Der Siegeszug des modernen Selbst - Carl Trueman - E-Book

Der Siegeszug des modernen Selbst E-Book

Carl Trueman

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Beschreibung

Die moderne Kultur wird zunehmend von Fragen und Antworten rund um die sexuelle Identität beeinflusst – ob im öffentlichen Diskurs oder bei kulturellen Trends. Jedes gesellschaftliche Phänomen hat seine historischen Wurzeln. Von Augustinus, über Rousseau bis hin zu Marx oder Freud sind unterschiedliche Auffassungen des Selbst vorgestellt worden. Im 20. Jahrhundert wurden diese Konzepte des Selbst nicht nur psychologisiert und eng mit der Sexualität verschränkt, sondern unter dem Einfluss von Leuten wie Reich, Marcuse und anderen ebenfalls zu einer politischen Angelegenheit gemacht. Der Historiker Carl Trueman untersucht in seinem Buch Der Siegeszug des modernen Selbst die Sichtweisen auf das »Selbst«, die schlussendlich zur sexuellen Revolution beigetragen haben und seitdem tief in unsere Alltagskultur eingeschrieben sind. Er greift dabei auf Analysen des Philosophen Charles Taylor, des Soziologe Philip Rieff und des Ethikers Alasdair MacIntyre zurück. Trueman gibt einen äußerst hilfreichen Überblick über die Vergangenheit, bringt Klarheit in die Gegenwart und vermittelt Orientierungs- und Argumentationshilfen im Blick auf die Zukunft. Für Christen, die sich in der Kultur einer sich ständig verändernden Suche nach Identität bewegen und bewähren müssen, ist das ein wichtiges Werk.

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»Carl Trueman, Professor für Bibel- und Religionswissenschaft am Grove City College, analysiert unsere westliche Kultur unter der Fragestellung: ›Was macht eigentlich den Menschen aus?‹ Die ›Identitätsfrage‹ durchzieht nach Trueman die neuere Geistesgeschichte vom Individualismus bis hin zur Genderdebatte und der LGBTQ+-Bewegung. Die ›sexuelle Revolution‹ begann schon mit der Infragestellung unseres ›Selbst‹ durch Rousseau, dann folgten Marx, Darwin, Shelley, Nietzsche, Freud und zuletzt die ›Neuen Linken‹. Weil wir Gott verloren haben, haben wir auch uns selbst verloren, so Trueman. Die Sexualisierung unserer Gesellschaft und die Suche nach Authentizität sind dabei Ausdruck einer kollektiven Verunsicherung des Menschen, der auf der Suche nach seinem echten Wesenskern ist. Diese geniale Gegenwartsanalyse bleibt nicht beim Lamentieren stehen, sondern zeigt auf, wie unglaublich wichtig der christliche Glaube und unsere Identität in Gott in der modernen Zeit sind. Summa: Eine sehr spannende, tiefgründige und hochaktuelle Lektüre. Absolut empfehlenswert!«

PROF. DR. STEPHAN HOLTHAUS

Rektor der Freien Theologischen Hochschule in Gießen

»Das Buch ist eine Augenöffnung – somit ein großer Dienst in verwirrten Zeiten. Es stellt sich der großen Aufgabe, vom Faktenwissen zum Orientierungswissen überzuleiten. Sofern heute Vernunft vielfach dehumanisiert wird, wird sie hier wieder in ihre Aufgabe eingesetzt: den Geist wahrheitsfähig zu machen.«

PROF. DR. HANNA-BARBARA GERL-FALKOVITZ

Professorin em. für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaft am Institut für Philosophie der Technischen Universität Dresden

»Der Siegeszug des modernen Selbst ist vielleicht die bedeutendste Analyse und Bewertung der westlichen Kultur, die in den letzten fünfzig Jahren von einem Protestanten geschrieben wurde. Wenn Sie die sozialen, kulturellen und politischen Umwälzungen, die wir derzeit erleben, verstehen wollen, kaufen Sie dieses Buch und lesen Sie es so gründlich wie möglich. Außerordentlich empfehlenswert.«

PROF. DR. BRUCE RILEY ASHFORD

Professor für Theologie und Kultur,Southeastern Baptist Theological Seminary (USA)

»Dies ist ein bezeichnend brillantes Buch von Carl Trueman. Es wird der Kirche helfen zu verstehen, warum Menschen glauben, dass sexuelle Unterschiede eine Frage der psychologischen Entscheidung sind.«

ROSARIA BUTTERFIELD

ehemalige Professorin für Englisch und Autorin des Buches Offene Türen öffnen Herzen (CV, 2021)

»Carl Trueman hat ein augenöffnendes Buch über die Bewusstseinslage eines Maß und Mitte verlierenden Individualismus vorgelegt. Er klärt schonungslos auf und zeigt, wie dieser Individualismus sich selbst abschafft. Die globale sexuelle Revolution hat tiefe Hintergründe: Hier werden sie souverän ausgeleuchtet und entschlüsselt. Wer wissen will, was in unserer Zeit vorgeht und wie sich proklamierte Freiheiten in ihr Gegenteil verkehren, muss dieses Buch lesen. Gerade Orientierung suchenden evangelikalen Lesern und Leserinnen wird das Buch Argumente und neue Klarheit geben. Ein Must-have!«

PROF. DR. HARALD SEUBERT

Professor und Fachbereichsleiter für Philosophie und Religionswissenschaft an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel (Schweiz)

»Dies ist ein erstaunliches Werk. Mit einer Mischung aus sozialem Kommentar, aufschlussreicher Ideengeschichte sowie scharfsinnigen philosophischen und theologischen Analysen hat Carl Trueman uns die zweifellos zugänglichste und sachkundigste Darstellung des modernen Selbst und der Art und Weise, wie es die kulturellen Kämpfe des ersten Viertels des einundzwanzigsten Jahrhunderts geprägt und beeinflusst hat, vorgelegt. Es ist eine ausgewogene, sorgfältig ausgearbeitete Diagnose dessen, woran unsere Zeit leidet. Dieses Buch ist eine unverzichtbare Lektüre für alle ernsthaft religiösen Gläubigen, die zu Recht spüren, dass sich der Boden unter ihren Füßen verschiebt, dass die Missionare des modernen Selbst sich nicht damit begnügen, die Gläubigen ihren Glauben in Frieden praktizieren zu lassen, sondern diese und ihre Institutionen als Zielscheibe für Kolonisierung und unfreiwillige Assimilation betrachten. Aus diesem Grund sollte jeder Rektor einer theologischen Hochschule oder Universität Der Siegeszug des modernen Selbst mehr als einmal lesen.«

PROF. DR. FRANCIS J. BECKWITH

Professor für Philosophie und Staatskirchenkunde sowie stellvertretender Direktor des Graduiertenprogramms für Philosophie, Baylor University (USA)

DER SIEGESZUG DES MODERNEN SELBST

KULTURELLE AMNESIE, EXPRESSIVER INDIVIDUALISMUS UND DER WEG ZUR SEXUELLEN REVOLUTION

CARL R. TRUEMAN

IMPRESSUM

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Titel des englischen Originals

The Rise and Triumph of the Modern Self: Cultural Amnesia, Expressive Individualism and the Road to Sexual Revolution

© 2020 by Carl R. Trueman

This edition published by arrangement with Crossway.

All rights reserved.

Wenn nicht anders angegeben, wurde folgende Bibelübersetzung verwendet:

Lutherbibel, revidiert 2017,

© 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

© 2022 Verbum Medien gGmbH,

Bad Oeynhausen

verbum-medien.de

[email protected]

Übersetzung

Frauke Bielefeldt

Lektorat

Ron Kubsch

Buchgestaltung und Satz

Annika Felder

E-Book

Zeilenwert GmbH

2., korr. Auflage

Best.-Nr. 8652 022

ISBN 978-3-98665-022-3

E-Book 978-3-98665-023-0

DOI: 10.54291/r334426674

Sollten Sie Fehler in diesem Buch entdecken, würden wir uns über einen kurzen Hinweis an [email protected] freuen.

FÜR MATT UND GWEN FRANCK

SOWIE FRAN UND SUANN MAIER

»NICHTS AUF DIESER WELT IST HÖHER ZU PREISEN ALS WAHRE FREUNDSCHAFT.«

THOMAS VON AQUIN

INHALTSVERZEICHNIS

Titel

Impressum

Geleitwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort von Rod Dreher

Vorwort

EINLEITUNG

TEIL 1: DIE ARCHITEKTUR DER REVOLUTION

1 Neue Vorstellungen vom Selbst

2 Unsere Kultur neu denken

TEIL 2: DIE GRUNDLAGEN DER REVOLUTION

3 Der andere Genfer

4 Unerkannte Gesetzgeber

5 Die Geburt des plastischen Menschen

Epilog: Gedanken zu den Grundlagen der Revolution

TEIL 3: DIE SEXUALISIERUNG DER REVOLUTION

6 Sigmund Freud, Zivilisation und Sex

7 Die Neue Linke und die Politisierung von Sex

Epilog: Gedanken zur Sexualisierung der Revolution

TEIL 4: DIE SIEGE DER REVOLUTION

8 Der Siegeszug des Erotischen

9 Der Siegeszug des Therapeutischen

10 Der Siegeszug des »T«

Epilog: Gedanken zum Siegeszug der Revolution

Unwissenschaftlicher Prolog zum Ausgang

Glossar

Register

Über den Autor

GELEITWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

»Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen … und noch erhält«, erklärte Martin Luther 1529 in seinem Kleinen Katechismus.1 Für den Reformator war es eine Selbstverständlichkeit, dass jeder Mensch seinem Schöpfer und Erhalter gehört und diesem lebendigen Gott Dank, Lob, Dienst und Gehorsam schuldet. Der deutsche Theologe Wilhelm Lütgert sprach 1934 noch von einem »Kreaturgefühl«, das allen Menschen mit ihrer Gottebenbildlichkeit eingeschrieben sei. Der Mensch wisse darum, dass er sich nicht selbst geschaffen hat, und frage nach dem Woher und Wohin.2

Im 21. Jahrhundert wollen die meisten Menschen im Westen so ein Selbstverständnis weder nachempfinden noch mittragen. Carl Trueman zeigt in seinem Buch Der Siegeszug des modernen Selbst, dass wir in einer »entschöpflichten« (engl. decreated) und »entsakralisierten« (engl. desacralized) Welt leben. Mit Rückgriff auf Untersuchungen von Charles Taylor, Philip Rieff und Alasdair McIntyre zeichnet er kenntnisreich die Entwicklung nach, die zum »modernen Selbst« geführt hat. Die Fragen, die er stellt, sind von Gewicht und aktuell: Warum haben wir jenen metaphysischen Rückbezug verloren, der der menschlichen Identität und Moral über Jahrhunderte hinweg den nötigen Rückhalt gegeben hat, um Festigkeit und Bedeutung zu entwickeln? Wie ist es dazu gekommen, dass die stabile menschliche Natur sich verflüssigt hat und nun mehr und mehr verdampft? Woher stammt das Konzept eines Selbst, dass sich vor allem als psychologische und modellierbare Größe begreift? Woran liegt es, dass Sexualität – ja eigentlich eine zutiefst persönliche Angelegenheit – heute ein bemerkenswert öffentliches und machtpolitisches Thema geworden ist? Warum erscheint der Transgenderismus so vielen Leuten plausibel und unterstützenswert?

