Der Sinn von allem – oder zumindest fast - Scott Hershovitz - E-Book

Der Sinn von allem – oder zumindest fast E-Book

Scott Hershovitz

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Beschreibung

Scott Hershovitz ist ein talentierter Erzähler und ein scharfsinniger Philosoph, der eine spannende Einführung in die moderne Philosophie geschrieben hat. Wie seine eigenen Kinder stellt er Fragen, die die Vernunft nich abweisen kann: über Wahrheit, Moral, Gott oder die Unendlichkeit des Universums. Ein philosophisches Buch für Erwachsene, die sich ihre kindliche Neugier bewahrt haben. Philipp Hübl, Philosoph und Publizist

Wie sehen Farben für andere Menschen aus? Wo endet das Universum und was kommt danach? Existiert die Welt wirklich, oder leben wir in einem Traum? Inspiriert von den Fragen seiner Söhne Rex und Hank stellt der Philosophieprofessor Scott Hershovitz sich den großen Rätseln des Lebens. Er nimmt uns mit auf eine Reise durch die klassische und zeitgenössische Philosophie und entschlüsselt alte und neue Fragen der Metaphysik und Moral. Er erzählt von Kindern und anderen Philosophen – und erklärt, was wir von ihnen über Recht und Bestrafung, Gleichberechtigung und Verantwortung, Wahrheit und den Tod lernen können. Brillant und voller Humor berichtet er von seinem philosophischen Alltag und zeigt, dass Philosophie gar nicht so kompliziert und dabei wahnsinnig unterhaltsam ist.

Unterhaltsam und faszinierend. Getrieben von Gesprächen mit seinen beiden jungen Söhnen, flaniert Scott Hershovitz durch die hartnäckigsten Fragen der Philosophie: Ist das Universum unendlich? Können wir wirklich etwas wissen? Ist Fluchen in Ordnung? Sollten wir Rache üben? ›Der Sinn von fast allem – oder zumindest fast‹ ist eine leichtfüßige Einführung darüber, wie man tiefgreifende philosophische Themen mit Kindern diskutiert – und wie man selbst darüber nachdenken kann.Pamela Druckerman, Autorin von Warum französische Kinder keine Nervensägen sind

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Sehe ich Farben gleich wie andere? Wo endet das Universum, und was kommt danach? Existiert die Welt wirklich, oder leben wir in einem Traum? Mit den Fragen seiner kleinen Söhne stellt der Philosoph Scott Hershovitz sich den großen Rätseln des Lebensm und der Philosophie.

Brillant, voller Humor und gar nicht so kompliziert: Die Welt der Philosophie ist wahnsinnig unterhaltsam.

»Scott Hershovitz ein talentierter Erzähler und ein scharfsinniger Philosoph, der eine spannende Einführung in die moderne Philosophie geschrieben hat. Wie seine eigenen Kinder stellt er Fragen, die die Vernunft nicht abweisen kann: über Wahrheit, Moral, Gott oder die Unendlichkeit des Universums. Ein philosophisches Buch für Erwachsene, die sich ihre kindliche Neugier bewahrt haben.«   Philipp Hübl, Philosoph und Publizist

Unterhaltsam und faszinierend. Getrieben von Gesprächen mit seinen beiden jungen Söhnen, flaniert Scott Hershovitz durch die hartnäckigsten Fragen der Philosophie: Ist das Universum unendlich? Können wir wirklich etwas wissen? Ist Fluchen in Ordnung? Sollten wir Rache üben? oder zumindest fast‹ ist eine leichtfüßige Einführung darüber, wie man tiefgreifende philosophische Themen mit Kindern diskutiert – und wie man selbst darüber nachdenken kann.«   Pamela Druckerman, Autorin und Journalistin

SCOTT HERSHOVITZ

DER SINN

VON ALLEM

ODER ZUMINDEST FAST

Überraschende Einsichten eines Philosophen

Aus dem amerikanischen Englisch

von Daniel Müller, Elisabeth Schmalen,

Karolin Viseneber

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

»Nasty, Brutish, and Short« bei Penguin Press, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Der Begriff »Schwarz« wird in diesem Buch großgeschrieben, sofern er sich auf Personen bezieht. Er bezeichnet keine Eigenschaft, die sich auf eine Hautfarbe bezieht, sondern wird bewusst von Menschen als Selbstbezeichnung gewählt, die aufgrund ihrer Hautfarbe Erfahrungen mit Rassismus machen. Analog dazu ist »weiß« klein und kursiv gesetzt, um anzuzeigen, dass es sich auch hier um eine soziale Kategorie handelt.

