Der seltsame Sieg - Dietmar Süß - E-Book

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Dietmar Süß

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Beschreibung

Im Frühjahr 2021 war es einsam um Olaf Scholz, den Kanzlerkandidaten der SPD. Er selbst schien chancenlos, seine Partei im Niedergang. Ein halbes Jahr später saß er im Kanzleramt und Sozialdemokraten besetzten die drei höchsten Ämter des Staates. Wie konnte das passieren? Der Zeithistoriker Dietmar Süß erzählt, wie die SPD vom Auslaufmodell zum Wahlsieger wurde, und fragt, was dieses Comeback für die Zukunft der Partei und der Bundesrepublik insgesamt bedeutet. Dabei zeigt sich, auf welch tönernen Füßen der Erfolg bei der Bundestagswahl 2021 steht und wie groß die Herausforderungen für die politische Linke insgesamt sind. In ganz Europa hatten sozialdemokratische Parteien in den letzten Jahren mit sinkendem Wählerzuspruch zu kämpfen, Deutschland machte da keine Ausnahme. Noch Anfang 2021 galt die SPD als Auslaufmodell. Haben sich die strukturellen Probleme der Partei nun in Luft aufgelöst? Dietmar Süß erzählt die unglaubliche Geschichte des sozialdemokratischen Wahlsieges und bettet sie ein in die jüngste Geschichte der SPD und der Bundesrepublik. Dabei zeigt sich, dass Olaf Scholz und die SPD zwar vieles richtig machten, es aber letztlich die Schwäche der Gegner war, die sie ins Kanzleramt führte. Die Macht vermag strukturelle Verschiebungen zu überdecken, das war bei der CDU ebenso der Fall wie nun bei der SPD. Aber das Parteiensystem der Bundesrepublik hat sich, wie so vieles andere auch, nachhaltig verändert. In der Geschichte, die dieses Buch erzählt, spiegeln sich daher auch die vielfältigen und widersprüchlichen Verschiebungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

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Dietmar Süß

DER SELTSAME SIEG

Das Comeback der SPD und was es für Deutschland bedeutet

C.H.Beck

Zum Buch

Im Frühjahr 2021 war es einsam um Olaf Scholz, den Kanzlerkandidaten der SPD. Er selbst schien chancenlos, seine Partei im Niedergang. Ein halbes Jahr später saß er im Kanzleramt und Sozialdemokraten besetzten die drei höchsten Ämter des Staates. Wie konnte das passieren? In ganz Europa hatten sozialdemokratische Parteien in den letzten Jahren mit sinkendem Wählerzuspruch zu kämpfen, Deutschland machte da keine Ausnahme. Haben sich die strukturellen Probleme der Partei nun in Luft aufgelöst? Der Zeithistoriker Dietmar Süß erzählt die unglaubliche Geschichte des sozialdemokratischen Wahlsieges und bettet sie ein in die jüngste Geschichte der SPD und der Bundesrepublik. Dabei zeigt sich, auf welch tönernen Füßen der Erfolg bei der Bundestagswahl 2021 steht und wie groß die Herausforderungen für die politische Linke insgesamt sind. Olaf Scholz und die SPD machten zwar vieles richtig, es war aber letztlich die Schwäche der Gegner, die sie ins Kanzleramt führte. Die Macht vermag strukturelle Verschiebungen zu überdecken, das war bei der CDU ebenso wie nun bei der SPD. Aber das Parteiensystem der Bundesrepublik hat sich, wie so vieles andere auch, nachhaltig verändert. In der Geschichte, die dieses Buch erzählt, spiegeln sich daher auch die vielfältigen und widersprüchlichen Verschiebungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

Über den Autor

DIETMAR SÜSS ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: «Die deutsche Gesellschaft im Dritten Reich» (2017).

Inhalt

1. Einleitung

2. Der Wahlabend: Von ungewohnten Glücksmomenten, Krisen und gelungenen Kampagnen

Berliner Runde

Krise und Erfolg der Volksparteien

3. Über Herzkammern, Diasporaregionen und neue Einsamkeit – oder: Wer wählt heute wieder (noch) SPD?

Verlorenes Milieu

Ost und West

4. Auf den Kandidaten kommt es (auch) an: Von Willy Brandt bis Olaf Scholz

Kanzlerkandidaten

Junge Jahre eines Kandidaten

Der Generalsekretär

Der Kandidat

5. Wählen, streiten, plakatieren: Die Sozialdemokratie als Mitgliederpartei

Sehnsuchtsort Demokratie

Lernende Partei

Selbstkritik und Fehleranalyse

6. Der Wert von Werten: Die Suche nach Respekt und Solidarität

Kritik der Leistungsgesellschaft

Über alte und neue Grundwerte

Sprachen der Solidarität

7. «Endlich vorbei der Scheiß»: Sozialdemokratie, Sozialstaat und das Erbe der Agenda-Politik

Erinnerungsort Agenda 2010

Politik der «Neuen Mitte»

Sozialdemokratie in Europa

8. Fortschrittskoalitionen – ein ungelöstes Dilemma

Neuer Fortschritt

Die ökologische Frage

Fortschritt und «Dritter Weg»

9. Russland, die SPD und der Westen

Selenskyj und der Wahlkampf

Das Erbe der Ostpolitik

Sozialdemokratische Außenpolitik

Zeitenwenden

10. Die Sozialdemokratie in der Spätmoderne – eine Bilanz

Strukturelle Probleme

Demokratisierung der Demokratie

Anhang

Dank

Anmerkungen

1. Einleitung

2. Der Wahlabend: Von ungewohnten Glücksmomenten, Krisen und gelungenen Kampagnen

3. Über Herzkammern, Diasporaregionen und neue Einsamkeit – oder: Wer wählt heute wieder (noch) SPD?