Der Historiker Carl Trueman geht in seiner Untersuchung zum »modernen Selbst« diesen Fragen und den zugrundeliegenden geistesgeschichtlichen Entwicklungen in einer Weise nach, die erkennen lässt, dass er verstehen möchte, was geschehen ist. Der Versuchung, vorschnelle oder polemische Kommentare und Antworten zu geben, widersteht er erfolgreich und liefert somit insbesondere christlichen Lesern einen nüchternen und zugleich erhellenden Beitrag zur Standortbestimmung. Die Kirchen brauchen dringend »ein tieferes und ganzheitlicheres Verständnis der modernen und postmodernen Gesamtlage«. Die spätmoderne Denkweise ist nämlich das Wasser, »in dem wir schwimmen, die Luft, die wir atmen«, wie Rod Dreher in seinem Vorwort schreibt. Wir können uns dem Einfluss dieser Kultur nicht nur nicht entziehen – allzu oft sind wir geneigte Teilhaber und Produzenten ihrer Lebensart.

Wenn wir das Wesen der sexuellen Revolution, die uns seit Jahrzehnten begleitet, tiefgründiger verstehen möchten, müssen wir uns mit ihren Kernursachen vertraut machen. Sie ist nach Trueman Ausdruck einer größeren Revolution des Selbst. Wer das nicht realisiert, wird die Debatten rund um die Ansprüche der LGBTQ+-Bewegung nur oberflächlich erfassen und ist der Wucht dieser kulturellen Umwälzungen, die wir derzeit durchlaufen und die uns noch bevorstehen, nicht gewachsen. Wir sind also herausgefordert, tiefer zu graben. Das ist nicht immer einfach, hilft uns aber dabei, in dieser hochkomplexen Kultur im Glauben zu leben. Wir können so auch lernen, der Welt die Botschaft des christlichen Glaubens auf eine Weise zu bezeugen, die deutlicher werden lässt, dass wir unseren Schöpfer und Erlöser und seine Geschöpfe lieben.

Noch einige technische Hinweise zu dieser Ausgabe: Hin und wieder haben wir dem Text erläuternde Fußnoten beigefügt. Damit ist die Fußnotenzählung der englischsprachigen Ausgabe durchbrochen. Wir glauben, dass die Vorteile überwiegen, da wir Begriffe und Sachverhalte erläutern, die sich dem Leser in Europa nicht sofort erschließen. Außerdem haben wir dem Buch ein Glossar hinzugefügt. Fremdwörter und Fachausdrücke, die wiederkehrend auftauchen, findet der Leser dort knapp erläutert. Wo möglich, haben wir bei Zitaten auf die deutschen Originalwerke (z. B. Marx, Nietzsche, Freud) oder wertige Übersetzungen (z. B. Rousseau, MacIntyre, Taylor) zurückgegriffen. Auf die Nennung der englischsprachigen Quellen haben wir in diesen Fällen verzichtet. Anmerkungen der Übersetzerin sind durchgängig mit »Anm. d. Ü.« gekennzeichnet. Meine Bemerkungen habe ich mit »Anm. d. Lekt.« markiert.

Als Verlag sind wir mit der Verwirklichung dieses umfangreichen Buchprojektes ein Wagnis eingegangen. Möglich war das nur, da wir durch einige Institutionen und Freunde ermutigt oder sogar unterstützt worden sind. Wir danken Evangelium21 für die organisatorische und ideelle Rückendeckung. Als Generalsekretär des Netzwerks durfte ich meine Arbeitszeit jederzeit flexibel gestalten, sodass ich mich dem Lektorat mit hinlänglicher Konzentration zuwenden konnte. Die Zusammenarbeit mit dem Verlag Crossway hat uns erneut große Freude bereitet. Wir bedanken uns bei Frauke Bielefeldt für ihre Übersetzungsarbeit und bei jenen fleißigen Lesern, die während der Korrekturphase mitgeholfen haben, allen voran Dorothea Kubsch, Daniel Singer, Karl-Peter Karzelek, Kurt Vetterli und Florian Gostner. Rüdiger Stein sind wir für seinen großzügigen Druckkostenzuschuss zu großem Dank verpflichtet. Außerdem sind wir Carl Trueman dafür verbunden, dass er uns beim Lektorat trotz zweifelsohne wichtigerer Verpflichtungen geholfen hat. Schlussendlich möchte ich mich bei meinen Kollegen im Verlag dafür bedanken, dass sie diese Veröffentlichung mit Leidenschaft, Geduld und Kompetenz gefördert haben.

Viele Gelehrte, die das neue Selbstverständnis des Menschen angestoßen, begründet oder entfaltet haben, waren im deutschen Sprachraum beheimatet – denken wir an Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Wilhelm Reich oder Herbert Marcuse. Carl Trueman hilft uns, sie und ihren Einfluss auf die gesamte westliche Kultur besser zu verstehen und zu werten. Es ist unser Wunsch, dass diese Ausgabe nun viele deutschsprachige Leser darin unterstützt, die unübersichtliche Welt, in der sie leben, besser zu begreifen, um auf die intellektuellen, kulturellen und geistlichen Umbrüche angemessen reagieren zu können.

RON KUBSCH München, Mai 2022

1 Martin Luther, Kleiner Katechismus, II, 2, in: BSLK, 1992, S. 510–511, sprachlich leicht modernisiert.

2 Vgl. Wilhelm Lütgert, Schöpfung und Offenbarung: Eine Theologie des ersten Artikels, 2. Aufl., Gießen u. Basel: Brunnen Verlag, 1984, S. 53–95, bes. S. 70–76.

VORWORT VON ROD DREHER

In seiner Rede zum Templeton-Preis 1983 erklärte Alexander Solschenizyn die Schrecken des sowjetischen Kommunismus mit den Worten: »Die Menschen haben Gott vergessen; deshalb ist das alles passiert.«1

Diese Aussage gilt auch für die aktuellen Krisen in der westlichen Welt. Der weitverbreitete Glaubensverlust, der Zerfall der Familie, der Verlust des Gemeinschaftssinns, die Erotomanie, die Auflösung der Geschlechtergrenzen und ein allgemeiner Geist dämonischer Zerstörung, der die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens leugnet, gehören dazu. Weil die Menschen Gott vergessen haben, haben sie auch den Menschen vergessen; deswegen ist all dies geschehen.

Wir müssen uns gründlicher damit auseinandersetzen. Inwiefern haben die Menschen Gott vergessen? Wenn wir die Krankheit diagnostizieren und eine Impfung entwickeln oder gar Heilung bringen wollen, müssen wir verstehen, wie und warum sie Gott vergessen haben. Leider scheint der Blick der meisten Christen nicht durch die Oberfläche der Postmoderne hindurchzudringen. Viele betrachten den Zusammenbruch als eine rein moralische Sache. So, als ob sich das Ruder durch massive Wiederbelebung christlicher Lehre und ethischer Strenge herumreißen ließe.

Ein dreifaches Hoch auf die entschiedene Wiederbelebung christlicher Lehre und Ethik! Das allein reicht jedoch nicht. Ganz normale Christen brauchen dringend ein tieferes und ganzheitlicheres Verständnis der modernen und postmodernen Gesamtlage. Sie ist nämlich das Wasser, in dem wir schwimmen, die Luft, die wir atmen. Wir können ihr nicht entkommen, aber wir können herausfinden, wie wir in ihr und durch sie leben können, ohne unseren Glauben zu verlieren. Jede vorgeschlagene christliche Lösung für die Krise der Moderne, die sich nicht mit den Kernursachen des großen Vergessens beschäftigt, wird scheitern.

Einige säkulare Denker haben Analysen angestellt, die für die Kirche in dieser nachchristlichen Ära so etwas wie ein Geschenk sind, das noch gar nicht richtig gewürdigt worden ist. Der verstorbene Soziologe und Kritiker Philip Rieff (1922–2006) war ein agnostischer Jude, der außergewöhnlich scharfsinnig die Psychologisierung der Moderne erfasste und zeigte, wie sie in der sexuellen Revolution zur Giftspritze unserer Religion und damit unserer Zivilisation geworden ist. Seine Prosa ist allerdings nicht leicht zu lesen. Als ich vor ein paar Jahren an meinem Buch Die Benedikt-Option2 arbeitete, fragte ich meinen Freund Carl Trueman, der meine Einschätzung der Bedeutung Rieffs teilt und ein Denker und Autor von beeindruckender Klarheit ist, ob er ein Buch über Rieff schreiben könnte. Es sollte Laien erklären, wie wir seine Einsichten zu unserer Verteidigung gebrauchen können.

Dieses Buch halten Sie nun in Ihren Händen. Es ist viel mehr daraus geworden als ein Laienhandbuch über Philip Rieff. Der Siegeszug des modernen Selbst ist ein unverzichtbarer Wegweiser für die Frage, wie und warum Menschen Gott vergessen haben. Truemans Meisterwerk analysiert die Wurzeln der Krise in den Schriften von Männern wie Jean-Jacques Rousseau, Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud (man könnte sagen: die »üblichen Verdächtigen«). Doch er bezieht auch Personen wie die englischen Dichter des 19. Jahrhunderts ein, die den Eliten beigebracht haben, wie man radikal anders denkt und fühlt.

