« oder »Schulden einlösen« müssen. Ich glaube, ob und was man den Eltern zurückgeben möchte, ist sehr persönlich. Jede Tochter, jeder Sohn wird für sich entscheiden müssen, was sie, er als angemessen empfindet. Dankbarkeit ist nichts, was man einfordern könnte. Dankbarkeit ist eine Resonanz auf das, was man bekommen hat. Das kann auch das Lebensgeschenk sein.

Manchmal beschäftigt erwachsene Kinder, die über viele Jahre keinerlei Kontakt zu ihren Eltern hatten, diese Frage sogar. Denn mit dem Gedanken, dass Kinder den Eltern etwas schuldig sind, ist man groß geworden, und lange Zeit galt er als gesellschaftliche und christliche Norm. Für mich ist es keine Frage, auf die es eine grundsätzliche Antwort geben kann, sondern jedes Kind, gleich welcher Generation, wird sie für sich lösen müssen.

Ein anderes Thema, das nicht behandelt werden kann, sind Kontaktabbrüche als Folge von Trennung der Eltern. Dann, wenn Kinder oder Jugendliche sich für einen Elternteil entscheiden müssen oder sollen. Ich höre Fälle, wo Minderjährige gegen den Vater oder die Mutter manipuliert werden. Mit dem Kampf der Eltern entsteht ein Klima von der »gute Papa und die böse Mama« oder die »gute Mama und der böse Papa«. Die Entfremdung des Kindes ist für den verlassenen Elternteil katastrophal, aber der Konflikt geht in erster Linie die Eltern an, es ist nicht die ursprüngliche Entscheidung der Kinder.

Ich schreibe ausschließlich über Familienkonstellationen, bei denen sich die erwachsenen Kinder aus emotionalen und psychischen Beweggründen von ihren Eltern distanzieren. Mir ist bewusst, und das möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass sich aktuell junge Erwachsene von ihren Eltern zurückziehen, weil sie die Elterngenerationen für den Zustand der Welt verantwortlich machen. Sie haben berechtigte Zukunftsängste, was die klimatischen und ihre persönlichen wirtschaftlichen Lebensbedingungen betrifft. Themen, denen wir Eltern uns sicherlich auch stellen müssen.

Wenn ich hier in diesem Buch von Eltern spreche, dann betrifft das eine große Altersspanne. Frauen und Männer ungefähr zwischen fünfzig und über neunzig Jahre sind die Zielgruppe, entsprechend ist das Alter ihrer Kinder. Es geht also um mindestens zwei Elterngenerationen. Ich beschreibe persönliche und gesellschaftliche Entwicklungen, die auf die Menschen und ihre Beziehungen Einfluss haben. Es erhebt keinen Anspruch darauf, ein vollständiges Generationenbild zu sein, meine Erkenntnisse basieren auf meinen Daten und Beobachtungen im Abgleich mit der aktuellen Literatur. Die Erfahrungen und Lebensumstände dieser Altersgruppen sind, wie wir sehen werden, fließend. Was für den einen noch gilt, ist für den anderen schon nicht mehr relevant. Also nehmen Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, das, wo Sie sich wiedererkennen. Und so sind Begriffe wie die »Jungen« in Abgrenzung zu den »Alten« und »Älteren« als dynamisch zu verstehen.

Eine junge Probeleserin hat mich nach der Lektüre der ersten Kapitel erstaunt gefragt: »Ja, sollen jetzt die Eltern die Armen sein?« Ja, genau. Es ist an der Zeit, dass anerkannt wird, was die Elterngenerationen im Gepäck haben. Zu dem Vorgängerbuch Kontaktabbruch in Familien, bei dem es im Wesentlichen um die Perspektive der Kinder geht, stellen Töchter und Söhne oft die Frage: »Könnte ich das Buch wohl meinen Eltern schenken? Meinen Sie, meine Eltern würden mich dann besser verstehen?« Die Frage beantworte ich mit einem klaren »Ja«. Wenn mich jetzt Eltern fragen sollten, ob sie dieses Buch ihren Kindern, die sie verlassen haben, schenken können, ist das »Ja« ebenso deutlich. Meine Bücher geben keine Tipps, sondern ich glaube an die Veränderung durch Empathie und gegenseitiges Verständnis.