4. Auf den Kandidaten kommt es (auch) an: Von Willy Brandt bis Olaf Scholz

5. Wählen, streiten, plakatieren: Die Sozialdemokratie als Mitgliederpartei

6. Der Wert von Werten: Die Suche nach Respekt und Solidarität

7. «Endlich vorbei der Scheiß»: Sozialdemokratie, Sozialstaat und das Erbe der Agenda-Politik

8. Fortschrittskoalitionen – ein ungelöstes Dilemma

9. Russland, die SPD und der Westen

10. Die Sozialdemokratie in der Spätmoderne – eine Bilanz

Auswahlbibliografie

Personenregister

1. Einleitung

Dass ein Krieg bevorstand, ahnte an diesem Mittwoch im Dezember 2021 wohl kaum jemand. Der Bundestag war bis auf den letzten Platz gefüllt. Und als Olaf Scholz, der vierte sozialdemokratische Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik, ans Rednerpult ging, um die erste Regierungserklärung einer Ampel-Koalition zu verlesen, da lag tatsächlich so etwas wie Aufbruchstimmung in der Luft. Sicher, nicht so wie 1969 unter Willy Brandt, und von einem neuen «Projekt» wie 1998, als Gerhard Schröder und Joschka Fischer auf die erste rot-grüne Bundesregierung anstießen, sprach auch niemand. Aber selbst ohne diesen Zauber war doch zumindest das Erstaunen groß über diesen seltsamen Sieg der SPD, der Olaf Scholz zum neuen Regierungschef gemacht hatte. Ein Sieg, den viele, auch die überzeugtesten Genossinnen und Genossen, für unmöglich gehalten hatten. Mit seiner Zuversicht war Olaf Scholz jedenfalls im Wahlkampf lange Zeit ziemlich allein gewesen.

Seine Regierungserklärung an diesem 15. Dezember 2021 wird vermutlich nicht in die Geschichtsbücher eingehen.[1] Die Rede war spröde, wenig leidenschaftlich. Kein «Wums» und keine «Bazooka», dafür manche gedrechselte Sprachfigur, die eine Ahnung von den schmerzhaften Kompromissen vermittelte, die für das Zustandekommen dieser Koalition nötig gewesen waren. Dass es solch eine «Fortschrittskoalition», wie sich die Ampel selbst nannte, überhaupt gab, war vielleicht schon das eigentliche, kleine politische Wunder; und noch viel wundersamer war, dass an ihrer Spitze ein Sozialdemokrat stand. Noch im Frühsommer schien das kaum denkbar. Die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg waren krachend verloren gegangen, nur Rheinland-Pfalz hatte mit der populären Ministerpräsidentin Malu Dreyer etwas Hoffnung gegeben. Und selbst am Wahlabend rechnete ein politischer Kommentator bei Maybrit Illner noch fest mit «Jamaika».[2]

Die neue Regierung war nur wenige Wochen im Amt, da bestimmten schon nicht mehr die Folgen der Corona-Pandemie und die Debatten über die Impfpflicht die politische Agenda, sondern die russische Aggression und der Krieg gegen die Ukraine. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich das politische Koordinatensystem der Außen- und Sicherheitspolitik radikal verändert. Nun sprachen sich ein sozialdemokratischer Bundeskanzler und eine grüne Außenministerin für Waffenlieferungen und militärische Aufrüstung aus, für harte Sanktionen und den Bruch mit den entspannungspolitischen Traditionen der deutschen Russlandpolitik seit der Ära Brandt. Für die Sozialdemokratie waren das Einschnitte, wie sie tiefer kaum gehen konnten. Gerade hatte man sich noch schütteln müssen, um zu realisieren, dass man die Republik tatsächlich wieder regierte. Dann ging es schon ans Eingemachte.