Im Buch wird erklärt, warum der Transgenderismus nicht einfach ein schrulliger Ableger der Identitätspolitik ist. Vielmehr ist er ein ultimativer Ausdruck des modernen Geistes. So kann der Leser am Ende des Buches verstehen, warum das Trans-Phänomen von Zeitgenossen so bereitwillig akzeptiert wurde. Es wird auch begreiflich, warum sich die Kirche diesem Phänomen und der sexuellen Revolution, zu dem es gehört, nur so zaghaft und wirkungslos entgegengestellt hat.

Truemans Buch ist keine konservative christliche Standardpolemik gegen die Moderne. Davon gibt es schon genug. Es ist auch keine pietistische Aufforderung zu Gebet, Bibellesen und einfachem Leben. Auch davon gibt es reichlich. Das Buch liefert stattdessen eine anspruchsvolle kulturgeschichtliche Untersuchung und Analyse. Geschrieben von einem brillanten Dozenten, der nicht nur gläubiger Christ ist, sondern auch ein Hirte, der die wirklichen Bedürfnisse seiner Herde versteht. Anders als so viele Intellektuelle kann er traumhaft elegant schreiben. Ich kann nicht genug betonen, wie praktisch dieses Buch ist und wie hilfreich es für Geistliche und intellektuell angehauchte Christen aller Konfessionen sein wird.

Viele christliche Bücher wollen der modernen Welt die Kirche erklären. Auf diesen Seiten erklärt Carl Trueman der Kirche die Moderne – und zwar mit Tiefe, Klarheit und Kraft. Die Bedeutung von Der Siegeszug des modernen Selbst kann, obwohl es spät erscheint, kaum überschätzt werden. In seiner Rede zum Templeton-Preis 1983 sagte Solschenizyn auch:

»Die heutige Welt hat einen Zustand erreicht, der in früheren Jahrhunderten den Ausruf hervorgerufen hätte: ›Das ist die Apokalypse!‹ Doch wir haben uns an diese Art von Welt gewöhnt; wir fühlen uns sogar in ihr zu Hause.«3

Ja, auch die Christen fühlen sich in dieser Welt zu Hause. Carl Truemans prophetische Aufgabe ist es, der Kirche von heute aufzuzeigen, wie es dazu gekommen ist. So können wir immerhin jetzt noch umkehren und Wege dafür finden, das wahre Licht des Glaubens in dieser Finsternis, die es nicht begreift, leuchten zu lassen.

1 Alexander Solzhenitsyn, »›Men Have Forgotten God‹: Aleksandr Solzhenitsyn’s 1983 Templeton Address«, National Review vom 11.12.2018, URL: https://www.nationalreview.com/2018/12/aleksandr-solzhenitsyn-men-have-forgotten-god-speech (Stand: 11.02.2022).

2 Rod Dreher, Die Benedikt-Option: Eine Strategie für Christen in einer nachchristlichen Gesellschaft, übers. v. Tobias Klein, Kißlegg: fe-Medienverlag, 2018.

3 Alexander Solschenizyn, »›Men Have Forgotten God‹: Aleksandr Solzhenitsyn’s 1983 Templeton Address«, National Review, 11.12.2018.

VORWORT

Jedes Buch, das ich geschrieben habe, steht in der Schuld zahlreicher Menschen. Dies trifft besonders auf dieses zu. Rod Dreher regte in seiner Kolumne in der Zeitung The American Conservative an, dass jemand eine Einführung in das Denken von Philip Rieff schreiben sollte. Justin Taylor vom Verlag Crossway griff dies auf und fragte mich, ob ich bereit dazu wäre. Rods Begeisterung über meine Zusage besiegelte den Deal. Was als Idee für ein bescheidenes Einführungsbuch begann, wurde ein immer anspruchsvolleres Projekt. Ohne Rod und Justin wäre dieses Werk nie entstanden. Es ehrt mich, dass Rod das Vorwort hierzu geschrieben hat.

Dies ist das vierte Buch, das ich bei Crossway veröffentlicht habe. Wieder einmal war es eine wunderbare Erfahrung für mich. Das ganze Team verdient meinen Dank, besonders David Barshinger, Darcy Ryan, Lauren Susanto und Amy Kruis.

Einen Großteil der Recherchen für das Buch habe ich während eines einjährigen Aufenthaltes an der Princeton University 2017/2018 durchgeführt, wo ich der William E. Simon Fellow in Religion and Public Life im James Madison-Programm war. Dies war zweifellos der Höhepunkt meines akademischen Lebens und ich werde den Professoren Robert P. George und Bradford P. Wilson für immer dankbar dafür sein, dass sie mir dieses Privileg gewährt haben. Zu Dank verpflichtet bin ich ebenfalls Debra Parker, Ch’nel Duke, Evelyn Behling und Duanyi Wang, deren harte Arbeit das Jahr so angenehm gemacht hat.

Auch allen Madison-Stipendiaten im Jahrgang 2017/18 bin ich zu Dank verpflichtet. Ich hatte immer das Gefühl, die bei weitem dümmste Person im Raum zu sein, wenn wir dienstags zum Kaffeetrinken bei Robby und Brad zusammensaßen. Aber ich glaube, dass ich am Ende immerhin ein bisschen klüger wieder abgereist bin. Für meinen Erkenntnisprozess war ebenfalls wichtig, dass ich mein drittes Kapitel den Stipendiaten vorstellen durfte. In einem Studienseminar, das von meinem lieben Freund und Kollegen John Wilsey geleitet wurde, konnte ich sogar eine Zusammenfassung des Buches präsentieren.

Zahlreiche Freunde haben einzelne Abschnitte des Buches kritisch begleitet: Während wir beide in Princeton waren, opferte Nathan Pinkoski seine Zeit, um mir zu helfen, Alasdair MacIntyre besser zu verstehen. Zudem las er freundlicherweise den Manuskriptabschnitt zu MacIntyre und kommentierte ihn. Matt Franck und Adeline Allen haben beide großzügig ihre Expertise in Sachen Verfassungsrecht zur Verfügung gestellt. Alle Mängel im Endprodukt liegen selbstverständlich in meiner Verantwortung.

Dankbar bin ich auch Erzbischof Charles Chaput und Fran Maier. Nicht nur für ihre persönliche Freundlichkeit, sondern auch dafür, dass sie mich durch ein Seminar von Carlo Lancelotti in der Erzdiözese Philadelphia mit dem Werk von Augusto Del Noce bekannt gemacht haben.

Einige Ideen in diesem Buch wurden zuerst in Vorträgen und Diskussionen erprobt. Ich bin Patrick Berch, David Hall, Todd Pruitt, Mike Allen, Scott Swain, Scott Redd, Chad Vegas, dem Reformed Theological Seminary, dem Southwestern Baptist Theological Seminary, der Princeton University und dem Grove City College dankbar, dass sie mir die Möglichkeit einräumten, einige meiner Argumente zu prüfen. Aimee Byrd hat mich auf wichtige Literatur aufmerksam gemacht. Rosaria Butterfield gab faszinierende Einblicke in die LGBTQ+-Gemeinschaft.

Ferner danke ich auch Rusty Reno, Matt Schmitz, Julia Yost und Ramona Tausz, dass sie mir die Möglichkeit gegeben haben, mich auf der Internetseite und im Magazin von First Things mit den Themen, die den Kern dieses Buches ausmachen, auseinanderzusetzen. Julia und Ramona gebührt besonderer Dank dafür, dass sie erneut bewiesen haben, dass ein Lektorat meine Ausführungen verbessert. Ryan T. Anderson, Serena Sigilitto und R. J. Snell waren so freundlich, mir zu erlauben, bei Public Discourse zu veröffentlichen. Das ist ein weiteres wunderbares Forum, um Argumente zu verfeinern und Theorien zu entwickeln. Ich danke auch Ryan und Serena für die Erlaubnis, Material über Rieff für das erste und zweite Kapitel wiederzuverwenden, das zuerst in Public Discourse erschienen ist.

Am Ende meines Princeton-Stipendiums hatte ich das große Vergnügen, eine Stelle am Grove City College anzutreten. Ich danke dem Direktor Paul J. McNulty für die Ermutigung zu meiner Arbeit und Paul Kengor, Jeff Trimbath und Robert Rider vom Institute for Faith and Freedom für die Bereitstellung von Studienassistenten. Lorenzo Carrazana hat großartige Arbeit im akademischen Jahr 2018/2019 geleistet. Dann übernahm Kirsten Holmberg und lieferte hervorragendes Feedback sowie wertvolle Korrekturen und Kommentare zu zentralen Kapiteln. Es ist gut, eine studentische Hilfskraft zu haben, die sich nicht scheut, die Arbeit ihres Professors kritisch zu hinterfragen.

Wie immer sorgte Catriona für ein wunderbares häusliches Umfeld und ertrug meine akademischen Tagträumereien weit über die Pflicht hinaus. Gesegnet der Mann, der eine solche Lebenspartnerin hat.

Schließlich widme ich dieses Buch in Dankbarkeit vier lieben Freunden: Matt und Gwen Franck sowie Fran und Suann Maier.

CARL R. TRUEMAN

Grove City College,

Pennsylvania,

USA August 2019

»UND SO SCHLIMM ICH AUCH SEIN MAG; DAS SCHLIMMSTE IST ES NICHT, SOLANGE WIR SAGEN KÖNNEN: ›DAS IST DAS SCHLIMMSTE.‹«

WILLIAM SHAKESPEARE, KING LEAR

EINLEITUNG

WARUM DIESES BUCH?

Die Ursprünge dieses Buches liegen in meiner Neugierde. Ich wollte wissen, wie es sein kann, dass folgende Aussage heute stimmig erscheint: »Ich bin eine Frau, die im Körper eines Mannes gefangen ist.« Mein Großvater starb vor weniger als 30 Jahren, im Jahr 1994. Ich habe wenig Zweifel daran, dass er diesen Satz, wenn er ihm zu Ohren gekommen wäre, als Unsinn abgetan hätte. Heute betrachten viele diese Aussage nicht nur als sinnvoll, sondern als so bedeutsam, dass man als dumm, unmoralisch oder Träger einer irrationalen Phobie dasteht, wenn man sie in irgendeiner Weise hinterfragt oder ablehnt. Dies betrifft nicht nur Studenten, die Hochschulseminare über die Queer-Theorie oder den französischen Poststrukturalismus besucht haben, sondern ganz normale Menschen. Leute, die wenig oder nichts über die kritischen postmodernen Philosophien wissen, deren Verfechter auf den Fluren unserer heiligsten Bildungseinrichtungen wandeln.

