Der Schriftsteller und der Tod - Alfred Wallon - E-Book

Der Schriftsteller und der Tod E-Book

Alfred Wallon

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Beschreibung

Die Ehe von Thomas Scholz ist gescheitert. Hartz 4 droht.Eine fatale Situation, denn der soziale Abstieg ist in greifbare Nähe gerückt. Ausgerechnet jetzt eröffnet ihm das Schicksal eine Chance: Die ganzen Jahre über hat er von einer erfolgreichen Karriere als Schriftsteller geträumt, aber letztendlich erschienen seine Romane bisher nur bei kleineren Verlagen. Jetzt eröffnet ihm seine Literatur-Agentin eine Möglichkeit, dass sein Roman bei einem großen Publikumsverlag erscheinen könnte – und ausgerechnet in diesem Moment befindet sich Scholz inmitten einer Schreibblockade. Gerade, als er eine Mordszene schildern muss. In seiner Verzweiflung greift er zu einer sehr ungewöhnlichen Methode – indem er selbst einen Mord begeht. Und es bleibt nicht nur bei diesem einen Mord...Die Kriminalpsychologin Julia Ried hat sich aus privaten Gründen nach Augsburg versetzen lassen. Zusammen mit ihrem Kollegen, Hauptkommissar Robert Brandner, muss sie den grausamen Mord an einer Prostituierten aufklären. Aber auch nach sorgfältigen Ermittlungen gibt es immer noch keine brauchbaren Hinweise auf den Täter. Das ändert sich erst, als ein zweiter Mord geschieht. Julia ahnt zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht, dass sie selbst im Blickfeld des Mörders steht...

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Seitenzahl: 289

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Alfred Wallon

Der Schriftsteller und der Tod

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Über den Autor

Weitere Bücher des Autors

Impressum

Erstes Kapitel

Er war wütend. Und verzweifelt. Weil sein Zeitfenster immer enger wurde. Schon wieder löschte er den Absatz, den er gerade geschrieben hatte. Weil er einfach nichts taugte. Genauso wenig wie die anderen zehn Gedankenansätze, die er seit zwei Stunden in Worte zu fassen versuchte. Worte, die den Leser dieser Geschichte auch fesseln sollten.

»Scheiße«, murmelte er. Seine Hände zitterten, als er einen weiteren Versuch startete. Die Schrift auf dem Bildschirm verschwamm allmählich vor seinen Augen. Zu lange hatte er seine Konzentration dem Text gewidmet, hatte Wort um Wort genau durchdacht. Ich muss das irgendwie hinbekommen, verdammt noch mal...

Aber heute war wohl nicht sein Tag. Auch nicht gestern und vorgestern, oder die ganze letzte Woche. Mit einer fahrigen Handbewegung wischte er sich einige Schweißtropfen aus der Stirn und griff anschließend nach dem Glas Wein. Beinahe hätte er es umgestoßen. Er war immer noch zu unkonzentriert.

Er setzte das Glas an die Lippen und schluckte den Inhalt, als wäre es Wasser. Aber besser fühlte er sich dadurch auch nicht. Nur unsäglich müde.

Du bist ein Versager!, schrie eine Stimme in seinem Kopf. Du hockst schon die ganze Woche vor dem Computer und schaffst es trotzdem nicht, weiterzukommen. Vor einem halben Jahr hast du noch große Sprüche geklopft, dass ein Routinier wie du niemals eine Schreibblockade bekommen wird. Und ausgerechnet dann, wenn man am wenigsten damit rechnet, ist sie auf einmal da!

In seinem Magen verstärkte sich das Gefühl der Übelkeit, als er sich vor Augen hielt, dass er wirklich schon eine ganze Woche lang nichts geschrieben hatte. Oder besser gesagt nichts Verwertbares, was die Agentin gnädig stimmen würde. Er durfte nicht zurückfallen in alte Strukturen. Nicht jetzt, wo er diese Chance bekommen hatte. Sie würde ihm kein zweites Mal geboten werden.

Er war so wütend über sich und seine eigene Unfähigkeit, dass ihm gar nicht auffiel, dass er schon eine halbe Stunde auf den Bildschirm gestarrt hatte. Aber das Weiß darauf war immer noch leer. Keine spannenden Sätze, keine vernünftige Handlung, Stattdessen fühlte sich der Mann wie in einer Sackgasse, aus der es kein Entkommen mehr gab.

Ich schreibe einen Krimi, nur mit dem Morden klappt es nicht so richtig, formulierte er in Gedanken sein Resümee. Verdammt, es kann doch nicht so schwer sein, etwas richtig Blutiges zu schildern. Dass der Leser gefesselt wird und einfach nur weiterliest. Dass die Spannung ihn fast zerreißt. Dass er nicht vergisst.

Aber ausgerechnet an dieser Hürde war er bis jetzt gescheitert. Gnadenlos! Und je weiter er sich den Kopf darüber zerbrach, wie er das ändern konnte, umso mehr musste er sich eingestehen, dass er keine Lösung parat hatte. Er drehte sich im Kreis und kam nicht weiter.

»Wie lange brauchst du noch?«, riss ihn auf einmal eine Stimme jenseits der Tür aus den Gedanken. »Wir müssen noch einkaufen!«

Er murmelte einen leisen Fluch und ballte beide Hände zu Fäusten. Sekunden später wurde die Tür aufgerissen.

»Sag mal, warum antwortest du nicht? Ich habe dir eine Frage gestellt. Oder bist du taub?«

Er spürte ihren kritischen Blick, der sich auf den Computer richtete. Er seufzte innerlich, weil er genau wusste, was jetzt kommen würde.

