Der Sinn des Todes - Val McDermid - E-Book + Hörbuch

Der Sinn des Todes Hörbuch

Val McDermid

4,7

Beschreibung

Der dreißigste Kriminalroman der britischen Bestseller-Autorin: Val McDermid auf der Höhe ihrer Kunst! Ein betrunkener Siebzehnjähriger rast nachts mit einem gestohlenen Auto durch Dundee. Für seine drei Kumpels endet die Fahrt tödlich. Der Hooligan überlebt – im Koma, für immer schwer gezeichnet. Überraschend fördert ein Routine-DNA-Test eine Verbindung zu einem zwanzig Jahre zurückliegenden, ungelösten Mordfall zutage. Wie kann das sein? Detective Chief Inspector Karen Pirie von Police Scotland ist sehr erfolgreich darin, verzwickte alte Fälle aufzuklären. Doch schnell stellt sich heraus, dass der Fall mindestens so viele Windungen hat wie die DNA-Helix. Zeitgleich wird Karen in einen anderen, ähnlich weit zurückliegenden Fall verwickelt, in dem sie eigentlich gar nicht ermitteln dürfte. Aber ihr Sinn für Gerechtigkeit lässt ihr keine andere Wahl... "Welche Superlative sind noch übrig, um das Phänomen der vielfach preisgekrönten Val McDermid zu beschreiben?" Daily Mail

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Zeit:14 Std. 0 min

Sprecher:Wolfgang Berger
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Val McDermid

Der Sinn des Todes

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Doris Styron

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ein betrunkener Siebzehnjähriger bricht nachts in Dundee aus Angeberei ein Auto auf und startet mit drei Kumpels zu einer rasenden Fahrt durch die Stadt. Die Spritztour endet mit einem tödlichen Unfall, die nur der Anstifter überlebt – im Koma, für immer schwer gezeichnet. Ein Routine-DNA-Test fördert eine Verbindung zu einem zwanzig Jahre zurückliegenden, ungelösten Mordfall zutage. Höchst eigenartig, denn der Teenager ist schließlich noch keine zwanzig.

Detective Chief Inspector Karen Pirie von Police Scotland ist Expertin darin, verzwickte alte Fälle aufzuklären. Auch in diesem Fall die Lösung zu finden, sollte also machbar sein, nimmt sie an – doch schnell stellt sich heraus, dass der Fall mindestens so viele Windungen hat wie die DNA-Helix.

Zeitgleich wird Karen in einen anderen, ähnlich weit zurückliegenden Fall verwickelt, in dem sie eigentlich gar nicht ermitteln dürfte. Aber ihr Sinn für Gerechtigkeit lässt ihr keine andere Wahl. Auf den ersten Blick sieht alles nach einem tragischen Flugzeugabsturz aufgrund eines Bombenanschlags der IRA aus. Aber als Karen ein Indiz nach dem anderen zusammenträgt, wird ihr immer klarer, dass sie ein hochbrisantes Familiengeheimnis zu lüften droht, das nicht nur ihr selbst gefährlich werden könnte. Denn offensichtlich schreckt hier jemand vor Mord nicht zurück, um dieses Geheimnis zu wahren …

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

Epilog

Dank

Leseprobe »Ein Bild der Niedertracht«

Dies ist mein dreißigster Roman. Er ist der unverwüstlichen, unermüdlichen, unerbittlichen Jane Gregory gewidmet, die von Anfang an meine Agentin und Freundin war. Sie, die in der Welt der Literatur respektiert, gefürchtet und geliebt wird, hat für meine Sache gekämpft, ging mit mir durch dick und dünn, und ihr Lachen hat meine Welt gerockt!

1

»Das is’n Abend, was, Jungs?« Ross Garvie schlang Wee Grantie, seinem besten Freund auf der ganzen Welt, seinen verschwitzten Arm um den Hals.

»Ouh ja, was’n Abend«, lallte Wee Grantie. Die beiden Jugendlichen schwangen im ungefähr gleichen Rhythmus die Hüften zu dem tiefen, satten Bassbeat, der durch den Club wummerte.

Die beiden Freunde, mit denen sie feierten, seit sie in der Wohnung von Wee Granties Schwester vorgeglüht hatten, sprangen auf und ab und stießen die Fäuste in die Luft. »We are the boys«, grölten sie im Chor. »We are the Arab boys.« Ihre Trikots des Vereins Dundee United, dessen Spieler oft »the Arabs« genannt wurden, boten die Erklärung zu dem etwas skurrilen Text ihres Gesangs; ihre Mannschaft hatte an diesem Nachmittag einen Sieg errungen, was nur selten vorkam.

»Isch will die ganze Nacht rumfahren«, rief Ross und hüpfte umher, angefeuert von der Mischung aus Red Bull, Wodka und einem Chemiecocktail, für den es nicht einmal einen Namen gab.

Wee Granties Bewegungen wurden langsamer, als die Musik zu »I Gotta Feeling« der Black Eyed Peas überging. »Du hast aber keine Karre. Keiner von uns hat ’ne Karre.«

Ross hielt inne. »Hast du kein’ Ehrgeiz?«

Wee Grantie sah auf seine Füße hinunter, er wusste, darauf gab es keine richtige Antwort.

Tam und Tozer, ihre zu allen Übeltaten bereiten Kumpel, boxten einander gegen die Schulter. »Das isses« schrie Tam. »Das wird ’n geiler Abend, super Abend. Wie im Song: Gonna do it, was?«

Wee Grantie legte die Stirn in Falten. »Wie denn?« Er schob die Hände in seine Jogginghose und versuchte, sein Gleichgewicht zu finden.

»Kommt, wir verschwinden hier. Sind eh keine scharfen Weiber da. Keiner wird eine abschleppen, da können wir doch grad so gut raus auf die Straße.« Ross ging schon auf die Tür zu, er brauchte sich nicht zu vergewissern, ob seine Clique ihm folgte.

Draußen sog die kalte Luft die Wärme aus ihren Körpern und trieb die Jungen zur Eile an. Sie zitterten. Tam und Tozer schlugen ihre Arme um den Oberkörper. Niemand anders war zu sehen. So früh verließen die Gäste keinen Club, für den sie Eintritt gezahlt hatten.

»Komm, Rossi-Boy, wenn du’s durchziehen willst, dann los, bevor meine Eier zu Eisklumpen gefrieren«, nörgelte Tozer.

Auf der Suche nach einem Fahrzeug, das sich leicht knacken und kurzschließen ließ, schaute sich Ross auf der holprigen Fläche um, die als Parkplatz für den Nachtclub diente. Er wurde in der mittleren Reihe fündig; das Fahrzeug war so hoch, dass es sich sofort von den anderen niedrigeren Wagen abhob. »Na dann«, sagte er und lief los, sich zwischen den geparkten Autos durchwindend, bis er vor dem Land Rover Defender stand. Einer der neuen Generation, immer noch verdammt schwerfällig beim Fahren, aber ein Klacks zum Klauen.

»Such mal ’n Stein«, rief er Wee Grantie zu, der gehorsam und mit gerunzelter Stirn den Boden abzusuchen begann. Er wusste aus Erfahrung, was er brauchte – schwer genug für den Aufschlag und so spitz, dass er Sicherheitsglas durchschlagen würde. Es gab jede Menge Auswahl auf der Parkfläche, aber bis er einen geeigneten gefunden und mit dem Absatz herausgestemmt hatte, tänzelten die anderen schon auf Zehenspitzen neben der Fahrerseite des Fahrzeugs herum.

Ross nahm ihm den Stein ab, packte ihn fest und wog ihn in der Hand. Dann schwang er den Arm hoch und ließ ihn mit Kraft gegen das Seitenfenster der Fahrerseite krachen. Das Glas bekam einen Knacks und sternförmige Risse, aber es zerbrach nicht. Dafür war ein zweiter Schlag nötig. Sofort waren sie alle drin und hüpften auf den Sitzen auf und ab wie Kleinkinder, die aufs Klo müssen, während Ross sein Schweizer Messer herausnahm, mit geübten Handbewegungen Drähte bloßlegte und dann diejenigen verband, die den Motor zum Leben erweckten.

»Hammer!«, rief er aus, schaltete die Scheinwerfer an und legte knirschend den Gang ein. Kaum siebzehn, kein Führerschein, keine Fahrstunden, aber Ross Garvie hatte das Selbstvertrauen eines Jungen, der schon Autos gestohlen hatte, als seine Füße noch kaum zu den Pedalen reichten.

Der Defender machte einen Satz rückwärts und krachte gegen die Scheinwerfer und den Kühler eines Golfs. Dann in den ersten, ein Hopser nach vorn, und hinter ihnen klirrten Glasscherben. Die Reifen quietschten, als Ross den schwerfälligen Defender vom Parkplatz und auf die Straße hinaus peitschte. Er bretterte durch die Innenstadt, überfuhr rote Ampeln und raste an vorsichtigen Fahrern vorbei, die spätnachts keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollten.

Die Lichter der Stadt glitten als verschwommene Kleckse an ihnen vorbei. Die drei Mitfahrer jubelten und johlten, als Ross alle Nervenkitzel einer Autojagd bot, ohne dass sie verfolgt wurden; dabei war es ihm egal, dass sie bei seinen Kurven mit angezogener Handbremse gegen die harten Kanten der Tür knallten.