Und doch birgt dieser Satz eine Welt voller metaphysischer Annahmen in sich. Er berührt die Verbindung zwischen Geist und Körper, indem er der inneren Überzeugung Vorrang vor der biologischen Realität einräumt. Er trennt soziales Geschlecht (engl. gender) vom biologischen Geschlecht (engl. sex), indem er die gesellschaftlichen Definitionen von Mann und Frau vom Einfluss der Chromosomen entbindet. Durch seine politische Verbundenheit mit Homosexualität und Lesbentum über die LGBTQ+-Bewegung stützt er sich auf Ansichten zu Bürgerrechten und individueller Freiheit. Kurz gesagt: Um vom durchschnittlichen Denken der Welt meines Großvaters in die Welt von heute zu gelangen, waren allerlei gravierende gedankliche Verschiebungen nötig. Die Geschichte der Verschiebungen – oder besser gesagt ihrer Hintergründe – möchte ich in den folgenden Kapiteln darlegen.

Zentraler Punkt des Buches ist folgende Überzeugung: Die sogenannte sexuelle Revolution der letzten sechzig Jahre, die in ihrem jüngsten Triumph, der Normalisierung des Transgenderismus, gipfelte, kann erst dann richtig verstanden werden, wenn man sie im Kontext der umfassenden Veränderungen dessen betrachtet, wie die Gesellschaft den Menschen sieht.1 Die sexuelle Revolution ist sowohl Symptom als auch Ursache für die Kultur, die uns heute überall umgibt, von den Sitcoms bis hin zum Parlament. Kurz gesagt ist die sexuelle Revolution einfach ein Ausdruck der größeren Revolution des »Selbst«, die im Westen stattgefunden hat. Erst wenn wir diesen größeren Kontext erkennen, sind wir in der Lage, die Dynamik der Sexualpolitik, die aktuell unsere Kultur beherrscht, wirklich zu begreifen.

Eine solche Behauptung bedarf nicht nur einer Rechtfertigung – das ist die Aufgabe dieses Buches –, sondern auch einer Klärung der verwendeten Begriffe. Viele Leser werden vermutlich eine gewisse Vorstellung davon haben, was mit sexueller Revolution gemeint ist. Doch worum geht es beim »Selbst« (oder »Ich«, Anm. d. Ü.)? Wir alle haben wahrscheinlich schon einmal von der sexuellen Revolution gehört und verstehen uns auch als »Selbst«, aber was genau meine ich mit diesen Begriffen?

DIE SEXUELLE REVOLUTION

Wenn ich von sexueller Revolution schreibe, beziehe ich mich auf die radikale und andauernde Veränderung sexueller Einstellungen und Verhaltensweisen, die im Westen seit den frühen 1960er-Jahren stattgefunden hat. Verschiedene Faktoren – von der Einführung der Pille bis zur Anonymität des Internets – haben zu diesem Wandel beigetragen.

Die Verhaltensweisen, die die sexuelle Revolution kennzeichnen, sind nicht beispiellos: Homosexualität, Pornographie und Sex außerhalb der Ehe hat es in der Geschichte der Menschheit immer gegeben. Doch die moderne sexuelle Revolution hat diese und andere sexuelle Phänomene zur Normalität erklärt. Nicht das Anschauen sexuell expliziten Materials ist also das Revolutionäre. Revolutionär ist vielmehr, dass der Konsum von Pornographie nicht mehr mit Scham und sozialem Stigma behaftet ist, sondern als normaler Bestandteil der Mainstreamkultur angesehen wird. Diese Revolution hat nicht einfach eine Zunahme der üblichen Überschreitung traditioneller Sexualmoral gebracht oder die Grenzen des Akzeptablen moderat ausgedehnt. Sie schafft solche Regeln völlig ab und fordert in bestimmten Bereichen, wie z. B. der Homosexualität, sogar das Gegenteil. Das Festhalten an den traditionellen Sichtweisen wird als lächerlich oder gar Zeichen eines ernsthaften geistigen oder moralischen Defizits angesehen.

Dies zeigt sich besonders offensichtlich im gewandelten Umgang mit der Sprache, der inzwischen jede Abweichung vom aktuellen politischen Konsens über Sexualität ins Unrecht setzt. Kritik an Homosexualität ist nun Homophobie, die des Transgenderismus Transphobie. Die Verwendung des Begriffs Phobie ist beabsichtigt, um die Kritik an der neuen Sexualkultur in den Bereich des Irrationalen zu rücken und auf eine zugrundeliegende Bigotterie seitens derjenigen hinzuweisen, die solche Ansichten vertreten.

Wie ich im neunten Kapitel hervorheben werde, steht dieses Denken sogar hinter Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs. Auch die Erzeugnisse der Populärkultur machen dies deutlich: Niemandem muss in diesen Tagen gesagt werden, dass ein Film mit dem Titel The 40-Year-Old Virgin (dt. Jungfrau (40), männlich, sucht …) eine Komödie ist. Allein die Vorstellung, dass jemand die Vierzig erreicht und keine Erfahrung mit Geschlechtsverkehr hat, ist an sich komisch, weil die Gesellschaft heutzutage dem Sex einen derlei hohen Stellenwert einräumt. Nicht sexuell aktiv zu sein heißt, als Mensch unvollständig zu sein. Er lebt offensichtlich unerfüllt oder ist irgendwie schräg. Die alte Sexualmoral (Zölibat außerhalb und Treue in der Ehe) wird als lächerlich und unterdrückend angesehen und ihre Befürworter gelten als bösartig oder dumm – oder beides. Die sexuelle Revolution ist wirklich eine Revolution, denn sie hat die moralische Welt auf den Kopf gestellt.

DAS WESEN DES SELBST

Der zweite Begriff, der einer Klärung bedarf, ist der des Selbst. Wir alle haben das Bewusstsein, ein Ich zu haben. Dies hängt im Grunde mit unserem Gefühl der Individualität zusammen. Ich bin mir bewusst, dass ich ich bin und nicht etwa George Clooney oder Donald Trump. In diesem Buch meine ich mit diesem Begriff jedoch mehr als die reine Ebene des Bewusstseins meiner selbst. Es geht auch um eine Vorstellung vom Sinn des Lebens, darum, was ein gutes Leben ausmacht und wie ich mich selbst verstehe in Bezug auf andere und die Welt um mich herum.

In diesem Zusammenhang stehe ich (wie in den folgenden Kapiteln sehr deutlich werden wird) zutiefst in der Schuld der Arbeiten des kanadischen Philosophen Charles Taylor, insbesondere seines Buches Quellen des Selbst: Die Entstehung der neuzeitlichen Identität2. In diesem Werk beleuchtet Taylor drei Punkte in der modernen Entwicklung dessen, was es bedeutet, ein Selbst zu sein. Nämlich: ein Fokus auf die Psyche als entscheidend dafür, für wen wir uns halten, die Bejahung des gewöhnlichen Lebens, die sich in der Moderne entwickelt, und die Vorstellung, dass die Natur uns eine innere moralische Quelle mitgegeben hat.3 Diese Entwicklungen manifestieren sich in vielerlei Hinsicht. Besonders wichtig für meine Argumentation in diesem Buch ist, dass sie dazu führen, dass wir die Frage, wer wir sind und was der Sinn unseres Lebens ist, vorrangig auf der Grundlage der inneren Psychologie des Einzelnen beantworten (wir könnten auch sagen, der »Gefühle« oder »Intuitionen«). Transgenderismus liefert dafür ein gutes Beispiel: Menschen, die sich für eine Frau halten, die in einem männlichen Körper gefangen sind, erheben in Wirklichkeit ihre psychischen Empfindungen zum entscheidenden Maßstab dafür, wer sie sind. In dem Maße, in dem sie vor ihrem »Coming-out« diese innere Realität nach außen hin verleugnet haben, haben sie unauthentisch gelebt. Deshalb taucht in den Aussagen von Transgender-Menschen oft die Formulierung auf, »eine Lüge zu leben«.

Eine andere Art, sich dem Thema des Selbst zu nähern, ist die Frage, was einen Menschen glücklich macht. Findet man sein Glück in der Orientierung nach außen oder nach innen? Liegt zum Beispiel die Zufriedenheit im Job darin, dass ich damit meine Familie ernähren und einkleiden kann? Oder liegt sie darin begründet, dass das, was ich konkret tue, mir ein gutes inneres Gefühl gibt? Meine Antwort darauf spricht eine deutliche Sprache. So wird offengelegt, was ich über den Sinn des Lebens und die Bedeutung von Glück denke – also über mich und mein Selbst.

Kommen wir auf meine frühere Aussage zurück, dass die sexuelle Revolution Ausdruck einer viel tieferen und umfassenderen Revolution dessen ist, was es bedeutet, ein Selbst zu sein. Der Kerngedanke sollte nun klar erkennbar sein: Die Veränderungen, die wir seit den 1960er-Jahren hinsichtlich Inhalt und Bedeutung sexueller Verhaltensregeln erlebt haben, sind symptomatisch für tiefergehende Umwälzungen in unserer Vorstellung vom Sinn des Lebens, der Bedeutung des Glücks und dem Empfinden der Menschen darüber, wer sie sind und wofür sie leben. Die sexuelle Revolution hat sich nicht selbst ausgelöst, ebenso wenig technische Neuerungen wie die Pille oder das Internet. Diese Dinge mögen sie begünstigt haben, aber ihre Ursachen liegen viel tiefer. Sie sind in den Verschiebungen im Denken darüber zu finden, was es bedeutet, ein authentisches, erfülltes menschliches Selbst zu sein. Und diese Entwicklungen reichen viel weiter zurück als bis in die Swinging Sixties.