»Wie lange willst du dich eigentlich noch mit diesem Unsinn beschäftigen?«, lautete dann auch prompt die Frage seiner Frau. »Es bringt dir doch ohnehin kein Geld aufs Konto. Lass es bleiben und tue lieber was Vernünftiges.«

»Was ich mache, ist vernünftig«, erwiderte er mit gezwungener Ruhe, während er mit Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand auf den Schreibtisch trommelte. Wer ihn genau kannte, der konnte deutlich sehen, dass das Fass schon fast übergelaufen war. Nur seine Frau nicht. Aber die kapierte ja ohnehin nicht, was ihm wirklich etwas bedeutete.

»Vernünftig nenne ich das, was uns ein sorgenfreies Leben beschert«, erwiderte sie. »Und deine brotlose Kunst trägt absolut nichts dazu bei. Also was ist jetzt? Wie lange soll ich noch warten, bis du endlich fertig bist?«

»Gib mir noch zehn Minuten«, erwiderte er. »Dann komme ich. Und in diesen zehn Minuten lässt du mich in Ruhe, verstanden?«

Die letzten Worte klangen heftiger, als er das eigentlich beabsichtigt hatte. Seine Frau war eine Meisterin darin, nicht nur den wunden Punkt genau zu treffen, sondern mit einer Nadel in dieser Wunde auch noch pausenlos herumzustochern. Als wenn ihr das die Befriedigung verschaffte, die er ihr schon lange nicht mehr bieten konnte.

»Der große Meister hat gesprochen«, kommentierte sie seine letzten Worte. »Also – ich warte dann auf dich. Und ich schaue dabei auf die Uhr. Zehn Minuten. Länger nicht.«

Bevor er etwas darauf erwidern konnte, hatte sie den Raum wieder verlassen. Genau das hasste er am meisten. Wenn er keine Gelegenheit bekam, ihr seine Gedanken zu erklären, und warum er sich mit solchen – seiner Meinung nach völlig unwichtigen Dingen wie gemeinsames Einkaufen überhaupt beschäftigen und Zeit verschwenden musste. Aber so denken und fühlten eben die meisten Menschen. Die einfachen Gemüter vor allem. So wie seine Frau.

Dass er jetzt viel zu aufgewühlt war, um die gesetzte Frist von zehn Minuten mit etwas Sinnvollem füllen zu können, wusste er. Sie hatte es wieder einmal mit wenigen Worten geschafft, ihn so zu reizen, dass er für den Rest des Tages nichts mehr hinbekommen würde. Und das in dieser ohnehin schon angespannten Situation.

Er schaltete den Computer aus und griff nach der Sonntags-Zeitung. Lustlos durchblätterte er die Seiten, bis er auf einmal innehielt. Die Seite mit den Kontaktanzeigen hatte er etwas gründlicher angeschaut als es ein verheirateter Mann eigentlich tun sollte. Mehrmals hatte er darüber nachgedacht, eines der Angebote zu nutzen und sich wenigstens etwas Bestätigung zu holen. Selbst wenn er dafür bezahlen musste.

Eine der Anzeigen interessierte ihn, ohne dass er sich zunächst erklären konnte, warum das so war. Aber irgendwie sprach ihn die Formulierung an und löste etwas in ihm aus.

Anna ( 23 ) erfüllt alle deine Wünsche, lautete der Text der Anzeige. Ich mache mit dir, was deine Frau nicht kann. Lebe deine Fantasien aus. Ruf mich an...

Plötzlich wusste er die Lösung. So klar und deutlich, dass er sich im Nachhinein fragte, warum er nicht schon viel früher auf den Gedanken gekommen war. Die Last der Tatenlosigkeit, die sich wie eine Glocke über ihn gestülpt und ihn schon fast am Atmen gehindert hatte, würde schnell verschwinden. Er musste nur etwas dagegen tun. Etwas, das keinen weiteren Aufschub duldete.

Zum ersten Mal seit einer Woche schaffte er es wieder zu lächeln. Weil er einen Weg gefunden hatte, wie er seine Schreibblockade effektiv überwinden konnte. Und danach würde er bald seine persönliche Zielgerade erreichen!

Sein Lächeln verschwand, als er das Zimmer verließ. Aber der Gedanke, endlich Licht am Ende des Tunnels sehen zu können, gab ihm Kraft. Auch dafür, dass er jetzt mit seiner Frau in den Supermarkt fahren musste.

*

Er ließ seine Blicke nach links und rechts schweifen. Die Ungeduld wuchs, aber auch die noch vorhandenen Zweifel, ob das wirklich richtig war, was er tat. Erneut schaute er auf seine Armbanduhr. Kurz nach 20 Uhr. Noch zu früh, um von einem gelungenen Abend zu sprechen – aber schon zu spät für jemanden, der sonst eigentlich um diese Uhrzeit schon zuhause war und die ewige Monotonie eines gescheiterten Ehelebens Tag für Tag ertragen musste. Ohne Aussicht auf Besserung!

Ich bin sicher nicht der einzige Mann, der so etwas tut, versuchte er seine, sich überschlagenden Gedanken zu ordnen. Es ist keine Sünde – es ist Befreiung von einem unsichtbaren Joch...