Auch wenn sich die Lebensgeschichten aufgrund der deutschen Teilung unterscheiden, ist Kontaktabbruch in meiner Wahrnehmung ein Thema in der gesamten Republik. Und so werden Sie viele konkrete Schilderungen und Zitate von Beteiligten aus allen Bundesländern lesen, und es ist ein Geschenk, dass Mütter und Väter bereit waren, offen über ihr Leben zu sprechen. Ihnen gilt mein ganzer Dank! Dabei ist das, was sie ausdrücken, sehr durchdacht. Das ist nicht zufällig so, denn die Not aller vom Kontaktabbruch Betroffenen veranlasst eine Reflexion über das, was geschehen ist. Alle, die hier zu Wort kommen, willigen einer Veröffentlichung nicht nur ein, sondern sie tun es, um anderen Eltern zu helfen. In den Berichten werden Sie, als Leserin, Leser, Ihr Eigenes erkennen und sie werden Ihnen zeigen: Sie sind mit all dem Kummer nicht allein. Immer sind die zu Wort Kommenden und ihre Familien durch eine Anonymisierung der persönlichen Daten geschützt.

Essen, im Juli 2024

Claudia Haarmann

Kapitel 1:Zwei Welten, von denen die Eltern glaubten, es sei nur eine

Im August 2023 wurde ich von der Berner Zeitung zum Thema »Kontaktabbruch in Familien« interviewt. Der Titel des Artikels lautet: »Mama, ich will dich nicht mehr sehen«1. Er beginnt auf eine Weise, die jede betroffene Mutter, jeder betroffene Vater sofort versteht:

»In Bern trifft sich regelmäßig eine Selbsthilfegruppe für verlassene Eltern. Für viele ist eine Frage zentral: War ich wirklich so schlimm? Beim letzten Treffen seiner Selbsthilfegruppe hat Simon Haller (Name geändert) eine Frage in die Runde geworfen. ›Wie oft denkt ihr an sie? An die Kinder, zu denen ihr keinen Kontakt mehr habt?‹ Einer der Anwesenden habe gesagt: Ständig. Eine andere: 40-mal am Tag.«

Es geht hier nicht um die Töchter und Söhne, die in ferne Länder fortgezogen oder unerreichbar auf einer Weltreise sind. Die, um die es hier geht, haben sich zurückgezogen oder sind ganz aus dem Leben der Eltern verschwunden. Diese Kontaktabbrüche zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern finden sich überall. Fragt man ein bisschen herum, dann hört man schnell, fast mit einer leiser werdenden Stimme: »Ja, kenne ich aus dem weiteren Familienkreis« oder »Kenne ich von Freunden«, manchmal mit dem Zusatz: »Verstehe ich gar nicht, es sah doch immer so gut bei denen aus.« Die betroffenen Eltern reden kaum darüber, und wenn doch, dann nur mit sehr vertrauten Menschen oder in Betroffenen-Gruppen. Aber sie denken immerzu an die Tochter, den Sohn und fragen sich: »Warum nur, ich verstehe es nicht – was habe ich bloß falsch gemacht?«

In den ersten sieben Zeilen des Artikels steckt die ganze Dramatik der Eltern, die den Bruch mit ihrem erwachsenen Kind – vereinzelt sogar mit mehreren Kinder – zu verkraften haben, denn sie verweisen auf das Gedankenkarussell, das bei den meisten von ihnen kreist und kreist. Da sind ihre unbeantworteten Fragen, Selbstvorwürfe, Selbstzweifel, Scham- und Schuldgefühle, und da ist das ohnmächtige Gefühl, denn sie wissen nicht, was eine Veränderung zum Guten einleiten könnte.

Stellt eine Tochter, ein Sohn den Kontakt zur Mutter oder/und dem Vater ein oder löst sich sogar aus dem ganzen Familienverband, ist es für die betroffenen Eltern wie ein Beben, ein Einbruch, der nicht selten wie eine Gewaltsamkeit erlebt wird. Ein Kontaktabbruch gehört zu den schmerzvollsten Dingen, die Eltern passieren können. Sie sind meist fassungslos, versuchen zu verstehen, aber verstehen nicht, was mit dem Kind geschehen ist, das man doch liebt und das mit sechs Jahren noch gesagt hat: »Ich hab dich so lieb, du bist die beste Mama, der beste Papa der Welt.« Was hat es veranlasst, solch einen schmerzauslösenden Schritt zu tun? Die Eltern suchen die Gründe bei sich, dann wieder sehen sie die Schuld bei den Kindern und klagen sie als undankbar und respektlos an. Oder sie machen Außenstehende verantwortlich, sehen ihr Kind als von anderen verblendet – vom Partner, von Freunden oder Coaches und Therapeuten manipuliert. Dann wieder – und das betrifft oft eher die Väter – schieben sie alles weit von sich weg und denken: »Wenn das Kind nicht anerkennt, was ich alles getan und ermöglicht habe, dann eben nicht.« Oder sie tun so, als würde sie das alles nicht tangieren. Einige Eltern gehen noch weiter. Für sie ist es ungerecht und schäbig, wie der Sohn/die Tochter sich verhält, und der/die ist für sie gestorben.