Vieles kam in diesem verrückten Jahr 2021 zusammen: das Ende der Ära Merkel, die personelle und intellektuelle Auszehrung der Union, der Streit der Schwesterparteien CDU und CSU, die Flutkatastrophe – und eine Sozialdemokratie, die ihre eigentlich nur geringe Chance durch einen professionellen und disziplinierten Wahlkampf nutzte und von so manchem Missgeschick der Konkurrenz profitierte. All das erklärt das Zustandekommen der Kanzlerschaft von Olaf Scholz allerdings nur unzureichend. Natürlich: Es gab dieses Momentum und einen Kandidaten, der mit erstaunlicher Robustheit das Erbe der Ära Merkel für sich reklamierte. Doch sosehr die Euphorie des Wahlsieges manchen schon von einer neuen sozialdemokratischen Ära träumen ließ, sosehr sind die Bilder des Wahlabends aus dem Willy-Brandt-Haus auch trügerisch: Denn den Wahlsieg verdankte die Partei allen voran der Altersgruppe der über 60-Jährigen, und vielerorts hatte die Sozialdemokratie das Nachsehen, insbesondere in ihren alten urbanen Hochburgen. Das war alles nicht so schlimm, wie lange von den Umfragen vorhergesehen. Aber viele der strukturellen Probleme waren keineswegs über Nacht verschwunden. Sie waren lediglich durch das deplorable Abschneiden der CDU übertüncht worden. Mit 25,7 Prozent hatte die SPD das gleiche Wahlergebnis wie 2013 erzielt. Deutlich mehr als unter Martin Schulz, aber doch auch weit entfernt von den Ergebnissen Gerhard Schröders.

Insofern dürfte den Nüchternen unter den SPD-Wahlstrategen bewusst sein, dass der «Genosse» Trend schon lange kein eingefleischter Sozialdemokrat mehr ist. Sie wissen gleichwohl auch: Die SPD totzusagen ist über die Jahre ein publizistischer Breitensport geworden, und ebenso sehr gehört es dazu, auf ihr historisches Erbe und ihre Wandlungsfähigkeit zu verweisen. Sieben Leben hat sie dann sicher, die Sozialdemokratie.[3] Aber vielleicht ist das gar nicht das eigentlich Besondere an einer Geschichte der Sozialdemokratie. Wer über dieses außerordentliche Jahr 2021 nachdenkt, wird bald merken, dass sich in den Problemen der SPD viel grundsätzlichere Fragen der Geschichte der Bundesrepublik, ja moderner europäischer Gesellschaften überhaupt spiegeln: die Veränderungen des Parteiensystems, die schwindende Integrationskraft der großen Volksparteien, die gesellschaftlichen Kämpfe um Anerkennung und Partizipation, die Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Bewegungen, der wirtschaftliche Strukturwandel mit seinen sozialen Kosten sowie das Verhältnis von Ökonomie und Ökologie. Anders gesagt: Worauf die Sozialdemokratie zu antworten versucht, betrifft den Kern moderner, postindustrieller Gesellschaften, ihren Umgang mit Ressourcen, ihre Vorstellungen von Arbeit, Leistung und Bildung sowie – mit unerwarteter Härte und Aktualität – das Verhältnis zu Krieg und Frieden. Vielfach geht der Konflikt um die großen Themen der Zeit mitten durch die Parteien, und oft genug war es die Sozialdemokratie, die diese Widersprüche und Ambivalenzen kapitalistischer Gesellschaften auszugleichen und auszuhalten versuchte. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.

Was überhaupt soll das künftig sein: das «Soziale» in den europäischen Sozialdemokratien? Welche Vorstellungen von Gerechtigkeit bestimmen ihre Politik? Was macht ihr Selbstverständnis als alte «Arbeiterparteien» aus? Wer wählt sie, wen haben sie verloren? Und was bedeutet das eigentlich: soziale Demokratie? Mitbestimmung, gesellschaftliche Partizipation – Themen, mit denen die Sozialdemokratie angetreten war, die alte Adenauer-Republik zu liberalisieren, haben viel von ihrem emanzipativen Klang verloren. «Mehr Demokratie wagen» krähen inzwischen selbst rechtspopulistische Schreihälse und machen damit deutlich, wie umkämpft die Demokratie als Institution und Lebensform inzwischen selbst geworden ist.

Manche der älteren europäischen Linksparteien haben diesen Transformationsprozess seit den 1990er Jahren nicht überlebt oder sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Das gilt besonders für den einst so stolzen französischen Parti Socialiste. Aber Ähnliches wird man auch über Italien oder die Niederlande sagen können. Auch die mächtigen skandinavischen Sozialdemokratien haben ihre hegemoniale Position eingebüßt oder, wie in Dänemark, ihren Charakter deutlich geändert. Dieses kleine Buch zur Bundestagswahl 2021 bietet keine chronologische Erzählung, welche die einzelnen Tage und Wochen des Wahlkampfes Revue passieren lässt.[4] Aber es ist das Wahljahr, das den Rahmen absteckt und dessen Verlauf den Anlass dafür gibt, über die Tiefenschichten der sozialdemokratischen Welt nachzudenken. Die Geschichte der Sozialdemokratie ist eingebettet in einen viel grundlegenderen Veränderungsprozess, den wir seit den 1970er Jahren beobachten können. Begriffe dafür gibt es verschiedene: die Epoche «nach dem Boom»[5], postfordistische Gesellschaft, Ära des Neoliberalismus und der «Beschleunigung», Spätmoderne. Sie alle bezeichnen aus verschiedenen Blickwinkeln den Formenwandel der alten Industriegesellschaften, die ökologische und soziale Frage, die Anfechtungen wohlfahrtsstaatlicher Ordnung und die Neujustierung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Ein wichtiges Ergebnis, das vor allem die sozialdemokratische Seele betraf: die zunehmende Verlagerung staatlicher Aufgaben und Pflichten auf die Bürgerinnen und Bürger, die durch «Aktivierung» selbst dazu befähigt werden sollen, ihre Probleme zu lösen. Das ist das, was Stephan Lessenich die «Neuerfindung des Sozialen»[6] genannt hat, womit er nicht nur auf die Motive rot-grüner Arbeitsmarkt- und Rentenreformen, sondern auf das gesamte wohlfahrtsstaatliche Arrangement der Bundesrepublik zielte: auf die Mobilisierung von «Humankapital», die Förderung individueller Ressourcen, die nur richtig fit gemacht werden müssten, um auf dem Markt bestehen zu können. Der aktivierende Sozialstaat war in dieser Lesart nicht mehr primär eine Versicherung gegen die Unwägbarkeiten des Lebens und ein gewisser Ausgleich für dessen ungleiche Startbedingungen, sondern ein Instrument, Menschen zu erfolgreichen, leistungsfähigen Marktteilnehmern zu machen. Das bedeutete eben keineswegs zwingend einen Abbau sozialstaatlicher Institutionen, wohl aber ein neues Verständnis davon, wie sehr das Individuum selbst Verantwortung, ja auch Schuld an seiner womöglich defizitären Lage trage.