DIE SEXUELLE REVOLUTION VERSTEHEN

Nachdem ich die grundlegenden Begriffe der Diskussion definiert habe, möchte ich ein paar typische Fehler aufzeigen, die besonders Menschen mit starken religiösen Ansichten unterlaufen können, wenn sie sich einem Thema wie der sexuellen Revolution widmen. Angesichts der umstrittenen Natur solcher Themen und der oft sehr persönlichen Überzeugungen, die sie mit sich bringen, kommt es leicht zu zweierlei Reaktionen: Entweder betont man das universelle, metaphysische Prinzip, dem man verpflichtet ist, so sehr, dass man die Besonderheiten der Situation übersieht. Oder man beschäftigt sich so akribisch mit den Einzelheiten, dass man den größeren Kontext nicht mehr wahrnimmt.

Zur Illustration des ersten Punktes beginne ich meine Geschichtsvorlesungen oft mit der Frage: »Ist die Behauptung, dass die Twin Towers am 11. September 2001 aufgrund der Schwerkraft eingestürzt sind, richtig oder falsch?« Die korrekte Antwort ist natürlich, dass diese Aussage richtig ist. Wie meine Studenten aber schnell merken, sagt diese Antwort nichts über die Bedeutung der tragischen Ereignisse an diesem Tag aus. Um ihnen einigermaßen gerecht zu werden, muss man andere Faktoren ansprechen – von der amerikanischen Außenpolitik bis hin zum Aufstieg des militanten Islam. Was ich damit sagen will: Das universelle Gesetz der Schwerkraft erklärt, warum Dinge allgemein zu Boden fallen, aber es kann über dieses konkrete Ereignis in keiner Weise angemessen aufklären.

Diejenigen, die an den großen Konzepten über das Ganze der Wirklichkeit festhalten, können leicht in diese Richtung neigen. Ein Christ könnte versucht sein, die sexuelle Revolution einfach mit der Sünde zu erklären: Die Menschen sind Sünder; deshalb lehnen sie zwangsläufig Gottes Gebote zur Sexualität ab. Der Marxist könnte die Russische Revolution einfach mit dem Klassenkampf erklären: Reiche Menschen beuten die Armen aus, daher werden sich die Armen unweigerlich auflehnen und eine Revolte starten. Innerhalb der jeweiligen Weltanschauung stimmt die Antwort. Aber in beiden Fällen sind sie zu simpel, um die Besonderheiten der Ereignisse zu erklären. Sie decken etwa nicht auf, warum die sexuelle Revolution bisher Homosexualität legitimiert hat, nicht aber Inzest, oder warum die Arbeiterrevolution in Russland Erfolg hatte, aber in Deutschland nicht. Um diese Fragen zu beantworten, muss man sich mit dem konkreten Kontext befassen.

Dieser Ansatz kann sich auch subtiler und differenzierter bemerkbar machen. Es gibt eine Tendenz unter gesellschaftlich Konservativen, den expressiven Individualismus für die Probleme verantwortlich zu machen, die ihrer Einschätzung nach derzeit die liberale westliche Ordnung belasten. Insbesondere im Chaos der Identitätspolitik. Das Problem an dieser Behauptung ist, dass der expressive Individualismus uns alle betrifft. Er ist das Wesen der Kultur, in der wir leben. Drastisch formuliert: Wir alle sind heute Individualisten, »expressive individuals«. So wie manche sich mit ihrer sexuellen Orientierung identifizieren, so wählt der religiöse Mensch seinen christlichen oder muslimischen Glauben. Das wirft die Frage auf, warum die Gesellschaft einige Wahlmöglichkeiten als legitim und andere als irrelevant oder gar inakzeptabel ansieht. Die Antwort darauf findet man nicht, indem man einfach auf den »expressiven Individualismus« eindrischt, sondern indem man die geschichtliche Entwicklung der Beziehung zwischen Gesellschaft als Ganzes und individueller Identität betrachtet.

Aber es gibt auch das entgegengesetzte Problem, nämlich die Neigung, Symptome isoliert zu behandeln. Dies ist schwieriger zur Sprache zu bringen, aber die Geschwindigkeit, mit der sich die sexuellen Gepflogenheiten in den letzten zwei Jahrzehnten gewandelt haben, liefert ein gutes Beispiel. Viele Christen waren erstaunt darüber, wie schnell sich die Gesellschaft von einer Position Anfang der 2000er, als die Mehrheit der Menschen gegen die gleichgeschlechtliche Ehe war, zu einer Position bewegt hat, in der nun Transgender auf dem Weg ist, mehr oder weniger normal zu werden. Der Denkfehler solcher Christen lag darin, zu verkennen, dass die umfassenderen gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse sowohl die Homo-Ehe als auch die Transgender-Ideologie erst plausibel und dann normativ machten. Diese Verhältnisse haben sich über Hunderte von Jahren entwickelt und sind nun tief verwurzelter, intuitiver Teil des Lebens. Die Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Ehe und des Transgenderismus sind die jüngsten Ausprägungen oder Symptome von tiefen und seit langem bestehenden kulturellen Missständen.

Das Grundprinzip lautet: Kein einzelnes geschichtliches Phänomen ist seine eigene Ursache. Die Französische Revolution hat nicht die Französische Revolution verursacht. Der Erste Weltkrieg hat nicht den Ersten Weltkrieg verursacht. Jedes historische Ereignis ist das Ergebnis einer Vielzahl von Faktoren, angefangen von der Technik über die Politik bis hin zur Philosophie. Ohne die Entwicklung der Atomtechnik hätte es keinen Bombenabwurf auf Hiroshima gegeben. Ohne den Zweiten Weltkrieg hätte es keinen Grund gegeben, eine Bombe auf Hiroshima abzuwerfen. Und ohne eine bestimmte Kriegsphilosophie hätte es keine Rechtfertigung dafür gegeben, eine Bombe auf Hiroshima abzuwerfen.

So ist es auch mit der sexuellen Revolution. Sie steht in einem Kontext – eine umfassendere Revolution dessen, wie das Selbst verstanden wird. Und sie ist auf einem bestimmten geschichtlichen Nährboden gewachsen. Entwicklungen in der Technologie, Philosophie und Politik sind drei der Faktoren, die sie möglich, plausibel und schließlich real gemacht haben. Sie geben ihr auch die maßgebliche Gestalt und erklären, warum sie die Form angenommen hat, die sie heute hat. Ich kann diesen kausalen Zusammenhang nicht erschöpfend darstellen. Allerdings möchte ich in diesem Buch die intellektuellen Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung nachzeichnen, welche den revolutionären Wandel des Denkens und Verhaltens in Sachen Sexualität begünstigt haben, der nun wesentliche Aspekte des öffentlichen Lebens beherrscht.

DER GEDANKENGANG

Der erste Teil dieses Buches stellt in zwei Kapiteln grundlegende Konzepte vor, mit denen ich anschließend arbeite, um die geschichtliche Entwicklung zu analysieren. Von besonderer Bedeutung sind hier die Ideen dreier Philosophen, die die Gegebenheiten in der Moderne erforscht haben. Ich meine Philip Rieff, Charles Taylor und Alasdair MacIntyre. Rieff hat hilfreiche Begriffe wie den »Triumph des Therapeutischen«, den »psychologischen Menschen«, die »Antikultur« und die »Todeswerke« entwickelt. Ich werde diese Begriffe an verschiedenen Stellen im zweiten und dritten Teil verwenden. Taylor ist ausgesprochen hilfreich, um zu verstehen, wie die moderne Vorstellung vom expressiven Selbst entstanden ist und wie dies mit der Gesellschaftspolitik zusammenhängt. Seine Beiträge zur dialogischen Natur des Selbst, zum Wesen des, wie er es nennt, »sozialen Vorstellungsschemas« und zur Politik der Anerkennung erhellen die Frage, warum bestimmte Identitäten (z. B. LGBTQ+) heute ein so großes Prestige genießen, während andere (z. B. religiöse Konservative) zunehmend ausgegrenzt werden. MacIntyre ist hilfreich, weil er seit den frühen 1980er-Jahren aufzeigt, wie der moderne ethische Diskurs zusammengebrochen ist. Er legt offen, dass dieses Ringen letztlich auf unvereinbaren Ansätzen beruht und Ansprüche auf moralische Wahrheit in Wirklichkeit Ausdruck emotionaler Präferenzen sind. Diese Einsichten helfen, die fruchtlose Natur und extrem polarisierende Rhetorik mancher großen moralischen Debatten unserer Zeit zu verstehen. Nicht zuletzt jene, die sich um Fragen von Sex und Identität drehen.

Der zweite Teil des Buches befasst sich mit Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert, vom Denken Jean-Jacques Rousseaus über Beiträge aus der Romantik bis hin zu den Ansätzen von Friedrich Nietzsche, Karl Marx und Charles Darwin. Dabei ist zentral, dass mit der Ära von Rousseau und der Romantik ein neues Verständnis des menschlichen Selbst aufgekommen ist, das sich auf das Innenleben des Einzelnen richtet. Dem entspricht die Vorstellung von Gesellschaft und Kultur als etwas, das den Menschen unterdrückt. Bei Percy Bysshe Shelley und William Blake wird dieser Aspekt der Kultur vor allem mit den christlichen Sexualvorstellungen der Gesellschaft und insbesondere mit dem normativen Status der lebenslangen, monogamen Ehe verbunden.

Dieser Verdacht in Bezug auf Gesellschaft und Kultur erhält zusätzliche Kraft und philosophische Tiefe durch die Arbeiten von Nietzsche und Marx. Sie zeigen auf jeweils unterschiedliche Weise, dass die Geschichte der Gesellschaft eine Geschichte von Macht und Unterdrückung ist. Darüber hinaus behaupten sie, dass sogar Begriffe wie »die menschliche Natur« Konstruktionen sind, die dazu dienen, diese Unterwerfung zu stärken und aufrechtzuerhalten. Zusammen mit Darwin versetzen sie der Vorstellung, dass die Natur einen immanenten Sinn und der Mensch eine besondere Stellung oder ein eigentümliches Wesen hat, das sein Verhalten bestimmt, einen tödlichen Schlag – sowohl philosophisch als auch wissenschaftlich. In den Händen von Nietzsche, Marx und Darwin verliert die Welt ihre angeborene Teleologie. Die drei entziehen effektiv die metaphysischen Grundlagen für menschliche Identität und Moral, sodass letztere, wie Nietzsche vergnügt anmerkt, nur noch eine Geschmacksfrage und ein manipulatives Machtspiel ist. Die Romantiker begründen die Ethik in der Ästhetik, in der Kultivierung von Empathie und Mitgefühl. Dabei gehen sie noch von einer universellen, gemeinsamen menschlichen Natur als fester Grundlage aus. Nietzsche deutet solche Geschmacksargumente als manipulatives Mittel, mit dem die Schwachen die Starken unterwerfen. Marx sieht sie als Instrument zur Unterdrückung, das von der herrschenden Klasse genutzt wird. Die philosophisch-wissenschaftliche Grundlage für die Ablehnung traditioneller Moral liegt also schon am Ende des 19. Jahrhunderts vor. Mit Nietzsches genealogischem Ansatz zur Moral und Marx’ dialektischem Materialismus wurden auch die Grundlagen für eine ikonoklastische Sicht der Geschichte gelegt. Geschichte wird demnach als eine Geschichte der Unterdrückung gedeutet, deren Opfer die wahren Helden sind.

