Der Seelsorger - Jörg Liemann - E-Book
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Der Seelsorger E-Book

Jörg Liemann

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Beschreibung

Eine Stadt, die das Dunkel anzieht: Der abgründige Thriller-Sammelband »Der Seelsorger« von Jörg Liemann jetzt als eBook bei dotbooks. Berlin: Das pulsierende Herz der Bundesrepublik – und ein Ort voller Abgründe und Schatten … Als ein Brandstifter die Hauptstadt in Panik versetzt, wird Kriminalkommissar und Telefonseelsorger Kai Sternenberg in die Ermittlungen verwickelt. Ein ungeheuerlicher Verdacht steht im Raum: Ist der zuständige Ermittler etwa selbst der Feuerteufel? Als Sternenberg die überaus heiklen Untersuchungen in den Reihen der Polizei beginnt, wird er schnell in ein Netz aus Lügen und Verrat gezogen, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint … Auch als im Berliner Grunewald ein brutaler Mörder eine Spur aus Blut hinterlässt, wird Sternenberg zur Hilfe gerufen. In welcher Verbindung stehen die Leichen mit dem Verschwinden des Polizei-Vizepräsidenten, in dessen Haus man blutige Eingeweide gefunden hat? Wurde auch er ein Opfer des Serienmörders – oder ist die Wahrheit eine viel erschreckendere? »Ein genialer Roman.« WDR 5 über »Feuer über Berlin« Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der psychologische Spannungs-Sammelband »Der Seelsorger« von Jörg Liemann enthält die fesselnden Berlin-Thriller »Feuer über Berlin« und »Sternenberg und die Toten im Wald« und wird Fans von Tom Voss und Max Bentow fesseln. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 758

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Über dieses Buch:

Berlin: Das pulsierende Herz der Bundesrepublik – und ein Ort voller Abgründe und Schatten … Als ein Brandstifter die Hauptstadt in Panik versetzt, wird Kriminalkommissar und Telefonseelsorger Kai Sternenberg in die Ermittlungen verwickelt. Ein ungeheuerlicher Verdacht steht im Raum: Ist der zuständige Ermittler etwa selbst der Feuerteufel? Als Sternenberg die überaus heiklen Ermittlungen in den Reihen der Polizei beginnt, wird er schnell in ein Netz aus Lügen und Verrat gezogen, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint … Auch als im Berliner Grunewald ein brutaler Mörder eine Spur aus Blut hinterlässt, wird Sternenberg zur Hilfe gerufen. In welcher Verbindung stehen die Leichen mit dem Verschwinden des Polizei-Vizepräsidenten, in dessen Haus man blutige Eingeweide gefunden hat? Wurde auch er ein Opfer des Serienmörders – oder ist die Wahrheit eine viel erschreckendere?

Über den Autor:

Jörg Liemann, 1964 in Berlin geboren, entwickelte, nachdem er eine Schülerzeitung gegründet hatte, ein Faible für die psychologische Komponente des Schreibens und war einer von Deutschlands jüngsten, nicht-kirchlichen Telefonseelsorgern. Nach vielen Jahren in der präventiven Terrorismusbekämpfung ist er heute Referent an der Verwaltungsakademie Berlin, wo er unter anderem das Personal von Polizei und Feuerwehr in Staatsrecht und Politik unterweist. Seit 2011 veröffentlicht er Sach- und Reisebücher, Romane und Erzählungen.

Weitere Informationen zu Jörg Liemann und seinen Büchern unter: autorliemann.wordpress.com

Der Autor auf Facebook: www.facebook.com/autorliemann

Bei dotbooks erscheinen Jörg Liemanns Kriminalromane rund um den charismatischen Kommissar Kai Sternenberg: »Feuer über Berlin« und »Sternenberg und die Toten im Wald«.

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Sammelband-Originalausgabe Juni 2023

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Die Originalausgabe von »Feuer über Berlin« erschien 2011 unter dem Titel »Flammenopfer« bei Goldmann und 2018 unter dem Titel »Sternenberg und die Spur der Flammen« bei dotbooks; Copyright © 2011 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH; Copyright © der Neuausgabe 2018, 2019 dotbooks GmbH, München.

Die Originalausgabe von »Sternenberg und die Toten im Wald« erschien 2013 unter dem Titel »Blutige Spuren« bei Goldmann; Copyright © 2013 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH; Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildern von shutterstock / Semen Kuzmin

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)

ISBN 978-3-98690-622-1

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Jörg Liemann

Der Seelsorger

Zwei Thriller in einem eBook

dotbooks.

Feuer über Berlin

Ein Brandstifter versetzt die Hauptstadt in Panik: Berlins Penthäuser stehen in Flammen, die Kriminalpolizei ermittelt unter Hochdruck. Aber warum ist der zuständige Ermittler Traube jedes Mal verdächtig früh am Tatort? Verwischt er die Spuren des Täters – oder ist er selbst der Feuerteufel?

Kommissar Kai Sternenberg erhält den überaus heiklen Auftrag verdeckt in den eigenen Reihen zu ermitteln. Doch als Kommissar Traube der Presse ausgerechnet die Frau als Hauptverdächtige präsentiert, mit der Sternenberg gerade eine Affäre anfängt, beginnt der Ermittler zu ahnen, dass er niemandem mehr trauen kann …

Kapitel 1

»Herr Wachtmeister, hier muss etwas gemeldet werden. Schreiben Sie das mit, Herr Wachtmeister.«

»Ich höre Sie. Aber Sie sind mit der Telefonseelsorge verbunden.«

»Schreiben Sie auf, was ich Ihnen sage. Es ist wichtig. Sie müssen das protokollieren und Ihren Vorgesetzten zutragen.«

»Haben Sie verstanden, dass Sie mit der Telefonseelsorge sprechen? Ich bin ein Mitarbeiter der Telefonseelsorge.«

»Ich sitze hier und beobachte. Ich kann nicht aufstehen, verstehen Sie? Verstehen Sie, dass Sie mit einer Frau sprechen, deren Beine bewegungsunfähig sind? Ich beobachte diese Tür, die ganze Zeit diese Tür, Herr Wachtmeister. Sind Sie da?«

»Ja, ich höre Sie.«

»Es ist wichtig, dass Sie das weitergeben. Diese Leute haben das Fleisch in der Tür, das Fleisch in den Türrahmen. Die Hausverwaltung entfernt es nicht. Ich kann nicht herankommen. Ich sehe das. Früher konnte ich mich persönlich kümmern. Mein Mann war immer zur Stelle, wenn etwas vorgefallen ist, verstehen Sie? Er war Offizier, mein Herr! Er hatte eine Uniform. Sehr korrekt, immer zur Stelle. Er hätte der Hausverwaltung gesagt, wo es langgeht. Schreiben Sie das mit. Es soll nicht verloren gehen. Und beeilen Sie sich. Es ist gefährlich. Hören Sie mich?«

»Was ist denn gefährlich?«

»Das fragen Sie? Warum hören Sie nicht zu? Was sind Sie für ein Beamter, der den Leuten nicht zuhört! Aus dem Türrahmen kommt das Fleisch. Es quillt schon raus. Die haben alles damit abgedichtet. Die Hausverwaltung hat es sich mal wieder einfach gemacht! Es blutet an allen Ecken und Kanten. Glauben Sie, ich freue mich darüber? Ich beobachte es. Und ich kann mich nicht bewegen. Und wenn die Hausverwaltung vorbeikommt, dann unternimmt sie nichts. Außer dass sie die Türen abdichten. Jetzt wundern sie sich, wenn es blutet. Durch den Boden durch. Das gibt Renovierungskosten, da werden die sich noch mehr wundern. Es ist so, Herr Doktor, es ist alles wund. Das ganze Fleisch. Sie werden mir das bestätigen, das Fleisch ist krank. Es war von vornherein krank. Die haben mir das nicht geglaubt. Die Tür geht nicht mehr von alleine zu, das blutet alles aus. Wenn die Tür nicht schließt, kann jeder hereinkommen. Meine Beine versagen den Dienst. Ich werde überfallen und totgeschlagen wie ein räudiger Hund. Kennen Sie den Ausdruck, Herr Doktor? Wie ein räudiger Hund? Das Fleisch ist räudig. Dann müssen Sie ihm das Bein abnehmen, nach dem Unfall. Es blutet nach und hört nicht auf, und dann müssen sie ihm auch das zweite Bein abnehmen. Damit füllen sie den Türrahmen. Der Hund kann nicht mehr laufen. Verstehen Sie. Dann können sie ihm gleich alle Beine abnehmen. Und mich können sie auch erschlagen wie einen räudigen Hund. Das interessiert keinen, Herr Wachtmeister, keiner unternimmt etwas. Meinen Mann haben die erschlagen, und es hat keine Menschenseele interessiert. Sie haben ihm die Beine genommen wie einem räudigen Hund. Hören Sie mir zu?«

»Ja. Haben Sie ...«

»Lassen Sie das! Lassen Sie die dummen Fragen. Glauben Sie, ich bin hier, um mich von Ihnen ausfragen zu lassen? Ich habe das alles schon zu Protokoll gegeben. Machen Sie Ihren Vorgesetzten Meldung, und nehmen Sie Ihre Tabletten!«