Und dann waren sie auf der Perth Road, mit Vollgas, bis es nicht mehr schneller ging. Der Defender muckte auf, als die Tachonadel auf achtzig zeigte, aber es fühlte sich viel schneller an, weil das zwei Tonnen schwere rumpelnde Monster hin und her schwankte. »Wer braucht einen Scheißporsche?«, schrie Ross, während sie auf einen Kreisverkehr zurasten. »Da roll ich einfach drüber, verdammt. Hey, jetzt machen wir einen auf Offroader.«

Als sie mit Höchstgeschwindigkeit auf den Steinrand auftrafen, riss es die vier Jugendlichen in die Luft, dann fielen sie in einem chaotischen Durcheinander wieder zurück. Ross’ Füße waren nicht mehr auf den Pedalen, und ein paar Sekunden lang kam es ihm vor, als sei er schwerelos, nur weil er das Lenkrad umklammert hielt, hatte er noch Kontakt mit der Erde. »Hey«, rief er, als er auf den Sitz zurückknallte und wieder aufs Gaspedal stieg. Irgendwie blieb der Defender auf allen vier Rädern und pflügte tiefe Furchen in Gras und Blumenrabatten, bevor er auf der anderen Seite wieder herauskam.

»Scheiß auf den Young Farmers Club«, keuchte Tozer. »Wir sind die Jungs vom Land.«

Sie holperten über die Bordkante auf der anderen Seite und waren wieder auf der Schnellstraße. Aber jetzt hatten sie einen Begleiter, wenn auch noch in der Ferne. Weit hinten sahen sie blass schimmernd ein blinkendes Blaulicht. Irgendein Mistkerl hatte angerufen, und jetzt kamen die Bullen, um sie zu schnappen. »Nein«, rief er, beugte sich über das Lenkrad und versuchte den Defender anzutreiben, als könne das bei seiner lächerlichen Geschwindigkeit etwas bewirken.

Der nächste Kreisverkehr, dessen Insel in der Mitte höher war, zeichnete sich ab. Das ließ ihn kalt. Er würde keine Zeit darauf verschwenden, drum herum zu fahren, wenn er einfach drüberrollen konnte. Aber diesmal schätze er das Hindernis falsch ein. Jenseits der Bordkante war eine niedrige Mauer, auf die der Defender am genau falschen Punkt auftraf. Einen langen Augenblick schien er zwischen Kippen und Gleichgewicht zu schwanken, bevor schließlich doch die Schwerkraft gewann. Als er begann, sich zu neigen, gewann die Eigendynamik die Oberhand. Der Land Rover überschlug sich zweimal, und die vier Jugendlichen wurden herumgewirbelt wie Würfel in einem Becher.

Dann stieß er auf die hintere Seite des Rondells, die ihn seitwärts kippen ließ und in eine ganz andere Richtung schleuderte. Als er auf der anderen Seite der Straße in die Leitplanke krachte, setzte inmitten eines Funkenregens der Motor aus. Das einzige Geräusch war nun das Krachen und Knirschen von Metall auf Metall, und der Defender kam zum Stillstand.

Die Sirene eines Streifenwagens der Verkehrspolizei durchbrach die Stille, der Wagen bremste ab, hielt an, und das blinkende Blaulicht hüllte das zerschmetterte Fahrzeug in einen unwirklichen Lichtschein. In der Helligkeit hoben sich dunkle Streifen, Flecken und Spritzer an der Innenseite der Fenster ab. »Siehst du das?«, fragte der Fahrer seinen Kollegen, der noch unerfahren war.

»Sag bloß, das ist Blut?« Dem Neuen wurde leicht schwindelig.

»Das ist allerdings Blut. Die dummen kleinen Scheißer. Sieht aus, als würden wir keinen Krankenwagen brauchen.«

Aber während er noch sprach, ging die verbogene Tür auf der Fahrerseite des Defenders knarrend auf und Ross Garvies ramponierter Oberkörper sank auf den Asphalt.

»Ich nehm’s zurück«, seufzte der Polizist. »Das nennt man Überleben der Unangepasstesten.«

2

Kinross war eine kleine Stadt, aber trotzdem so groß, dass es mehr als eine Art von Lokalen gab. In Hotelbars konnte man etwas essen und bekam die übliche Auswahl an Bier, Wein und hochprozentigeren Getränken. Es gab eine Kneipe, wo sich die Jüngeren bei lauter Musik und Cider mit Wodka trafen. In einem anderen Pub wiederum spielten die Gäste Poolbillard und Darts, schauten Fußball auf einem riesigen Fernseher und tranken dazu billiges No-name-Bier. Und dann war da noch, versteckt hinter der Kirkgate, Hazeldean’s, dessen holzgetäfelte Wände sich wohl seit den fünfziger Jahren nicht verändert hatten und dessen Stammgäste sich an das Angebot von diversen Sorten Craft-Bier und eine atemberaubende Vielfalt von Malzwhiskeys hielten. Nischen mit Polsterbänken säumten die Wände, und die Tischflächen waren aus getriebenem Kupfer. An der einen Seite des L-förmigen Tresens standen Barhocker, an der anderen lief eine Messingstange entlang, auf die die Gäste einen Fuß stellen konnten, während sie an der Theke standen. Es war ein Lokal, in dem jeder wusste, wo er hingehörte.

Gabriel Abbotts Stammplatz war auf dem Barhocker gleich neben der Ecke. Das Hazeldean’s war einer der Fixpunkte seiner Welt, ein verlässlicher Anker, wenn er das Gefühl hatte, sich in einer Krise zu befinden. Kannte man ihn nicht, dann mochte es so aussehen, als gebe es kaum etwas in Gabriels Leben, das diese Unsicherheit rechtfertigte. Schließlich hatte er keine Arbeit, wegen der er sich Gedanken machen musste. Er hatte eine gemütliche Wohnung und brauchte sich nicht um die Miete zu kümmern. In letzter Zeit hatte er immer wieder befürchtet, dass sich die Politik der Regierung negativ auf seine Sozialhilfezahlungen auswirken könnte; aber er fand, eigentlich könne niemand behaupten, es gehe ihm so gut, dass er arbeiten konnte.

Die gleichen Gründe, die ihn arbeitsunfähig machten, versetzten ihn in diese Unruhe. Wie sehr er sich auch bemühte, ruhig und normal zu wirken, wusste er doch, dass man ihn für versponnen und absonderlich hielt. Immer wieder ging seine Begeisterung mit ihm durch und ließ ihn ins Plappern und in Aufruhr geraten. Die Probleme fingen für Gabriel an, wenn seine Gedanken nicht von seinen Interessen beansprucht waren. Dann stieg die Paranoia in ihm hoch, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen, nahm ihm den Schlaf und drängte ihn in jene schreckliche angstvolle Enge zurück, dass er meinte, sein Kopf müsse vor übergroßer Sorge und vor Verschwörungsängsten platzen. Er fühlte sich wie ein Blatt Papier, das zerrissen und in alle Winde verstreut wird.

Es lief immer auf das Gleiche hinaus. Er würde sich wieder in ärztliche Behandlung begeben. Ein Bett im Krankenhaus. Medikamente. Die eine oder andere Art von Gesprächstherapie. Und das alles würde ihm helfen, sich wieder zu fangen. Er würde abermals auftauchen in der Welt da draußen, verletzlich, aber doch erkennbar er selbst. Bis zum nächsten Mal.

Er wusste, dass er nicht gefährlich aussah. Seine wilde schwarze Mähne und seine Garderobe, die er sich im Sozialkaufhaus holte, die Tweedjacken, Hemden und Stoffhosen – keine Jeans – verliehen ihm jenen leicht nachlässigen Stil, den man geistesabwesenden Wissenschaftlern zuschrieb. Wenn er am Loch Leven saß oder zu Fuß auf dem Uferpfad von seinem Cottage unterwegs in die Stadt war, begannen oft Unbekannte eine Unterhaltung mit ihm. Und schon nach ein paar Minuten wurde er redselig und gab sich einem der Lieblingsthemen hin, die ihn seit Jahren beschäftigten, Ideen, die ihm geholfen hatten, ein ganz außergewöhnliches Netz von Kontakten in einem Dutzend verschiedener Länder zu knüpfen. Er sah wohl den erschrockenen Gesichtsausdruck der nichtsahnenden fremden Gesprächspartner, wenn sie überlegten, wie einem Vortrag über die Widerstandsbewegungen in Myanmar oder die Innenpolitik Nordkoreas zu entkommen sei.

Aber im Hazeldean’s war man an ihn gewöhnt. Dort ging er an den meisten Abenden hin und brachte die zwei Meilen am See entlang bei jedem Wetter zu Fuß hinter sich. Er kam gewöhnlich gegen neun an und trank zwei Gläser des Spezialbiers der Woche. Mit Jock, dem Barmann, oder Lyn, der Schankkellnerin, wechselte er ein paar Worte übers Wetter. Wenn Gregor Mutch da war, redeten sie über Politik. Wenn Dougie Malone da war, schloss der sich ihnen an. Beide teilten seine Begeisterung für die Geschichte und Geopolitik Südostasiens, kannten ihn aber gut genug, dass sie ihn wissen ließen, wenn sie genug hatten; und obwohl es Gabriel schwerfiel abzuschalten, schaffte er es meistens.

An diesem Sonntagabend war Gabriel jedoch aufgewühlt. Gregor war da, saß mit seinem massigen Körper neben ihm auf dem Barhocker wie eine Kohlrübe auf einem Zahnstocher, und Gabriel legte bereits los, bevor ihm das erste Bier serviert wurde.