Geht es im zweiten Teil um die Psychologisierung des Selbst, so befasst sich der dritte Teil mit der Sexualisierung der Psychologie und der Politisierung des Geschlechts. Die zentrale Figur ist hier Sigmund Freud. Mehr als jeder andere hat er den Gedanken kultiviert, dass der Mensch vom Säuglingsalter an im Grunde ein sexuelles Wesen ist. Unser sexuelles Verlangen macht uns im Tiefsten aus. Entsprechend betrachtet er die Zivilisation (Gesellschaft und Kultur) als Ergebnis eines Kompromisses zwischen anarchischen Sexualtrieben und der Notwendigkeit, in Gemeinschaften zusammenzuleben. Indem sich marxistische Intellektuelle wie vor allem Wilhelm Reich und Herbert Marcuse sein Denken angeeignet haben, entstand eine brisante Mischung aus Sex und Politik. Die Neue Linke, die aus dieser Synthese hervorgeht, versteht Unterdrückung als eine grundlegend psychologische Kategorie und Sexualmoral als deren primäres Instrument. Damit ist der theoretische und rhetorische Hintergrund der sexuellen Revolution geschaffen.

Der vierte Teil befasst sich mit verschiedenen Bereichen der heutigen Gesellschaft, um zu zeigen, wie tief die gedanklichen Entwicklungen aus dem zweiten und dritten Teil die moderne westliche Kultur verändert haben. Im achten Kapitel skizziere ich den Aufstieg des Erotischen anhand von Beispielen der Hochkultur (in Form des Surrealismus) und der Popkultur (in Form von Pornographie). Meine Schlussfolgerung ist, dass der Siegeszug der Erotik nicht einfach die Grenzen akzeptablen sexuellen Verhaltens erweitert oder die Vorstellungen von Anstand veränderte, sondern diese Grenzen in ihrer Gesamtheit abgeschafft hat. Im neunten Kapitel gehe ich auf drei konkrete Bereiche ein, die relevant sind: das Urteil des Obersten Gerichtshofs zur gleichgeschlechtlichen Ehe, die Ethik von Peter Singer und die Kultur des Protests auf dem College-Campus. Ich will aufzeigen, dass die Entwicklungen in jedem dieser Bereiche auf die umfassendere Revolution des Selbst zurückgehen, die ich im zweiten und dritten Teil beschrieben habe. Im zehnten Kapitel gehe ich dann auf die Geschichte der LGBTQ+-Bewegung ein. Ich zeige, dass sie nicht deshalb entstanden ist, weil ihre Akteure eng miteinander verbunden sind. Es handelt sich vielmehr um ein historisch entstandenes, politisch zweckdienliches Bündnis, das in einem gemeinsamen sexuellen Ikonoklasmus wurzelt. Ich behaupte zudem, dass die LGBTQ+-Bewegung zunehmend die von innen kommende Instabilität des Projekts »sexuelle Revolution« offenlegt. Der derzeitige Konflikt, den der Transgenderismus unter den Feministen ausgelöst hat, macht das ziemlich deutlich.

Abschließend möchte ich einige Überlegungen zur Zukunft anstellen, die uns möglicherweise erwartet. Ich sage etwas zu den Schwierigkeiten, die der Transgenderismus aufwirft, zu den Aussichten bezüglich der Religionsfreiheit, und dazu, wie sich die Kirche auf die bevorstehenden Herausforderungen vorbereiten sollte.

WAS DIESES BUCH NICHT IST

Noch drei Bemerkungen vorweg, um das Ziel des Buches zu verdeutlichen. Erstens: Es ist keine erschöpfende Darstellung über die Entstehung des aktuellen Verständnisses vom menschlichen Selbst, das den öffentlichen Diskurs beherrscht. Wie bei allen historischen Darstellungen sind meine Darlegungen und Analysen begrenzt und vorläufig. Am Ende weise ich auf andere Faktoren hin, die bei der Ausprägung des modernen Selbst und der sexuellen Revolution ebenfalls eine Rolle gespielt haben – nicht zuletzt jene, die mit technischen Entwicklungen zusammenhängen. Solche Dinge sprengen den Rahmen dieses Buches, sind aber dennoch relevant für die Phänomene, die ich zu beschreiben versuche. Meine Aufgabe sehe ich darin, die tiefen geschichtlichen Wurzeln der Vorstellungen aufzuzeigen, die heute das bewusste und unbewusste intuitive Denken der Menschen im Westen prägen und eine Erklärung dafür liefern, warum die Gesellschaft so denkt und handelt, wie sie es tut. Mein Anliegen ist, dass die Leser den Zusammenhang erkennen, in dem sich die Debatten um sexuelle Dinge abspielen, die zunehmend in unserer Öffentlichkeit das Sagen haben. Dieser Kontext reicht tiefer, als wir uns normalerweise bewusst sind. Und wir alle sind bis zu einem gewissen Grad darin verwickelt. Ich will also in erster Linie den geistesgeschichtlichen Hintergrund der modernen Revolution des Selbst dokumentieren und deutlich machen, dass die Ideen von Schlüsselpersonen, die vor langer Zeit gelebt haben, unsere Kultur nun auf allen Ebenen durchdrungen haben. Das fängt auf den Fluren akademischer Institutionen an und geht bis hin zum allgemeinen Lebensgefühl der Menschen. Wie es genau dazu gekommen ist, dass sich diese Ideen so durchgesetzt haben, ist ein anderes Thema.

Zweitens ist dieses Buch keine Klage über ein verlorenes goldenes Zeitalter oder gar über den trostlosen Zustand der Kultur, in der wir heute leben. Lamentieren ist in vielen konservativen und christlichen Kreisen populär und ich habe es selbst hin und wieder getan. Zweifellos hat der Ausruf Ciceros »O tempora! O mores!« (dt. O Zeiten! O Sitten!) seinen therapeutischen Reiz in einer therapeutischen Zeit wie dieser. Sei es als eine Art pharisäischer Rückversicherung, dass wir nicht so sind wie die anderen (zum Beispiel die LGBTQ+-Bewegung), oder als Mittel, uns selbst davon zu überzeugen, dass wir besonders eingeweiht sind und über den kleinen Reizen und hohlen Freuden dieser Zeit stehen. Doch für ein konstruktives Handeln bringt das Lamento wenig. Was die Vorstellung von einem verlorenen goldenen Zeitalter angeht, so fällt es jedem kompetenten Historiker schwer, nostalgisch zu sein. Welche vergangenen Zeiten waren denn besser als die heutigen? Etwa eine Ära vor den Antibiotika, in der eine Geburt oder selbst kleine Schnittwunden zu Sepsis und Tod führen konnten? Die großen Zeiten des 19. Jahrhunderts, als die Kirche die Kultur bestimmte und die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau auf Lebenszeit galt, aber kleine Kinder in Fabriken arbeiteten und die Schornsteine fegten? Vielleicht die Große Rezession? Der Zweite Weltkrieg? Die Zeit des Vietnamkriegs? Jedes Zeitalter hat seine dunklen Seiten und Gefahren. Es ist nicht die Aufgabe der Christen, über die Zeit, in der sie leben, zu jammern. Vielmehr sollen sie ihre Probleme verstehen und angemessen darauf reagieren.

Drittens habe ich dieses Buch mit dem gleichen Ansatz geschrieben, den ich seit mehr als 25 Jahren in meinen Vorlesungen verfolge: Meine Aufgabe als Historiker ist es zunächst, ein Verhalten, Denken oder Ereignis in seinem Kontext zu erläutern. Erst wenn diese harte Arbeit getan ist, kann der Dozent zu einer kritischen Betrachtung übergehen. Obwohl ich nicht behaupten kann, dieses Ideal in dem, was ich gesagt oder geschrieben habe, immer erreicht zu haben, halte ich es für wichtig, die Ansichten des Gegners sauber darzustellen – unabhängig davon, für wie abstoßend man die Anschauungen auch halten mag. Gerade im Zeitalter billiger Twitter-Beleidigungen und leichtfertiger Verleumdungen ist das wichtig. Man hat nichts gewonnen, wenn man einen Strohmann widerlegt. In den Darstellungen über Rousseau, die Romantiker, Nietzsche, Marx, Darwin, Freud, die Neue Linke, den Surrealismus, Hugh Hefner, Anthony Kennedy, Peter Singer, Adrienne Rich, Judith Butler, den LGBTQ+-Aktivismus u. a. habe ich daher versucht, so vorsichtig und parteilos wie möglich zu sein. Einige Leser mag das angesichts meines persönlichen Dissenses gegenüber vielem, wofür diese Intellektuellen jeweils stehen, befremden. Dennoch ist Aufrichtigkeit ein Muss. Meine Hoffnung ist, die Ansichten dieser Gruppen und Personen so dargestellt zu haben, dass sie sich für den Fall, dass sie mein Buch lesen, in der Darbietung wiedererkennen, auch wenn sie meine Schlussfolgerungen vermutlich ablehnen. So viel schulden Historiker ihren Untersuchungsgegenständen.