Deutsche Erstausgabe 06/2022

© by Scott Hershovitz 2022

© der deutschsprachigen Ausgabe 2022

by Ludwig Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Heike Gronemeier

Umschlaggestaltung: Guter Punkt GmbH & Co. KG

Illustration: Dirk Schmidt/www.wasmachtdirk.de

Typografie: Marion Blomeyer/Lowlypaper, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26443-7V001

www.Ludwig-Verlag.de

Für Julie, Rex und Hank

Inhalt

EINLEITUNG  Die Kunst des Denkens

Teil 1

Moral verstehen

1  Rechte

2  Rache

3  Strafe

4  Autorität

5  Sprache

Teil 2

Uns verstehen

6  Geschlecht, Gender und Sport

7  Rassismus und Verantwortung

Teil 3

Die Welt verstehen

8  Erkenntnis

9  Wahrheit

10  Geist

11  Unendlichkeit

12 Gott

ENDE  Leitfaden zur philosophischen Erziehung

Dank

ANHANG  Weiterführendes Material

Anmerkungen

EINLEITUNG

Die Kunst des Denkens

Fii-zuu-zoof!«, stieß Hank mit halb offenem Mund hervor.

»Was sagst du?«, fragte Julie, die im Badezimmer neben ihm stand.

»Fii! Zuu! Zoo-oof!«

»Ich weiß nicht, was du meinst. Sollen wir noch mal spülen?«

»Nain! Fii-zuu-zoof!«, brüllte Hank, den Mund immer noch geöffnet.

»Ich glaube, du musst wirklich nur spülen. Geh zurück zum Waschbecken.«

»Naaaiiin!«, insistierte Hank. »FII! ZUU! ZOO-OOF!«

»Scott!«, rief Julie. »Ich glaube, Hank braucht dich. Hier wird ein Philosoph verlangt.«

Ich bin Philosoph. Gebraucht hat mich allerdings noch nie jemand. Ich lief ins Bad. »Hank, Hank! Ich bin Philosoph. Wie kann ich dir helfen?«

Er sah verwirrt aus. »Fii-zuu-zoof«, sagte er bestimmt.

»Ja doch, Hank, ich bin Philosoph. Das ist mein Beruf. Also, was ist das Problem?«

Er riss den Mund noch weiter auf, sagte aber nichts.

»Hank, was ist das Problem?«

»Za zeckt was in main Zähn. Spüln aba fii-zuu-zoof.«

»Da steckt was in deinen Zähnen? Spülen ist aber viel zu doof?«

»G-nau!«

Wie es aussah, fand Hank lediglich das Spülen fii-zuu-zoof, ein Phi-lo-soph war jedoch nie vonnöten gewesen. Das passte auch viel besser zu einem Zweijährigen – kleine Kinder finden viele Sachen doof, brauchen aber eigentlich nie einen Philosophen. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich kaum von den meisten anderen Menschen. Philosophen braucht einfach niemand. Das reibt man uns gern unter die Nase.

◆  ◆  ◆

»Was genau tun Philosophen eigentlich?«

»Ähm, also … größtenteils denken wir nach.«

»Und worüber?«

»Alles Mögliche eigentlich. Gerechtigkeit, Fairness, Gleichberechtigung, Religion, Recht, Sprache …«

»Über diese Dinge denke ich auch nach. Bin ich deshalb eine Philosophin?«

»Das könnte schon sein. Denken Sie denn sorgfältig über diese Dinge nach?«

Wie oft ich solche Gespräche schon geführt habe? Na ja, ehrlich gesagt noch nie. Aber so oder ähnlich könnte ich mir ein Gespräch vorstellen, sollte mein Gegenüber mitbekommen, dass ich Philosoph bin. Meist sage ich jedoch, ich sei Anwalt. Außer ich treffe eine Anwältin oder einen Anwalt. Dann sage ich, ich sei Juraprofessor, um meine höhere Stellung zu unterstreichen. Spreche ich jedoch mit einer anderen Juraprofessorin oder einem Juraprofessor, dann bin ich definitiv Philosoph. Gegenüber einem Philosophen oder einer Philosophin bin ich aber wieder ein Anwalt. Es ist ein ausgeklügeltes System, sorgfältig ersonnen, um mir in jeder erdenklichen Unterhaltung einen Vorteil zu verschaffen.