»Ich mach mir Sorgen«, sagte er. »Große Sorgen.« Jock stellte sein Glas vor ihn hin, und er nahm einen großen Schluck.

»Wieso?«, fragte Gregor vorsichtig.

»Kannst du dich daran erinnern, dass ich dir von Saw Chit erzählt habe? Meinem Freund in Myanmar? Der, der versucht, die Korruption bei den politischen Bewegungen dort zu dokumentieren?«

Gregor stieß einen unverbindlichen Brummlaut aus. Davon ließ sich Gabriel nicht abschrecken. Wenn Gregor wollte, dass er den Mund hielt, würde er es ihm schon sagen. »Na ja, letzte Woche hab ich eine E-Mail bekommen, da hat er mir mitgeteilt, er hätte äußerst wichtiges Material über ein paar sehr einflussreiche Personen entdeckt, die viel Wind darum gemacht hätten, wie unbestechlich sie seien. Offenbar hat Saw Chit Beweise, dass sie auf dem Schwarzmarkt mit Rubinen gehandelt haben …«

»Rubine auf dem Schwarzmarkt?« Jetzt hatte er Gregors Aufmerksamkeit erregt. »Was meinst du damit, Rubine auf dem Schwarzmarkt?«

»Die meisten bekannten Hersteller von Schmuck wie Tiffany und Cartier und Bulgari beziehen keine Rubine aus Myanmar wegen der total erbärmlichen Zustände in den Minen. Das ist praktisch Sklavenarbeit, und man hat dort noch nie von Gesundheits- oder Sicherheitsvorschriften gehört. Aber trotzdem gibt es einen riesigen Markt für hochwertige Edelsteine. Deshalb gibt es immer Händler, die Rubine mit gefälschter Herkunft auf dem Schwarzmarkt anbieten. Innerhalb der ganzen Lieferkette wird gegen das Gesetz verstoßen, und die Leute an der Spitze, die wegschauen, sind genau diejenigen, die am lautesten darauf bestehen, dass die Schmuggler erledigt werden müssen.«

»Und dein Kumpel will es öffentlich machen und sie bloßstellen?«

»Das hat er in seiner E-Mail angekündigt. Aber natürlich hat er Angst. Und aus gutem Grund. Er weiß nicht, wem er trauen kann, wer ihn um seines eigenen Vorteils willen verraten würde. Du weißt ja, wie es ist. Deshalb hat er sein Beweismaterial kopiert und an mich geschickt, weil er mir vertrauen kann, so sagt er. Ich hielt das, ehrlich gesagt, für eine Überreaktion. Und dann bekam ich heute Abend, gerade bevor ich wegging, eine E-Mail von seinem Bruder.«

»Sag’s nicht, lass mich raten«, bat Gregor. »Dein Kumpel ist umgebracht worden?«

Gabriel legte die Stirn in Falten. »Nein, das nicht. Eigentlich noch schlimmer, wahrscheinlich. Nein, er ist verschwunden. Seine Wohnung ist verwüstet, und er ist nicht auffindbar. Niemand hat etwas gesehen oder gehört, was, offen gesagt, unwahrscheinlich ist. Aber würde ich dort wohnen, würde ich mich auch teilweise taub und blind stellen.« Gabriel war nie weiter in den Osten vorgedrungen als während eines Urlaubs auf Kreta, aber er hatte mehr Phantasie, als nötig war, um sich sein Leben in den Ländern vorzustellen, deren Erforschung er sein Leben gewidmet hatte.

»Warum hat sich sein Bruder denn mit dir in Verbindung gesetzt?«

»Er hat gehofft, dass Saw Chit flüchten konnte. Dass er abhauen konnte, bevor ihn der erwischte, der seine Wohnung demoliert hat. Er dachte, wenn Saw Chit es geschafft hätte, dann hätte er Kontakt mit mir aufgenommen. Denn er will natürlich bestimmt, dass jemand außerhalb des Landes weiß, was passiert ist. Ich muss wohl mit einem Journalisten sprechen. Ich hab schon mal mit jemand vom Guardian gesprochen. Oder vielleicht mit unserem Abgeordneten? Oder sollte ich die Post abwarten? Was meinst du?«

Gregor leerte sein Glas. »Ich glaube, du hast zu viele Romane von John le Carré gelesen, Gabe. Meinst du nicht, dass dich da jemand auf den Arm nimmt?«

Gabriel schüttelte den Kopf, wirklich verblüfft von dieser Mutmaßung, die ihm seltsam vorkam. »Warum sollte das jemand machen? Außerdem bin ich ja schon jahrelang mit Saw Chit befreundet.«

»Aber du hast ihn nie persönlich kennengelernt.«

Gabriel griff sich an den Kopf und packte ein Haarbüschel. »Man muss jemanden nicht persönlich treffen, um ihn zu kennen.« Er holte Luft, sammelte sich und legte die Hände flach auf den Tresen. »Warum sollte er sich denn so was ausdenken?«

»Ich weiß nicht. Aber wenn das stimmt, was du sagst, warum schickt er denn das Zeug an einen arbeitslosen Typ in einer kleinen schottischen Stadt statt zur Downing Street 10?«

Gabriel lächelte. »Weil er den Premierminister nicht kennt. Aber mich kennt er.«

Gregor klopfte ihm auf den Rücken. »Stimmt, Gabe. Aber du solltest abwarten, bis die Post kommt. Sag mal, hast du gesehen, was Donald Trump sich wieder geleistet hat?«

Und das war, wie Gabriel wusste, eine freundliche Methode, ihn von seinem Lieblingsthema abzulenken. Er schluckte all die Dinge hinunter, die er Gregor über den illegalen Schmuggel mit Rubinen hatte erzählen wollen, und versuchte sich auf den Affenzirkus der amerikanischen Politik zu konzentrieren. Er hatte passende Äußerungen an den richtigen Stellen getan, meinte er, trank sein zweites Bier aus und stand auf, um zu gehen.

Draußen war die Luft kühl und der Himmel wolkenlos. Es war ein schöner Abend für einen Fußmarsch. Allerdings machte ihm das Wetter ja nichts aus. Er brauchte das Hazeldean’s als Fixpunkt, und dort konnte er nur zu Fuß hin- und wieder zurückkommen. Auto war er nie gefahren, und ein Taxi konnte er sich nicht leisten. Gabriel stand an der Kirkgate, schaute zu den Sternen hoch und versuchte, das Chaos in seinem Kopf abzumildern. Saw Chit und Myanmar, das war ja schlimm genug, aber dann war da noch diese andere Sache. Die ihn aus heiterem Himmel getroffen und alles in seiner Welt durcheinandergebracht hatte wie die kreiselnden Teller einer Zirkusnummer. Alles, was er zu wissen glaubte, war ins Wanken geraten. Wenn die Antworten, die er gefunden hatte, die falschen waren, konnte es für ihn sehr schlimm werden, und das war ein erschreckender Gedanke.

Er erinnerte sich, dass er einmal eine Maschine gesehen hatte, in der unbehauene Steine durcheinandergewirbelt wurden, bis sie zu Schmucksteinen geglättet waren. So fühlte sich heute Abend das an, was in seinem Kopf vor sich ging. Jede Menge durcheinanderrasende Gedanken, die sich aneinanderrieben, wirr und kaum zu unterscheiden. Aus Erfahrung wusste er, dass sich bei seinem Weg zu Fuß nichts Sinnvolles daraus ergeben würde. Aber vielleicht konnte Schlaf helfen. Manchmal half das.

Wenn nur seine Gedanken auf dem Heimweg nicht außer Kontrolle gerieten.

3

Sie ging durch die Nacht. Wann immer sie keinen Schlaf finden konnte, ging sie. Es kam ihr in den Sinn, dass ihr Leben zur Zeit einer Idee für eine Guinness- oder Stella-Artois-Werbung glich. »Sie geht und geht und geht.« Nur gab es kein hell erleuchtetes Pub mit fröhlichen Gesichtern, das sie am Ende ihrer Streifzüge erwartete.

Oft war ihr am Ende des Tages klar, dass es nichts bringen würde, sich auszuziehen und zwischen das kühle Bettzeug zu schlüpfen. Sie würde nur steif wie eine Leiche daliegen, und in ihrem Kopf würden sich die Gedanken an Mord hektisch wie ein Hamster im Rad drehen.

Manchmal, wenn sie müde genug war, schlich sich der Schlaf an und hielt sie auf dem Bett fest wie ein Ringkämpfer, der ihr an Schnelligkeit und Kraft überlegen war. Aber lange dauerte das nie. Sobald die Erschöpfung nachließ, kam sie mit kratzigen und verschwollenen Augen und trockenem Mund, der nach Tod schmeckte, wieder an die Oberfläche.

Und deshalb ging sie. Am Hafendamm entlang, hohe Wohnblocks zur Linken, den unruhigen Firth of Forth zur Rechten, und die nächtliche Luft stieg ihr salzig und nach Algen riechend in die Nase. Dann wandte sie sich landeinwärts, am rund um die Uhr geöffneten Asda-Supermarkt vorbei und über die Hauptgeschäftsstraße in das frühere Dorf Newhaven. Oft nahm sie zufällige Routen durch die engen Sträßchen mit ihren Fischerhütten, dann ließ sie den Hafen hinter sich und ging aufwärts, wobei sie immer Straßen, Wege und stille Gassen zu wählen versuchte, in denen sie noch nie gewesen war.