»Wie ist das mit den Medikamenten?«

»Mein Mann achtet darauf, dass alles seinen geregelten Gang geht. Warten Sie mal, ich muss kurz mit dem Doktor sprechen. Ich muss ihm Bescheid geben. Ja, Herr Doktor, das können Sie so machen. Ja, das geht so, jetzt kümmern Sie sich wieder um Ihre Patienten! Ich sehe mir gleich an, was Sie angerichtet haben. So, jetzt bin ich wieder da. Haben Sie alles im Protokoll vermerkt, haben Sie alles? Wie? Die Verwaltung kümmert sich um keines Menschen Seele und um keines Menschen Leib. Sie reißen sie in Fetzen, wenn sie hereinkommen. Ich sehe das durch meine Jalousie. Da sitzen sie und kommen zu mir herein. Die kennen nicht den Krieg. Glauben Sie, dass man einem Offizier das Bein abnehmen darf? Ist das eine Frage der Ehre, mein Herr? Können sie ihm die Beine rausreißen wie einem räudigen Hund, alles in Fetzen, dürfen die das, bei einem Offizier? Das trauen sie sich doch nur im Krieg, da fällt es nicht auf, verstehen Sie? Die warten hinter den Jalousien. Mich wollen sie, weil ich laufunfähig bin. Sie haben meinen Mann, und jetzt wollen sie auch mich. Dabei können sie nicht einmal eine Tür abdichten. Das liegt doch klar auf der Hand. Na, ich nehme an, mein Herr, Sie kennen sich nicht aus in diesen Angelegenheiten der Ehre.«

Kapitel 2

Anselm Jarczynski zischte sein Spiegelbild an. Er betrachtete die weißen Zähne und klopfte sie einzeln ab. Mit beiden Mittelfingern strich er sich die Augenbrauen glatt, dann schaltete er das Licht im Bad aus und tauchte wieder in den Beat des Wohnzimmers ein.

Er legte den Kopf in den Nacken. Auf der Sessellehne stand, ruhig von ihm gehalten, das Whiskyglas. Er versuchte, sich ein Musikvideo zu der CD vorzustellen, die er hörte. Wenn man die Elektronik durch Geigen ersetzte, wenn man ihre Bögen rhythmisch zucken sähe, und wenn die Kamera in ein Meer von Violinenbewegungen gleiten würde, immer nur für drei Akkorde, wenn der Schnitt zurück zur Sängerin ginge und sie unbeweglich neben einem Mann stünde, wenn sie mit dem härter schlagenden Beat zu tanzen beginnen würde, immer schneller die Tänzerin und die Geigenbögen; und wenn im Finale ein einziges Tanzen unzähliger Paare wäre ... Die eine Hand schlug den Takt, während die andere den Whisky schützte.

Mein Alleinsein tötet mich. Ein Text zum Wegwerfen. Anselm Jarczynski trank einen Schluck.

Mit dem Glas in der Hand stand er auf, schaltete den CD-Player aus und lehnte sich gegen den Rahmen der Balkontür. Aus der Nacht stieg warmer Wind auf. Straßenbahngeräusche – aus dem Bauch der Stadt. Er fragte sich, ob das ein Zitat war: Aus dem Bauch der Stadt.

Gute Entscheidung, nach Berlin zu gehen. Wo sonst ist so viel in Bewegung? Welche Stadt in Deutschland – außer dieser – macht nachts Lebensgeräusche? Mechanische Lebensgeräusche, als wäre sie ein Wesen, das sich im Dunkeln hin und her wälzt und nicht schlafen kann.

Eine Straßenbahn bremste. Das Eis war geschmolzen.

Das nächste Glas war voll. Voll Eis und voll Whisky. Was man so randvoll nennt. Ich habe etwas zu feiern, dachte er. Ich feiere meinen Entschluss, in Berlin neu anzufangen. Ich habe alles erledigt, was ich erledigen wollte: Die Maler sind mit der Wohnung fertig, noch vor dem Verputzen der Außenwände. Oder wie immer es heißen mag, wenn der Holzaufbau isoliert und mit Aluminium eingekleidet wird. Früher mussten Wohnungen trocken gewohnt werden, heute setzen sie so ein Penthaus in drei Tagen auf ein altes Haus, und man fängt an, darin zu leben, noch ehe es richtig mit dem alten Gebäude verwachsen ist.

Der Scheinwerfer, der sonst den rund gemauerten Schornstein der Kulturbrauerei anstrahlte, war ausgefallen. Anselm Jarczynski schaute in die Nacht hinaus und konnte kaum einen Lichtschimmer erkennen. Da throne ich auf einem Dach inmitten einer Metropole – na ja, einer Stadt, die sich anschickt, eine Metropole zu werden –, und trotzdem ist sie dunkel. Die Geräusche kommen aus dem Nichts. Von Besuchen in anderen Stadtteilen wusste er, dass im Westen mehr Kirchen angestrahlt wurden und rote Warnlämpchen für die Flugzeuge leuchteten.

Am Balkontürrahmen lehnend versuchte er sich zu erinnern, wo in Berlin die Flughäfen liegen. Tegel irgendwo im Norden, bis um Mitternacht sah er jeden Abend die Perlenschnur der Scheinwerfer von den landenden Maschinen. Tempelhof im Süden. Der Prenzlauer Berg war eine Insel zwischen den Einflugschneisen, ohne rote Lämpchen und ohne repräsentativen Bau, den es anzustrahlen lohnte. Er wollte sich erinnern, wie die Aussicht tagsüber war: Gab es größere Kirchen bei ihm in der Nähe? Am Tage hatte er sich noch nicht die Zeit genommen. Und dafür lasse ich mir eine teure Dachgeschosswohnung einrichten!

Er sah sich im Wohnzimmer um, begann herumzuschlendern wie in einer Galerie. Die Wände sind hoch, wie ich es liebe, dachte er. Sie haben die beleuchteten Nischen so in die Wände eingelassen, wie ich es gewünscht habe. Der Raum ist groß, der Parkettboden perfekt bis auf die Stelle am Kamin, das müssen sie ausbessern. Das Bett, fast in der Mitte des Raumes, hätte größer sein können. Es ist eine kleine Bühne. Ich bin gespannt auf die Inszenierungen.

Er betrachtete die Möbel und den Lichteinfall und fand, dass alles gut war. Kann es für einen Mann eine bessere Situation geben, eine geeignetere Startposition? Er beschloss, dem Whisky in vollem Zuge zuzusprechen. Er würde in dem Sessel aus schwarzem Leder und Chromgestell genügend Halt finden, Glas für Glas. Am nächsten Tag hatte er Termine, allerdings erst ab zwölf Uhr. Niemand würde ihn stören, ihn wecken, etwas von ihm verlangen. Nicht einmal am Morgen mit ihm sprechen oder Toasts zubereiten oder die Zeitung holen oder lächeln. Er würde auch morgen sein, was ein Mann ist, der nicht geheiratet hat und auch sonst klug genug war, seine Bindungen zu minimieren. Er konnte trinken und sitzen und seine Gedanken weit über die Stadt fliegen lassen, dem warmen Whiskygefühl nachspüren, wie es die Kehle hinunterströmte und den Körper einnahm. Im Glück hat man alle Zeit der Welt.

Anselm Jarczynski schob den Lichtdimmer neben dem Sessel auf null und streckte sich, um einen Stern zu sehen. Das ist der Preis der Stadt, dachte er. Sie ist trotz allem zu hell für das Universum. Ab und zu glaubte er einen Lichtpunkt zu sehen, aber das schrieb er dem Whisky zu. Der Sommerwind erreichte sein Gesicht.

Er stand langsam auf. Und hörte ein Scharren. Und wieder. Es kam von draußen. Das Geräusch war nah, möglicherweise kam es vom Nachbardach, das an seinen Balkon grenzte. Aber im Dunkeln war nichts zu sehen. Hätte er das Licht eingeschaltet, wäre es seinen Augen noch schwerer gefallen, draußen etwas zu erfassen.

So stand er an der Balkontür und schaute in die Nacht, die jetzt schwerer geworden war. Das Geräusch war nicht mehr zu hören. Sogar der Wind schien aufgehört zu haben. Da draußen ist etwas, dachte Anselm Jarczynski. Jemand sieht mich. Etwas erhebt und baut sich vor mir auf. Oder jemand klettert über die Brüstung und steht vor mir. Das Schwarz war plötzlich bedrückend.

Er schaute hinaus in die Leere und ahnte einen Arm, der nach ihm griff. Es packt dich, dachte er, und er merkte, dass es keinen Wind gab und keinen Laut mehr und kein einziges Licht.

Er schloss die Balkontür und konnte sich nicht entschließen, das Licht wieder einzuschalten. Die spiegelnde Glasscheibe hätte ihm einen Nachteil verschafft, weil er nicht gesehen hätte, ob sich draußen etwas bewegt. Wahrscheinlich spielt mir mein Freund, der Whisky, einen Streich. Das wohlige Whiskygefühl war verschwunden. Er setzte sich in den Sessel. Der CD-Spieler war noch auf Stand-by geschaltet und brummte.

Neben dem Bett stand die Kiste mit Flaschen. Anselm Jarczynski hatte sie noch nicht einsortiert. Eigentlich wollte er im Schwarz des Zimmers eine Flasche herausgreifen, öffnen, das Glas vollgießen und die Marke erraten.

Aber die Arme in der Dunkelheit, direkt vor seinem Fenster, ließen ihn nicht los. War er so ein Feigling, dass er in der wärmsten Nacht des Jahres die Fenster schloss, aus Angst vor – irgendetwas? Dann schraubte er doch an einem Verschluss, fasste die Flasche am Hals und versuchte das Glas zu treffen. Moor-Aroma stieg ihm in die Nase, doch noch ehe er einen Whiskynamen formulieren konnte, hatte ihn die Angst gepackt.