Aber eigentlich bin ich Philosoph. Auch wenn mir das selbst immer noch unwahrscheinlich erscheint. Es war nämlich nie mein Plan. Als Erstsemester an der University of Georgia wollte ich eigentlich den Kurs Einführung in die Psychologie belegen, aber der war bereits voll. Einführung in die Philosophie brachte dieselben Credits. Hätte es in dem Psychologiekurs noch einen Platz für mich gegeben, wäre ich möglicherweise Psychologe geworden und hätte statt diesem hier ein Buch mit jeder Menge praktischen Erziehungstipps geschrieben. Auf diesen Seiten finden sich zwar auch Erziehungstipps, aber nur wenige davon sind praktischer Natur. Mein wertvollster Rat ist einfach: Sprechen Sie mit Ihren Kindern (oder mit den Kindern anderer Leute). Sie sind nämlich verdammt lustig – und auch gute Philosophen und Philosophinnen.

Ich verpasste die erste Vorlesung dieses Philosophiekurses, weil meine Leute – die jüdische Gemeinschaft, nicht die philosophische – das neue Jahr an einem mehr oder weniger willkürlich gewählten Termin im Herbst feiern. Immerhin schaffte ich es zur zweiten und war sofort fasziniert. Der Professor hieß Clark Wolf und fragte uns reihum, was wir für bedeutsam hielten. Er lief im Raum auf und ab und notierte die Antworten zusammen mit unseren Namen und denen berühmter Philosophen mit ähnlichen Ansichten an der Tafel.

Glück: Robyn, Lila, Aristoteles

Lust: Anne, Aristippos von Kyrene, Epikur

Das Richtige tun: Scott, Neeraj, Kant

Nichts: Vijay, Adrian, Nietzsche

Meinen Namen an der Tafel zu lesen, gab mir das Gefühl, meine Gedanken zu der Frage, was bedeutsam sei, könnten wichtig sein. Und dass ich möglicherweise an einem Gespräch teilnehmen könnte, das Leute wie Aristoteles, Kant und Nietzsche führten.

Ein verrückter Gedanke, von dem meine Eltern nicht besonders angetan waren. Ich erinnere mich noch daran, wie ich meinem Vater in einem Hähnchengrill gegenübersaß und ihn von meinem Plan unterrichtete, im Hauptfach Philosophie zu studieren. »Was ist Philosophie eigentlich?«, fragte er. Das ist eine gute Frage. Er kannte die Antwort nicht, weil er als Erstsemester einen Platz im Einführungskurs Psychologie ergattert und genau das auch später im Hauptfach studiert hatte. Mir wurde klar, dass ich ein Problem hatte: Ich kannte die Antwort auch nicht, obwohl ich seit mehreren Wochen einen Philosophiekurs besuchte. Was ist Philosophie, überlegte ich, und warum will ich es eigentlich studieren?

Ich entschied mich dazu, es meinem Vater zu zeigen, anstatt es ihm zu erklären. »Wir denken, dass wir an einem Tisch sitzen, Grillhähnchen essen und uns über die Uni unterhalten«, begann ich. »Aber tun wir das wirklich? Was, wenn jemand unsere Gehirne gestohlen, sie in einen Tank gelegt und an Elektroden angeschlossen hat, um sie so zu stimulieren, dass wir denken, wir würden Grillhähnchen essen und über die Uni quatschen?«

»Können die das wirklich machen?«, fragte er.