Zum Teil war das der Sinn der Sache. Gerade weil sie Edinburgh nicht kannte, hatte sie sich entschlossen hierherzuziehen. Aufgewachsen war sie nur vierzig Bahnminuten entfernt, aber die Hauptstadt war ihr immer fremd geblieben. Die große Stadt. Der Ort für einen besonderen Ausflugstag. Vertraut waren ihr nur die größten Straßen in der Stadtmitte gewesen, bis sie hin und wieder beruflich herkam und Ausschnitte nicht zusammenhängender Winkel kennengelernt hatte. Trotzdem war Edinburgh kein Ort, der mit Erinnerungen befrachtet war, die sie hätten überfallen können, wie es in ihrer Heimatstadt geschah. Die Entscheidung, hier zu wohnen, war ihr wie ein Projekt erschienen. Dass sie die Stadt kennenlernen würde, eine Straße nach der anderen, würde sie vom Kummer und vom Schmerz ablenken.

Bislang konnte sie nicht behaupten, dass es funktioniert hatte. Langsam begann sie zu verstehen, dass es Gefühle gab, die sich durch nichts beschwichtigen ließen. Nichts außer dem Verstreichen der Zeit möglicherweise. Sie konnte noch nicht sagen, ob es gelingen würde. Es war zu früh.

Und so ging sie zu Fuß durch die Stadt. Sie war nicht der einzige Mensch, der so spät nachts in Edinburgh unterwegs war, aber die meisten anderen hatten sich in Autos oder Nachtbussen verkrochen. Sie hatte eine erstaunliche Zuneigung zu den Nachtbussen entwickelt. Oft war sie weit weg von zu Hause, wenn die Müdigkeit sie endlich einholte. Aber sie hatte eine beeindruckende App für den Busverkehr der Stadt entdeckt. Wie wenig bekannt die Adresse auch sein mochte, die App plante einen Nachhauseweg für sie, und trotz ihrer anfänglichen Bedenken hatte sie eine üppige Vielfalt der menschlichen Spezies in den Bussen aneinandergedrängt gefunden. Ja, es gab auch die widerlichen Säufer, die nach billigem Fusel stanken, die geistesabwesenden Junkies mit leerem Blick, aber größer war die Zahl der anderen, die während der Fahrt ein wenig Gemeinschaft suchten. Die Obdachlosen, die ein bisschen Licht und Wärme haben wollten. Die Reinigungskräfte, die vom Spätdienst kamen oder zum Frühdienst fuhren. Die schläfrigen Schichtarbeiter, die für den Mindestlohn oder weniger schufteten. Verschiedene Akzente und Sprachen gaben ihr das Gefühl, sich viel weiter vom Western Harbour Breakwater entfernt zu haben, als es tatsächlich der Fall war.

In dieser Nacht hatte sie einen Zickzackkurs entlang dem Rand von Leith geplant und stieß dabei auf den Anfang des Restalrig Railway Path. Zuvor hatte sie einmal das andere Ende entdeckt, als sie sich unten in Portobello am Ufer wiederfand. Die stillgelegte Eisenbahntrasse hatte man asphaltiert und in eine naturumsäumte Route für Radfahrer und Fußgänger verwandelt, die quer durch die Stadt verlief. Eine lange Strecke der Straße war beleuchtet und gab einem ein Gefühl der Sicherheit, wo sich andernfalls nur eine dunkle, wenig einladende Schneise durch einige der armen Stadtviertel gezogen hätte. Sie beschloss, es einmal zu versuchen. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass es sie mitten in der Nacht nach Porty verschlagen würde, wo sie wieder einmal auf die Nachtbusse zurückgreifen musste.

Sie ging los und dachte dabei über die versteckten Pfade nach, die sich durch die Stadt schlängelten. In Edinburgh gab es recht viele davon, angefangen bei jenen Straßen der Old Town, die einfach unter den neuen Reihen von Häusern begraben worden waren, bis zu den Sackgassen, Treppen und Durchgängen, die aus der Old Town ein bienenstockartiges Labyrinth machten. Hier erkannte man kaum, was der Pfad früher einmal gewesen war, nur steile Böschungen mit ungepflegtem Gestrüpp und da und dort ein wuchernder Baum versuchten unter diesen ungünstigen Umständen etwas aus sich zu machen. Ab und zu führte eine schwere Eisenbrücke über die Straße, wo dann oben ein Schild mit der Straßenbreite angebracht war. Die Steinpfeiler der Brücken waren mit Graffiti-Tags bedeckt, die grellen Farben wirkten in der matten Beleuchtung gedämpft. Nicht unbedingt Kunst, dachte Karen, aber besser als nichts.

Sie nahm eine Kurve und war überrascht, unter der nächsten Brücke den Widerschein eines Feuers zu sehen. Das Tempo verlangsamend, betrachtete sie das, was vor ihr lag. Eine Schar Männer drängte sich um niedrige, züngelnde Flammen. Mäntel und Wollmützen, dicke Jacken und Mützen mit Ohrenklappen, die Schultern in der kalten Nachtluft hochgezogen. Als sie näher kam, bemerkte sie, dass die Aufmerksamkeit aller auf etwas gerichtet war, das wie eine Tonne zum Verbrennen von Gartenabfällen aussah, darin flackerten Holzabfälle. Und was sie für Mützen gehalten hatte, waren in Wirklichkeit Gebetskäppchen.

Es kam ihr gar nicht in den Sinn, nervös zu werden wegen eines halben Dutzend arabisch aussehender Männer, die sich mitten in der Nacht um ein improvisiertes Feuer versammelt hatten. Jedenfalls nicht so, wie es bei einer Gruppe Besoffener gewesen wäre oder bei Teenagern, die sich mit Kleber oder Drogen zugedröhnt hatten. Zwar ignorierte sie Gefahren nicht, aber sie konnte ganz gut einschätzen, dass sie genügend Selbstbewusstsein und Wehrhaftigkeit ausstrahlte. Außerdem war sie überzeugt, dass sie den Unterschied zwischen »ungewöhnlich« und »gefährlich« zutreffend beurteilen konnte. Trotz des unerwarteten Vorfalls, der ihrem Leben den Sinn genommen hatte, hielt sie immer noch an dieser Überzeugung fest.

Einer der Männer bemerkte sie beim Näherkommen und stieß seinen Nachbarn an. Man sagte es weiter, und die gemurmelte Unterhaltung verstummte. Als sie den lockeren Kreis um das Feuer herum ansprach, waren alle still, in der Runde ausdrucksloser Gesichter und brauner Augen waren die leeren Blicke auf sie gerichtet. Sie streckte die Hände aus, um sie zu wärmen – wer konnte ihr das verdenken in der kalten Nacht? –, dabei nickte sie ihnen freundlich zu.

Sie standen unbeholfen herum, eine Gruppe verlegener Männer und eine Frau, die es sich leisten konnte, locker zu sein, weil sie glaubte, sie habe eh nichts mehr zu verlieren. Niemand sagte etwas, und nach ein paar Minuten nickte sie wieder und ging weiter, ohne noch einmal zurückzuschauen. Nur eine weitere Seltsamkeit, die während ihrer nächtlichen Streifzüge zu verbuchen war.

Langsam hatte sie das Gefühl, dass der Schlaf in Reichweite sein könnte. Deshalb ging sie die Henderson Street hinunter, an den Banana Flats vorbei, wo noch gelegentlich ein Licht zu sehen war, und hinunter zur breiten Mündung des Water of Leith. Jetzt war es nicht mehr weit. Dann würde sie sich ins Bett fallen lassen und vielleicht nicht mal die Kleider ausziehen. Für ein paar Stunden wäre sie endlich ohne Bewusstsein. Das reichte, um weiter funktionieren zu können.

Und morgen früh würde Detective Chief Inspector Karen Pirie, Chefin der Historic Cases Unit, der Abteilung für Altfälle, wieder bereit sein, sich mit dem zu befassen, was immer auf ihrem Schreibtisch landete. Zur Hölle mit jedem, der es anders sah.

4

Wenn Roland Brown zu seinem Büro in Kinross radelte, verließ er sein Haus in Scotlandwell immer zeitig. Ehrlich gesagt brach er lächerlich früh auf, weil er so dem höllischen Frühstück mit seinen drei Kindern entkommen konnte. Die Sprösslinge anderer Leute schienen ganz gut miteinander auszukommen, aber zwischen seiner Tochter und seinen beiden Söhnen herrschte ständig Kriegszustand, und jetzt, wo sich bei den Teenagern die Hormone bemerkbar machten, war das nur noch schlimmer geworden. Sobald sie morgens die Augen aufmachten, fing es an und ging unerbittlich weiter bis zum Schlafengehen. Was ein weiterer Anlass für ständigen Streit war. In letzter Zeit war er zu der Einsicht gelangt, dass er, obwohl er seine Kinder liebte – zumindest ging er davon aus –, sie nicht wirklich mochte. Das war eine Erkenntnis, die er niemandem außer den Vögeln und dem Getier auf dem Weg von und zur Arbeit mitteilen konnte.

Sie würden – anders als Menschen – nicht über ihn richten.

Also bretterte er, über sein gegenwärtiges Ärgernis fluchend, den Pfad am Loch Leven entlang, während er in die Pedale trat und sich bei jedem Stoß der Beine von seiner Wut befreite. Bis er im Büro ankam, war er ruhig, gelassen und bereit, sich mit den Umsatzsteuererklärungen und anderen Steuerproblemen seiner Klienten zu befassen.