Das betreffende Haus in der Ebnerstraße im Augsburger Stadtteil Oberhausen war ein schmuckloses und in die Jahre gekommenes, unscheinbares Reihenhaus. Mit Mietern, die alle ihr eigenes Leben führten und sich keinen Deut um das kümmerten, was ihr Nachbar tat oder trieb. Genau solch einen Ort hatte er gesucht, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Als die Frau ihm mit rauchiger Stimme und mit osteuropäischem Akzent am Telefon gesagt hatte, wohin er kommen sollte, hatte er aufgeatmet. Weil diese Umstände vieles leichter machten. Sein Auto hatte er am unteren Teil der Ulmer Straße abgestellt und die knapp 300 Meter bis zum Haus der Prostituierten zu Fuß zurückgelegt. Jetzt hatte er sein Ziel erreicht, nahm all seinen Mut zusammen und umschloss mit den Fingern der rechten Hand den ledernen Griff des Aktenkoffers etwas fester. Den Inhalt hatte er ein wenig zweckentfremdet, so dass niemand auf den Gedanken kam, dass sich irgendetwas anderes als Akten darin befand.

Versicherungsvertreter besuchen ihre potenziellen Kunden meistens am Abend, sinnierte er, während er sich dem betreffenden Hauseingang näherte. Also los jetzt – ich muss es hinter mich bringen, damit ich endlich weiterkomme.

Er klingelte im 4. Stock, wo sich die Wohnung der Frau befand, die sich in der Zeitungsanzeige Anna genannt hatte. Ob dies wirklich ihr richtiger Name war, wusste er nicht. Es spielte auch keine Rolle. Sie war perfekt für das, was er sich vorgenommen hatte, und er hoffte, dass die ganze Sache genauso reibungslos über die Bühne ging, wie er es geplant hatte.

Die Tür öffnete sich. Er betrat ein muffig riechendes Treppenhaus. Irgendwo schräg über ihm stritten sich ein Mann und eine Frau in einer Sprache, die er nicht kannte. Sekunden später folgte das Weinen eines Kindes, das aber kurz darauf wieder verstummte. Genau wie der Streit.

Er ging die Treppenstufen nach oben, bis er vor der Wohnung stand. Die Tür war bereits einen Spalt geöffnet, und er blickte in das stark geschminkte Gesicht einer dunkelhaarigen Frau, die mit ihren Reizen nicht geizte. Sie taxierte ihn kurz von Kopf bis Fuß und lächelte ihn dann geschäftstüchtig an. Dabei stellte sie sich so geschickt in Pose, dass er ihre langen Beine genau sehen konnte.

»Komm rein«, forderte sie ihn auf und trat einen Schritt zur Seite. »Schön, dass du gekommen bist.«

Er schluckte kurz und betrat dann die Wohnung. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, jagte ein Gedanke den anderen. Immer vorwärts, Schritt um Schritt. Es geht kein Weg zurück... Seltsam, dass er ausgerechnet jetzt an den Song von Wolfsheim denken musste. Aber im Grunde genommen hatte dieser Typ namens Heppner ja Recht.

»Erledigen wir gleich das Geschäftliche«, riss ihn die Stimme der Frau aus seinen Gedanken fast brutal in die Wirklichkeit zurück. »100 Euro für normalen Service. Wenn du Extrawünsche hast, kostet es entsprechend mehr. Was willst du?«

»Viel mehr«, krächzte er und hatte große Mühe, seine Empfindungen unter Kontrolle zu bekommen. In seinen Augen flackerte es unruhig, aber die Prostituierte namens Anna hatte ihn in diesem Moment nicht angeschaut.

»Dann gib mir 300 Euro«, verlangte sie und streckte die Hand lächelnd aus. Ihre Augen blieben jedoch nach wie vor kalt, als er den geforderten Betrag zahlte. »Das Schlafzimmer ist dort hinten. Geh schon mal hinein – ich komme gleich nach...«

Er tat das, was Anna ihm gesagt hatte und betrat den Raum. Den Mittelpunkt bildete ein großes französisches Bett, das von einem indirekten rötlichen Licht erhellt wurde. Genau die halbseidene Atmosphäre, wie man es erwartete.

Er stellte seinen Aktenkoffer auf dem Bett ab, öffnete ihn und warf einen Blick auf den Inhalt. Gerade als seine Finger nach einem scharfen Messer tasteten, kam Anna ins Schlafzimmer. Sie trug nichts außer einem winzigen Tangaslip und schaute ihn erwartungsvoll an.

»Worauf wartest du noch?«, fragte sie ihn mit einem Augenaufschlag, der an Eindeutigkeit nicht zu überbieten war. »Oder willst du, dass ich dich ausziehe?«

»Das mache ich schon noch«, erwiderte er, während er sich hastig erhob. »Später...«

Zwei Sekunden später hatte er sich auch schon auf die Prostituierte gestürzt. Seine linke Hand presste sich auf ihren Mund, während er mit der rechten ausholte und ihr einen Schlag versetzte. Die fast nackte Frau brach zusammen und rührte sich nicht mehr.

Er grinste in stiller Vorfreude, als er auf sie hinabschaute. Dann bückte er sich, hob sie hoch und legte sie aufs Bett. Und anschließend begann er mit den Vorbereitungen für das, was ihn wirklich hierher geführt hatte...

*

Anna wusste, dass irgendetwas nicht stimmte, als sie die Augen zu öffnen versuchte. Aber es gelang ihr nicht. Irgendetwas hinderte sie daran. Erst dann spürte sie den Druck auf dem Gesicht und begriff, dass ihr jemand die Augen verbunden hatte. Sie konnte weder Arme noch Beine bewegen. Anna war völlig hilflos.

In diesen ersten Sekunden spürte sie eine alles überlagernde Panik. Anna stöhnte. Was war überhaupt mit ihr geschehen? Es änderte nichts daran, dass sie Angst hatte. Todesangst. Sie war wehrlos und nackt. Sie zitterte. Nicht nur aufgrund der Kälte, die ihr über die Haut strich.