»Vermutlich nicht, aber darum geht’s auch gar nicht. Die Frage ist doch, ob wir sicher sein können, dass sie es nicht gemacht haben. Woher wissen wir, dass wir nicht nur Gehirne in Tanks sind, die sich eine Unterhaltung in einem Hähnchengrill vorstellen?«

»Und so etwas willst du studieren?« Der Ausdruck auf seinem Gesicht war alles andere als ermutigend.

»Ja, verstehst du denn nicht, welche Sorge hinter all dem steckt? Alles, was wir zu wissen glauben, könnte falsch sein.«

Er verstand die Sorge nicht. Unser Gespräch fand einige Zeit vor dem Erfolg von Matrix statt, sodass ich nicht auf eine Autorität wie Keanu Reeves verweisen konnte, um die Dringlichkeit der Angelegenheit hervorzuheben. Nachdem ich noch ein paar Minuten über Gehirne und Tanks geschwafelt hatte, schloss ich mit: »Die Fakultät bietet auch eine ganze Menge Logikkurse an.«

»Na dann«, erwiderte mein Vater, »hoffe ich mal, dass du die auch belegst.«

◆  ◆  ◆

Ich sagte eingangs, es komme mir unwahrscheinlich vor, Philosoph zu sein. Aber das stimmt nicht. Unwahrscheinlich ist eher die Tatsache, dass ich immer noch Philosoph bin – dass mein Dad der Sache damals im Hähnchengrill oder schon lange davor keinen Einhalt geboten hat. Ein Philosoph war ich nämlich schon von klein an, sobald ich sprechen konnte eigentlich, und darin bin ich kein Einzelfall. Alle Kinder – wirklich alle – sind Philosophen und Philosophinnen. Wenn sie älter werden, hören sie irgendwann damit auf. Gut möglich, dass es beim Erwachsenwerden zum Teil genau darum geht: das Philosophieren aus den Augen zu verlieren und sich stattdessen praktischeren Dingen zu widmen. Wenn das stimmt, bin ich wohl noch nicht erwachsen – was für niemanden aus meinem Bekanntenkreis eine Überraschung sein dürfte.

Meine Eltern können nichts dafür. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich das erste Mal über einem philosophischen Rätsel brütete. Ich war fünf Jahre alt, und der Gedanke kam mir beim Morgenkreis im Kindergarten der jüdischen Gemeinde. Ich dachte den ganzen Tag darüber nach, und als die Abholzeit gekommen war, konnte ich es kaum abwarten, meiner Mutter, die am Ende des Flurs Vorschulunterricht gab, davon zu erzählen.

»Mommy«, sagte ich, »ich weiß nicht, wie Rot für dich aussieht.«

»Doch, das weißt du. Es sieht rot aus«, antwortete sie.

»Ja, ähm … nein«, stammelte ich. »Ich weiß, wie Rot für mich aussieht, aber ich weiß nicht, wie es für dich aussieht.«

Sie wirkte verwirrt. Der Fairness halber muss ich sagen, dass ich mich unter Umständen nicht klar ausgedrückt hatte. Ich war ein kleiner Knirps, und es bereitete mir einige Schwierigkeiten, ihr meinen Gedanken verständlich zu machen.

»Rot sieht so aus«, sagte sie und zeigte auf einen roten Gegenstand.

»Ich weiß, dass das rot ist«, sagte ich.

»Was ist dann das Problem?«

»Ich weiß nicht, wie Rot für dich aussieht.«

»Es sieht so aus«, sagte sie zunehmend genervt.

»Ja«, sagte ich, »aber ich weiß nicht, wie das für dich aussieht. Ich weiß nur, wie es für mich aussieht.«

»Es sieht genauso aus, mein Großer.«

»Das kannst du nicht wissen«, beharrte ich.