Das sind ganz unterschiedliche Reaktionen, die auch von der Lebenssituation der Eltern abhängen. Es macht einen Unterschied, ob es eine alleinerziehende Mutter trifft, ob es sich um das einzige Kind handelt, oder aber, ob es einen Familienverband mit mehreren Kindern gibt. Besonders Alleinerziehende, die vieles gegeben haben und die nicht selten von Kontaktabbrüchen betroffen sind, sagen: »Ich habe meinem Kind alles gegeben und ermöglicht und jetzt lässt es mich allein.« Gerade sie fühlen sich allein gelassen und sie sind es auch.

Kontaktabbrüche kommen in allen Konstellationen vor. Dabei handelt es sich aus meiner Wahrnehmung um ein hochkomplexes emotionales Thema, das Eltern aus allen Gesellschaftsschichten betrifft. Jede Familie hat ihre speziellen Thematiken und Problematiken und jedes Individuum reagiert anders auf das Zerwürfnis. Gemeinsam ist der Schmerz. »Es macht mich so unendlich traurig, ratlos, und ich habe das Gefühl, nie mehr glücklich sein zu können«, schreibt mir eine Mutter.

Die Eltern sind zutiefst getroffen, nichts ist mehr, wie es war. Einigen gelingt es, mit der neuen Realität irgendwie zu leben, andere fallen in ein trostloses Loch. Sie leiden oft über Jahre, sind in ihren Gedanken so gefangen, dass sie nichts anderes mehr sehen. Manche werden taub, schalten innerlich ab, versuchen das ganze Desaster wegzudrücken. Aber selbst die Betroffenen, die den Schmerz wegschieben, die sogar bitter oder zornig werden, zeigen in der Wut ihr Beteiligtsein.

»Manchmal vergesse ich, dass ich eine Tochter/einen Sohn habe«, höre ich Eltern sagen, die nach Jahren ihres Kummers resigniert aufgeben. Kürzlich sagte mir eine Mutter, die nicht weiß, wo ihre Tochter überhaupt ist: »Wenn ich wenigstens ein Grab hätte, einen Ort, an dem ich trauern könnte, dann wäre es für mich leichter.« Eine andere äußert: »Jetzt nach vier Jahren, in denen ich nichts höre, muss ich mich manchmal erinnern, dass ich ein Kind habe. Ich kann sonst das ständige Grübeln nicht mehr aushalten.«

Mit diesem Buch möchte ich die Hintergründe und Zusammenhänge der Kontaktabbrüche erklären. Die Eltern, denen es gelingt, sich nicht in einer Schuldschleife zu verhaken, die ihr Leben weiterleben, weil sie ein Recht auf ihr eigenes Leben haben, die sich mit den Ursachen der Familienkonflikte auseinandersetzen, werden es nicht mehr so schwer haben. Wie das möglich werden kann, darauf werde ich besonders in Kapitel 8 eingehen. Denn zunächst möchte ich die Hintergründe der Kontaktabbrüche behandeln.

Erwachsener oder Kind?

Während des Schreibens, frage ich mich, wie ich eigentlich das Wort »Kind« benutzen soll. Bei den Kontaktabbrechenden handelt es sich ja um Erwachsene, sie sind in der Regel weit über zwanzig Jahre alt und führen ihr eigenes Leben. Die Bandbreite geht von zwanzig Jahren bis hin zu über Fünfzigjährigen. Selbst in dieser Altersgruppe gehen »Kinder« noch aus dem Kontakt mit ihren Eltern.

Es gibt sehr viele Synonyme für das Wort »Kind«. Dazu gehören: Sprössling, der/die Kleine, Junior, der Junge, das Mädchen und so weiter. Alles Begriffe, die den Kind-Status benennen. Nur trifft das ja objektiv nicht mehr zu, auch wenn die Eltern manchmal noch von »unserer Kleinen« oder »dem Jungen« sprechen. 