Schlimmer noch als die Hilflosigkeit war die Tatsache, dass sich irgendjemand in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt. Sie spürte die Anwesenheit eines anderen Menschen. Sie hörte sein schnelles Atmen. Erst dann erinnerte sie sich daran, was geschehen war, bevor eine plötzliche Dunkelheit alle Sinne überlagert hatte. Bilder, die harmlos gewesen waren. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihr Bewusstsein in einen dunklen Schacht gestürzt war.

»Binde mich los«, hörte sie sich mit einer Stimme sagen, die ihr fremd erschien. »Jetzt komm schon – die Sache hier ist kein Spaß mehr...«

Trotz der verzweifelten Lage versuchte sie ruhig zu bleiben. Falls sie darauf gehofft hatte, dass ihre Bitte die Situation ändern würde, so geschah das nicht. Dieser Kerl unternahm gar nichts, um sie von den Fesseln zu befreien. Im Gegenteil – er schien sich sogar über ihre Hilflosigkeit richtig zu amüsieren. Sein Atem ging schneller. Er keuchte förmlich. Ganz in der Nähe ihres Kopfes.

Oh nein. Der Typ hat sie nicht mehr alle. Ein perverser Freak. Ich muss hier weg. Sofort!, dachte sie.

Sie hätte den Typ erst gar nicht in ihre Wohnung kommen lassen sollen. Dann wäre ihr diese ganze Scheiße erspart geblieben. Aber jetzt...?

»Wenn du schreist, wirst du es sofort büßen«, erklang seine Stimme in scharfem Ton. »Du sprichst erst, wenn ich es dir sage. Hast du das verstanden?«

Annas Gedanken überschlugen sich. Sie wollte um Hilfe schreien. Aber genau in dem Moment presste sich eine schwielige Hand auf ihren Mund. So fest, dass sie nur wenig Luft bekam. Ihr Herz raste, und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie wusste nur, dass sie den Anweisungen dieses Mannes Folge leisten musste.

Sie bewegte kurz den Kopf und hoffte darauf, dass der Mann es als Geste der Zustimmung und Unterwerfung auffasste. Sekunden später löste sich der Druck auf ihrem Mund, und die Hand entfernte sich wieder. Die Luft, die Anna jetzt gierig einatmete, hatte sie noch nie so intensiv empfunden.

»Du solltest ruhiger werden«, hörte sie seine Stimme irgendwo seitlich neben sich. Ihr Körper zuckte zusammen, als sie seine Finger an ihrem rechten Bein spürte. Wie sie langsam höher glitten, einer Schlange gleich – und dann an einer Stelle verharrten, die sie in diesen Sekunden absolut keine Erregung spüren ließ.

Plötzlich klatschte ihr etwas gegen die Wange. Hart und schmerzhaft. Anna schrie auf und zitterte am ganzen Körper. Die Tatsache, nicht zu sehen, was als nächstes geschah, raubte ihr fast den Verstand. Vor allem, als sie etwas Spitzes und Kaltes an den Brüsten fühlte. Etwas, dessen Berührung ausreichte, um sie noch mehr zu schockieren.

»Du solltest dich abfinden mit der Rolle, die ich dir zugewiesen habe«, vernahm sie erneut die Stimme des Mannes neben sich. »Du bist Teil eines grandiosen Einakters – und ich bin dein einziger Zuschauer. Natürlich habe ich geahnt, dass du die zugewiesene Rolle ablehnst. Aber die Aufführung hat bereits begonnen. Finde dich damit ab. Du wirst jetzt gleich etwas empfinden, was alle anderen Gefühle überlagert. Sei dankbar, dass du diejenige bist, die ich ausgewählt habe.«

Sie hörte ein Geräusch. Irgendwo oberhalb ihres Kopfes. Dann presste sich plötzlich etwas Klebriges auf ihren Mund, das die Lippen versiegelte. Erneut überlagerte blanke Panik sämtliche Gedanken, Die Luft wurde durch das Klebeband auf ihrem Mund knapp. Sie konnte nicht richtig atmen, versuchte sich aufzubäumen. Aber die Fesseln ließen das nicht zu. Sie atmete durch die Nase, weil ihr keine andere Chance mehr blieb.

Plötzlich spürte sie ein heißes Brennen zwischen den Brüsten. Sie versuchte zu schreien. Aber das Klebeband verwandelte es schon im Ansatz in ein dumpfes Stöhnen. Niemand konnte sie hören.

»...es fällt mir schwer, meine Gedanken in Worte zu fassen«, ergriff der Mann ungerührt das Wort. »Deshalb muss ich das tun, verstehst du? Damit die Bilder in meinem Kopf zu Worten werden. Ich habe lange versucht, dagegen anzukämpfen, so etwas zu tun - aber es war eine einzige Qual, nicht mehr weiterzukommen. Schließlich habe ich es aufgegeben, in dieser Sackgasse zu verharren. Man muss nur bestimmte Dinge akzeptieren, und schon ist es eigentlich ganz einfach, dort wieder herauszukommen. Verstehst du, was ich meine?«

Anna hörte nur seine Stimme. Auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, so wusste sie, dass er eine Antwort von ihr erwartete. Sie nickte schwach, während sie versuchte, den Schmerz zwischen den Brüsten zu ignorieren. Sie spürte Nässe auf der Haut. Sie blutete. Sie blutete! Dieser Scheißkerl hatte sie verletzt! Was würde er noch mit ihr tun? Der würde sie doch nicht etwa...? Sie erstickte fast vor Angst.

Sie fühlte den kalten Stahl dicht an ihrem linken Ohr.