»Doch, kann ich«, sagte sie und zeigte abermals auf einen roten Gegenstand. »Das ist rot, richtig?«

Sie kapierte es nicht, aber ich ließ nicht locker. »Wir bezeichnen dieselben Dinge als rot«, versuchte ich zu erklären, »weil du mir rote Dinge gezeigt hast und dazu gesagt hast, dass sie rot sind. Aber was, wenn ich Rot so sehe, wie du Blau siehst?«

»Tust du aber nicht. Das ist Rot, nicht Blau, richtig?«

»Ich weiß, dass wir beide das Rot nennen«, sagte ich, »aber Rot könnte für dich so aussehen, wie für mich Blau aussieht.«

Ich weiß nicht mehr, wie lange das so weiterging, aber meine Mutter begriff nie, worauf ich hinauswollte. (Mom, wenn du das hier liest, ich erklär’s dir gern noch einmal.) Ich weiß jedoch noch genau, wie sie die Unterhaltung beendete: »Hör auf, dir darüber den Kopf zu zerbrechen. Es spielt keine Rolle. Du kannst hervorragend sehen.«

Das war das erste Mal, dass ich gesagt bekam, ich solle das Philosophieren lassen. Das erste Mal von vielen.

◆  ◆  ◆

In der Philosophie nennt man diesen Gedanken, den ich mit meiner Mutter diskutierte, invertiertes Farbspektrum[1]. Die Idee dazu wird für gewöhnlich John Locke zugeschrieben, dem englischen Philosophen aus dem 17. Jahrhundert, dessen Ansichten auch die Mütter und Väter der US-amerikanischen Verfassung beeinflussten. Ich gehe allerdings jede Wette ein, dass unzählige Knirpse im Kindergartenalter schon viel früher auf diese Problematik gestoßen waren. Tatsächlich berichtete Daniel Dennett, ein führender Vertreter der Philosophie des Geistes, dass viele seiner Studierenden eigenen Angaben zufolge bereits im Kindesalter über dieses Thema nachgegrübelt hätten.[2] Sehr wahrscheinlich verstanden ihre Eltern weder, was sie sagten, noch, wie bedeutsam es war. Diese Frage ist jedoch tatsächlich sehr bedeutsam, da sie den Blick auf einige der größten Geheimnisse unserer Welt und unseren Platz darin lenkt.

Locke selbst erklärte die Problematik so:

Auch dann dürfte man unseren einfachen Ideen nicht Falschheit vorwerfen, wenn der verschiedenartige Bau unserer Organe es mit sich brächte, dass dasselbe Objekt im Geist verschiedener Menschen gleichzeitig verschiedene Ideen erzeugen würde. Nehmen wir zum Beispiel an, die Idee, die ein Veilchen im Geist des einen Menschen vermittels der Augen erzeugt, sei dieselbe, die im Geist eines anderen durch die Ringelblume erzeugt werde und umgekehrt.[3]

Ich weiß, was Sie jetzt denken: Mit fünf Jahren konnte ich mich schon verständlicher ausdrücken als der erwachsene Locke. Aber keine Bange, ich werde Sie nicht mit unzähligen Zitaten lang verstorbener Philosophen traktieren. Mit diesem Buch will ich schließlich zeigen, dass wir alle philosophieren können, so, wie das jedes Kind kann. Wenn Kindergartenkinder philosophische Gedanken haben können, ohne Locke zu lesen, dann können wir das auch.

Da wir Locke nun aber einmal gelesen haben, können wir auch schauen, ob wir ihn verstehen. Worum geht es ihm? In diesem Textabschnitt stecken viele Geheimnisse, es geht um den Charakter von Farben, unser Bewusstsein, und die Schwierigkeit – oder sogar Unmöglichkeit –, manche unserer Erfahrungen in Worte zu fassen. Über einige dieser Geheimnisse werden wir später noch nachdenken. Das letzte von ihnen deutet auf eine sehr beunruhigende Vermutung hin: Der Geist unserer Mitmenschen ist, in einem grundlegenden Sinne, für uns verschlossen.

Möglicherweise sehen andere Menschen die Welt anders, als wir es tun, und dabei geht es nicht nur darum, dass sie abweichende Meinungen zu kontroversen Themen haben. Nein, womöglich sehen sie die Welt tatsächlich anders. Wenn ich in Ihren Kopf schlüpfen und mit Ihren Augen, Ihrem Gehirn sehen könnte, würde ich vielleicht feststellen, dass aus meiner Perspektive alles auf den Kopf gestellt wäre. Vielleicht sähen die Stoppschilder blau aus, vielleicht würde der Himmel rot strahlen. Möglich auch, dass die Unterschiede etwas subtiler wären, eine Farbnuance nur oder ein etwas lebendigerer Ton. Da ich aber nicht in Ihren Kopf schlüpfen kann, weiß ich auch nicht, wie die Welt für Sie aussieht. Ich weiß es noch nicht einmal bei den Leuten, die ich am besten kenne: meiner Ehefrau, meinen Kindern.