Am frühen Morgen war diese Fahrt beschaulich. Außer bei Regen oder Schnee begegnete er hin und wieder Hundehaltern beim Gassigehen, die eine Hand hoben oder ihn mit einem Nicken grüßten, wenn er vorbeisauste. Im Sommer traf er gelegentlich auf Radfahrer, die einen Ausflug machten. Aber meistens war er alleine mit sich und den Dingen, die er, wie er wusste, nie zu seinen undankbaren, ungezogenen, egozentrischen Kindern sagen sollte. Oft gaben die Leute ja den Eltern die Schuld, aber Roland weigerte sich zu akzeptieren, dass die Erziehung, die er und seine Frau geleistet hatten, eine besondere Katastrophe gewesen war. Manche Menschen kamen eben verkorkst zur Welt.

Er ließ eine langgestreckte Kurve hinter sich, den See zu seiner Linken und die Strahlen der Morgensonne auf seinen Schultern, während er aus einer Baumgruppe herausfuhr. Vor sich sah er eine Lichtung mit einer Bank, die eine Aussicht über den See und auf die Lomond Hills gewährte. Auf der Holzbank saß eine gebeugte Gestalt. Roland hatte noch nie zuvor jemanden dort sitzen sehen, deshalb war es umso überraschender, dass jemand sich an einem Frühlingsmorgen, der ganz schön frisch war, dort niedergelassen hatte. Zweifellos würde die Bank nass sein vom Tau.

Als er näher kam, sah er, dass der Mann eigentlich nicht gebeugt war, sondern zusammengesunken. Ging es ihm nicht gut? Hatte er sich deshalb hingesetzt? Ob er wohl Hilfe brauchte?

Ganz kurz überlegte Roland, ob er den Mann nicht beachten und vor sich selbst so tun sollte, als sei nichts Besonderes. Aber er war im Grunde ein anständiger Mensch, deshalb hielt er an und schob sein teures Mountainbike übers Gras. »Alles in Ordnung?«, rief er beim Näherkommen.

Keine Antwort. Jetzt sah er, dass der Kopf des Mannes in einer eigentümlichen Stellung herabhing, und es schien etwas Braunes, Klebriges in seinem Haar zu hängen. Roland ging näher heran, aber sein Gehirn konnte das nicht verarbeiten, was er sah. Und dann konnte er es nicht mehr ignorieren, und Rolands Fahrrad lag plötzlich im Gras. Erbrochenes ergoss sich auf den Boden zu seinen Füßen, denn es war ihm klargeworden, dass für den Mann auf der Bank niemals wieder alles in Ordnung sein würde.

5

Es war neun, und Karen saß in dem engen Büro im hinteren Teil des Polizeigebäudes am Gayfield Square, in dem die Abteilung für Historic Cases untergebracht war. Man hatte sie in die hinterste Ecke gequetscht, als wolle die Leitung sie aus den Augen und aus dem Sinn wissen. Außer wenn ihnen die Lösung eines wichtigen Falls gelang, natürlich. Dann wurde Karen aus ihrem entlegenen Kabäuschen geholt und vor der Presse präsentiert. Das gab ihr ein Gefühl, als sei sie ein preisgekröntes Schwein bei einer Landwirtschaftsausstellung. Den Rest der Zeit wurde die Abteilung jedoch nicht beachtet, was Karen gerade recht war. Niemand schaute ihr über die Schulter und kontrollierte, was sie vorhatte, wenn sie vornübergebeugt vor ihrem Computer saß und auf ihren Cappuccino blies, bis er kalt genug zum Trinken war.

Die erste Aufgabe des Tages war es, ihre E-Mails zu checken, um zu sehen, ob einer ihrer anhängigen Fälle dank der Forensiker, die routinemäßig die Beweise alter ungeklärter Fälle nochmals überprüften, einen Millimeter vorangekommen war. Erst diese Ergebnisse brachten eine neue Untersuchung in Gang. Ohne neue handfeste Beweise konnte Karen nicht ansetzen.

Sie war noch mit ihrem Postfach beschäftigt, als die Tür langsam aufging und den Blick auf die andere Hälfte des Teams für Altfälle freigab, eine Person, die vorsichtig einen Pappteller mit zwei Speckbrötchen auf einem großen Pappbecher balancierte. Detective Constable Jason »Minzdrops« Murrays Geschicklichkeit war so wenig ausgeprägt wie seine Auffassungsgabe, so dass Karen nichts Gutes für sein Frühstück voraussah.

»Morgen«, brummte er und schaffte es wundersamerweise bis in den Raum, ohne etwas zu verschütten. »Ich hab Ihnen ’n Speckbrötchen mitgebracht.«

Die Geste rührte Karen über Gebühr. Jason dachte selten über die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse hinaus, was Karen in Ordnung fand. Sie brauchte keine tägliche Erinnerung an das, was sie verloren hatte. »Danke«, sagte sie, war sich aber dabei bewusst, dass sie nicht unbedingt dankbar klang.

»Gibt’s was Neues?« Jason nahm eines der Brötchen und reichte Karen den Teller. Er gähnte und ließ sich dabei auf seinen Stuhl fallen. »Spät geworden gestern.«

»Wo waren Sie denn?« Karen war das völlig egal. Aber sie kannte den Wert kleiner Gesten, die das Team zusammenschweißten. Selbst wenn es nur ein Team von zwei Leuten war.

»Ich bin nach Kirkcaldy gefahren zum Geburtstag meines Cousins. Am Schluss haben wir bei jemand in der Küche Tequila getrunken. Das ist das Letzte, woran ich mich erinnere.«

»Hoffentlich haben Sie heute früh den Zug genommen«, sagte Karen schulmeisterhaft.

»Ach, ich bin ganz in Ordnung. Bin ja bei der Polizei, da kommt mir doch keiner dumm am nächsten Morgen.«

»Darum geht’s nicht, Jason.« Bevor sie ihm eine Standpauke halten konnte, klingelte ihr Handy. »DCI Pirie, Historic Cases Unit.«

Die Stimme am anderen Ende klang unmissverständlich nach der Gegend um Dundee. »Ja, hier Sergeant Torrance in Tayside. Verkehrskommissariat.« Er hielt abrupt inne, als hätte er ihr genug Information gegeben, mit der sie weitermachen konnte.

»Hallo, Sergeant. Kann ich Ihnen helfen?«

»Also, ich glaube eher, dass ich Ihnen helfen kann.«

Wieder Schweigen. Offensichtlich würde sie sich anstrengen müssen, um Informationen aus Sergeant Torrance herauszubekommen. »Ein Hilfsangebot ist immer ein guter Start in den Tag. Was haben Sie denn Schönes?«

»Vielleicht haben Sie’s in den Nachrichten gesehen, ein schlimmer Unfall am Wochenende.«

»Tut mir leid, das hab ich verpasst. Was ist passiert?«

»Ach, ein dämlicher Junge, wollte wahrscheinlich angeben vor seinen Kumpels. Die haben ’nen Land Rover Defender geklaut und haben sich frühmorgens auf einem Kreisverkehr auf der Perth Road überschlagen. Alle drei Mitfahrer schwer verletzt, bei der Einlieferung im Ninewells waren sie tot.«

Karen sog scharf die Luft ein, ein Ausdruck des Mitgefühls. Im Lauf der Zeit hatte sie genug Unfälle gesehen, um zu wissen, welch schreckliches Blutbad es da manchmal gab. »So was macht einem schon zu schaffen, das steht fest.«

»Ja. Einer von unseren Kollegen – für ihn war es der erste Verkehrsunfall mit Toten. Ich glaube, eine Weile wird er nicht gut schlafen können. Jedenfalls, es ist so, dass der Fahrer noch am Leben ist. Liegt im Koma, hält sich aber noch.«

Karen stieß kurz einen ermutigenden Laut aus. »Und Sie haben ihm Blut abgenommen, um einen Blutalkoholtest zu machen.«

»Stimmt. Und der war, nebenbei gesagt, fünfmal so hoch wie erlaubt.«

»Oh. Und ich nehme an, Sie haben die DNA im Labor analysieren lassen?«

»Na ja, das gehört ja jetzt zur Routine.« Sergeant Torrance klang nicht wie jemand, der das als gute Verwendung für die Mittel der schottischen Polizei betrachtete.

»Und deshalb rufen Sie mich wohl an, vermute ich?«

»Ja. Wir haben einen Treffer in der DNA-Datenbank bekommen. Ich will nicht so tun, als würde ich etwas von diesen Sachen verstehen. Aber es war kein Volltreffer. Na ja, hätte es nicht sein können, er hat nämlich zu tun mit einem Mord, der vor zwanzig Jahren begangen wurde; dieser Junge ist aber erst siebzehn.« Das Rascheln von Papier war zu hören. »Anscheinend ist es keine direkte Übereinstimmung der DNA-Analyse, sondern eine familiäre. Wer immer vor zwanzig Jahren in Glasgow sein Sperma auf einem Vergewaltigungsopfer hinterließ, war ein naher Verwandter dieses kleinen Scheißkerls Ross Garvie aus Dundee.«

 

Der Adrenalinstoß, den Karen bei der Wiedereröffnung eines ungeklärten Altfalls spürte, hatte nie seinen Reiz für sie verloren. Alles andere in ihrem Leben war den Bach runtergegangen, aber in der Vergangenheit nach der verborgenen Lösung von Rätseln zu suchen, das übte immer noch seine vertraute Faszination auf sie aus. Gestern hatte sie noch nie von Tina McDonald gehört. Heute nahm die tote Friseuse einen wichtigen Platz in Karens Denken ein.