»Ich weiß nicht, wann es genau angefangen hat, und es ist im Grunde genommen auch gar nicht mehr wichtig«, sagte der Mann. »Ich habe nur gespürt, dass dieser Druck auf mir lastete und mich förmlich erstickt. Jetzt, in diesem Moment geht es mir wieder besser. Dieser hämmernde Schmerz in meinem Kopf ist weg. Ich weiß zwar, dass er wiederkommen wird. Irgendwann. Vielleicht sogar schon in wenigen Tagen. Aber bis dahin spüre ich eine unbeschreibliche Leichtigkeit in mir. Als hätte ich mich endlich von Jahrhunderte altem Ballast befreit. Wie jemand, der für den Rest seines Lebens in einem unüberwindbaren Gefängnis eingesperrt war, sich aber dennoch aus eigener Kraft befreien konnte. Jemand, dem das in der Situation gelingt, kann nur von Befreiung sprechen. Auch wenn diese Bezeichnung für die anderen da draußen höchstwahrscheinlich keine passende Bezeichnung ist. Sie würden bis ins Innerste schockiert sein, wenn ich ihnen von meinen Gedanken erzähle. Was meinst du?«

Anna wollte etwas sagen, aber das Klebeband machte nur ein unverständliches Gemurmel daraus. Sekunden später setzte sich der heiße Schmerz an ihrem linken Ohr fort. Anna zitterte am ganzen Körper.

»Es sind Kleingeister, die in ihrem eigenen Alltag gefangen sind«, fuhr die mitleidlose Stimme fort. »Mir ist es gelungen, diesem monotonen Trott zu entfliehen. Man kann sich nur wirklich frei fühlen, wenn man das tut, was man tun muss. Und genau so fühle ich mich. Ich lasse jetzt etwas frei, was in mir ist und mich fast verrückt macht. Und es sorgt endlich dafür, dass ich meine Arbeit vollenden kann. Es ist eine wichtige Aufgabe – die wichtigste in meinem Leben überhaupt.«

Annas panische Stimme formulierte unverständliche Laute, als sich die Stimme des Mannes von ihrem Ohr entfernte. Kurz darauf fühlte sie seine Hände an den Beinen – und bald darauf seine bloße Haut.

»Du hast mich angelächelt, als du mich zum ersten Mal sahst«, hörte sie seine Stimme, während er mit Gewalt ihre Beine spreizte. «Weil du wohl dachtest, du könntest mich ganz leicht und bequem abzocken und mir schon für den geringsten Service einen dreistelligen Betrag aus der Tasche ziehen. Allerdings wirst du sehr rasch an deine eigenen Grenzen stoßen. Denn die zeige ich dir.«

Dieser Scheißtyp vergewaltigt dich und tötet dich!, sagte ihr Instinkt.

Wieder berührte sein nackter Oberschenkel ihre Haut. Es fühlte sich so widerwärtig an, dass sie sich am liebsten übergeben hätte – wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre.

»Ich spüre deine Ablehnung«, murmelte er amüsiert. »Aber das ändert nichts daran. Du bist Abschaum, den man so schnell wie möglich entsorgen muss. Es gibt zu viel davon auf dieser Welt... und dein Tod wird eine Brücke für mich sein.«

Auf einmal drang etwas in sie ein. Sie schrie. Ein unendlicher Schrei, den dennoch niemand hörte. Unaufhaltsam bahnte sich der harte Gegenstand den Weg zwischen ihre Beine. Gnadenlos. Ihre Eingeweide. Es zerriss ihr die Eingeweide. Ein Schmerzensschrei, der aus ihrer Kehle drang. Das Weiß ihrer Augäpfel. Das Zucken des Körpers. Das Schlimmste, das sie je erlebt hatte. Das letzte, was sie je erleben würde. Sie wusste es. Sie wusste es ganz genau! Die letzten Reste ihres gepeinigten Verstandes flohen ins Schwarze. Animalische Instinkte. Sie halfen nichts. Die Folter setzte sich fort. Blut. Viel Blut!

Zweites Kapitel

»Sind Sie aufgeregt?«, fragte Wolfgang Busch und schaute dabei in den Rückspiegel.

»Ein bisschen schon«, erwiderte Julia Ried. »Eigentlich hatte ich mir meinen Dienstantritt in Augsburg etwas unspektakulärer vorgestellt.«

»Morgen früh - ganz offiziell, mit Kollegenbegrüßung und vielem Händeschütteln, oder?«, fragte Busch, während er nach links in Richtung Bahnhof Oberhausen abbog. »Manchmal kommt eben alles anders.«

»Herr Kellermann sagte, es wäre gut für mich, wenn ich so schnell wie möglich mit der Praxisarbeit konfrontiert werde«, meinte Julia. »Also habe ich zugestimmt. Was ist denn schon dabei? Irgendwann muss es ja losgehen.«

Sie versuchte nach außen hin Ruhe und Gelassenheit zu demonstrieren. Aber sie ertappte sich immer wieder dabei, wie sie sich mit der rechten Hand eine widerspenstige blonde Haarsträhne aus der Stirn strich. Weil sie von Gunter Kellermann, dem Leiter der Mordkommission, darauf vorbereitet worden war, was sie gleich erwartete. Man hatte ihr gesagt, dass ihr Kollege, Hauptkommissar Robert Brandner, später nachkommen würde. Bei dieser Gelegenheit konnte sie auch ihn gleich kennenlernen.

Fünf Minuten später erreichte der Wagen die Ebnerstraße. Streifenbeamte waren bereits damit zugange, die neugierigen Gaffer auf Abstand zu halten. Julias Herzschlag beschleunigte sich, als sie zusammen mit Busch ausstieg und dann das Haus betrat, in dem der Mord passiert war. Die Straße befand sich in einem Stadtteil von Augsburg, von denen einige Bereiche als soziale Brennpunkte galten. Menschen unterschiedlichster Kulturen lebten hier in zahlreichen Wohnblocks und Reihenhäusern.