Ein trauriger Gedanke. Wenn Locke recht hat, sind wir, in einem wichtigen Sinne, in unseren eigenen Köpfen gefangen, abgeschnitten von den Erfahrungen anderer Menschen. Wir können vermuten, wie diese Erfahrungen aussehen. Aber wissen können wir es nicht.

Es ist sicher kein Zufall, dass vielen Kindern im Kindergartenalter dieser Gedanke kommt. In diesem Entwicklungsabschnitt geht es darum, andere Menschen zu verstehen – die Kinder wollen lernen, die Gedanken der anderen zu lesen. Versteht man nicht, was andere Menschen denken, kommt man in dieser Welt für gewöhnlich nicht sehr weit. Wir müssen in der Lage sein, sowohl die Handlungen unserer Mitmenschen als auch ihre Reaktionen auf unsere Handlungen zu antizipieren. Zu diesem Zweck erstellen und prüfen Kinder ständig Theorien über die Ansichten, Absichten und Motivationen der Menschen in ihrer Umgebung. Natürlich würden sie das nie auf diese Weise ausdrücken, und sie reflektieren diese Vorgänge auch nicht. Genauso wenig wie das Herunterwerfen der Schnabeltasse vom Hochstuhl, und doch ist auch das ein Experiment – aus dem Bereich der Physik ebenso wie dem der Psychologie. (Die Tasse fällt jedes Mal zu Boden, und irgendjemand hebt sie jedes Mal wieder auf.)

Ich weiß nicht, warum ich an jenem Tag im Kindergarten über Farben nachgrübelte. Was ich dabei jedoch entdeckte – ganz einfach, indem ich die Sache durchdachte –, war eine Begrenztheit meiner Fähigkeit, zu verstehen, was im Kopf anderer Menschen vorgeht. Indem ich das Verhalten meiner Mutter beobachtete, konnte ich eine Menge über ihre Ansichten, Absichten und Motivationen erfahren. Aber ganz gleich, was ich tat, es war unmöglich herauszufinden, ob Rot für sie genauso aussah wie für mich.

Wir werden zu diesem Problem zurückkehren. Wie ich schon sagte, wirft diese Frage einen Blick auf die größten Geheimnisse unserer Welt. Kinder wagen sich immer wieder an diese Geheimnisse heran. Die meisten Erwachsenen haben wohl vergessen, dass es sie überhaupt gibt.

◆  ◆  ◆

Viele sind skeptisch, wenn ich von diesem besonderen Blick der Kinder auf unsere Welt erzähle. Sicher, du hast als Kind diese Idee mit dem invertierten Farbspektrum gehabt, sagen sie. Aber du bist auch Philosoph geworden. Im Allgemeinen sei das jedoch nicht normal für Kinder. Wenn ich nicht selbst Vater wäre, hätte ich diesen Stimmen wahrscheinlich geglaubt. Aber ich habe zwei Söhne: Hank, den Sie bereits kennengelernt haben, und Rex, der ein paar Jahre älter ist. Mit drei Jahren sagte Rex bereits Dinge, die auf philosophische Themen verwiesen, auch wenn er diese selbst noch nicht sah.

Mit zunehmendem Alter traten die philosophischen Aspekte in den Äußerungen meiner Söhne mehr in den Vordergrund. Eines Tages fragte Julie den damals achtjährigen Hank, was er gern essen wolle, und gab ihm zwei Optionen: Quesadilla oder einen halben Hamburger vom Vortag. Hank tat sich sehr schwer mit der Entscheidung. Man hätte meinen können, es ginge um die Frage, welches Elternteil er vor dem sicheren Tod bewahren solle.* Er brauchte eine Weile.

»Ich nehme den Burger«, sagte er eine gefühlte Ewigkeit später.

»Steht schon auf dem Tisch«, antwortete Julie. Wenn er wählen kann, nimmt Hank immer den Burger.

Hank war nicht glücklich über diese Entwicklung. Er begann zu weinen.