Er saß im Dunkeln in seinem Penthaus und trank. Draußen die Nacht, und was um ihn herum war, konnte er nicht sehen. Und nicht wissen. Er kippte den Rest hinunter, stellte das Glas neben dem Bett ab und legte sich auf das Laken, neben ihm die Kiste mit den Whiskyflaschen auf dem Parkettfußboden. Er lag da mit dem Blick zum Fenster, und er ahnte, dass es keine Minute dauern würde, bis er eingeschlafen war.

Um 2.47 Uhr zog sie sich langsam an der Kante entlang. Gegen 2.49 Uhr hatte sie die Ecke erreicht, in der die Isolierwatte in Plastikbeuteln herumlag. Sie berührte die Beutel und erfasste die Watte, schlug gegen die Wand aus Holz, konnte in sie eindringen und presste sich durch sie hindurch – erst an ihren Kanten, dann auf voller Fläche.

An der Dachkante atmete sie die Nachtluft und entfaltete sich. Um 2.57 Uhr drang ihre Vorhut, der Rauch, in den Innenraum. Er kroch an der Decke entlang, ertastete ein Gemälde, ließ sich hinunterkringeln auf Türrahmenhöhe und schwoll weit hinein in das Zimmer.

Um 3.08 Uhr loderte die Wand außen und innen. Eine Flamme hieb in den Innenraum hinein. Der Rauch sank von der Decke ins Zimmer, umspülte einen Sessel aus Leder und Chrom und tastete einen Kasten voller Glasflaschen ab.

Dem Rauch folgte über den Parkettfußboden die flammende Infanterie. Gerade hatte der Rauch die Lungen des Mannes ausgefüllt. Die erste Flasche explodierte. Dann die zweite. Die dritte. Die vierte. Der Mann war bewusstlos, als die Flamme auf sein Laken übergriff, seine Haare versengte und die Haut zu schlürfen begann.

Um 3.16 Uhr verpuffte der Alkohol im Körper von Anselm Jarczynski, einem glücklichen Mann mit großer Zukunft.

Kapitel 3

Ein feiner Faden Rauch stieg senkrecht aus der Asche. Seine klare, gerade Struktur löste sich in einer bestimmten Höhe auf. Dort kräuselte sich der Rauch. Er verwirbelte ins Unfassbare. Kai Sternenberg saß zurückgelehnt im Schreibtischsessel. Die Pfeife hielt er so ruhig wie möglich. Sein Blick suchte die Stelle, an der der Faden schwach wurde, zerfaserte und sich in hundert Schlängeln ausbreitete und auflöste.

Der Pfeifenkopf war heißgeraucht. Sternenberg zog mit der Linken einen Aschenbecher von der Tischplatte und stellte ihn sich in den Schoß. Zu den angesengten Tabakskrümeln und einem Kohlefilter kippte er die lose in der Pfeife liegende Asche. Den Aschenbecher stellte er zurück auf sein Notizbuch. Er sog am Mundstück. Im Pfeifenkopf glimmte der Tabak. Ein neuer, frischer Rauch entwich wie schlangenbeschwört in die Tischlampennacht.

Gegen das Licht besehen begannen die Rauchfiguren ihr kurzes Leben. Sternenberg hauchte ihnen entgegen.

Das Fenster stand offen. Zwischen drei Uhr und vier Uhr nachts bewegte sich kein Uhrenzeiger. Die Nacht war heiß, sie war trocken, und Rauch war das einzig Konkrete. Obwohl die Fensterflügel offen standen, konnte Kai Sternenberg von seinem Platz aus den Himmel nicht sehen. Er fühlte und sah den Pfeifenkopf. Zu warm für eine Sommernacht, zu süßlich auf der Zunge und in der Nase für die Jahreszeit. Worum es mir nur geht, dachte er und rieb sich den Rücken am Leder des Sessels, ist der Anblick des Rauches im Licht. Wenn ich das Licht ausschalten würde, hätte ich keinen Grund zu rauchen. Du willst nur sehen, wie es sich bewegt, wie dieses Gewölk sich plan- und strukturlos in der Luft zertanzt. Du bist ein Voyeur. Ein Voyeur des Rauchs.

In diesem Moment zischte der frische Tabak am Boden des Pfeifenkopfes. Vom Bahnhof drüben kam eine Lautsprecherdurchsage. Irgendwohin. Nur die Melodie der Stimme war zu hören, kein einziges Wort zu verstehen.

Sternenberg richtete sich im Drehstuhl auf und zog den Hefter mit den Statistiktabellen heran. Einiges hatte er schon eingetragen oder angekreuzt: W für weiblich. Unbekannt. 60-70 Jahre. Gesprächsbeginn 3.10 Uhr. Motiv? Kai Sternenberg sah sich die Notizen in seiner Kladde an. Das erste Wort war Wachtmeister, mehrfach eingekreist. Dahinter stand, kaum lesbar: Hier muss etwas gemeldet werden. Unterhalb dieses Satzes hatte er einzelne Worte abgesetzt: Herr Doktor. Fleisch. räudig. Mann – Offizier – Beine – Identität? Dann folgten Kringel und ausgemalte Kreise. Als Letztes war da ein Pfeil mit zwei Eintragungen: Medikamente und assoziatives Sprechdenken. Ende 3.35 Uhr. 20 min.

Langsam wurde die Tür geöffnet. Eine Frau mit Pagenfrisur schaute herein. »Hast du gerade ein Gespräch?«

Kai Sternenberg verneinte und winkte sie herein. »Ich sitze an der Statistik.«

Die Frau mochte um die vierzig sein. Aber er verschätzte sich meist beim Alter. Die Pagenfrisur sollte sie jünger machen. So kurz geschnitten wirkte es eher lächerlich. Knapp älter als ich, dachte er, 45.

»Ich bin Kai. Wir kennen uns noch nicht, oder?«

Sie setzte sich auf die Liege und schob die Hände gegenseitig in die Pulloverärmel. »Nein. Monika. Ich bin erst seit dem Frühjahr dabei.»

»Möchtest du Kaffee?«

»Nur wenn du Milch hast.«

»Tut mir leid.«

»Dann nicht. Arbeitest du schon lange hier?«

Sternenberg mochte solche Konversation nicht. Seit siebzehn Jahren führte er sie mit den Neuen. Damals hatte er als ehrenamtlicher Mitarbeiter der Telefonseelsorge begonnen. Nach fünf Jahren war ihm der Nachtdienst alle zwei Wochen zu viel geworden. Dazu die ständigen Kurse und Nachbesprechungen. Man bot ihm an, auf Honorarbasis mitzuarbeiten. Zwar hatte der Verein mit über zweihundert ehrenamtlichen Helfern genügend kostenlose Kräfte, doch an den Feiertagen und in den Ferien ergaben sich Engpässe. Das Thema Geld beunruhigte manche der Kolleginnen und Kollegen, die nichts für ihre Dienste bekamen.

»Ja«, sagte er, »ich bin ein paar Jahre dabei. Du bist heute um Mitternacht eingerückt und hast Pit abgelöst?«

»Hm.«

»Und wie waren die Gespräche?«

»Einfach.«

»Gut«, sagte er und dachte, dass die Neuen die ersten Gespräche oft einfach finden.

Sie schob ihre Ärmel hoch. »Und du quälst dich mit der Statistik?«

»Es ist Krampf. Ständig ändern sie die Kennzahlen.« Er warf den Kugelschreiber auf den Hefter und lehnte sich mit einem Ruck zurück, der Stuhl quietschte. »Ich hatte eben eine alte Frau, die mich als Herr Wachtmeister angesprochen hat.«

»Wachtmeister?« Sie zog die Stirn in Falten.

»Ja. Das Witzige ist ...«

»Moment. Wieso nennt sie dich denn so? Hatte sie sich verwählt?«

»Nein«, sagte Sternenberg und schaute in ihr fassungsloses Gesicht. »Wachtmeister – das ist sonderbar.«

»Stimmt, das sagt heute keiner mehr. Bis auf ein paar alte Leute vielleicht. War sie alt?«

»Jedenfalls hat es mich aus einem anderen Grund erschreckt.«

»Und der wäre?«

Ihm missfiel dieser Dialog. Er hatte ihr eine Anekdote erzählen wollen. Damit sie sich nicht ihrer Erstlingstelefonate rühmen konnte. Wie sie jetzt vor ihm saß, das war inquisitorisch. Warum schickte er sie nicht raus? Bei der Polizei hätte er das getan und in Ruhe zu Ende geraucht, anstatt die Pfeife im Aschenbecher so weit wie möglich von ihr wegzuschieben.

»Ich habe mich ertappt gefühlt«, sagte er und baute ein Grinsen auf. »Für ein paar Sekunden fürchtete ich, die Alte würde mich kennen. – Herr Wachtmeister, und das in einem richtigen Befehlston ... Es ist nämlich so, dass ich im richtigen Leben wirklich Polizist bin.« Kai Sternenberg ließ eine Pause.

Sie war unbewegt und ernst, und die Falten standen ihr noch immer auf der Stirn.

»Nicht Wachtmeister«, schob er nach, »aber Polizist.«

»Ich hab' schon von dir gehört.« Sie spielte mit ihrer Halskette und schaute Richtung Fenster. »Ein Polizist, der bei der Telefonseelsorge arbeitet.«

»Wir haben viele Berufe hier.« Er hoffte, eines der Telefone würde klingeln.

»Und was machst du bei der Polizei? Richtig mit Uniform und so?«

Immerhin, dachte er. Die meisten scheuen das Thema. Wie etwas, woran sie sich verbrennen könnten. Und das bei der Telefonseelsorge, wo ansonsten über alles offen geredet wird und jeglicher blinde Fleck analysiert werden muss.