Der Gesetzgeber hat für den Status »Kind« eine klare Definition. Im § 1 Jugendschutzgesetz beschreibt er Kinder als Personen, die noch nicht 14 Jahre alt sind, und Jugendliche als Personen, die 14, aber noch nicht 18 Jahre alt sind. Danach ist man bis zum Alter von 27 Jahren ein junger Erwachsener und dann ein Erwachsener. Dennoch fühlen sich Erwachsene von ihren Eltern oftmals noch als Kind behandelt.

»Ich bin 38 und meine Eltern wollen mich immer noch erziehen. Sie erklären mir, wie ich mich benehmen soll, als sei ich noch ein Kind«, sagt eine Tochter, die mit ihren Eltern auf Kriegsfuß steht. Und ein 27-Jähriger: »Ich komme nach anderthalb Jahren aus Australien zurück, suche eine Wohnung und meine Eltern sagen: ›Du kannst doch wieder in dein Kinderzimmer einziehen.‹« Wie oft haben die erwachsenen Töchter und Söhne gehört: »Zieh dir doch eine Jacke drüber, es ist draußen kalt.« Für die Eltern sind solche Formulierungen ganz normal, sie kommen aus der alten elterlichen Sorge. Für die Töchter und Söhne sind sie ein Grauen.

Biologisch gibt es in der Frage natürlich keinen Zweifel – ein Kind ist und bleibt das Kind, im Sinne von Nachkomme, aber faktisch ist er oder sie eine Erwachsene. Dieser Sachverhalt ist deshalb so wichtig, weil er zu einem der Angelpunkte der ganzen Thematik gehört, denn diese »Kinder« wollen endlich als Erwachsene anerkannt werden. Sie wollen ihre Wünsche respektiert sehen, ihre eigenen Wege gehen, nicht selten Wege, denen die Eltern kritisch gegenüberstehen. Sie wollen mit ihren Gedanken, Überzeugungen und Werten, ihren Lebensweisen und Vorstellungen als eigenständig, als autonome Individuen geachtet werden. Aber für die Eltern sind und bleiben sie: »mein Kind«.

Hier kommen die ganz typischen Konfliktszenarien, von denen ich immer wieder höre. Das »Kind«, ganz gleich, ob Tochter oder Sohn und welchen Alters, sagt oder schreibt: »Ich möchte euch nicht mehr sehen, bitte meldet auch nicht mehr bei mir, der Kontakt mit euch macht mir zu viel Druck. Ihr habt überhaupt keine Ahnung, was mich bewegt, ich interessiere euch offensichtlich nicht. Ihr versteht mich nicht und habt mich auch nie verstanden.« Die Eltern reagieren betroffen, denn ihrem Empfinden nach ist es doch eindeutig: »Eltern und Kinder gehören zusammen. Wir sind doch blutsverwandt und das bleibt für immer! Wir meinen es nur gut mit dir. Wir wollen für dich da sein, wenn du Sorgen hast oder etwas brauchst.« Sie denken, dass eine Distanz zwischen Eltern und Kindern nicht natürlich sei.

Und so bleiben Eltern in der alten Rolle, behandeln den erwachsenen Sohn oder die erwachsene Tochter noch immer wie ein Kind. Manch ein Elternteil hat den Gedanken, vielleicht ist es auch der Wunsch: »Du brauchst mich doch, Kind, du kommst doch ohne mich in deinem Leben gar nicht zurecht.« Sie gehen davon aus, dass es ihrem Sohn oder ihrer Tochter vor allem durch ihr Zutun gut geht. Und sie merken nicht, dass an diesem Gedanken der Versuch der Einmischung hängt, dass sie geneigt sind, die Grenzen ihrer erwachsenen Kinder zu überschreiten und ihnen wenig zuzutrauen.

In alldem steckt eine Hierarchie. Die alte Rangfolge: Vater, Mutter, Kind. Ein Oben und Unten, ein »Wir wissen und du solltest auf uns hören«. Das sind Muster und Werte, die auf den selbsterlebten Familientraditionen und historischen Werten beruhen. Dabei hat sich die Welt in kurzer Zeit so stark gewandelt, dass die Jungen in vielen vor allem digitalen Bereichen weit mehr wissen und besser informiert sind als ihre Eltern.