»Bleiben Sie in meiner Nähe und fassen Sie nichts an«, sagte Busch. Er wirkte wie ein Lehrer, der seiner Schülerin genau sagte, was sie zu tun und zu lassen hatte. Die Goldrandbrille, der struppige Vollbart und sein verwaschener Pullover taten ihr Übriges. »Nehmen Sie die Handschuhe und streifen Sie sich das hier über Ihre Schuhe«, fuhr er fort, während er selbst seinen Koffer öffnete und daraus einen dünnen durchsichtigen Overall herausholte, den er überstreifte. Ebenso wie die anderen drei Kollegen, die mit ihm und Julia an den Tatort gekommen waren. Das war ein Teil der Vorbereitungen, bevor sie Stück für Stück alles inspizierten.

»Schaffen Sie das?«, fragte Busch noch einmal. Sie bemerkte seinen skeptischen Blick.

»Natürlich«, erwiderte Julia hektisch, während ein Streifenbeamter aus der betreffenden Wohnung kam, sie kurz anschaute und sich dann direkt an Busch wandte. Julia hörte aber nur halbherzig zu. Sie registrierte etwas. Einen penetranten und süßlichen Geruch. Sie rümpfte ihre Nase.

»Gut, dann lasst uns mal unsere Arbeit machen«, meinte Busch zwischenzeitlich zu dem Polizisten. »Sorgt einfach dafür, dass die Schaulustigen auf Distanz bleiben.«

Dann betrat er die Wohnung mit seinen Kollegen, und Julia folgte ihnen. Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, als sie über den schmalen Flur ging und dabei die dunkelroten Flecken auf den Dielen bemerkte. Der Blutgeruch wurde intensiver, durchdringender – und überlagerte schließlich alles andere.

Der Raum, den sie betrat, war nicht sonderlich groß. An den Wänden hingen mehrere Spiegel, die Tapete war dunkelrot, und der Teppich auch. Instinktiv erfassten ihre Blicke das Bett in der Mitte des Zimmers. Die Laken waren zerwühlt. Und nass von Blut. Genauso wie die nackte Leiche, die mit gespreizten Beinen darauf lag. Die Fakten versetzten ihr einen Schock, und der Blutgeruch trüg noch ein Übriges dazu bei, um nicht nur ihren Magen in Aufruhr zu versetzen.

»Oh Gott...«, murmelte sie und wandte sich hastig ab. Sie schaffte es nicht mehr, das Würgen zu unterdrücken. Als sie losrannte, stolperte sie fast über ihre eigenen Füße. Sie musste weg aus diesem Zimmer. Der Anblick der Leiche, die sie gerade gesehen hatte, war zu viel. Säuerlicher Geschmack bildete sich in ihrer Kehle, und Sekunden später übergab sich Julia. Der ganze Mageninhalt entleerte sich auf die Dielen, und ihr wurde schwindlig. Zum Glück kam Busch zu ihr geeilt und stützte sie, bevor sie unter dem psychischen Druck zusammenbrach. Ihr Herzschlag raste. Sie hatte immer noch Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten.

»Raus hier!«, gab ihr Busch zu verstehen. »Jetzt sofort. Warten Sie draußen im Treppenhaus, bis Ihr Kollege Brandner eingetroffen ist. In Ordnung?«

Julia nickte nur. Sie war innerlich noch viel zu aufgewühlt, um überhaupt sprechen zu können. Ihre Hände zitterten.

»Brauchen Sie einen Arzt?«, fragte er zur Sicherheit.

Julia winkte nur ab und verließ die Wohnung. Sie bemerkte Buschs Blicke, die ihr folgten, aber das kümmerte sie nicht. Mochte der doch denken, was er wollte. Er war Tatorte gewohnt und vermutlich schon entsprechend abgestumpft. Im Gegensatz zu Julia, die niemals im Leben damit gerechnet hatte, schon einen Tag vor ihrem offiziellen Arbeitsantritt eine volle Ladung Blut und Gewalt abzubekommen. Und das in einer Stadt wie Augsburg, deren Verbrechensstatistik im Vergleich zu Städten wie Frankfurt oder Berlin eher bescheiden wirkte.

Ich kann das nicht einfach verdrängen. Es wird nicht verschwinden. Es wird nie verschwinden, musste sich Julia eingestehen. Ich muss mich diesen Schatten stellen. Sonst schaffe ich es nicht...

Sie erreichte das Treppenhaus. Immer noch aufgewühlt von dem, was sie gesehen hatte. Der Polizist, der eben mit Busch gesprochen hatte, schaute sie kurz an und versuchte, ihr zuzulächeln.

»Ist es das erste Mal für Sie?«, fragte er.

»Ja... ich meine nein«, antwortete Julia und holte noch einmal tief Luft, bevor sie weitersprach. »Zumindest nicht so. Das war ja...«

Sie hatte immer noch Mühe, die Gedanken zu ordnen. Die Stimme des Polizisten machte ihr Mut, denn sie klang sanfter und verständnisvoller.

»Warten Sie einfach hier draußen«, schlug er ihr vor. »Ihr Kollege wird sicher gleich da sein. Das wird schon wieder, ganz bestimmt.«

»Danke«, Julia seufzte. Sie war wirklich froh darüber, dass wenigstens ein Mensch Verständnis für ihr Verhalten gezeigt hatte. Sie wusste, dass sie irgendwann mit solchen Bluttaten konfrontiert werden würde.