Die Sozialdemokratie war dabei alles drei zugleich: Katalysator, Wegbereiter und auch Bremser eines Transformationsprozesses, der nicht viel übriggelassen hat von der klassischen Industriearbeit in den alten Kohle- und Stahlindustrien, die so wichtig war für den wirtschaftlichen Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg. Zugleich ist der neuen «Dienstleistungsgesellschaft» keineswegs die Arbeit ausgegangen. Sie hat vielerorts prekäre Arbeitsbedingungen geschaffen, während zugleich die Einkommensspreizung und die Vermögensanhäufung besonders wohlhabender Privathaushalte kontinuierlich gewachsen sind. Lange Zeit prägte die Sozialdemokratie der 1960er und 1970er Jahre die Idee des sozialen Aufstieges, eine Geschichte der Bildungsexpansion, an deren Ende die Kinder aus den Arbeiterhaushalten die Blaumänner der Väter gegen neue Anzüge des Büroalltages tauschten. Von diesem Versprechen ist in der Bundesrepublik der Pisa- und Bologna-Welt nicht sehr viel geblieben. Als sozialdemokratische Großerzählung taugt diese Geschichte des zweiten Bildungsweges schon lange nicht mehr, so groß die Sehnsucht nach einem neuen identitätsstiftenden Leitmotiv auch ist. Im Wahlkampf spielte sie auch keine Rolle. Dagegen spürten viele, auch innerhalb der Sozialdemokratie, dass alte, vermeintlich überwundene Konflikte zurückgekehrt und neue hinzugekommen waren.

Noch traut sich kaum jemand, das Wort «Klassenkonflikte» in den Mund zu nehmen, so wie es selbst inzwischen wieder vorsichtige Beobachter unserer Gegenwart tun und auf die vielfältigen Abstiegs- und weniger werdenden Aufstiegsbewegungen verweisen.[7] Die Konflikte, die aus der Bekämpfung steigender Energiepreise entstehen werden, liefern darauf einen bitteren Vorgeschmack. Und was künftig «Fortschritt» angesichts des globalen Klimawandels überhaupt bedeuten kann, gehört zu den nach wie vor drängenden, wenngleich unbeantworteten Fragen, nicht nur, aber doch auch der Sozialdemokratie.

Die meisten politischen Beobachter konnten dem Wahljahr kaum etwas Interessantes abringen, sieht man einmal vom Klatsch und Tratsch der Unionsschwestern ab. Langweilig sei der Wahlkampf gewesen, die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten mal farblos, mal unbeholfen, überschätzt oder inhaltsleer. Vordergründig mag das stimmen. Aber wer dieses seltsame Jahr mit Blick auf die SPD Revue passieren lässt, wird doch merken, wie sich die Bundesrepublik seit den 1990er Jahren verändert hat – und wie sehr sich diese widersprüchlichen Verschiebungen politischer Prioritäten, diese Konflikte über Werte und Ideen, über Deutungen der Wirklichkeit und ganz reale Machtverhältnisse allen voran in der ältesten deutschen Partei, der SPD, niedergeschlagen haben. Davon will dieses Buch erzählen.

2. Der Wahlabend: Von ungewohnten Glücksmomenten, Krisen und gelungenen Kampagnen

Am Morgen danach blickt Olaf Scholz vergnügt in die Runde. Er habe gut geschlafen, gibt er zu Protokoll. Nach dem Aufstehen habe er noch mal auf sein Handy geschaut und sich vergewissert, dass alles so geblieben sei, seit er ins Bett gegangen war.[1] Die SPD und er persönlich hatten es also tatsächlich geschafft. Noch saßen sie nicht im Kanzleramt. Aber angesichts der deplorablen Stimmung nur wenige Monate zuvor war das Ergebnis eine Sensation. Als Scholz am Wahlabend, nachdem er den Applaus seiner siegestrunkenen Genossinnen und Genossen entgegengenommen hatte, in der «Berliner Runde» Platz nahm, sah die Sache schon gut aus, entschieden war sie aber noch nicht.