Nachdem sie alle Informationen aus Sergeant Torrance herausgelockt hatte, rief sie den Minzdrops an ihren Schreibtisch herüber. »Wir haben eine familiäre Übereinstimmung mit einem alten ungelösten Vergewaltigungsmord«, sagte sie, und ihre Finger hackten schon auf die Tatstatur ein, um nach dem Opfer zu googeln. Sie überflog die mageren Ergebnisse ihrer Suche nur und beschloss, sie später näher anzusehen. Es gab wichtigere Dinge, die sie in Gang setzen musste.

Jason saß zusammengesackt auf dem Stuhl gegenüber. Aber trotz seiner Haltung war sein Gesichtsausdruck aufmerksam. »Da brauche ich meine Jacke erst gar nicht auszuziehen.«

Beide Teile seines Anzugs hätten wohl besser ausgesehen, wenn er sie abgelegt hätte, statt damit zu schlafen, dachte Karen. »Tina McDonald. Eine Friseuse aus Partick. Vergewaltigt und erdrosselt am 17. Mai 1996 in der Innenstadt von Glasgow. Ein Freitagabend. Vierundzwanzig, als sie starb. Sie kennen ja den Ablauf.«

Jason schob sich den letzten Bissen des Brötchens in den Mund, nickte, kaute kräftig und schluckte ihn hinunter. »Ich muss zum Lager gehen und die Akten und die Beweisstücke holen. Das Beweismaterial nach Gartcosh bringen, damit die DNA noch mal analysiert werden kann, dann komme ich mit den Akten hierher zurück.« Das war die erste Phase jeder Wiederaufnahme eines Altfalls. Er ratterte das herunter wie ein Mantra, was es für ihn ja auch geworden war.

»Also, dann gehen Sie. Wenn Sie Glück haben mit dem Verkehr auf den Straßen, werden Sie zum Mittagessen zurück sein, und wir können uns am Nachmittag dranmachen.« Karen wandte sich wieder ihrem Bildschirm zu, zuckte aber zusammen, als Jasons Stuhlbein über die Fliesen kratzte. Ihre Nerven lagen dieser Tage wohl blank.

Online gab es nicht viel. Damals im Jahr 1996 hatten Nachrichtenmedien mit den Möglichkeiten digitaler Plattformen noch nicht viel anfangen können. Es gab jede Menge Berichte über einen Amoklauf an der Grundschule in Dunblane in dem Jahr, aber die meisten waren aus der Rückschau geschrieben. Was mit Tina McDonald passiert war, darüber war zu jener Zeit wahrscheinlich ausführlich berichtet worden, besonders in den Boulevardblättern. Aber das war inzwischen mehr oder weniger spurlos verlorengegangen.

Karen wurde schließlich auf einer Website fündig, die sich mit Morden in Glasgow beschäftigte. Sie umfasste fast zweihundert Jahre und legte eine Hingabe für Einzelheiten an den Tag, bei der ihr leicht übel wurde. Sie fragte sich, ob ihre Kollegen die Seite und die Identität dessen kannten, der sie erstellt hatte. Er könnte schlicht ein Zwangsneurotiker sein. Aber er könnte auch mehr sein. Zunächst war sie jedoch einfach dankbar für seinen Eifer.

Als Tina McDonald am 17. Mai 1996 ihre gemütliche Einzimmerwohnung in der Havelock Street verließ, konnte sie nicht wissen, dass sie niemals zurückkommen würde. Die vierundzwanzigjährige Tina machte sich zu einem Mädelsabend mit drei Kolleginnen vom Hair Apparent Salon in der Byres Road auf, um den Geburtstag von Liz Dunleavy, der Besitzerin des Salons, zu feiern. Tina trug ein neues Outfit von What Every Woman Wants, ein enges rotes Kleid mit einem verschlungenen Muster aus Pailletten von der Schulter bis zur Taille. Auch ihre Schuhe waren neu, ein schickes Paar roter Lackpumps mit niedrigen Absätzen.

Die zierliche blonde Tina nahm von der Kelvinhall Station zur Buchanan Street die U-Bahn in die Stadt, dann ging sie die kurze Strecke zur Starburst Bar in der Sauchiehall Street, wo die jungen Frauen sich schon mit ihren Drinks niedergelassen hatten. Tina trank Wodka mit Cola. Laut Liz Dunleavy, die in der Daily Record zitiert wird, hatten sie schon einige Drinks intus, als sie von der Starburst Bar zum Nachtclub Bluebeard’s in einer Seitenstraße am George Square wechselten.

Der Club war sehr voll, und auf der Tanzfläche herrschte dichtes Gedränge. Zuerst blieben die Mädchen beisammen, aber im Lauf der nächsten zwei Stunden trennten sie sich und tanzten mit verschiedenen Männern. Liz Dunleavy sagte, sie hätten sich eine Zeitlang aus den Augen verloren. Während sie vollkommen sorglos tanzten, hatten sie keine Ahnung von den schrecklichen Dingen, die Tina zustießen. Gegen 2 Uhr trafen sie sich wieder, aber von Tina keine Spur.

Niemand machte sich jedoch Sorgen. Es war nicht unüblich, dass die eine oder andere aus der Gruppe einen Mann kennenlernte, mit dem sie entweder in einen anderen Club oder nach Hause ging. Obwohl Tina das im Allgemeinen nicht tat, glaubten die anderen drei nicht, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie warteten auf eine Taxe am Stand in der Queen Street, fuhren nach Haus und glaubten, dass Tina sich mit jemandem amüsierte, den sie im Club getroffen hatte.

Am nächsten Morgen stand Sandy Simpson, dem Barmann der Frühschicht im Bluebeard’s, ein gewaltiger Schock bevor. Sandys erste Aufgabe des Tages war es, sich um das Leergut vom Abend zuvor zu kümmern. Er fuhr den ersten Kübel hinter dem Tresen hervor und auf die Gasse hinaus, wo die Glascontainer des Clubs standen. Und da, wie Abfall, den man weggeworfen hatte, steckte hinter einem der fahrbaren Container die übel zugerichtete, erdrosselte Leiche der armen Tina McDonald.

Die Strathclyde Police hatte Mühe mit dem Fall. Man fand heraus, dass Tina brutal vergewaltigt worden war, auf den Kopf geschlagen und mit bloßen Händen erwürgt worden war. Später gab die Polizei zu, dass sie DNA-Spuren gefunden hatte, aber keine Verdächtigen, die dazu passten. Buchstäblich Hunderte Personen, die in jener Nacht in der Stadt unterwegs waren, erklärten sich bereit, sich befragen und überprüfen zu lassen, aber niemand hatte Tina mit einem Mann gesehen, und alle DNA-Analysen kamen mit negativem Ergebnis zurück. Zum letzten Mal war sie mit Bestimmtheit gegen ein Uhr morgens in der Damentoilette von Bluebeard’s gesehen worden, als sie ihr Make-up auffrischte. Und dann war es, als sei sie wie in einer Rauchwolke verschwunden, um erst am nächsten Morgen als Mordopfer wieder aufzutauchen.

So viele Jahre später wusste immer noch niemand, wer Tina McDonald an jenem Frühlingsabend das Leben genommen hatte. Niemand hatte den Preis gezahlt für diese grausame und kaltblütige Tat, die den Menschen, die Tina liebten, so viel Kummer und Leid verursacht hatte. Nach wie vor gehörte sie zu den beschämenden Morden in Glasgow, die nicht aufgeklärt werden konnten.

Hinter Sensationsgier und schlechter Ausdrucksweise verbargen sich die dürren Fakten eines Falls, der für fast zwanzig Jahre ein Rätsel geblieben war. Keine Zeugen, keine Verdächtigen, zumindest keine, über die die Polizei die Öffentlichkeit informieren wollte, und keine Möglichkeit, damit abzuschließen für die Menschen, die Tina nahe gestanden hatten.

Jetzt gab es endlich eine Spur, die zur Tür eines Mannes führen konnte, der sich jahrelang der gerechten Strafe entzogen hatte. Aber für Karen war die Bestrafung nicht der wichtigste Aspekt ihrer Arbeit. Nach ihren Erfahrungen schüttelte die überwiegende Mehrzahl der Mörder nicht einfach ihre Tat ab und machte weiter, als sei nichts geschehen. Ihr Leben war auf diese oder jene Art durch Schuldgefühle und Scham zerrüttet. Meistens schien diese Konfrontation mit ihren Verbrechen fast etwas Erleichterndes für sie zu sein. Ihrer Meinung nach war die Vergeltung nach dem Gesetz nur die letzte Stufe der Strafe.

Karen war es am wichtigsten, die Fragen derer zu beantworten, die mit den Folgen eines plötzlichen gewaltsamen Todes zu kämpfen hatten. Die Überlebenden hatten ein Recht darauf zu erfahren, wie – und manchmal warum und durch wen – die Menschen, die sie liebten, von ihrer Seite gerissen worden waren. Es war leicht, über die Vorstellung einer abschließenden Verarbeitung zu lächeln, aber sie hatte selbst gesehen, wie die Ergebnisse des Teams für ungeklärte Fälle den Menschen geholfen hatten, mit ihrem Kummer und ihrem Leid klarzukommen. Nicht immer endete es auf diese Weise, aber doch so oft, dass sie Stolz auf ihre Arbeit empfand.