Die Sternenberg'sche Scheidungsgeschichte hatte er hier hunderttausendfach reflektiert. Aber niemand fragte ihn, ob er seinen Nebenjob bei der Seelsorge mit der Polizeiarbeit in Einklang bringen konnte. Gefragt hat niemand. Aber hinter seinem Rücken gingen die Debatten hoch her. Im Vorstand musste es mehr als Sorgen gegeben haben. Ihm gegenüber zeigte man aber nur ab und zu eine besorgte Miene, ob er auch wirklich Zeit habe für die Telefonarbeit und ob die Doppelbelastung – ohne auszuführen, was das sein mochte – ihm nicht zu viel sei.

»Kripo. Gewaltkriminalität.«

»Ach, so was wie im Fernsehen. Der Kommissar von der Mordkommission.«

»So ungefähr.« Er nahm den Schreiber in die Hand.

»Und deshalb dachtest du, die Frau mit dem Wachtmeister kennt dich.«

»Richtig.«

»Und wie ging es weiter?«

»Sie ist aus der Rolle gefallen. Erst war ich der Wachtmeister für sie, dann war ich ihr Doktor.«

»Hast du das klargestellt?«

»Sie hat es nicht hören wollen. Als das mit dem Doktor nicht mehr passte, war plötzlich ein imaginärer Arzt da, mit dem sie gesprochen hat. Sie hat ihm Anweisungen gegeben, so wie zuvor mir.«

»Ein Arzt?«

»Ich glaube, dass die verschiedenen Identitäten ein Spiel mit ihr treiben.«

»Und was wollte sie von dir?«

»Von mir persönlich nichts. Vom Wachtmeister und vom Doktor. Hat sich über die Hausverwaltung beklagt, weil Fleisch aus den Türrahmen quillt.«

Wieder dieser Blick, als habe Sternenberg sich das ausgedacht. »Was für Fleisch?«

»Keine Ahnung. Blutiges Fleisch. Eine Wahrnehmungsstörung. Du kennst das ja.« Ihm fiel ein, dass sie das nicht kannte. »Sie hat von ihrem Mann gesprochen, einem Offizier. Offenbar gab es eine Amputation. Oder ... vielleicht ist es ein Bild für eine Trennung. Ihr Mann ist tot, und sie kann nicht gehen. Eine Mischung der Persönlichkeiten. Ich vermute, dass sie etwas von ihrem Mann angenommen hat. Nicht nur den Befehlston des Offiziers, sondern auch sein Leiden. Kann aber auch sein, dass es ihr einfach schlecht geht und dass sie sich an etwas Starkem festzuhalten versucht: An der ›Ehre‹ und an Autoritäten. Dem Wachtmeister, dem Doktor, dem Offizier und der Hausverwaltung. Und die Ambivalenz der Autorität ist, dass die Frau sich vor ihr fürchtet. Sie fühlt sich beobachtet und bedroht, sie hat Gewaltphantasien.«

Er knipste am Kugelschreiber und schrieb: einsam, phantasiert wegen, oder trotz Medikamenten.

»Glaubst du, dass da etwas passiert ist?«, fragte Monika.

Kai Sternenberg lachte. »Ein Gewaltverbrechen meinst du? Normalerweise bin ich derjenige, der voreilige Schlüsse zieht. Der Polizist, der hinter allem eine Straftat wittert.«

»Blutiges Fleisch, das in der Tür eingeklemmt ist. Ein toter Ehemann, eine angebliche Amputation ... Sollten sich nicht deine Kollegen darum kümmern?«

»Nein, auf der Ebene war das Gespräch nicht. Es war kein Hilferuf, ich meine: keine Bitte, zu ihr zu fahren.« Er deutete auf seine Kladde. »Ich schreibe mir den ersten Satz eines Telefonats auf. Darin steckt der Schlüssel. Am Anfang sagen sie, worum es ihnen geht, ohne es zu merken. Danach schweifen sie ab. Und die Frau sagte zu Beginn: Herr Wachtmeister, hier muss etwas gemeldet werden.«

»Eben.« Monika war aufgestanden und schloss das Fenster. Sternenberg hatte nicht das Gefühl, dass es kälter geworden war.

»Wenn sie wirklich etwas bei der Polizei hätte melden wollen, hätte sie die Polizei angerufen. Sie wählt den Begriff ›Wachtmeister‹, der nicht in die reale Welt gehört. Sie hat nicht die Absicht, etwas zu melden. Der Satz ist eine Entlastung, er gehört zu einem Rollenspiel.«

»Vielleicht brauchte sie trotzdem die Hilfe der Polizei.«

Sternenberg nahm die Pfeife und kratzte die Asche heraus. Ein Stich ging durch seinen Magen. Zu viel Kaffee, ich sollte keinen mehr trinken. »Nehmen wir mal an, sie wollte über den Umweg der Telefonseelsorge an die Polizei herankommen«, sagte er. »Was wäre passiert, wenn wir die Polizei alarmiert hätten – vorausgesetzt, die Frau hätte mir ihre Adresse genannt?«

»Die Polizei wäre hingefahren und hätte nachgesehen.«

»Und? Hätte nichts gefunden außer einer verwirrten, leicht verwahrlosten Frau.«

»Kann sein. Aber dann wären wir sicher.«

»Hier wirst du keine Sicherheit haben. Du weißt zu keiner Zeit, ob es stimmt, was die Leute dir am Hörer sagen. Vielleicht dankt dir einer freundlich für das Gespräch und das Verständnis, legt auf – und erschießt sich. Um Sicherheit geht es nicht bei der Telefonseelsorge.«

»Meinst du.«

»Die Polizisten würden ihr keine zwei Minuten zuhören. Die Polizei ist das Letzte, was sie will. Sie hat einen psychotischen Schub. Oder ein Delir oder sonst was. Sie hat von Tabletten gesprochen, wahrscheinlich hat sie ihre Psychopharmaka nicht genommen.«

»Paranoid schizophren.«

»Weiß ich nicht«, sagte Sternenberg.

»Paranoid schizophren.«

»Kann ich nicht beurteilen. Ich bin Telefonseelsorger, kein Psychologe.«

»Ich aber.»

Sternenberg sah sie an. Ihre ernsten Falten. Psychologinnenfalten also. Er drehte an der Thermoskanne und goss sich den letzten Schluck ein. »Ich versuche, die Anrufer zu hören und sie nicht gleichzeitig zu analysieren. Analyse hat nur Sinn, wenn man jemanden anschließend therapieren kann. Die meisten rufen aber nie wieder an.«

Die Falten seines Gegenübers blieben.

Weshalb glaubt sie zuerst an einen echten Hilferuf und behauptet dann, es sei paranoide Schizophrenie? Ohne mit der Frau gesprochen zu haben.

»Ohne Analyse kann man nicht richtig zuhören«, sagte sie mit Blick auf die Bücherregale. »Ich muss wissen, was den Anrufern fehlt. Sonst kann ich nicht auf sie eingehen.«

»Es genügt doch, wenn sie bei dir ein Gefühl verursachen, einen Eindruck. Damit kannst du arbeiten.«

»Na ja, das sehe ich anders«, sagte sie in Richtung der Bücher.

Das Telefon klingelte.

»Soll ich übernehmen?«, fragte die Psychologin mit dem Pagenkopf.

Sternenberg war es mehr als recht, dass sie in ihr Zimmer ging und sich um den nächsten Anrufer kümmerte.

Kai Sternenberg ging über den Flur ins Sitzungszimmer und setzte sich ins Dunkel. Bald würde die Sonne aufgehen, er hörte Vogelgesang. Im Raum gab es nichts außer einem Kreis von Stühlen und zwei Palmen.

Hier hatte Sternenberg in den Gruppensitzungen seine besten und schlimmsten Gespräche geführt, Gespräche über sich selbst, über sein Innenleben, seine Konflikte und seine Pläne. Die Wände hätten viel zu erzählen.

In diesem Raum gab es keine Bilder, keine Kaffeemaschine und keine Bücher. Vor allem kein Telefon. Deshalb liebte er es, in den ruhigen Phasen der Nachtdienste hier zu sitzen. Nichts lenkte ab. Wie in einer Mönchszelle.

Er saß im Dämmerlicht und sah die Stühle und die Palmen und die beiden Fensterkreuze des Altbaus.

Sie ist eine kleine Frau, dachte er. Er fühlte, dass er schmunzelte. Im Dunkeln, für niemanden. Er schmunzelte, weil sein Schwarz-Weiß-Schema funktionierte. Nach ihm teilte er Frauen bei der Telefonseelsorge, auf die er zum ersten Mal traf, in große und kleine Frauen ein. Ein pubertärer Scherz. Was würden sie wohl dazu sagen, wenn ich das in einer Gruppe mitteilen würde.

Mit einer großen Frau konnte er in den Telefonpausen reden. In manchen Nächten rief stundenlang niemand an, dann konnte der Austausch sehr intensiv werden. Man quatschte nicht nur über die Motive, bei der Telefonseelsorge zu arbeiten, sondern auch über sich selbst. Über Beziehungsprobleme, über seine Kinder, über Träume. Wenn es gut war und die Frau lachen konnte, war eine solche Begegnung die Strapazen der Nacht wert. Besser als die Liebesnacht mit einer Unbekannten. Oder übertreibe ich?

Sternenberg verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Es gab nicht viele große Frauen. Jahrelang erinnerte er sich an einzelne Sätze, an einen Blick, ein Glänzen in den Augen. Eine kleine Frau öffnete sich nicht und verursachte in ihm eine Ablehnung, die er körperlich spürte. Im Alltag war das nicht so deutlich wie in diesen Nächten.