Im Wesentlichen liefere ich hier also eine Art Vorrede zu den Diskussionen, die Christen und andere über die dringendsten Fragen unserer Zeit führen sollten, besonders über die verschiedensten Auswirkungen der sexuellen Revolution – persönlich, gesellschaftlich, rechtlich, theologisch und kirchlich. Mein Ziel ist es, zu erklären, wie und warum eine bestimmte Vorstellung vom menschlichen Selbst die Kultur des Westens beherrscht, warum dieses Selbst seine offensichtlichste Manifestation im Wandel sexueller Gepflogenheiten findet und was sich daraus für die Zukunft ergeben könnte. Um auf eine Zeit gebührend eingehen zu können, muss man sie verstehen. Und um sie zu verstehen, muss man die Geschichte kennen, die zu ihr geführt hat. Dieses Buch ist als kleiner Beitrag zu dieser notwendigen Aufgabe gedacht.

1 Ich bin mir bewusst, dass LGBTQ+-Menschen den Begriff »Transgenderismus« ablehnen, da er auf eine Verleugnung der Realität von Transgender-Menschen abziele und daher negativ besetzt sei. Trotzdem verwende ich ihn in diesem Buch, um auf die zugrundeliegenden philosophischen Annahmen hinzuweisen, denen man zustimmen muss, um die Behauptung einer Person, »Transgender« zu sein, als kohärent anzusehen. Wenn es für LGBTQ+-Theoretiker und -Befürworter legitim ist, Begriffe wie »Cisgenderismus« zu verwenden, um sich auf die Ideologie zu beziehen, die dem Widerstand gegen die Transgenderismus-Bewegung zugrunde liegt, dann darf man auch »Transgenderismus« verwenden, um sich auf die Ideologie zu beziehen, die der Bewegung zugrunde liegt. Zur Bedeutung und Verwendung von »Cisgenderismus« als Begriff siehe: Erica Lennon u. Brian J. Mistler, »Cisgenderism«, Transgender Studies Quarterly 1, Nr. 1–2 (2014), S. 63–64, URL: https://doi.org/10.1215/23289252-2399623 (Stand: 24.03.2022). Es ist zudem erwähnenswert, dass der Begriff »Transgenderismus« in den 1970er-Jahren von Transgender-Gruppen selbst verwendet wurde, siehe z. B. Cristan Williams, »Transgender«, Transgender Studies Quarterly 1, Nr. 1–2 (2014), S. 232–34, URL: https://doi.org/10.1215/23289252-2400136 (Stand: 24.03.2022). Die Verbannung des Begriffs ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine Gruppe Sprache benutzt, um ihrer eigenen Position ein Vorrecht einzuräumen und die ihrer Kritiker zu delegitimieren – ein Vorwurf, der sich üblicherweise an die Konservativen richtet, aber eindeutig nicht das Alleinstellungsmerkmal einer bestimmten Seite ist.

2 Charles Taylor, Quellen des Selbst: Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1996.

3 Vgl. Charles Taylor, Quellen des Selbst, 1996, S. 8.

TEIL 1 DIE ARCHITEKTUR DER REVOLUTION

»SIE SEHEN, ABER SIE BEOBACHTEN NICHT.«

SHERLOCK HOLMES IN EIN SKANDAL IN BÖHMEN

1 NEUE VORSTELLUNGEN VOM SELBST

Wie in der Einleitung erwähnt, ist der Grundgedanke dieses Buches, dass die sexuelle Revolution mit ihren verschiedenen Ausdrucksformen in der modernen Gesellschaft nicht isoliert betrachtet werden darf. Vielmehr ist sie die konkrete und vielleicht offensichtlichste gesellschaftliche Manifestation einer viel tieferen und umfassenderen Revolution. Es geht um die Sicht auf das Individuum, das Selbst. Während Sex heute oft als schlichte Freizeitaktivität hingestellt wird, soll Sexualität der Kern dessen sein, was es bedeutet, als authentischer Mensch zu leben. Das ist ein tiefgreifender Anspruch, der wohl beispiellos in der Geschichte ist. Wie es dazu kam, ist eine langwierige und komplexe Angelegenheit, aus der ich nur einige der wichtigsten Aspekte herausgreifen kann. Vorher ist aber die Einführung einer Reihe grundlegender theoretischer Konzepte nötig, die einen Rahmen dafür bieten. Wir brauchen sozusagen die architektonischen Grundprinzipien für das Unterfangen, die Personen, Ereignisse und Ideen zu sortieren und zu analysieren, die beim Aufstieg des modernen Selbst eine Rolle spielen.

Für diese Aufgabe sind die Schriften von drei Analytikern der Moderne besonders nützlich. Ich meine Charles Taylor, den Philosophen; Philip Rieff, den psychologischen Soziologen; und Alasdair MacIntyre, den Ethiker.1 Jeder von ihnen setzt unterschiedliche Schwerpunkte und verfolgt andere Anliegen. Aber alle drei legen die Welt der Moderne in einer Weise dar, die bedeutsame Gemeinsamkeiten aufweist und hilfreiche Einblicke schenkt, um an die denkerischen Wurzeln der modernen westlichen Gesellschaft zu gelangen. Deshalb möchte ich in den ersten zwei Kapiteln einige ihrer Kerngedanken umreißen. Sie bilden den Denkrahmen für die Interpretation unserer gegenwärtigen Welt, die in der folgenden Darstellung der Entstehung des Konzepts des modernen psychologisierten und sexualisierten Selbst angeboten wird.

DAS SOZIALE VORSTELLUNGSSCHEMA

Beginnen wir mit der Frage, die ich schon in der Einleitung gestellt habe: Wie hat die hochindividualistische, ikonoklastische, sexuell besessene und materialistische Mentalität im Westen triumphieren können? Oder, um die Frage zugespitzter und konkreter zu stellen: Wie kommt es, dass der Satz »Ich bin eine Frau, gefangen im Körper eines Mannes« nicht nur Menschen einleuchtet, die in poststrukturalistischen und queer-theoretischen Seminaren gesessen haben? Warum ist das für meine Nachbarn, Arbeitskollegen und Menschen auf der Straße, die kein besonderes politisches Interesse haben und die mit dem abstoßenden Jargon und den obskuren Konzepten von Michel Foucault und seinen unzähligen Epigonen und unverständlichen Nachahmern nichts anfangen können, so plausibel? Letztlich knüpft die Aussage, die sinnbildlich für eine Sichtweise des Menschseins steht und die jeden Gedanken an eine Autorität jenseits der persönlichen, psychischen Überzeugung fast vollständig aufgegeben hat, auf ihre Weise bei René Descartes an: »Ich glaube, dass ich eine Frau bin, also bin ich eine Frau.« Wie konnte ein so seltsamer Gedanke zum Allgemeingut unserer Kultur werden?

Um sich dem Thema zu nähern, ist der Begriff hilfreich, den der kanadische Philosoph Charles Taylor für seine Gesellschaftsanalyse verwendet hat, nämlich der des sozialen Vorstellungsschemas. Taylor ist ein interessanter Philosoph, weil er sich auch mit breiteren historischen und soziologischen Themen auseinandersetzt. In seinem Buch Ein säkulares Zeitalter analysiert er, wie sich die moderne Gesellschaft insgesamt (nicht nur die intellektuellen Schichten) von der Durchdringung durch Christentum und Religion entfernt hat, bis dahin, dass dies nun nicht mehr Standard in der Mehrheitsgesellschaft ist, sondern eher die Ausnahme. Dabei führt er den Begriff des »sozialen Vorstellungsschemas«2 ein, um die Frage zu beantworten, wie die Theorien, die von sozialen Eliten entwickelt wurden, mit dem Denken und Handeln normaler Menschen in Beziehung stehen, selbst wenn diese sie nie gelesen oder je bewusst über die Auswirkungen jener Theorien nachgedacht haben. Seinen Begriff definiert er so:

»Hier möchte ich deshalb nicht von einer Gesellschaftstheorie, sondern von einem ›sozialen Vorstellungsschema‹ sprechen, weil zwischen Theorie und Schema wichtige Unterschiede bestehen. Tatsächlich gibt es hier mehrere Unterschiede. Von einem ›Vorstellungsschema‹ spreche ich (a) deshalb, weil ich von der Art und Weise rede, in der sich normale Menschen ihre soziale Umgebung ›vorstellen‹, und diese Vorstellung wird oft nicht in theoretischer Terminologie ausgedrückt, sondern in Bildern, Geschichten, Legenden und so weiter überliefert. Außerdem ist es so, daß (b) eine Theorie einer kleinen Minderheit gehört, während das soziale Vorstellungsschema deshalb so interessant ist, weil es großen Gruppen von Personen, wenn nicht gar der gesamten Gesellschaft gemeinsam ist. Daraus ergibt sich ein weiterer Unterschied gegenüber der Theorie: (c) Das soziale Vorstellungsschema ist jene gemeinsame Auffassung, die gemeinschaftliche Praktiken und ein weitverbreitetes Gefühl der Legitimität ermöglicht.«3

Wie Taylor es hier beschreibt, ist das soziale Vorstellungsschema ein etwas amorpher Begriff, gerade weil es sich auf die unzähligen Überzeugungen, Verhaltensweisen, normativen Erwartungen und sogar unbewussten Annahmen bezieht, die Angehörige einer Gesellschaft teilen und die ihren Alltag prägen. Es geht also nicht so sehr um eine bewusste Lebensphilosophie, sondern um intuitive Auffassungen und Verhaltensweisen. Zusammengefasst ist das soziale Vorstellungsschema die Art und Weise, wie Menschen sich die Welt vorstellen und intuitiv in ihr handeln – was jedoch ausdrücklich nicht bedeutet, dass es sich dabei einfach um eine Reihe identifizierbarer Kerngedanken handelt.4 Es ist unsere Gesamtsicht auf die Welt, wie wir sie verstehen und welchen Sinn wir in unserem Verhalten sehen.

Dies ist ein sehr hilfreiches Konzept, gerade weil es berücksichtigt, dass die Art, wie wir über viele Dinge denken, nicht immer auf einem bewussten Glauben an eine bestimmte Theorie beruht, der wir uns verschrieben haben. Wir leben unser Leben oft viel intuitiver. Dass der Satz »Ich bin eine Frau, gefangen im Körper eines Mannes« für – sagen wir – Josef Schmidt einen Sinn ergibt, hat wahrscheinlich weit weniger damit zu tun, dass er sich intensiv mit dem Wesen des Geschlechts und seiner Beziehung zur Biologie beschäftigt hat. Vielmehr damit, dass es intuitiv richtig erscheint, jemanden in seiner (oder ihrer) gewählten Identität zu bestätigen – und die Verweigerung dieser Bestätigung verletzend wirkt, wie seltsam diese Selbstidentifikation früheren Generationen auch vorgekommen wäre. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, könnte man das soziale Vorstellungsschema als intuitiven gesellschaftlichen Geschmack beschreiben. Die Frage, wie die Geschmäcker und Intuitionen der Allgemeinheit gebildet werden, führt dann zu der Frage , wie das soziale Vorstellungsschema entsteht.