Zweifelsohne geht es im biologischen Binnenverhältnis um Vater, Mutter, Kind. Sozial und faktisch geht es jedoch um Erwachsene und wir haben es bei dem Thema mit einem Konflikt zwischen Erwachsenen zu tun. Diese Sicht gilt auch für die Kinder, denn auch sie müssen annehmen, dass die Rolle des Kindes vorbei ist, dass sie jetzt für ihr Leben verantwortlich und die Eltern nicht mehr für ihre Probleme zuständig sind oder gar für Widrigkeiten des Lebens haftbar gemacht werden können. Deshalb schreibe ich im Folgenden von »kontaktabbrechenden Erwachsenen«, den »Kontaktabbrechenden« oder »erwachsenen Kindern«. Das Wort »Kind« verwende ich, wenn ich Eltern direkt oder indirekt zitiere.

Ich hoffe, dass diese Differenzierung für Sie hilfreich sein wird, um die ganze Thematik besser zu verstehen. Denn schon allein die Nutzung dieses einen Wortes hat eine Bedeutung und eine Wirkung auf die Beteiligten. Und da ich dieses Buch schreibe, um mein Wissen weiterzugeben, um die Fallstricke, die den Konflikt weiter verstärken, aufzuzeigen, bedarf es hier der Klarheit. Je bewusster, je klarer der Hintergrund, auf dem das alles geschieht und geschehen ist, desto größer ist die Möglichkeit, sich anders zu verhalten. Genau das birgt die Chance einer Wiederannäherung. Und diese Chance ist real. Die Mehrheit der erwachsenen Kinder, die die Tür zugeschlagen haben, öffnen sie auch wieder. Für sie ist es eine Phase der notwendigen Emanzipation. Sie lösen sich aus zu eng gewordenen Familienmustern und suchen ihre eigene Lebensform. Eines Tages führt der Weg für die große Mehrheit wieder zurück. Das kann ein Jahr, fünf oder weit länger dauern, manchmal geschieht die Annäherung auch, wenn die Eltern am Lebensende stehen. Der Kontakt wird anders sein, erwachsener, aber es wird eine Wiederannäherung geben.

Zu nah oder zu fern

Die Perspektive und Motive der Kontaktabbrechenden teilen sich in zwei Grundthematiken. Die erste Gruppe beschreibt ihre Empfindungen etwa so:

»Meine Mutter, mein Vater ist unerreichbar für mich, es steht eine Art Wand zwischen uns. Der Kontakt ist kühl bis kalt und ich habe zeit meines Lebens das Wärmende vermisst. Es gab und gibt keine Nähe, nichts tief Verbindendes. Meist dreht es sich im Kontakt um materielle Dinge. Ich kann mich nicht erinnern, jemals mit meiner Mutter gekuschelt oder auf ihrem Schoß gesessen zu haben. Körperlichkeit ist wie ein Tabu zwischen uns. Sie oder mein Vater waren nie eine Anlaufstelle, bei der ich hätte Schutz finden oder die meinen Kummer hätte auffangen können. Der Ton bei uns in der Familie ist funktional, eher rau. Es geht um Anweisungen und zu erbringende Leistung, um ihre Dominanz und Autorität. Sie dulden keinen Widerspruch, sind schnell wütend und wollen ihren Willen durchsetzen. Ich habe in meiner Kindheit Berührung und Liebe vermisst und vermisse es bis heute. Wenn ich das heute anspreche, dann wissen meine Eltern gar nicht, wovon ich rede. Sie sind an dieser Stelle nicht erreichbar, sie verstehen meinen Wunsch nach Nähe und Verbundenheit nicht und betonen, dass sie alles für mich getan haben.«

Die zweite Gruppe beklagt das Gegenteil. Diesen erwachsenen Kindern ist die Verbindung zu nah, zu eng und sie nehmen diese Nähe eher als kontrollierend wahr. Das, was die Eltern unter Fürsorge und Zusammengehörigkeit verstehen, ist für sie ein Zuviel an Gemeinsamkeit.