Ich muss mir Monikas Namen merken und aufpassen, dass ich nicht mehr mit ihr zusammen in den Dienstplan gerate. Er schloss die Augen und hatte Appetit auf Wein und ein großartiges Essen. So spät hatte er nach seiner Erinnerung nie ein gutes Telefonat gehabt. Nach zwei Uhr nachts bewegen sich Gespräche selten von der Stelle.

Er hörte die alte Frau über das Fleisch in der Tür reden. Sternenberg vertraute seinen Gefühlen. Er hatte seine Gefühle zu einer Art Blindenhund gemacht. Hier jedenfalls, bei der Telefonseelsorge, erwiesen sie sich meist als gut trainiert.

Monika klopfte gegen den Türrahmen. »Schläfst du?«

»Nein. Was ist?«

»Haben wir ein Branchen-Fernsprechbuch?«

Er stand auf. »Ähm, kann sein. Wieso?«

»Mein Klient am Telefon. Lass mal, dann find ich's schon.« Sie rannte zurück in ihr Zimmer.

Ihn störte, dass sie rannte. Niemals hatte er jemanden in diesen Räumen rennen sehen. Die Anrufer sind manchmal gehetzt, ich nicht. Sternenberg räkelte seine Schulter zurecht, fuhr sich durch die Haare, stand auf und ging Monika hinterher.

Er setze sich auf ihren Besucherstuhl. Sie hatte sich ein Schulheft neben das Telefon gelegt. Als sie ihn sah, legte sie mit besorgtem Blick den Finger auf den Mund. Sie hörte zu und sagte nichts.

»Ja«, sagte sie plötzlich, »ich sehe noch mal nach. Ich bin mir sicher, dass ich eine Adresse habe.«

Der Anrufer redete offenbar. Kai Sternenberg sah die alarmierten Augen von Monika und warf ihr, als sie endlich noch einmal zu ihm schaute, einen fragenden Blick zu. Sie schrieb etwas in ihr Schulheft und schob es ihm hin. ›Suizid‹ stand da. Sie nahm es zurück, schrieb etwas dazu und schob es erneut herüber. Jetzt standen drei Ausrufezeichen hinter dem Wort.

Sternenberg machte die internationale Geste mit der flachen Hand, die sich mehrmals bremsend von oben nach unten bewegte, aber Monika sah angestrengt auf die Tischplatte.

»Also, wie gesagt, ich habe die Adresse bestimmt hier. Ich muss sie nur suchen.« In einer plötzlichen Erleuchtung schrieb sie wieder etwas und schob es Sternenberg hin. In gehetzter Schrift fragte sie: Tel. Arbeitsamt?

Als er sie ansah, wiederholte sie die Frage tonlos mit Lippenpantomime.

Eine kleine Frau, dachte Kai Sternenberg.

Sie hielt den Hörer halb zu und flüsterte mit großer Gebärde: »Haben wir die Nummer vom Arbeitsamt?«

»Sprich mit ihm!«, zischte er.

Sie schüttelte den Kopf und unterstrich Arbeitsamt und warf ihm das Schulheft so heftig zu, dass es von der Tischplatte glitt und ihm in den Schoß rutschte.

Kai Sternenberg fuhr auf, zögerte eine Sekunde, konnte sich aber nicht bremsen und hieb auf die Gabel des Telefons.

»Spinnst du?« Die Röte schoss ihr ins Gesicht. »Du hast ihn abgewürgt! Der bringt sich um!«

Sternenberg warf ihr das Schulheft neben die Teetasse. »Blödsinn! Hat er das gesagt?«

»Das hat er, allerdings.«

»Und weshalb rennst du dann herum und suchst die Telefonnummer vom Arbeitsamt?«

»Weil er verzweifelt ist! Er ist arbeitslos! Er wollte von mir die Nummer vom Arbeitsamt.«

»Nachts um drei Uhr?«

»Na und? Jetzt ist er weg. Und wenn er sich umbringt ...?«

Sternenberg setzte sich. »He, pass auf. Vermutlich ruft er gleich noch mal an. Aber er will keine Telefonnummer von dir, auch wenn er das sagt.«

»Er hat definitiv darum gebeten.«

»Kann ja sein.«

»Es war auch einer seiner ersten Sätze! Er wollte die Nummer vom Arbeitsamt.«

Schnell wie ein Schuss Spülmittel im Wasser verteilte sich die Wut in seinem Körper. »Du bist nicht die Auskunft. Es ist ein Vorwand. Der Mann will mit einem Menschen sprechen.«

»Du hast das nicht realisiert! Er sagt, er müsse sofort die Nummer vom Arbeitsamt haben. Da war keine Möglichkeit für ein Gespräch.«

»Aha.«

»Ja. Nichts mit – sprechen.«

»Und weshalb ruft er die Telefonseelsorge an, die dafür bekannt ist, dass man da mit jemandem sprechen kann? Was tut jemand, der fest entschlossen ist, sich umzubringen?«

»Du sagst es mir gewiss.«

»Ja. Er bringt sich um.«

»Und was sagt mir das, Herr Wachtmeister?«

»Wer hier anruft, obwohl er lebensmüde ist, der hat selbst noch Hoffnung, Frau Psychologin! Vielleicht ist es nur eine depressive Phase, und das Gespräch bringt ihn wieder aufs Gleis. Vielleicht ist es die allerletzte Chance, und die Hoffnung ist ein winziges, verglühendes Flämmchen. Das wissen wir leider nicht. Aber solange einer hier nachfragt oder droht oder heult oder rumdiskutiert, gibt es doch einen Ansatz. Und dem dürfen wir uns nicht entziehen, indem wir für ihn im Telefonbuch blättern.«

»Er wollte von mir die Telefonnummer.«

Sternenberg verzichtete darauf, sich bei seiner Nachtkollegin zu verabschieden. Sie telefonierte.

Er nahm den Wagen und fuhr quer durch Berlin zum Plötzensee. Die Stadt war hell und leer, und das Strandbad hatte noch nicht geöffnet.

Er ging zur Schmalseite des Sees, zu einer Baumgruppe, zog sich aus, schob seine Tasche ins Gebüsch und stieg neben dem Schilf ins Wasser. Die Oberfläche war noch glatt und unberührt. Im Sommer, wenn die Bäume rings herum dicht bewachsen waren, war die Stadt wie ausgeblendet. Es war eine Oase, die er liebte, seit er in jungen Jahren am Westhafen ganz in der Nähe gewohnt hatte.

Kai Sternenberg griff mit den Armen weit aus und ließ sie abwechselnd an seinem Körper vorbeiziehen. Nach einigen Schlägen hatte er sein Tempo.

In der Mitte des Sees schien es weder Wasser noch seinen Körper zu geben. Nur die Bewegung.

Als das Ufer der anderen Seite näher kam, hatte er die Müdigkeit des Sitzens und Rauchens und Meditierens hinter sich gelassen und freute sich auf die körperliche Erschöpfung.

Er allein durchschnitt den See. Eine Entenfamilie hielt sich unter einer Trauerweide.

Nach der zweiten Kehre zog Sternenberg das Tempo an. Der Atem war im Takt, er pustete Luft und Wasser von sich und stieß sich durch die kühle Natur. Für einen Moment ließ er sich gleiten, dann ging er zum Delfinschlag über. Fortwährend streifte das Wasser vom Kopf an seinem Körper entlang.

Keine Gedanken, dachte er.

Der Rumpf des ersten Flugzeuges stand steil im Himmel, die Düsen donnerten auf den See ein. Sternenberg hatte seine Kilometer absolviert und ließ sich mit einem letzten Schlag unter Wasser treiben. Bis er Schilf zwischen den Fingern spürte.

Die Muskeln fühlten sich warm und geschmeidig an, er war erschöpft vor Glück und hätte Lust gehabt, nackt nach Hause zu laufen – die Spinnerei des Sportlers. Mit den Händen fuhr er sich durch die Haare und zog das T-Shirt über den nassen Oberkörper. Bei der Hose war er einsichtig und nahm ein Handtuch aus der Tasche.

Als er sich im Auto anschnallte, schloss er für einen Moment die Augen. Du warst schon mal erfrischter danach, dachte er. Und jünger. Er startete schnell und grimassierte mit den Augen, damit sie wach blieben, bis er zu Hause war, in seiner Dachwohnung am Prenzlauer Berg.

Kapitel 4

Zu Hause öffnete Sternenberg alle Fenster und hängte das Handtuch zum Trocknen auf.

Er sah über die Dächer. Irgendetwas stimmte nicht. Es musste eine Veränderung in der Nacht gegeben haben, er sah sie nur noch nicht.

In der Ferne war alles wie immer: Gethsemanekirche, Wasserturm, der Schlot der Kulturbrauerei, der Fernsehturm ... Die Baukräne in Pankow standen in gleicher Windrichtung wie am Abend zuvor. Die Baumkronen zwischen den Dächern zeigten noch keine Anzeichen des Herbstes. Blitzableiter, Satellitenschüsseln und Antennen waren unverändert. Keine der Leitern, die an den Schornsteinen lehnten, war umgestellt.

Und doch gab es etwas, was ihn beunruhigte.

Eine Elster trank Wasser aus einer Schale, die jemand auf eine Balkonbrüstung gestellt hatte. Der Vogel reckte den Hals, schaute sich um, machte eine kurze Bewegung mit dem Kopf, die wie eine Verbeugung aussah und flog zur Kastanie hinüber, in der Sternenberg ihr Nest vermutete. Doch kurz vor der Baumkrone drehte die Elster bei und tauchte in einen der Hinterhöfe ein.