Die Wirklichkeit ist die beste Schulung, erinnerte sie sich wieder an die Worte ihres Ausbilders. Mit dem, was wir Ihnen hier zeigen und vermitteln, wollen wir Sie stärken für das, was jeden von Ihnen nach Ende der Ausbildung erwartet. Gewöhnen Sie sich besser so früh wie möglich an den Gedanken, dass Blut und Tod Ihre ständigen Begleiter sind.

Julias Gedanken brachen ab. In der Tat hatte sie die Wirklichkeit eingeholt. Drastischer als sie selbst vermutet hatte. Wahrscheinlich würden sich Busch und seine Kollegen das Maul über sie zerreißen, weil sie im entscheidenden Augenblick nicht hart genug gewesen war. Aber das interessierte Julia herzlich wenig. Sie musste erst einmal mit sich ins Reine kommen und das Chaos in ihrem Kopf ordnen, bevor sie über andere Dinge nachdachte. Sie hatte zum Tod eine eigene und sehr persönliche Einstellung – und nun hatte sie zum ersten Mal bemerkt, dass der Schutzwall, den sie in den letzten zwei Jahren um sich errichtet hatte, auf einmal Risse bekam.

Ich darf nicht zu oft daran denken, redete sie sich im Stillen Mut zu. Das alles liegt hinter mir, und ich muss nach vorn schauen. Die Zukunft ist hier in Augsburg, und nicht mehr in Hessen...

Auf einmal hörte sie Schritte. Weiter unten im Treppenhaus. Und die Stimme eines Polizeibeamten, der vor der Eingangstür stand. Julia war zu weit entfernt, aber sie hörte zumindest den Namen Brandner und schloss daraus, dass ihr Kollege jetzt im Anmarsch war. Wenn auch etwas spät.

Dumpfe Schritte erklangen auf der Treppe. Julia riskierte einen kurzen Blick über das Geländer nach unten. Von hier oben wirkten die unteren Stockwerke alt und düster. Und es roch muffig. Der Eigentümer hatte wohl schon lange keine Renovierungsarbeiten mehr vornehmen lassen. Dabei wäre es schon ausreichend gewesen, wenn man dem gesamten Treppenhaus einen helleren Anstrich verpasst hätte.

Ein Mann schleppte sich nach oben. Groß, nicht ganz schlank und mit ursprünglich schwarzen Haaren, die sich allmählich in graue verwandelten. Sein Gesicht wirkte verschlossen, irgendwie hektisch und nachdenklich. Er trug verwaschene Jeans und eine speckige Lederjacke, die nicht mehr ganz neu war. Irgendwie passte sie zu ihm.

Er erreichte die letzte Stufe. Julia spürte, dass sie seine Aufmerksamkeit genoss. Sie nahm sich zusammen und lächelte - und musste dann erleben, dass er den Blick abwandte und achtlos an ihr vorbei ging.

Was soll das denn jetzt?, dachte Julia. Ist der Typ kurzsichtig – oder nur arrogant und abweisend? Er müsste mich doch registriert haben. Aber stattdessen ignoriert er mich einfach. Das kann ja heiter werden, solch einen Kollegen zu bekommen.

*

»Da drin ist was Böses, Robert«, sagte Wolfgang Busch mit ungewöhnlich ernster Stimme. »Ich fürchte, es wird dir nicht gefallen. Genauso wenig wie deiner neuen Kollegin ...«

Er zeigte auf eine junge, zerbrechlich wirkende Frau, die im Treppenhaus stand und ganz bleich im Gesicht war. Hauptkommissar Robert Brandner hatte sie zwar beiläufig registriert, als er an ihr vorbeigegangen war. Aber mehr auch nicht.

»Neue Kollegin?« Brandner runzelte die Stirn. »Das höre ich zum ersten Mal.«

»Zumindest hat sie das behauptet, Robert«, meinte Busch. »Die Order, dass sie bei diesem Einsatz mit dabei ist, kam wohl von Kellermann ganz persönlich. Morgen fängt sie an. In deiner Abteilung. Sie heißt Julia Ried...«

»Das kann sie mir alles selbst erzählen – aber nicht jetzt«, unterbrach ihn Brandner. Er schaute hinaus auf den Flur. »Was ist?«, fragte er die junge Frau. «Haben Sie sich wieder beruhigt? Oder brauchen Sie noch Zeit?«

»Ich... ich komme gleich nach«, hörte er sie zaghaft antworten. »Nur einen Augenblick noch.«

»Lassen Sie sich Zeit«, sagte Brandner unterkühlt. »Ich komme auch allein klar.«

Dann ging er weiter und betrat die Wohnung. Was er bereits im Flur wahrnahm, war der penetrante Blutgeruch, der sich wie eine erstickende Decke über alle Räumlichkeiten gelegt hatte. Er wollte schon weitergehen, aber Busch hielt ihn am rechten Oberarm fest und zeigte auf seine Schuhe. Brandner runzelte die Stirn, weil er es hasste, angefasst zu werden. Erst recht, wenn es überraschend geschah.

»Ach so... ja«, murmelte Brandner. »Hätte ich fast vergessen. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich täte, Wolfgang.«

Sein Tonfall klang ein wenig sarkastisch. So reagierte Brandner immer, sobald sich seine Laune wieder mal dem Tiefpunkt näherte. Selbst nach so vielen Jahren aktiven Dienstes hatte er sich noch immer nicht daran gewöhnt, wenn man ihn an einem friedlichen Sonntag in aller Herrgottsfrühe zu einem Einsatz rief, der ihm den Rest des Tages sowieso gründlich versaute.

Er streifte sich die hässlichen Dinger über die Schuhe und zog die Handschuhe an. Erst dann ließ ihn Busch passieren.