»Meine Eltern«, so sagen sie, »können die notwendige Distanz nicht wahren, sie mischen sich überall ein, auch in die Erziehung meiner eigenen Kinder, sie geben zu allem ihre Kommentare ab. Sie können mein Leben, das, was mir wichtig ist, nicht annehmen, geschweige denn respektieren. Sie wollen zu viel und sie suchen immer wieder die familiäre Atmosphäre. Sie sind distanzlos und überforsch, rufen ständig an. Sie sagen Sätze wie: ›Zwischen uns passt kein Blatt. Wir sind beste Freund/innen. Wir gehören zusammen.‹ Sie meinen zu wissen, was für mich gut ist, geben gute Ratschläge und drücken das auch immer wieder aus: ›Du solltest mal …, du müsstest …‹ Sie kennen kein Du und Ich, denken nur im Wir und können mein Leben, so wie ich das will, kaum akzeptieren. Sie haben keine Ahnung von mir und davon, was mir wichtig ist. Wenn ich das anspreche, dann sagen sie: ›Aber Kind, wir lieben dich doch, du gehörst doch zu uns, wir meinen es doch gut mit dir.‹«

Wie die erwachsenen Kinder zu diesen Klagen kommen konnten und was es mit diesem »zu nah oder zu fern«, »zu viel oder zu distanziert« und allen Zwischentönen auf sich hat, davon handelt dieses Buch.

Väter verkörpern andere Gründe für die Abwendung als Mütter

Bei den Auseinandersetzungen mit den Eltern gibt es Unterschiede, was die Vorwürfe betrifft. Mit den Müttern dreht es sich häufiger um das Thema der Nähe oder der Distanz. Die Kontaktabbrechenden schieben ihr Gefühl von Mangel schnell den Müttern zu, beklagen, nicht die richtige emotionale Nahrung bekommen zu haben. Zweifelsohne ist die Mutter-Kind-Beziehung von grundlegender Bedeutung. Nie wieder werden wir einem Menschen so nah sein wie der Mutter in der Zeit der Schwangerschaft und der ersten Lebensmonate. Der Lebensanfang steht ganz im Zeichen einer Intimität, eines engen körperlichen und emotionalen Bandes. Er kann aber auch für eine Zeit der Distanz oder Fremdheit oder für eine übergroße Besorgnis stehen, je nachdem, welche Bindungserfahrungen die Mutter selbst gemacht hat. Die Frage ist auch, wie gut sie zu dieser Zeit im Leben stand, wie belastet sie von Problemen war, wie verbunden sie dadurch mit sich und dem entstehenden Kind sein konnte. Für die Beziehung ist die erste gemeinsame Zeit von Bedeutung und eine problematische Bindung kann sich durch die gesamte Biografie ziehen. Und weil dieser einzigartige Beginn der Ausgangspunkt aller Beziehungen ist, steht die Mutter oft im Fokus der Klagen, wenn es um Bindung und Beziehung geht. Die erwachsenen Töchter und Söhne vermissen, nach alldem, was ich höre, entweder die fürsorgliche, umsorgende, liebevolle und haltgebende Mutter, oder sie vermissen die Mutter, die sie als eigene Person akzeptieren und ihre Autonomie würdigen kann. Nicht selten kommt der Vorwurf, es gehe der Mutter nur um die eigenen Bedürfnisse. Sie habe ein Kind gebraucht, um selbst Zuwendung, Unterstützung und Halt zu finden. Manche Söhne und Töchter beklagen, ihre Mutter stehe immer im Mittelpunkt und nicht sie als ihr Kind.

Bei der Entzweiung kann es auch darum gehen, dass sich die Tochter oder der Sohn nicht von der Mutter vor dem despotischen Vater beschützt gefühlt hat. Vor einem Vater, der die Familie dominiert und apodiktisch Unterordnung fordert oder der die Grenzen der Familienmitglieder schonungslos überschritten hat oder noch überschreitet.

Die Mutter-Kind-Bindung ist ein fragiles Gefüge, sie ist mit so vielen Sehnsüchten, Wünschen und auch Forderungen behaftet. Diese Beziehung ist mit unserem Ur-Schmerz verbunden, mit unserem Gefühl, nicht gut genug zu sein, nicht richtig zu sein und nicht wirklich geliebt zu werden, so wie wir sind. Aber dieser Schmerz betrifft nicht nur das Kind, sondern auch die Mutter, auch sie hat eine Bindungsgeschichte.

Väter verkörpern andere Gründe, die erwachsene Kinder veranlassen, sich abzuwenden. Es kann um Dominanz gehen, um rücksichtslose Strenge, überzogene Leistungsansprüche, aber auch um Sprachlosigkeit. Ich erinnere mich an einen circa 40-jährigen Mann, der berichtete, mit seinem stillen, zurückgezogenen Vater zeit seines Lebens nicht mehr als drei persönliche, tiefergehende Sätze gesprochen zu haben.