Die SPD lag vor der Union, aber einige Hochrechnungen sahen noch die Möglichkeit, dass die CDU/CSU am Ende durch Überhangmandate zur stärksten Fraktion werden könnte. Früher nannte man dieses Gespräch mit den Parteivorsitzenden und Spitzenkandidaten «Elefantenrunde» – ein Etikett, das mancher der Herren wohl als Auszeichnung empfand, weil hier die großen Männer ihre Sicht der Weltlage zum Besten gaben. Wie gefährlich Endorphine sein können, musste Gerhard Schröder erleben, als er in der legendären Sendung von 2005 alle Hemmungen fallen ließ, sich durch die Runde rüpelte und erklärte: Angela Merkel solle erstmal besser «die Kirche im Dorf lassen». Nur er, der Kanzler, habe – trotz offenkundiger Verluste – einen Regierungsauftrag. Viel mussten die anderen damals gar nicht mehr sagen, auch nicht Angela Merkel, deren Ergebnis keineswegs so strahlend war, wie sie selbst gehofft hatte. Schröder hatte das Momentum und die Wahl verloren, und der Abend endete in einem medialen Fiasko.

Solch einen Fehler beging Scholz nicht. Er wiederholte stattdessen die etwas gestelzten Versatzstücke seiner Wahlkampfreden – mit einer Veränderung: Er erinnerte an die erfolgreichen Jahre der ersten sozial-liberalen Koalition unter den SPD-Säulenheiligen Willy Brandt und Helmut Schmidt, deren Strahlkraft mit zeitlicher Distanz über die Parteigrenzen hinausgewachsen war. Und Scholz vergaß auch die Ära der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder nicht, dem er einst als SPD-Generalsekretär treu gedient hatte. Daran, so seine Hoffnung, werde die neue Regierung aus SPD, Grünen und FDP anknüpfen. Scholz machte sich schon auf Brautschau. Sicher war eine solche Ampelkoalition nicht, zumal schon die ersten Gerüchte die Runde machten, dass sich Grüne und FDP erst einmal ohne die beiden Großen treffen wollten – als Machtdemonstration und als Versuch, jene atmosphärischen Störungen zu überwinden, die noch 2017 «Jamaika» verhindert und die Große Koalition zum Weitermachen gezwungen hatten.

Berliner Runde

Von «Jamaika» dürfte an diesem Abend des 26. September auch Armin Laschet noch geträumt haben. Als er im Konrad-Adenauer-Haus vor die Kameras trat, klammerte sich der Kanzlerkandidat an die Idee einer «Zukunftskoalition» und zeigte sich erleichtert, dass eine linke Regierung, eine rot-rot-grüne Koalition, verhindert worden war. Laschets Wahlsonntag endete so vermurkst wie sein gesamter Wahlkampf: In den sozialen Medien kursierten schon im Laufe des Tages die Bilder seines Wahlzettels, der nicht ordentlich gefaltet und damit einsehbar gewesen war; nach seinem Gelächter mitten in der Flutkatastrophe wieder ein Bild, das einen ungeschickt agierenden Kandidaten zeigte, einen, der es nicht einmal schaffte, seine Stimme richtig abzugeben. In der Berliner Runde gab er sich dann zumindest noch ein wenig kämpferisch. Aufgeben wollte er an diesem Abend noch nicht, obwohl das historisch schlechteste Wahlergebnis einer dramatischen Niederlage für die Union gleichkam; eine Niederlage in allen Landesteilen, mit schmerzhaften Verlusten gerade auch im Osten Deutschlands.

Armin Laschet klammerte sich noch an den einen dürren Strohhalm. Schließlich sei es ja möglich, auch als zweitstärkste Partei den Kanzler zu stellen – eine Idee, die die CSU zuvor öffentlich verworfen und nun doch wieder ins Spiel gebracht hatte. Markus Söder begann seinen Kommentar naturgemäß nicht etwa mit dem Eingeständnis der Niederlage oder gar eigener Fehler, sondern mit dem Verweis, heute sei «Rot-Rot-Grün» abgewählt worden. Das war noch ganz die Wahlkampfmelodie der «Rote-Socken-Kampagne», die die Union auf den letzten Metern neu aufgelegt hatte. Die Runde passte in ihrer eigenwilligen Behäbigkeit so gar nicht zur Dramatik des Tages, an dessen Ende die Sozialdemokratie als Sieger durchs Ziel ging. 780.000 Stimmen hatte die SPD schließlich Vorsprung vor der Union. Im Willy-Brandt-Haus hatten schon mit der Prognose die Sektkorken geknallt, und als nach und nach auch noch die Ergebnisse über die Direktmandate einliefen, war klar: Diesen Abend würde die Partei nicht so schnell vergessen. Kevin Kühnert saß seit dem Nachmittag in seinem Juso-Büro, hatte sich bereits über die vorab gemeldeten Prognosen gefreut und schaute jetzt immer wieder gebannt auf die langsam eintrudelnden Meldungen aus seinem Direktwahlkreis Berlin-Tempelhof. Statt Wasser und Kaffee wie am Nachmittag gab es jetzt Bier. Vor der SPD-Zentrale, wo sich die feiernden Anhänger versammelt hatten, traf er dann Hubertus Heil, berichtete kurz über den Erfolg im Wahlkreis und fiel ihm um den Hals: «Was ist denn das für ein schöner Abend», seufzte er und begann dann bereits – vor laufenden Kameras – mit der halb-öffentlichen historischen Rückschau auf die überraschende Wendung dieses Wahlkampfes.