Karen druckte den Blogeintrag aus, und während sie darauf wartete, dass der Drucker die Seiten ausspuckte, suchte sie nach Bildern von Tina. Sie fand das Foto, das die Polizei von Strathclyde in Umlauf gebracht hatte, um damit dem Gedächtnis eventueller Zeugen aufzuhelfen. Es war offensichtlich die Vergrößerung eines Schnappschusses, den jemand aus dem Freundeskreis bei einem gemeinsamen Abend gemacht hatte. Im Zeitalter von Selfies und Handys mit Kamera vergaß man leicht, dass es damals viel weniger Fotos zur Auswahl gab, wenn man die Leute dazu bringen wollte, sich an das zu erinnern, was sie gesehen hatten. Wenn man fotografierte, wusste man nicht, wie die Bilder aussehen würden, bis sie entwickelt waren. Und dann war der Moment vorbei, und man hatte nur eine Handvoll fürchterlicher Fotos, um einen an ein denkwürdiges Ereignis zu erinnern.

Die Porträtaufnahme von Tina, die der Bitte um Information beigefügt war, war unscharf und verschwommen. Sie grinste in die Kamera, ein Cocktailglas in der Hand. Eine Mähne blonder Haare umgab wie ein Heiligenschein ein Gesicht, das man, freundlich ausgedrückt, als herzförmig bezeichnen konnte, mit einem spitzen Kinn und scharfen Gesichtszügen. Schmale Schultern und ein Kleid, das ihre Brüste betonte. Viele Männer hätten sie wohl so attraktiv gefunden, dass sie sie anmachten, vermutete Karen. Das Problem war: Sie hatte nichts Besonderes an sich. Sie hätte sich in einer Menge nicht abgehoben. Und deshalb war es wohl so schwierig gewesen, brauchbare Hinweise zu finden, dachte sie.

Karen druckte das Foto aus und nahm es aus dem Drucker. Sie ordnete die Notizen und Unterlagen auf einem ihrer Whiteboards neu, damit genug Platz war für die neue Ermittlung, und brachte das wenige, was sie hatten, dort an. Wenn sie Glück hatte, würde Jason etwas Handfesteres bringen. Und dann konnten sie sich an die Arbeit machen.

6

Wenn ein neuer Fall für die Historic Cases Unit vorlag, musste man Karen meist am Abend förmlich von ihrem Schreibtisch wegtragen. Sie hatte immer das Gefühl, sie müsse gleich von Anfang an so viel aufnehmen wie irgend möglich. Erste Eindrücke waren wichtig; danach würde sie sich in die Einzelheiten vertiefen, aber sie hatte gern eine Vorstellung davon, wie die frühere Ermittlung gelaufen war.

Allerdings nicht montags. Die Montagabende gehörten ihr. Denn montags saßen sie und Detective Chief Inspector Jimmy Hutton abends in ihrem Wohnzimmer beisammen, tranken Gin und schauten über die funkelnden und schaukelnden Wellen des Firth of Forth hinüber auf die geballten Lichtergruppen der Orte in Fife von North Queensferry bis Kirkcaldy. Karen hatte versucht, Jimmy zu erklären, dass das nicht mehr nötig sei. Aber Jimmy hatte sich nicht belehren lassen. Sie hatte den Verdacht, dass er ihre gemeinsamen Montagabende genauso sehr brauchte wie sie selbst.

Einige Monate zuvor war Detective Sergeant Phil Parhatka im Dienst umgekommen. In Schottland kam das fast nie vor; es gab keine gängige Vorgehensweise, um darüber wegzukommen. Phil war Karens Partner gewesen. Die große Liebe ihres Lebens. Sie hatte sich in der ersten Woche ihrer Zusammenarbeit in ihn verliebt und war jahrelang überzeugt, ihre Liebe werde nie erwidert werden. Und dann war es doch geschehen.

Nachdem sie ein Paar geworden waren, hatte Phil die Historic Cases Unit verlassen. Er wurde Jimmy Huttons Partner und Begleiter, sein zuverlässiger Stellvertreter in der Einheit, die den seltsamen Namen Murder Prevention Team trug: Team zur Prävention von Tötungsdelikten. Er war von der Arbeit begeistert, und es war ihm nie eingefallen, dass er dabei zu Tode kommen könnte. Und dann war es doch passiert.

Nach dem Begräbnis kümmerte sich Karen nicht um den Rat, den ihr alle gaben, dass sie ein Jahr lang keine wichtigen Entscheidungen treffen solle. Sie verkaufte das Haus in Kirkcaldy, das Phil ihr hinterlassen hatte. Sie verkaufte ihr eigenes Haus an das Paar, das es von ihr gemietet hatte. Mit dem Erlös leistete sie eine beträchtliche Anzahlung auf die Wohnung am Western Harbour Breakwater, die eine sensationelle Aussicht bot und an der absolut keine Erinnerungen hafteten.

Zwei Wochen nach dem Begräbnis hatte Jimmy Hutton an einem Montag vor der Tür gestanden. »Ich dachte, du könntest vielleicht Gesellschaft brauchen«, hatte er erklärt und ihr eine Flasche Gin gereicht – The Botanist von der Insel Islay.

»Mir geht’s ganz gut«, hatte sie geantwortet, sich aber dabei an die Tür gelehnt, um sich abzustützen. Güte war ihr Verhängnis, hatte sie in letzter Zeit entdeckt.

Jimmy hatte geseufzt. »Nein, stimmt nicht. Und mir geht’s auch nicht gut. Ich bin nicht hergekommen, um sentimental zu werden. Wir haben beide einen Schlag abbekommen, aber wir dürfen uns das im Alltag nicht anmerken lassen. Ich konnte mit Phil reden und du auch. Ich habe mich gefragt, ob wir stattdessen vielleicht miteinander reden könnten.«

Da hatte sie die Tür weiter aufgemacht und gesagt: »Ich hab Fevertree Tonic im Kühlschrank.« Seitdem war es zu einem Ritual für den Montagabend geworden. Sie verkosteten Gin und unterhielten sich. Über Phil sprachen sie nicht viel. Es war nicht nötig. Beide hatte es sehr mitgenommen, als er gestorben war, und sie wussten, was sie verloren hatten. Aber wenn sie auf ihn zu sprechen kamen, dann mit Herzlichkeit und traurigem Lächeln. Meist aber unterhielten sie sich über ihre Arbeit. Sie hörten einander zu und gaben sich Feedback. Und dabei hatten sie eine ganze Reihe interessanter und manchmal recht heftiger Ginsorten probiert. Karen bevorzugte ganz klar Miller’s Westbourne Strength mit seinem Anklang an den Geschmack von Gurken, während Jimmys derzeitiger Favorit Caorunn aus den Highlands war, der eine unverwechselbare Note von Vogelbeeren hatte.

Heute Abend wollten sie sich Jimmys neueste Entdeckung vornehmen – Professor Cornelius Ampleforth’s Bathtub Gin. Sosehr sie ihre Arbeit auch liebte: Mit den Montagabenden konnte sie nicht konkurrieren. Außerdem hatte sie im Fall Tina McDonald ja schon den ersten Anlauf genommen. Sie hatten die Hunderte von Berichten noch nicht durchgesehen, aber schon ihr erster Eindruck von der Art und Weise, wie die Unterlagen geordnet waren, gab ihr das Gefühl, dass man bei der ursprünglichen Ermittlung nicht gepfuscht hatte. Auf den ersten Blick sah es aus, als sei man peinlich genau vorgegangen. Nur hatte man kein Glück gehabt.

Und da kam Ross Garvies familiäre DNA ins Spiel.

Karen freute sich darauf, Jimmy davon zu erzählen. Aber es zeigte sich, dass er zuerst mit seinem Anliegen loslegte. Teilweise weil er Karen warnen wollte. Er wusste über ihre Streifzüge Bescheid, und sie beunruhigten ihn. Schließlich wusste er, wie es spätnachts auf den Straßen einer großen Stadt zuging, und er wollte nicht, dass Karen zu Schaden kam. Nach der Sache mit Phil wäre das unerträglich.

»Ich nehme mich schon in Acht«, hatte Karen eingeworfen, als er zum ersten Mal darauf zu sprechen kam.

»Ja, und Phil hat das auch getan. Du bist nicht das Problem, sondern es geht um die Idioten und blöden Säcke da draußen.«

Schon mehrfach hatte er das Thema angeschnitten, manchmal direkt, manchmal auf Umwegen. Heute Abend ging er es eher hintenherum an. »Hast du gehört, dass es oben bei Kinross gestern Nacht einen Mord gegeben hat?« Jimmy ließ die Eiswürfel in seinem Drink kreisen und gegen das Glas klirren. Er roch daran und zog konzentriert die Nase kraus, als er die komplexe Mischung von Kräutern im Gin wahrnahm.

»Was? Einer, mit dem du zu tun hast?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, Gott sei Dank nicht. Ich weiß nur so viel darüber, weil wir in einem anderen Fall mit der Sozialarbeiterin des Opfers zusammenarbeiten. Sie hat mir davon erzählt, als ich heute Nachmittag bei ihr vorbeigeschaut habe.«

Karen füllte an der Küchentheke eine Schale mit Chips und ging wieder ans andere Ende des Wohnzimmers zurück, wo zwei Sofas wie ein V aneinandergestellt waren, damit man die beste Aussicht hatte. »Häusliche Gewalt?« Sie setzte sich und stellte die Schale auf den dreieckigen Glastisch.

