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"Ich gestehe, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen." Die Vielfalt der Themen und die Entwicklung eines unvergleichlichen Stils treten in den Erzählungen von Siegfried Lenz deutlich hervor. Brillant verdichtet er auf engstem Raum und mit außerordentlicher Intensität Situationen und die Gefühlswelten seiner Figuren. In der Tradition der deutschen Novelle, der russischen Erzählung und der angelsächsischen Kurzgeschichte stehend, hat Siegfried Lenz die kurze Form zu einer in der Gegenwartsliteratur beispielhaften Meisterschaft geführt. "Lenz schreibt unglaubliche und letztlich, da mit künstlerischen Mitteln beglaubigt, doch glaubhafte Erzählungen; sie mögen einem bisweilen unwahrscheinlich vorkommen, aber sie sind immer wahr." Marcel Reich-Ranicki Diese eBook-Ausgabe wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz ergänzt.
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Seitenzahl: 22
Siegfried Lenz
Der sechste Geburtstag
Erzählung
Hoffmann und Campe Verlag
Alfred hatte den Vorschuß bekommen. Er hatte ihn mir nicht gleich gegeben, als er von der Arbeit kam; er hatte das Geld bei sich behalten bis zum nächsten Morgen, und da erst, als ich ihn zur Tür brachte und er mich zum Abschied küßte wie früher, gab er mir den offenen Umschlag. Ich spreizte den Umschlag mit zwei Fingern auseinander, sah rasch, daß es lauter kleine Scheine waren, wollte ihm einen Schein davon geben, doch er schüttelte lächelnd den Kopf, klopfte mit den Fingerkuppen auf seine Brusttasche, als ob er auf ein Geheimnis anspielte, auf eine geheime Barschaft. Ich wußte, daß er log, und ich wollte ihm einen Schein in die Jackentasche stecken. Er fing meine Hand ab, schob sie zurück und sagte ruhig: »Kauf ihm ein Geschenk, Maria, das schönste, das du findest. Frag ihn noch einmal, was er sich wünscht, und dann kauf es ihm. Ich laß mir die letzten Stunden freigeben.«
Ich versprach es ihm, und ich versprach, nichts zu trinken an diesem achtzehnten April, den wir uns auserwählt hatten, um Richards sechsten Geburtstag zu feiern. Zuerst hatten wir den Geburtstag Anfang Mai feiern wollen, wenn Alfred sein Gehalt bekommen hätte, doch der Arzt meinte, je früher, desto besser, und so hatten wir Richard an einem Mittwoch damit überrascht, daß wir am Freitag seinen Geburtstag feiern wollten, und natürlich geriet der Junge außer sich, redete nur noch in Wünschen, die er wachsen und wachsen ließ, ohne einen einzigen zu verwerfen. Ich staunte manchmal darüber, woher er wußte, was alles man sich wünschen konnte, mir wären so viele Wünsche nicht eingefallen, ich komme immer in Verlegenheit, wenn ich Wünsche äußern soll.