Kühnerts Direktmandat und der Einzug einer angeblich wilden Horde von mehreren Dutzend Jungsozialistinnen und Jungsozialisten erregte an diesem Abend bereits die Gemüter manch konservativer Kommentatoren: Von «Sperrminorität» war da die Rede, von einem künftigen Kanzler Scholz, den die frechen Jusos mit ihrem noch frecheren Kühnert an die Leine nehmen könnten. Kurz blitzte es da noch einmal auf: Das Schreckgespenst der «roten Socken», der radikalen Jugend, die sich nun ihren Platz in der Fraktion erstreiten und dem Kanzler das Leben schwer machen würde. Wer indes in die Reihen derer blickte, die dort über die Listen und über manches Direktmandat in den Bundestag gezogen waren und gerade in irgendeiner Kneipe der Republik den Moment feierten, der konnte zwar einen Haufen junger Leute erkennen, die sich gleich am Montagfrüh aus Trier, Leipzig oder Hannover Richtung Berlin aufmachten. Aber es brauchte schon viel Fantasie, um sich diese 49 Frauen und Männer als die Nachfahren Rudi Dutschkes und Che Guevaras vorzustellen.

Für die Sozialdemokratie bedeutete dieser Wahlabend durchaus eine Art Frischzellenkur, eine Verjüngung des politischen Personals, die für eine Partei, die so stark von Baby-Boomern und den über 60-Jährigen getragen wurde, dringend nötig war. Die Grünen waren hier schon längst ein paar Schritte weiter, und selbst wenn die Kandidatur von Annalena Baerbock am Ende nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte, war unverkennbar, wie sehr hier eine neue Politikerinnengeneration das Heft in die Hand genommen hatte, die die Partei auf absehbare Zeit prägen wird und viele, gerade jüngere Frauen anspricht.

Mit den neuen Hochrechnungen gingen auch die ersten Hinweise auf die Motive der Wählerinnen und Wähler ein, auf Zustimmungswerte der Kandidatinnen und Kandidaten und auf Wählerwanderungen. Das Problem der Union hatte einen Namen: Armin Laschet. Seine Kompetenzwerte waren – zumal für einen CDU-Ministerpräsidenten – katastrophal. Zugleich war es erstaunlich, wie sehr sich der vielen als ebenso stocknüchtern wie kompetent geltende Hanseat Olaf Scholz aus dem Umfragetief des Sommers hatte befreien können und nun auch von jenen Medien anerkennend bestaunt wurde, die eine Wiederbelebung der Sozialdemokratie zuvor für aussichtslos gehalten hatten. Manch Kommentator leistete da in den Tagen und Wochen danach genauso intensiv Abbitte, wie er während des Wahlkampfes den Niedergang der Sozialdemokratie beschworen hatte.[2]

Der Kandidat Laschet kam in allen Umfragen auf deprimierende Werte: bei der Frage der Glaubwürdigkeit ebenso wie bei den Sympathiewerten und besonders drastisch beim Thema «Sachverstand». Dort lag er 30 Prozentpunkte hinter Olaf Scholz. Nicht dass der SPD-Kandidat Scholz als eine Art Lichtgestalt wahrgenommen worden wäre; einen «Scholz-Zug» hatte es während des Wahlkampfes wahrlich nicht gegeben. Aber Armin Laschet hatte es seinem Kontrahenten doch ausgesprochen leicht gemacht.

Die SPD konnte ihr bitteres Wahlergebnis von 2017 durch starke Zugewinne bei ehemaligen Unionswählern, aber auch durch Wählerwanderung von der Linken deutlich verbessern. Von der Union kamen netto rund 1,5 Millionen neuer Stimmen hinzu, von der Linken immerhin 640.000. Auch 520.000 Nichtwähler vermochte die SPD zu mobilisieren, büßte aber wieder einmal Wähler an die Grünen ein; insgesamt 260.000.[3] Gewonnen hatte die SPD die Wahl bei den über 60-Jährigen – in dieser großen Altersgruppe holte sie 35 Prozent der Stimmen und lag damit im Unterschied zu früheren Wahlen sogar noch vor der Union (34 Prozent); zehn Prozentpunkte hatten die Sozialdemokraten hier gutmachen können; ein deutlicher Hinweis darauf, dass ihre Kampagne zum Thema Rente und soziale Sicherheit erfolgreich gewesen war. Für die Union war das ein besonders schmerzhafter Einbruch, waren die älteren Wählerinnen und Wähler doch seit den Zeiten Konrad Adenauers stets eine besonders zuverlässige Stütze ihrer Macht gewesen.