Manchmal sickern, wie Taylor bemerkt, die Theorien der Eliten in diese Vorstellungen ein.5 Zum Beispiel wurden Luthers Ideen zur kirchlichen Autorität im Sachsen des 16. Jahrhunderts und in anderen Regionen durch unzählige volkstümliche Pamphlete und Holzschnitte, die auf die Menschen im Alltag wirken sollten, in die Vorstellungswelt aufgenommen. Man könnte hinzufügen, dass die Theorien der Eliten mitunter eine Nähe zu Elementen des bestehenden sozialen Vorstellungsschemas haben und diese bestärken, verändern, oder ihnen eine Ausdrucksweise liefern, mit der sie formuliert oder legitimiert werden können. Die sexuelle Identitätspolitik ist ein gutes Beispiel dafür. Sex außerhalb des Ideals der monogamen heterosexuellen Ehe hat schon immer stattgefunden. Durch das Aufkommen billiger und effizienter Verhütungsmittel ist dieser aber erst in jüngster Zeit einfach zu haben. Angesichts der Debatten, die um Abtreibung, Geburtenkontrolle und LGBTQ+-Angelegenheiten kreisen, ist Sex von etwas primär Persönlichem zu etwas Politischem geworden. Der Weg dahin ist recht einfach zu erkennen: Zuerst gab es das promiskuitive Verhalten, dann kam die Technologie, die es erleichterte (in Form von Verhütungsmitteln und Antibiotika). Als die Technologie es den sexuell Promisken ermöglichte, die natürlichen Folgen ihrer Handlungen zu vermeiden (ungewollte Schwangerschaften, Krankheiten), wurden die Argumente, die das Verhalten rechtfertigten, plausibler (bzw. die Gegenargumente weniger überzeugend) und damit das Verhalten selbst akzeptabler.

Jede Darstellung der sexuellen Revolution und der ihr zugrundeliegenden Neuordnung des Selbstverständnisses, von der die sexuelle Revolution nur die jüngste Spielart ist, darf daher nicht nur die Ideen der kulturellen Elite berücksichtigen, sondern muss auch untersuchen, wie die Intuitionen der Gesellschaft insgesamt geformt wurden. Die Ideen an sich sind nur ein Teil der Geschichte. Der Begriff des Selbst, der den Transgenderismus plausibel macht, hat sicherlich seine theoretischen und philosophischen Gründe. Aber er ist auch ein Produkt weitreichenderer kultureller Phänomene, welche die Intuitionen derer geprägt haben, die sich der dahinterstehenden intellektuellen Ursprünge und metaphysischen Annahmen gar nicht bewusst sind.

MIMESIS UND POIESIS

Ein zweiter hilfreicher Gesichtspunkt in Taylors Werk, der sich mit dem sozialen Vorstellungsschema verbindet und auf den wir zurückgreifen werden, ist die Beziehung zwischen Mimesis und Poiesis. Diese beiden Begriffe beziehen sich – einfach ausgedrückt – auf zwei verschiedene Ansätze, die Welt zu betrachten. Eine mimetische Sichtweise versteht die Welt als mit einer Ordnung und einem Sinn versehen. Daher steht der Mensch vor der Aufgabe, diesen Sinn zu entdecken und sich auf ihn einzustellen. Poiesis hingegen sieht die Welt als Rohmaterial an, aus dem sich das Individuum Sinn und Bedeutung erschaffen kann.

Beide Hauptwerke Taylors – Quellen des Selbst sowie Ein säkulares Zeitalter – erzählen die Geschichte des Übergangs in der westlichen Kultur von einer vorwiegend mimetischen Sicht der Welt hin zu einer primär poietischen. Verschiedene Aspekte charakterisieren diese Verschiebung. Die Gesellschaft verabschiedet sich von einer Sichtweise, die der Welt eine intrinsische Bedeutung zuschreibt. Damit entfernt sie sich ebenfalls von der Auffassung, dass die Menschheit ein bestimmtes Ziel hat, das ihr von vornherein vorgegeben wäre. Auf diese Weise wird die Teleologie abgeschwächt. Sei es die des Aristoteles mit seiner Sicht des Menschen als »politisches Tier« und seinem Verständnis von Ethik als einer bedeutsamen Funktion davon. Oder sei es die des Christentums mit seiner Vorstellung, dass das menschliche Leben in dieser irdischen Sphäre davon geprägt sein soll, dass die ultimative Bestimmung des Menschen die ewige Gemeinschaft mit Gott ist.

Auch die Geschichte dieses Wandels lässt sich nicht einfach anhand von großen Denkern und ihren Ideen erzählen. Es stimmt, dass durch Gestalten wie René Descartes und Francis Bacon die Bedeutung der Verbindung zwischen Göttlichem und Geschaffenem (also dem teleologischen Verständnis des menschlichen Wesens), die man zum Beispiel im Denken eines Thomas von Aquin findet, herabgesetzt wurde.6 Damit aber eine poietische Sicht der Realität die mimetische Sicht im sozialen Vorstellungsschema derart verdrängt, müssen andere Faktoren im Spiel sein.

Um dies zu verdeutlichen, könnte man über das Leben im mittelalterlichen Europa nachdenken, einer überwiegend agrarischen Gesellschaft. Landwirtschaft erfolgte damals – gemessen an heutigen Maßstäben – noch relativ primitiv und war völlig abhängig von der Geographie und den Jahreszeiten. Der Bauer pflügte den Boden und streute die Saat aus, aber er hatte keine Kontrolle über das Wetter. Er hatte nur minimale Kontrolle über den Boden und damit vergleichsweise wenig Einfluss darauf, ob seine Bemühungen erfolgreich sein würden. Viele hatten damit keine Kontrolle über Leben und Tod: Sie waren der Umwelt völlig ausgeliefert.

In einer solchen Welt war die Autorität der geschaffenen Ordnung offensichtlich und unausweichlich. Die Welt war, wie sie war, und der Einzelne musste sich ihr anpassen. Im Dezember zu säen oder im März zu ernten, war zum Scheitern verurteilt. Doch mit dem Aufkommen modernerer landwirtschaftlicher Technologie wurde diese vorgegebene Herrschaft der Umwelt zunehmend entmachtet. Bewässerungstechniken ermöglichten es, Wasser zu bewegen oder zu speichern und später bei Bedarf zu nutzen. Zunehmendes Wissen über Bodenkunde, Düngemittel und Pestizide machte es möglich, auf das Land einzuwirken, um immer bessere Ernten zu erzielen. Umstrittener ist die jüngste Entwicklung der Gentechnik, die nun die Produktion von Nahrungsmitteln ermöglicht, die gegen bestimmte Krankheiten oder Parasiten immun sind. Ich könnte so fortfahren, doch der Punkt ist klar: Egal, ob wir bestimmte Innovationen für gut oder schlecht halten, Technologie beeinflusst auf tiefgreifende Weise, wie wir über die Welt denken und unseren Platz in ihr sehen. Die Welt von heute ist nicht mehr die objektive Übermacht, die sie vor achthundert Jahren war. Wir sehen sie vielmehr als Kiste mit Rohmaterial, das wir aus eigener Kraft zu unseren eigenen Zwecken verwenden können.

Das geht weit über die Landwirtschaft hinaus. Die Entwicklung des Autos und dann des Flugzeugs hat den bisherigen Einfluss des geographischen Raums aufgelöst. Wenn Entfernung letztlich eine Frage der Zeit ist, dann ist die Distanz zwischen Philadelphia und London heute kleiner als die zwischen Philadelphia und Chicago vor nur zweihundert Jahren. Als menschliche Erfindungen wie moderne Telekommunikation und Informationstechnologie ins Spiel kamen, hat sich die Situation noch radikaler verändert. Wäre ich 1850 in die USA eingewandert, hätte ich mich vielleicht für immer von meinen Verwandten und Freunden in England verabschiedet. Heute kann ich nicht nur mit ihnen sprechen, wann immer ich will; ich kann sie sogar auf meinem Bildschirm sehen, wann immer mir der Sinn danach steht.

Hinzu kommen die Entwicklungen in der Medizintechnik. Wieder sind alte Autoritäten herausgefordert und überwunden worden. Krankheiten, die früher unbehandelbar waren, sind heute keine Todesurteile mehr. Einst tödliche Infektionen können dank Antibiotika als Bagatelle abgetan werden. Die Geburt eines Kindes stellt nicht mehr das ernsthafte Risiko für die Gesundheit der Mutter dar, wie es in früheren Zeiten üblich war. Alle diese Entwicklungen haben dazu beigetragen, die Herrschaft der Natur abzuschwächen und den Menschen von seiner eigenen Macht zu überzeugen.

Damit will ich die Technik nicht als gut oder schlecht bewerten. Sie kann eindeutig beides sein. Wir leben jedoch alle in einer Welt, in der es immer einfacher wird, sich vorzustellen, dass wir die Realität nach unseren eigenen Wünschen beeinflussen können, anstatt akzeptieren zu müssen, dass wir uns ihr notgedrungen anzupassen haben. Dieser Kontext macht zum Beispiel die philosophischen Ansprüche von Friedrich Nietzsche einsichtig. In ihnen wird der Mensch dazu aufgerufen, sich selbst zu transzendieren (überschreiten), sein Leben zu einem Kunstwerk zu machen und sich nicht nur zu entdecken, sondern als sein eigener Schöpfer und Sinnstifter an die Stelle Gottes zu treten. Nur wenige Menschen haben Nietzsche gelesen, aber viele denken intuitiv so über ihre Beziehung zur natürlichen Welt. Besonders weil die hochtechnisierte Welt, in der wir heute leben – eine Welt, in der die virtuelle Realität real ist – es so nahelegt. Die Selbsterschaffung ist fester Bestandteil unseres modernen sozialen Vorstellungsschemas geworden.