»Nein.« Jimmy nahm sich eine Handvoll Chips. »Ganz im Gegenteil, eigentlich.«

Neugierig hob Karen fragend die Augenbrauen. »Was ist es dann? Das Gegenteil von häuslicher Gewalt?«

»Na ja, zunächst mal lebte das Opfer gar nicht in einer Beziehung. Soweit Giorsal weiß, hatte er nie …«

»Hast du gerade Giorsal gesagt?«, unterbrach ihn Karen.

Jimmys Augenbrauen zuckten. »Ja. Giorsal Kennedy. Sie ist die leitende Sozialarbeiterin für den Fall.«

»Wir sind zusammen in die Schule gegangen.«

»Ja, sie hat erwähnt, dass sie dich von früher kennt.«

»Wir waren befreundet, aber dann ging sie nach Manchester und studierte Sozialarbeit. Erstaunlich. Giorsal Kennedy. So wahr ich hier stehe, das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass sie einen Typen aus Liverpool geheiratet hat. Wann ist sie nach Fife zurückgekommen?«

Jimmy zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht genau. Wir arbeiten jetzt etwas länger als ein Jahr mit ihr zusammen. Du solltest sie mal anrufen. Ich wette, sie würde sich freuen, von dir zu hören.«

Karen schnaubte. »Und wer spielt jetzt den Sozialarbeiter? Ich hab die Frau länger als fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen, wir haben wahrscheinlich nichts mehr gemeinsam. Aber trotzdem, Giorsal Kennedy …« Sie nahm sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf das Thema. »Erzähl mir also von diesem Mord, der nichts mit häuslicher Gewalt zu tun hat.«

»Das Opfer war ein Mann namens Gabriel Abbott. Wie man hört, ein Einzelgänger. Er wohnte in einem kleinen Cottage in der Nähe der Hinkelsteine von Orwell.«

»Was? Die, die aussehen wie zwei große Dildos mitten auf einem Acker?«

Jimmy lachte. »Du denkst wohl nur an das eine.«

»He, jetzt komm schon. An was erinnern sie dich denn? Es ist nichts Symbolisches an ihnen, Jimmy. Es sind zwei riesige Pimmel. Sonst nichts.«

Er schüttelte den Kopf. »Wie du meinst. Jedenfalls hatte er wohl die Angewohnheit, zu Fuß vom Pub in Kinross auf dem Pfad am Loch Leven nach Haus zu gehen. Gestern früh radelte ein Typ von Scotlandwell zu seinem Arbeitsplatz in Kinross und bemerkte, dass ein Mann an einem Aussichtspunkt ein paar Meter entfernt vom Weg zusammengesunken auf einer Bank saß. Er dachte, es sei ihm vielleicht etwas zugestoßen. Also hielt er an und schaute mal nach, und siehe da, es ist Gabriel Abbott.«

»Schon tot?«

»O ja, zu dem Zeitpunkt schon seit einigen Stunden tot. Zuerst hielt man es für Selbstmord. Ein Schuss in den Kopf, die Pistole hielt er in der Hand.«

»Aber?« Karen beugte sich vor, sie witterte, dass da noch etwas kommen würde.

Jimmy zog ein langes Gesicht und stellte sein Glas auf dem Tisch ab. »Die Einschusswunde war hier.« Er zeigte mit den Fingerspitzen auf die rechte Schläfe. Dann wedelte er mit den Fingern der linken Hand. »Aber die Waffe war in seiner linken Hand. Wenn er also kein Verrenkungskünstler war …«

»… hat jemand nachgeholfen, der nicht ganz so schlau war wie beabsichtigt.« Sie schüttelte den Kopf und atmete langsam aus. »Das kann leicht passieren, wenn man Panik bekommt. Wenn man Amateur ist. Was steckt dahinter?«

»Bis jetzt noch nichts. Es ist so rätselhaft wie der Banker, der vor ein paar Jahren in Nairn vor seiner Haustür erschossen wurde. Erinnerst du dich?«

Karen nickte. Keine Feinde, keine Schulden, kein Motiv. Keine Zeugen, Herkunft der Waffe ungeklärt, keine brauchbare DNA. »Was hat denn dieser Gabriel Abbott beruflich gemacht?«

Jimmy nahm sein Glas und nippte daran. »Nichts. Den hier find ich gut, Karen. Ich schmecke eine Spur Koriander und Zimt. Könnte der perfekte Aperitif vor einem Curry sein.«

»Da könntest du recht haben.« Sie nahm einen weiteren Schluck. »Würzige Wärme. An dem ist nichts Künstliches. Aber um auf den Toten zurückzukommen: Wie alt war er?«

»Ungefähr dreißig, glaube ich. Giorsal sagt, er sei intelligent gewesen, aber er hatte schon lange psychische Probleme. Hat es nie geschafft, eine Arbeit zu behalten.«

»Man kann sich nur schwer vorstellen, dass jemand wie er einen Menschen so wütend machen konnte, dass der ihn ermordete.«

»Da ist nicht immer so viel nötig.«

»Stimmt.«

»Vielleicht war er einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.« Jimmy schaute über den Rand seines Glases zu ihr hinüber. »Deshalb …«

»Nicht weiter«, sagte Karen. »Ich habe keine Lust auf eine deiner plumpen moralischen Geschichten. Im Dunkeln passieren schlimme Dinge. Aber am helllichten Tag passieren auch schlimme Dinge. Phil ist nicht gestorben, weil er nachts auf den Straßen herumlief, Jimmy. Ich kann schon auf mich aufpassen. Ich weiß, wie ich mich absichern kann.«

Jimmy seufzte und fuhr mit der Hand über die wellenförmigen Unebenheiten seines rasierten Schädels. »Klar weißt du das.« Er klang bekümmert, niedergedrückt vom Zweifel.

»Die Kollegen mühen sich also mit dem Fall ab?«

»Ja. Keine Zeugen. Nichts.«

»Interessant.« Karen starrte auf das Wasser hinaus. Manchmal sehnte sie sich nach einem aktuellen Fall. Sie liebte ihre Arbeit, aber sie konnte sich nicht vormachen, dass sie den gleichen Adrenalinrausch auslöste wie die Aufgabe, eine Beweiskette in der Gegenwart auszuarbeiten.

»Ich sag dir, was wirklich interessant ist, Karen. Vor zweiundzwanzig Jahren wurde Gabriel Abbotts Mutter ermordet. Und niemand hat auch nur einen Tag dafür in Haft gesessen.«

7

Auf der Fahrt nach Dundee am nächsten Morgen ließ Karen den Minzdrops ans Steuer. Nicht weil sie sich sorgte, dass sie am Abend zu viel Gin getrunken haben könnte, sondern weil sie über den von Jimmy Hutton erwähnten Fall nachgrübeln wollte. Es gab viele Dinge, die gehäuft in Familien vorkommen, aber Mord gehörte nicht dazu. Nicht einmal bei Familien, die den Computer mit der Verbrecherdatei rattern ließen wie einen Glücksspielautomaten, wenn den Jackpot geknackt worden war. Aber Gabriel Abbotts Familie fiel nicht in diese Kategorie.

Und genauso wenig gab es Ähnlichkeiten zwischen den beiden Morden. Als Jimmy gegangen war, hatte Karen im Internet nachgeschaut, was sie über den Tod von Abbotts Mutter herausfinden konnte. Es war ganz anders als das, was sie erwartet hatte.

Caroline Abbott, eine erfolgreiche Theaterproduzentin des West End, hatte den schwerwiegenden Fehler begangen, zusammen mit einem ehemaligen Minister für Nordirland in einem kleinen Flugzeug zu fliegen, zu einer Zeit, als die IRA und ihre verschiedenen Splittergruppen ihre terroristische Macht beweisen wollten. Als das Flugzeug über der Region Scottish Borders explodierte, waren die vier Passagiere sofort tot. Es schien ein klarer Fall zu sein, obwohl niemand die Verantwortung übernommen hatte. »Hat wahrscheinlich das verdammte Code-Wort vergessen«, hatte sie gemurmelt und daran gedacht, wie oft sie ihre Bank anrief, weil sie ihr Passwort vergessen hatte.

Später, als sie in den frühen Morgenstunden an der Küste entlanggelaufen war, hatte sie über Gabriel Abbott nachgegrübelt, einen Mann, dessen Leben bestimmt durch diesen frühen Verlust geprägt worden war. Vor einem Jahr hätte sie das nicht bemerkenswert gefunden. Aber jetzt war auch sie jemand, dessen Leben durch Verlust verändert worden war, und sie spürte unwillkürlich eine gewisse Verwandtschaft zu dem Toten. Statt auf ihre Umgebung zu achten, verbiss sie sich in einige Details, die sie im Internet über die Katastrophe herausgefunden hatte. Sie hatte Gabriels Leben auf den Kopf gestellt, so wie Phils Ermordung das mit dem ihren gemacht hatte.

Rein äußerlich betrachtet, gab es nichts, was Caroline Abbotts Ermordung mit der ihres Sohnes verband. Ein terroristischer Bombenanschlag und ein Schuss, der auf eine bestimmte Person gerichtet und aus nächster Nähe abgegeben worden war. Nur ein tragischer Zufall.

Allerdings glaubte Karen nicht an Zufälle.