Dass nur 310.000 Erstwähler der SPD ihre Stimme gegeben hatten und ihr Anteil bei den 18- bis 29-Jährigen lediglich 17 Prozent betrug – und deutlich hinter den Grünen und sogar hinter der FDP lag, dürfte bei den siegreichen Jusos für den einen oder anderen Dämpfer gesorgt haben. Vielfach hatten dann also eher Oma und Opa die jungen Genossinnen und Genossen gewählt als gleichaltrige Freunde und Kollegen. Was Scholz und den damaligen Generalsekretär Klingbeil indes besonders gefreut haben dürfte: Es war der SPD gelungen, in zahlreichen zentralen Themenfeldern zu punkten und überhaupt wieder sichtbar zu werden. Das galt besonders für das Thema «soziale Gerechtigkeit», den eigentlichen Markenkern der SPD. 41 Prozent sahen hier die SPD vorne, nur 15 Prozent verbanden das Thema mit der Union. Deutlich vorne lag die SPD auch beim Thema Schule und Bildung, wobei keines der Themen im Wahlkampf eine besondere Rolle gespielt hatte. Einen deutlichen Kompetenzvorsprung vor der Union gab es bei Themen wie Steuern oder Rentenversicherung, und selbst beim Thema «Wirtschaft» lag die Union nur fünf Punkte vor der SPD. Dass beide großen Parteien beim Thema «Zukunft» beinahe gleichauf lagen und der Anteil derjenigen, die keiner der Parteien in diesem Feld etwas zutrauten, deutlich größer war, lässt ahnen, dass das Vertrauen in die politische Steuerungskraft der beiden Regierungsparteien zuletzt nicht besonders groß gewesen sein dürfte.

Der Blick in die Berliner Runde war auch deshalb aufschlussreich, weil sich hier – beinahe unbemerkt – die tiefergehenden Verschiebungen des deutschen Parteiensystems manifestierten. Zunächst: Wer saß dort überhaupt? Über viele Jahrzehnte waren die Rollen klar verteilt: die großen Volksparteien, die um die Gunst der Kleinen warben. Nun hatten in der «Berliner Runde» gleich sieben Parteivorsitzende bzw. Spitzenkandidatinnen und -kandidaten Platz genommen: neben SPD, CDU, CSU die Grünen mit Annalena Baerbock, die selbst Kanzlerkandidatin ihrer Partei gewesen war; Christian Lindner für die FDP, Susanne Hennig-Wellsow für die Linke und schließlich Alice Weidel für die AfD. Die Studiogröße und die Zahl der Stühle war mit den Jahren, seit sich dieses Format in der jungen – damals noch Bonner – Fernsehdemokratie etabliert hatte, beständig gewachsen. Bei den ersten Duellen hatte oft noch Franz Josef Strauß für die besonderen Momente gesorgt, wenn er mal wieder Journalisten anraunzte. Für die Spitzenkandidaten der beiden großen Volksparteien war die Runde eine wichtige Bühne mit Millionenpublikum. Dass an diesem Abend die Machtverhältnisse neu gemischt und die einmal so Großen nun gar nicht mehr so groß waren und warten mussten, bis sich die kleineren untereinander verständigt hatten – das war alles andere als business as usual.

Für Olaf Scholz schien das kein größeres Problem zu sein. Jedenfalls ließ er nicht erkennen, dass er davon besonders genervt war. Solche Runden waren in der Vergangenheit für gescheiterte sozialdemokratische Kanzlerkandidaten wie für Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und Martin Schulz besonders quälend gewesen, mussten sie jedes Mal von Neuem ihre eigene Niederlage und die ihrer Partei erklären und öffentlich ergründen, warum die Sozialdemokratie nicht einmal mehr beim Thema «Gerechtigkeit» punkten oder sich immerhin der Zustimmung der Arbeiterschaft sicher sein konnte.

Für die SPD hatte es in der Vergangenheit schon viele schmerzhafte Niederlagen gegeben, und so oft wie ihr der Untergang prognostiziert worden war, hatte sie schon selbst langsam damit begonnen, kleinere Brötchen zu backen. Nun aber leckte auch die Union ihre Wunden. Der knappe Vorsprung der SPD und der tiefe Fall der CDU machten eines besonders deutlich an diesem Abend: Die großen Volksparteien waren nur mehr ein Schatten ihrer selbst, verglichen mit den großen Zeiten zwischen den 1960er und 1980er Jahren. So knapp beide auch beisammen lagen, war eines doch klar: So wenig Zustimmung hatten die beiden großen Integrationskräfte der Bundesrepublik noch nie erhalten. Dieser Trend war bei Bundestagswahlen schon länger zu beobachten gewesen, und doch markierten die Wahlen 2021 hier einen vorläufigen Tiefpunkt.