Jetzt sah er es. Neben einem der Schornsteine stand ein Weinglas.

Er ging in die Küche, weil er vom dortigen Fenster aus ein Stück weiter hinter den Schornstein zu sehen hoffte. Tatsächlich stand eine leere Weißweinflasche neben dem Glas.

Und da war ein Arm.

Sternenberg drückte sich an den Rahmen des Küchenfensters, um die Perspektive optimal zu nutzen. Es musste der nackte Arm einer Frau sein. Gebräunte Haut, ein Armreifen. Offenbar eine junge Frau.

Dann verschwand der Arm hinter dem Sichthindernis aus Stein. Alles Recken und Strecken half nichts. Er stöhnte. Keine zehn Meter vor seinem Fenster, auf dem Dach des Hinterhauses, das eine direkte Verbindung zu seinem Balkon hatte, saß eine Frau und trank Wein. Um 6 Uhr morgens.

Ab und zu waren Kinder über die Dächer gerannt, manchmal sah er, wie jemand an einer Antenne herumbog. Auf den Nachbarhäusern gab es oft Bauarbeiter. Die fleckige Dachpappe wurde heruntergerissen, dann folgten neue Holzbalken und gute Ziegel, meist ein Dachaufbau mit großen Fenstern und Aluminiumverschlag. Ansonsten kamen selten Leute nach oben. Diese Frau war eine Ausnahme.

Plötzlich lehnte sie sich zurück, und er konnte sie sehen. Sie schloss die Augen und ließ sich von der Morgensonne wärmen. Ein Mädchen mit wildem dunkelblondem Lockenkopf. Keine gestylten Locken, eher Rastalook. Sie trug einen grau glänzenden, ärmellosen Stoff und viele bunte Ketten.

Sie wird mich sehen, dachte Kai Sternenberg. Er ging an den Kühlschrank und nahm eine Flasche seines Hausweins heraus. Dann trat er auf den Balkon und kletterte an der Seite über die Brüstung. Mit der Flasche und einem Glas in der Hand war es umständlich, und es war die gefährlichste Stelle. Einen Schritt entfernt von der Mauer, an der es zwanzig Meter nach unten ging.

Langsam ging er auf die junge Frau zu und räusperte sich. Sofort sah sie ihn an.

Er deutete eine beschwichtigende Geste an. »Hallo. Das da drüben ist meine Wohnung. Ich bin eben nach Hause gekommen und habe dich hier sitzen sehen.«

Sie grinste.

Sternenberg wies auf die leere Weinflasche. »Ich habe eine neue mitgebracht. Würdest du noch ein Glas mit mir trinken?«

Sie machte eine huldvolle Bewegung und betrachtete ihn. »Hi!«, sagte sie und grinste wieder.

»Ich habe den Korkenzieher vergessen. Kleinen Moment, bin gleich zurück.«

»Warte! Gib mal her« Sie nahm den Wein und wickelte die Folie ab. Die Flasche war beschlagen. Mit dem Daumen drückte sie den Korken in den Flaschenhals. Sternenberg sah, dass die Muskulatur über ihrem Armreif hervortrat. Dann goss sie beide Gläser randvoll und prostete ihm zu. »Schön kühl«, sagte sie.

Weißwein und Kondenswasser tropften ihm auf das T-Shirt.

Sie saßen und tranken und sagten nichts.

Sternenberg stellte das Glas auf das Teerdach. »Hast du dir den Sonnenaufgang angesehen?«

»Ich bin schon lange hier. Konnte nicht schlafen. War zu warm da unten.«

Er ignorierte, dass sie auf seine Frage nicht geantwortet hatte. »Die ganze Nacht hast du hier gesessen? Und geschlafen?«

»Ich habe nicht geschlafen. Es ist gut, wenn der Nachtwind so über den Körper streicht.«

»Kein Problem mit den Mücken?«

»Mich sticht keine. Weiß nicht, warum. Bloß die Fledermäuse waren irritiert, weil ich hier war.«

Sternenberg wusste, dass in den alten Dachböden und den bröckelnden Fassaden tausende Säuger saßen und bei Anbruch der Dämmerung tief über die Häuser jagten.

»Außerdem hat es gebrannt heute Nacht.«

»Gebrannt? Wo denn?«

Sie zeigte in die Sonne. »Irgendwo da hinten. Zu sehen war nichts, es hat nur heftig nach Rauch gestunken, und ständig gingen' die Feuerwehrsirenen.«

»Die Feuerwache ist in der Oderberger Straße«, sagte er. Dann fiel ihm ein, dass sie das wusste, wenn sie in dem Haus wohnte. »Es war nicht eins der Lagerfeuer, meinst du?«

»Nein, wenn es ein Feuer der Trommler vom Mauerpark gewesen wäre, dann wäre der Rauch von da hinten gekommen. Es war aber da drüben.«

Im Gegenlicht waren die Häuser in der Sonne nur schemenhaft auszumachen.

Sie goss sich von dem hellen Wein nach, diesmal machte sie das Glas nur halb voll. Dann gab sie ihm davon. »Vielleicht hat wieder ein Dach gebrannt«, sagte sie.

»Wieso wieder?«

»Passiert doch öfter.«

»Aha. Habe ich noch nicht gehört. Ich wohne erst seit einem Jahr hier.«

»Ach, bist du von drüben?« Sie schloss die Augen. Aus ihrer entspannten Haltung schloss er, dass sie es nicht wirklich auf ein Ost-West-Gespräch abgesehen hatte.

»Ich habe ein paar Jahre am Ku'damm gewohnt«, sagte er, »aber hier ist es interessanter. Und billiger.«

Sie streifte die Schuhe ab und streckte die Beine aus. »So billig ist deine Penthauswohnung bestimmt auch nicht.«

»Reine Mietsache«, sagte Sternenberg. »Stimmt schon, mit der Renovierung im Prenzlauer Berg steigen die Preise. Am Kollwitzplatz können sich das nur noch Rechtsanwälte und Zahnärzte leisten.«

Sie ließ den Blick schweifen. »Das erste Mal war ich mit meinem Papa hier oben. Er nahm mich auf seine Schultern und zeigte da rüber und sagte: Das da hinten ist der Westen. Sollen wir uns das angucken gehen? Da hatten sie gerade die Grenze aufgemacht. Er ist mit mir rübergegangen, in dem ganzen Gewühl. Meine Mutter war zu Hause und heulte. Sie wollte nicht, dass er mich mitnimmt. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass wir drüben bleiben. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich da gesehen habe. Ich kann mich bloß an die Massen von Menschen erinnern und dass mein Papa mich durch alles durchgetragen hat. Und wieder zurück.« Sie nahm den letzten Schluck. »Heute sieht es hier so aus, als ob die meisten Häuser neu wären. Als ich klein war, war alles eine angegammelte Masse, aber ich fand's gemütlich. Und die Häuser sind gar nicht neu heute, bloß die Dächer. Wie bei 'nem alten Gebiss: Der Zahnarzt packt dir eine Krone nach der anderen oben drauf, aber er sieht vorher nicht nach, wie gammelig es darunter ist.«

»Die Fassaden sind aber auch ausgebessert.«

»Angestrichen, ja. Oder ausgegipst. Die Schnörkel kleben sie wieder dran. Gut und schön. Aber die meisten Gebäude werden innen nicht verändert. Öfen raus, schicke Treppenhäuser, und der Rest rottet vor sich hin.«

Kai Sternenberg schaute über sein Berlin und dachte über das Bild vom überkronten Gebiss nach.

»In den Penthäusern«, fügte sie hinzu, »wohnen die, die neu hergekommen sind. So wie du. Unten sind die, die genauso morsch sind wie die Gebäude. Es ist so eine Art schöner Schein.«

»Ich denke, die meisten der alten Mieter fliehen vor den teuren Mieten, oder sie werden rausgeekelt.«

»Klar, das kommt vor. Aber hier oben konzentriert sich der Luxus, unten bleibt die Welt unverändert.«

Sie schauten und schwiegen lange.

Dann sagte er: »Von oben gesehen wird die Stadt immer schöner. Wenn man in die Stadt hineinhört, bekommt man das ganze Elend mit. Unter der Oberfläche ist kaum etwas, was so ist, wie die Menschen es sich wünschen. Sie machen sich was vor. In Wirklichkeit ist vieles kaputt. Die Politik, die Familien, die Jobs, die Gesundheit, die Lebensträume ... So wie du gesagt hast: Es ist morsch. Ich wäre nur nicht auf den Gedanken gekommen, das mit einem Gebiss zu vergleichen.«

Sie nickte.

Kai Sternenberg sah sie an. Sie hatte sich eine Sonnenbrille mit winzigen Gläsern aufgesetzt. Er musste lachen.

»Was ist?«

»Sieht niedlich aus.«

»Niedlich.

»Ja. Ein bisschen wie Janis Joplin.«

»Wie wer?«

»Janis Joplin. Sängerin aus Texas. Rock.«

»Ach so, eine Ikone deiner Generation.«

Sternenberg nickte und leerte sein Glas.

Sie berührte seine Hand. »Sorry. Ich wollte nichts übers Alter sagen.«

»Es ist eigentlich gar nicht meine Generation. Sie ist 1971 schon gestorben, da war ich gerade ... na ja, in der Grundschule.«

Von Westen her zogen Wolken auf. Sternenberg beobachtete, wie sie sich auf die Sonne zubewegten und von ihr durchstrahlt wurden. Nach einer Weile wandte er sich dem Mädchen zu. Auf ihrem Oberarm bildete sich eine Gänsehaut, obwohl es wärmer wurde.