»Kümmert euch inzwischen um die Kollegin da hinten«, sagte Brandner. »Vielleicht braucht sie was zur Beruhigung – oder einen Arzt.«

»Sie hat gesagt, es wäre alles okay«, erwiderte Busch achselzuckend. »Du kannst ja noch einmal mit ihr reden und sie danach fragen.«

»Für sowas ist ein Psychologe zuständig«, brummte Brandner. »Mein Job ist es, mich um andere Dinge zu kümmern.«

Der jungen Kollegin – Brandner hatte ihren Namen bereits wieder vergessen – hatte all dies schwer zugesetzt. Aber das war ihr Problem. Brandner konnte und wollte darauf keine Rücksicht nehmen.

Die Holzdielen knarrten unter seinen Füßen. Der Blutgeruch intensivierte sich, als er sich mit Busch dem betreffenden Zimmer näherte. Auf dem Boden befanden sich dunkelrote Flecken. Noch nicht ganz getrocknet. Die Tür stand halb offen, und als Brandner eintrat, musste auch er unwillkürlich schlucken.

Das Bettlaken war in But getaucht. Darauf lag die Leiche einer nackten Frau. Ohne Kopf. Mit gespreizten Beinen und gefesselten Gliedmaßen. Und zwischen den blutroten Beinen steckte ein länglicher Gegenstand! Das Ende eines Besenstiels! Der ganze Körper wies Schnitte auf, die der Mörder anscheinend willkürlich vollzogen hatte. Er musste seinem Opfer unsägliche Schmerzen zugefügt haben – vorausgesetzt, die Frau hatte das überhaupt noch miterlebt. Das war kein Mord. Zumindest kein herkömmlicher. Eher die perverse Tat eines Wahnsinnigen!

»Scheiße«, sagte Brandner. »Das ist ja...«

Ihm fehlten die Worte. Dermaßen brutale Bilder hatte er in seiner bisherigen Laufbahn nur selten erlebt. Auch mit fast 20 Jahren Diensterfahrung ließen ihn solche Augenblicke nicht kalt. Er konnte weder begreifen, warum solche Dinge überhaupt passierten, geschweige denn, wie krank ein Mensch sein musste, um zu sowas fähig zu sein.

»Was kannst du mir sagen, Wolfgang?«

»Dass hier ein Irrer am Werk war«, lautete Buschs trockene Antwort. »Jemand, der die Frau nicht nur bestialisch gefoltert, sondern ihr dann auch noch den Kopf fein säuberlich abgetrennt und anschließend im Kühlschrank deponiert hat.«

»Wann ist der Tod eingetreten?«

»Irgendwann zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens letzte Nacht«, sagte Busch. »Weitere Details erfährst du nach der Obduktion.«

»Wo ist der Kopf jetzt?«

»Nebenan«, sagte der Kriminaltechniker. »Die Kollegen untersuchen ihn gerade. Und das, was sie bereits herausgefunden haben, ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass der Mörder vollkommen verrückt ist.«

»Rede nicht um den heißen Brei herum«, forderte ihn Brandner auf. Er konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn Busch wie immer ausschweifend wurde. »Schildere mir die Fakten.«

»Ich kann nichts dafür, dass du schlechte Laune hast«, brummte Busch. »Mein Team und ich – wir alle machen nur unseren Job. Ich trage gewiss keine Schuld daran, dass du dir gestern Abend die Kante gegeben hast...«

»Riecht man das noch?«, unterbrach ihn Brandner, der sich ertappt fühlte. Er mochte es nicht, wenn ihn Kollegen auf so etwas aufmerksam machten. Das nächste Mal musste er vorsichtiger sein. Er sah, wie Busch kurz nickte und dabei seinem Blick auswich. »Naja, lässt sich nun mal nicht ändern. Was ist jetzt?«

»Der Kerl hat das Opfer mit dem Besenstiel penetriert. Wie lange das gedauert hat, weiß ich noch nicht. Anschließend hat er ihr den Kopf vom Rumpf getrennt und sein Sperma in den geöffneten Mund gespritzt. Wie krank muss man denn sein, um sowas zu machen, Robert?«

»Das werde ich diesen Kerl fragen, wenn wir ihn erwischen,«, meinte Brandner und ließ seine Blicke durchs Schlafzimmer schweifen. Es hingen mehrere Spiegel an den Wänden, und die gesamte Ausstattung wirkte auf ihn übertrieben billig. Ob das etwas mit der Reizwäsche zu tun hatte, die auf dem Boden verstreut lag?

Er verzog missbilligend die Mundwinkel. In seinem Kopf zeichneten sich Bilder ab, die er am liebsten ganz vergessen wollte. Ausgerechnet jetzt wurden sie wieder gegenwärtig.

»Die Frau hieß Anna Ulanowa«, riss ihn Buschs Stimme aus den Gedanken. »Sie stammt aus der Ukraine und lebt seit einigen Jahren hier. Die Nachbarn sagen, sie hätte öfter Besuch von Männern bekommen.«

»Eine Prostituierte?«

»Ich denke schon«, erwiderte Busch und wies auf einen kleinen Stapel eindeutiger Magazine, die auf einer Anrichte am Fenster lagen. Einige Hefte waren zerrissen und anschließend auf dem Boden verteilt worden. »Ich vermute, der Mörder hatte etwas gegen ihren Job...«

Brandner hörte zu, schaute sich aber dennoch im Schlafzimmer um. Er warf einen kurzen Blick auf die schwarzen und roten Slips sowie die BHs, die der Täter wahllos verstreut hatte.

»Was ist mit Fingerabdrücken?«, wollte er von Busch wissen.