1949 hatten es aufgrund des Wahlrechts, das etwa eine Fünf-Prozent-Klausel nur auf Länderebene kannte, insgesamt elf Parteien in den ersten deutschen Bundestag geschafft, darunter neben der KPD auch Parteien wie die nationalkonservative, wenn nicht rechtsradikale Deutsche Partei. In den 1960er Jahren bildete sich jenes Parteiensystem heraus, das lange Zeit als «Normalfall» galt. Ein parlamentarisches System, getragen von vier Parteien: CDU/CSU, SPD und FDP, die zwischen 1961 und 1983 in wechselnden Koalitionen regierten und über erhebliche Mobilisierungskraft verfügten. Zum Vergleich: 1972 und 1976 konnten diese vier Parteien mehr als 99 Prozent der Zweitstimmen für sich verbuchen – ein starker Hinweis auf die enorme Integrationsfähigkeit des bundesrepublikanischen Parteiensystems. Diese Blütezeit politischer Mobilisierung war aber, das gerät schnell in Vergessenheit, eher eine kurze, wenngleich prägende Phase der Parteiengeschichte, die schon im Laufe der 1980er Jahre durch den Einzug der Grünen in den Bundestag und später dann durch die Wiedervereinigung massive Veränderungen erlebte. Neben den Grünen und der Linkspartei hat inzwischen auch die AfD im parlamentarischen System Fuß gefasst und bestätigt damit einen europaweiten Trend: den Erfolg rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien und damit eine Pluralisierung und Polarisierung des Parteiensystems. Schon in den 1980er Jahren hatten in der Bonner Republik zumindest in einigen Bundesländern vergleichbare Parteien wie die «Republikaner» oder die DVU kurzfristig Erfolg; mit der AfD hat sich diese Entwicklung – zumal in Ostdeutschland – forciert. Dabei war es nicht «der Osten», der am Ende einen solchen Abschmelzungsprozess der Bindekräfte beider Volksparteien einleitete, auch wenn man die Probleme gerne dorthin abschiebt. Eher lassen sich im Wählerverhalten zwischen Schwerin und Dresden Entwicklungen beobachten, die sich bereits – wenn auch noch sehr vorsichtig – schon vor 1990 im Westen angekündigt hatten.

Krise und Erfolg der Volksparteien

Das alles haben politische Beobachter schon länger als große Krise der «Volksparteien» beschrieben[4] – in deren Folge die politische Farbenlehre bunter und Koalitionen weniger erwartbar und volatiler geworden sind. Dreierbündnisse sind auf Länderebene keine Seltenheit mehr. Manche der Neugründungen hatten allerdings nur ein vergleichsweise kurzes Leben wie die «Piratenpartei», die nach fulminantem Start rasch wieder an Bedeutung verlor.

Die Ursachen für die veränderte Anziehungskraft der vormals Großen sind vielfältig, und sie kommen in diesem Buch auch noch ausführlicher zur Sprache: Von ihren alten Milieukernen ist wenig übriggeblieben, das gilt für die «klassischen» sozialdemokratischen Stammwähler ebenso wie für die durch den Anker der Konfession an die Union gebundenen Wählerschichten. Die Union ist von einer Entwicklung eingeholt worden, die sie im Windschatten der Kanzlerschaft von Angela Merkel kaum wahrhaben wollte: dass die Kirchen zwar noch immer ein politischer Faktor, aber schon lange nur noch für einen schwindenden Teil der Gesellschaft ein lebensweltlicher Zusammenhang sind und angesichts ihrer erschütternden inneren Krisen erheblich an moralischer Anziehungskraft eingebüßt haben. Da hilft es also nicht viel, wenn die Union christliche Wähler immer noch in einem höheren Maße binden kann. Denn starke katholische und evangelische Milieus gibt es nur noch als Erinnerungsgemeinschaften. Vor allem für die jüngere Generation katholisch und evangelisch geprägter Christinnen und Christen ist es alles andere als selbstverständlich die Union zu wählen. Stattdessen machen immer mehr von ihnen ihr Kreuz bei den Grünen. Die Sozialdemokratie weiß schon lange um diese stillen, wenngleich strukturell grundlegenden gesellschaftlichen Verschiebungen, die durch den frühen Rausch der Ära Schröder nur überdeckt worden sind.

Für die Regierungsfähigkeit des parlamentarischen Systems muss das alles überhaupt kein Nachteil sein. Und auch das konnte man in der «Berliner Runde» erleben: dass nämlich ein erweitertes Parteiensystem nicht notgedrungen «Krise» oder «Untergang» bedeutet, sondern auch ganz neue demokratische Bündnismöglichkeiten eröffnet, die den veränderten gesellschaftlichen Entwicklungen durchaus Rechnung tragen können. Bisweilen sind es auch die Begriffe selbst, unter denen die Parteien, die großen zumal, erheblich leiden und von denen sie sich nur schwer befreien können. Schwer wiegt der Anspruch, «Volkspartei» sein zu müssen. Wer davon in der Bundesrepublik spricht, der markiert damit in der Gegenwart zumeist auch immer einen historischen Sehnsuchtsort: die «gute Zeit» des Parlamentarismus, in der die beiden großen Parteien links und rechts der Mitte, unterstützt durch die Liberalen, die zerklüftete Nachkriegsgesellschaft und damit auch unterschiedliche Extreme zu integrieren vermochten. Historiker, gerade solche, die der Partei nahestehen, haben den Erfolg der Sozialdemokratie nach 1945 gerne in eine große Lern- und Entwicklungsgeschichte eingepasst und sie unter die Überschrift: «Von der Klassen- zur Volkspartei» gestellt.[5] Damit einher ging der Abschied von ihrer marxistischen Prägung und eine soziale und weltanschauliche Öffnung, die mit dem Godesberger Programm von 1959 verbunden war.