Sie zog die Beine an und legte die Arme um die Knie. »Ich glaube, ich bin müde. Musst du nicht auch schlafen? Bist doch vorhin erst nach Hause gekommen.«

»Ja, und in ein paar Stunden muss ich schon wieder arbeiten.«

»Hättest du was dagegen, wenn ich bei dir schlafe?«

Er vermutete, dass er überrascht aussah, denn sie lachte. »Ich kann auch runtergehen, zu mir. Aber eigentlich habe ich dazu keine Lust. Wir sitzen so lange beieinander, da können wir auch beieinander liegen. Oder?«

»Okay.« Er stand auf und merkte den Wein, den er auf nüchternen Magen getrunken hatte.

Auch das Mädchen wirkte zerzaust und nicht besonders standfest. »Lassen wir die Gläser stehen. Ich erledige den Abwasch später.« Sie lachten.

Sie stand vor dem Bett. Sternenberg stellte den Wecker. »Beieinander schlafen heißt nicht miteinander«, sagte er halb fragend, halb bestimmt.

»Natürlich«, sagte sie. Sie nahm die großen Ketten ab und zog sich das knittrige graue Shirt über den Kopf. Sternenberg drehte sich zur Seite.

Er spürte, dass sie unter die Decke kam und dass sich ihr kühler Körper an ihn schmiegte, die Hände ruhig auf seine Schulter und seinen Arm gelegt. »Ist es so in Ordnung?«,

fragte sie.

»Ja. So ist es in Ordnung.«

»Bist du auch so müde wie ich?«

»Todmüde.«

»Es ist schön, so müde zu sein, nicht?«

»Ja.«

»Und dabei zu liegen.«

»Ja. Müde zu sein und dabei zu liegen.«

»Gute Nacht.«

»Guten Morgen.«

Kapitel 5

Kai Sternenberg wachte mit dem wohligen Gefühl auf, seine Tochter Tatjana endlich wieder bei sich zu haben.

Seit sie in Coimbra studierte, hatte sie ihn im Gegensatz zu ihrer Zwillingsschwester Anja, die nach Hamburg gegangen war, nicht besucht. Jetzt spürte er sie neben sich, wie früher, als sie morgens zu ihren Eltern ins Bett gekrochen kam, während Anja lange schlief oder sich lieber Spielzeug ins Bett holte, ehe sie sich wach genug für den Familientisch fühlte.

Sternenberg strich über Tatjanas Hüfte und genoss die nackte Form.

Seine Hand zuckte zurück, als habe er sich verbrannt, er ließ sich wie bei einer Kampfübung aus dem Bett rollen, stand auf, trat auf den Wecker und fluchte.

Er starrte die junge Frau an, die fragend blinzelte und sich zur Seite drehte. Es war nicht seine Tochter. Natürlich war sie nicht Tatjana.

Er deckte das Mädchen mit der Decke zu, die er bei seinem Paniksprung mitgerissen hatte. Eine Locke lag über ihren Augen, aber er wagte nicht, sie ihr aus dem Gesicht zu streichen.

Unter der Dusche wartete er nicht, bis das Wasser warm wurde. Ich träume, dass ich mit Tatjana schlafe. Wenn das keinen Anruf bei der Telefonseelsorge wert ist!

Das Wasser war schnell zu heiß, aber er stand unbeweglich und ließ es sich über den Nacken laufen. Ich bin zu lange allein, dachte er. Zu wenig Sex. Und zu wenig Zeit für meine Töchter. Ich werde nach Coimbra fliegen, und Anja werde ich zum Essen einladen. Alles andere muss warten.

Er stand neben dem Bett und trocknete sich die Haare. Das Mädchen vom Dach sah im Schlaf jünger aus als mit dem Weinglas in der Hand. Sternenberg schätzte sie etwa so alt wie Anja und Tatjana.

Er schrieb ihr einen Zettel mit einem Verweis auf Kaffeemaschine und Kühlschrank. Und mit der Bitte, die Wohnung nicht übers Fenster zu verlassen, weil es sich nicht von außen schließen ließ. Er zögerte. Sollte er noch etwas hinzusetzen?

Er sah sie an und küsste sie vorsichtig auf die Wange. Sie lächelte im Schlaf, ohne die Augen zu öffnen. Wem hat sie zugelächelt?, fragte er sich.

Er suchte die Autoschlüssel und nahm die Jacke. Keine vier Stunden Schlaf, das wird ein schwieriger Tag.

»Königin Beatrix erwartet dich zur Rücksprache, Kai. Sie wirkt nicht besonders gnädig.«

»Schon wieder ein neuer Anzug, Jano? Rote Krawatte zum hellbraunen Jackett? Mutig, mutig.«

»Das ist nicht hellbraun, sondern brillant. Du könntest dir auch mal einen Binder zulegen, zumindest für die Audienzen.«

»Gegen dich habe ich keine Chance.« Er schloss die Bürotür auf. »Was will sie?«

Jano Dodorovic zuckte mit den Schultern. Er war ein Frühwarnsystem. »Keine Ahnung. Diese Frau ist so verschlossen, da kann man aber auch gar nichts erkennen. Ehrlich gesagt ...« Er drückte sich zu Sternenberg ins Büro hinein, trat aber sofort wieder hinter die Türschwelle zurück. »Ehrlich gesagt finde ich sie als Frau doch sehr ... sehr verschlossen.«

»Jano, die ideale Frau hier im Dezernat bist du, da brauchst du dir keine Sorgen machen.«

Dodorovic grinste.

Kai Sternenberg hatte gelernt, dem drahtigen Mann täglich Komplimente zu machen und ihn zu sticheln. Beides motivierte ihn, ebenso die derben Witze der Kollegen. Dodo war nicht nur der bestgekleidete Mann im Dezernat – und fiel damit aus dem Rahmen der Berliner Reviermode –, sondern er wurde von den meisten als idealer Assistent gesehen. Wurde er zu lange nicht gelobt oder nicht beleidigt, dann schmollte er wirklich.

»Kai, ich würde sie nicht warten lassen.«

»Gut. Danke.«

Dodorovic schloss die Tür von außen.

Sternenberg saß am Tisch und schaute zur Decke. Die Räume waren größer und höher als vor dem Umzug. Altberliner Architektur, dachte er. Ein Polizeirevier wie beim Kaiser. Oder wie bei den Nazis. Hat die Volkspolizei auch hier gesessen? Heute, mit frischem Weiß, Chrom und Leder sieht es aus, als seien die Büros Repräsentationsräume.

Es klopfte leise. Dodorovic schwebte herein, legte zwei Zeitungen in gebührendem Abstand von Sternenberg auf den Aktenberg und stellte ein Tablett mit Wasserglas, Aspirin und Alka-Seltzer daneben. Und schwebte wieder hinaus.

Sternenberg sah das Glas eine Weile an. Er stupste es an und ließ den Wasserspiegel hin und her schaukeln. Die Tabletten rührte er nicht an.

Dann stand er auf, fuhr sich durch die Haare und nahm Kurs auf das Ende des Gangs.

»Ja.«

Selbst die Verbindungstüren in dem Altbau hoch und schwer. Er mochte das.

Beate Rixdorf kam auf ihn zu, schaute ihm mit grauen Augen länger als üblich ins Gesicht und wies ihm einen Sessel zu.

Die Platte ihres Schreibtischs war aus Glas, auf ihr standen ein Telefon und eine von Jano Dodorovic regelmäßig neu befüllte Blumenvase. Es gab keine Akten. Nicht einmal einen Laptop oder einen Kalender. So, wie sie in ihrem Büro stand oder saß, wirkte Beate Rixdorf mehr wie eine Repräsentantin als eine Dezernatsleiterin. Die Bezeichnung »Königin Beatrix« hatte sie daher schon in der ersten Amtswoche erhalten, und sie bezog sich auch auf ihre Weigerung, sich mit Ermittlungsdetails zu befassen.

Äußerlich gab es für den majestätischen Vergleich keinen Anlass. Sie ging Kai Sternenberg kaum bis zur Schulter. Ihr Haar war unprätentiös geschnitten und changierte von dunkelgrau nach weiß. Harmlos wirkte sie. Wie eine Verkäuferin im Bäckerladen, dachte Sternenberg, erinnerte sich aber, dass diese harmlose Person sofort nach ihrem Amtsantritt zwei Mitarbeiter des Dezernats versetzt hatte – gegen den Willen des Personalrates und ohne dass den verbliebenen Kollegen ein Grund genannt wurde.

»Herr Sternenberg, woran arbeiten Sie?«

»Wir sind an fünf, sechs laufenden Sachen. Routine. Es gibt einen gewissen Leerlauf.«

»Sie meinen, Sie haben Kapazität für eine neue Aufgabe?«

»Ja.«

Sie sah ihn eine Weile an.

Er sagte nichts.