Töchter werfen ihren Vätern vor, sie nicht zu unterstützen oder ihnen etwas zuzutrauen. Sie fühlen sich kleingemacht und vom Vater in ihrem Selbstwert geschwächt. »Mein Vater hat mir nie gesagt, dass er sieht, was ich kann, dass er mir vertraut, schon gar nicht, dass er an mich glaubt.« Es geht um mangelnde Väterlichkeit, um fehlende Präsenz in der Familie. Das alles sei an dieser Stelle nur angedeutet, denn davon wird noch die Rede sein. Es zeigt aber, wie vielschichtig das Thema ist.

Die Eltern, die einen Kontaktabbruch erleben, sind ungefähr zwischen fünfzig und neunzig Jahre alt, manchmal sogar älter. Das liegt in der Natur der Dinge, denn erwachsene Töchter und Söhne zwischen zwanzig und fünfzig haben Eltern aus diesen Altersgruppen und diese Altersgruppen weisen auf etwas hin. Es sind Elterngenerationen, die entweder noch im Krieg oder in der Zeit unmittelbar danach geboren sind, oder sie gehören zu den Wirtschaftswunderkindern. Auf jeden Fall sind es Eltern, die unter vollkommen anderen Bedingungen groß geworden sind als ihre mittlerweile erwachsenen Kinder. Diese Tatsache ist von immenser Bedeutung für das Familiengefüge, worauf das Buch deutlich eingehen wird. 

Das veränderte Leben – wie geht es den Eltern?

Das Zerwürfnis mit einem erwachsenen Kind schafft eine völlig neue Lebens- und Familienrealität: »Ich habe gedacht, jetzt nach meinem Renteneintritt will ich in Ruhe alt werden. Und dann das…«, sagt eine 67-Jährige, die erstmal überhaupt nicht versteht, worum es ihrer Tochter geht. Die immer in bester Absicht gehandelt und alles andere als eine aggressive oder fordernde Ausstrahlung hat. Sie ist eher scheu und sehr freundlich, lächelt viel und wirkt irritiert von dem, was da seit Jahren geschieht: »Erst habe ich gemeint, das kriegen wir doch wieder hin. Dann merkte ich, ich habe keine Ahnung, was ich ihr sagen soll. Ich erlebe mich meiner Tochter gegenüber fast sprachlos.« Nach einzelnen Kontaktversuchen bewegt sich zwischen den beiden nicht viel und die Mutter sagt: »Mich umgibt seither immer wieder so eine tiefe Traurigkeit, ich fühle mich machtlos, ich höre nichts von ihr und das zieht mich ins Trostlose. Ich bin auch so schusselig geworden.«

Die Eltern sind in ihrer Biografie an einem bestimmten Punkt. Sie haben ihre Kraft, ihre Zeit, ihr Engagement, ihre finanziellen Möglichkeiten, ihre Hoffnungen in den Nachwuchs gesteckt. Sie haben geschuftet und getan, haben Werte aufgebaut, von denen auch die Kinder profitieren. Viele von ihnen haben sich jahrzehntelang über die Elternschaft definiert und wünschen sich jetzt, nachdem die Kinder erwachsen sind, eine friedliche und ruhigere Zeit. Oftmals sind die Kräfte auch nicht mehr so da, wie sie es früher waren. Die Familie, ihre Kinder, die Enkel gehören zum Lebensglück und das fühlt sich durch diesen Bruch wie zerschnitten an. Der Verlust der Enkel ist für viele der leidvollste. Für sie sind die Enkel wie eine positive Ernte, für die sich alles gelohnt hat, sie geben das Gefühl von Sinnhaftigkeit. Der abgebrochene Umgang oder auch das Nichtkennenlernen der Enkel fühlt sich so an, als stehe man vor einem Scherbenhaufen. Darauf gehe ich in Kapitel 8 noch einmal ein.

Für den großen Teil der betroffenen Eltern ist das Weggehen eines erwachsenen Kindes eine Tragödie und es folgt schnell der Gedanke: »Dann war ja alles umsonst« und »Was habe ich bloß falsch gemacht?«. Sie gehen das ganze gemeinsame Leben immer wieder durch, um zu ergründen, an welcher Stelle die Ursache für den Konflikt liegen könnte.

Alles wird in Frage gestellt