»Es freut mich, dass Sie nicht vorgeben, überlastet zu sein, so wie ihre Kollegen das tun.«

»Die Kollegen haben zum großen Teil viel zu tun. Sie sind überlastet.«

Sie lächelte. »Warum helfen Sie ihnen dann nicht?«

Er wechselte die Position im Sessel. »Ich spreche von Kollegen, die in anderen Ressorts arbeiten.«

»Für die Sie nicht zuständig sind?«

»Richtig.«

»Sie meinen, die Arbeit ist falsch verteilt?«

»Wenn die Arbeit falsch verteilt wäre, dann wäre das ein Führungsfehler von Ihnen, Frau Rixdorf. Ich glaube aber nicht, dass es so ist. Es kommt immer mal für ein paar Wochen vor, dass die einen oder anderen Ressorts überlastet sind. Soweit ich das beurteilen kann.«

»Natürlich können Sie das beurteilen, Herr Sternenberg. Sie sind seit – wie viel? – acht Jahren hier. Ich denke, Sie wissen, wie es hier aussieht. Ich bin erst seit ein paar Monaten hier. Vielleicht können Sie mir sagen, was Sie an meiner Führungstätigkeit kritisieren.«

»Das ist unfair, finde ich.«

»Wieso?«

»Ich habe Sie nicht kritisiert.«

»Gut. Was ist unfair an der Frage?«

»Sie fragen einen nachgeordneten Mitarbeiter, wie er Ihren Führungsstil findet. Ich kann nur das Verhältnis zwischen uns beurteilen und nicht Ihre Tätigkeit als Leiterin des Dezernates.«

»Sie meinen, es bringt Sie in eine peinliche Situation?«

»Ich meine, ich kann es nicht beurteilen.«

Sie sah ihn wieder schweigend an. »Wir verhaken uns in Wortklaubereien. Meine Aussage ist: Ich möchte gern ein offenes Wort zwischen uns, wann immer es notwendig ist.«

»Ich neige dazu.«

»Ich auch. Gibt es ein Problem zwischen uns, Herr Sternenberg?«

»Nein. Für mich nicht.«

»Es klingt nicht überzeugt.«

Sternenberg dachte an die Aspirin-Tablette. »Frau Rixdorf, das Einzige, was das Klima seit einiger Zeit belastet, ist die Sache mit Walter und Rebecca. Die Versetzung. Die Kollegen hallen das nicht verstanden. Und ich auch nicht.«

Sie verzog keine Miene. »Ich verstehe. Die Entscheidung bezüglich Herrn Schmidt und Frau Wagner steht nicht zur Disposition. Ich werde mich dazu nicht äußern. Ist das alles?«

»Ja.«

»Dann lassen Sie uns zu Ihrer Arbeit kommen. Glauben Sie, dass Sie sich mit einem neuen Fall uneingeschränkt beschäftigen können?«

»Ja, ich wüsste nicht ...«

»Ich will Ihnen sagen, was ich meine. Ich habe Bedenken. Bedenken, die Ihren Einsatz betreffen. Ich habe bisher keinen Grund, an Ihren Fähigkeiten zu zweifeln.«

Sie ließ den Satz für einen Moment nachwirken. »Allerdings befürchte ich, dass Sie sich zu sehr mit anderen Dingen befassen.«

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Ihre Tätigkeit bei der Telefonseelsorge. Das machen Sie doch noch?«

»Ja. Aber in meiner Freizeit.«

»Es ist eine Nebentätigkeit.«

»Eine genehmigte.

»Eine genehmigte Nebentätigkeit, Herr Sternenberg. Sie arbeiten da auf Honorarbasis, ist das richtig?»

»Ja, das ist richtig. Auch im zulässigen Bereich.«

»Wir reden nicht darüber, ob Sie ein Dienstvergehen begangen haben, Herr Sternenberg. Ich bin mir sicher, dass Sie alle erforderlichen Unterschriften dafür haben. Ich kann Ihnen nur nicht sagen, ob ich auch meine Unterschrift künftig geben werde.«

Jetzt schwieg er und sah sie an.

Dann sagte sie: »Ich werde es nicht akzeptieren, wenn meine Mitarbeiter sich durch ihre Freizeitaktivitäten so weit ablenken lassen, dass sie nicht die volle Leistung bei der Ermittlung bringen.«

Er spürte die Wut heranrollen. »Dann hätte man mich suspendieren müssen, als ich meine Töchter großgezogen habe.«

Zu seiner Überraschung lachte sie. »Wir reden hier vom Vermeidbaren, Herr Hauptkommissar.«

»Ich arbeite seit Jahren bei der Telefonseelsorge. Ich bin deswegen nie auch nur für eine Stunde im Dienst ausgefallen. Vielmehr habe ich mir in meiner Freizeit Kenntnisse und Fähigkeiten angeeignet, die für die Polizeiarbeit brauchbar sind.«

»Synergieeffekte meinen Sie?«

»Fähigkeiten, die mir die Akademie nicht vermittelt hat. Und meine Leistungen sind dadurch nicht schlechter, sondern besser geworden.«

»Heute Morgen sind Sie um 11 Uhr ins Büro gekommen ...«

»Das ist so vereinbart. Die Zeit wird nachgearbeitet. Meist bummle ich damit Überstunden ab.«

»Hören Sie auf, sich zu verteidigen. Das ist nicht notwendig. Sie bekommen von mir keinen Orden für ihre Sozialarbeit, aber ich will Ihnen auch keine Steine in den Weg legen. Ich will nur eines: Klären Sie für sich, ob Sie hier Spitzenleistung bringen, wenn Sie gleichzeitig am Telefon alles geben. Ich will Ihnen eine neue Aufgabe übertragen, und dafür werden Sie Ihre Kräfte brauchen.«

Er fühlte sich müde.

»Was ist das für eine Aufgabe?«

»Sie sind müde. Gehen Sie nach Hause, und schlafen Sie sich aus. Dann sage ich es Ihnen.«

»Ich bin am besten, wenn ich müde bin.«

Beate Rixdorf lehnte sich langsam in ihrem Sessel zurück und grinste. »Wie schnell ich Sie dazu kriege, nach Blut zu lecken, Kollege Sternenberg!«

Eine Viertelstunde später saß er mit den anderen in Sesseln rund um einen zu hohen Couchtisch.

»Wollt ihr nicht mal einen neuen besorgen?«

»Kai, wir haben anderes zu tun«, sagte Petra Masalia.

Wolfgang Lichtenberg, der Dienstälteste, stöhnte und erhob seine leise Stimme: »Der Tisch ist völlig in Ordnung. Die Sessel sind zu tief.«

Die Tischkante war genau in seiner Augenhöhe.

Petra hätte Wolfgang Lichtenberg beim Lachen beinahe die Hand aufs Knie gelegt, schreckte aber vor Bügelfalte und Alter zurück. »Wolf, wir schaffen diese scheußliche Sitzgruppe ab und legen uns eine richtige Bar zu. Das gefüllt dir bestimmt.«

Kai Sternenberg beugte sich vor. »Jetzt mal zur Sache.«

Wolfgang sah sofort zu ihm herüber.

Petra warf sich im Sessel zurück und presste die Lippen zusammen, um Konzentration zu demonstrieren.

Tarek und Isabel umklammerten ihre Schreibblöcke.

Jano Dodorovic ging durchs Zimmer. Er nahm einen Stapel Kopierpapier aus dem Regal, versuchte es leise auszuwickeln und hüpfte, sich seiner Rolle als Störenfried belastend bewusst, durch die Haupttür hinaus. Dabei wäre er beinahe mit dem Abteilungsleiter zusammengestoßen. Der trat mit zwei Schritten hinter Sternenberg und hielt ihm eine Mappe vors Gesicht: »Das wollten Sie ausfüllen, glaube ich?«

Sternenberg nickte, nahm die Mappe und legte sie nach oben auf den Tisch.

Der Abteilungsleiter musterte die Runde für einen Augenblick und ging.

Zwei Polizeianwärterinnen zogen ein Fax in die Länge wie ein Laken nach dem Waschen. Sie diskutierten über Faxgeräte mit modernem Papiereinzug.

Einer der Techniker kam mit einer Waffe in der Hand in den Raum und fragte die Runde um den Couchtisch, wem der »Refolwer« gehöre. Der habe auf dem Klo gelegen.

Sternenberg stand auf. »Ich hätte gern wieder einen richtigen Sitzungsraum. Dieses Durchgangszimmer ist absolut ungeeignet.«

Wolfgang Lichtenberg schloss die Augen.

Petra kicherte. »Nach dem Umzug haben wir kein Zimmer mehr, das dafür geeignet wäre, Kai.«

Sternenberg raffte sein Papier zusammen. »Wir gehen vors Haus. Da steht 'ne Parkbank. Kommt schon.«

Wolfgang Lichtenberg begann mit dem Oberkörper zu schaukeln, um Schwung zu holen. Petra zögerte einen Moment, ob sie ihm helfen sollte, ließ es aber.

Die Bank war ein Überbleibsel bürgerlicher Spendenfreudigkeit. Sattes Schöneberger Grün, aber lange nicht lackiert. Die Platanen standen zu weit entfernt, so war die Bank der Mittagssonne ausgesetzt. Vier aus dem Team setzten sich. Petra zog eine Plastikmülltonne von der Hauswand heran und hüpfte rittlings auf sie. Sie strahlte übers ganze Gesicht.

»Es wird schwierig«, sagte Kai Sternenberg. »Wir müssen so vorsichtig vorgehen wie noch nie.«

Eine alte Frau in beigefarbenem Trenchcoat stöckelte vorbei und würdigte sie keines Blicks. Als sie weitergegangen war, fuhr Sternenberg fort: »Wir haben einen Wohnungsbrand im Prenzlauer Berg. Und einen Toten.«

»Anselm Jarczynski«, sagte Tarek.

Überrascht war niemand, Tarek hatte seit jeher seine Quellen.

»Anselm?«, fragte Petra. »Was ist denn das für ein Name?«

»Er ist gegen 3 Uhr heute Nacht verbrannt«, sagte Sternenberg. »Das Problem ist, wir haben keine Leiche.«

»Wieso?«, fragte Isabel.

»Die anderen haben sie.«

»Die anderen? Traube?«

»Richtig. Traube ist seit heute Morgen mit seinen Leuten vor Ort. Die Leiche haben sie schon weggebracht.«