»Was ist los, Hank?«, fragte ich. »Das war doch, was du wolltest.«

»Aber Mommy hat mich nicht entscheiden lassen«, sagte er.

»Doch, das hat sie. Du hast gesagt, du willst den Burger, und jetzt hast du ihn auch.«

»Nein«, sagte Hank. »Sie hat es vorausgeahnt.«

»Ja, aber sie lag doch richtig.«

»Trotzdem, es ist gemein«, insistierte Hank, während sein aufgewärmter Burger über das Gezeter kalt wurde.

In der folgenden Woche behandelte ich in meinem Rechtsphilosophiekurs das Thema der Vorabbestrafung. Es geht dabei um den Ansatz, eine Person, von der wir mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, sie werde ein Verbrechen begehen, noch vor der Tat zu bestrafen. Es gibt skeptische Stimmen, die bezweifeln, dass sich ein Verbrechen genau genug vorhersagen lässt. Ich gehöre nicht dazu. Aber es gibt noch einen anderen Einwand, der dem Hanks ähnelt: Demnach ist es respektlos, eine Person so zu behandeln, als habe sie bereits eine Entscheidung getroffen, obwohl das noch nicht der Fall ist – selbst wenn man weiß, wie der oder die Betreffende sich letztendlich entschließen wird. Die individuelle Entscheidung soll den Ausschlag geben, und solange sie noch nicht gefällt ist, muss die Person die Option haben, sich anders zu entscheiden. Selbst wenn wir wissen, dass sie es nicht tun wird. (Oder hat sie diese Option eigentlich gar nicht? Impliziert die Tatsache, dass wir die Entscheidung vorhersagen können, dass die betreffende Person nicht über einen freien Willen verfügt?) Ich sprach mit den Kursteilnehmern über Hank, und wir diskutierten, ob er sich zu Recht respektlos behandelt fühlte. Viele fanden ja.

In meinen Seminaren beginne ich oft mit einer Geschichte über meine Kinder, um die zu vermittelnden Themen zu veranschaulichen. Anschließend wird darüber diskutiert, ob Rex und Hank recht mit dem haben, was sie sagen. Sogar im Austausch mit meinen Kollegen und Kolleginnen gehe ich so vor, weil meine Kinder mir so großartige Beispiele liefern. Die beiden sind mittlerweile schon kleine Berühmtheiten bei uns in der Rechtsphilosophie.

Jahrelang habe ich mir anhören müssen, meine Kinder seien nicht normal, sie beschäftigten sich nur deshalb mit philosophischen Fragen, weil sie einen Philosophen zum Vater hätten. Ich habe das nie geglaubt. Oft tauchten ihre Fragen wie aus dem Nichts auf, es waren keine Reaktionen auf unsere Gespräche. Eines Abends fragte der damals vierjährige Rex beim Essen, ob er sein gesamtes Leben vielleicht nur träume. In der Philosophie beschäftigt man sich schon seit sehr langer Zeit mit dieser Frage. Aber niemand hatte sie je meinem Sohn gestellt oder eine ähnlich gelagerte Diskussion in seinem Beisein geführt. (In Kapitel 8 greifen wir diese Frage wieder auf, wenn wir über das Wesen des Wissens sprechen.) Wenn es einen Unterschied zwischen meinen und anderen Kindern gab, dann hing er wohl eher damit zusammen, dass ich erkannte, wenn sie philosophische Fragen hatten, und sie bei deren Bearbeitung unterstützte.

Ich fand mich in meiner Meinung bestätigt, als ich die Arbeiten von Gareth Matthews entdeckte, ein Philosoph, der sich den Großteil seiner Karriere mit Kindern beschäftigte. Er verstarb im Jahr 2011, als Rex gerade mal ein Jahr alt war. Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt, was ich sehr bedauere, da Matthews mehr über die philosophischen Fähigkeiten von Kindern wusste als irgendjemand sonst.

Matthews’ Interesse wurde auf ganz ähnliche Weise geweckt wie das meinige. Sein Kind sagte etwas Philosophisches. Fluffy, die Katze der Familie Matthews, hatte Flöhe, und Sarah (vier Jahre alt) fragte ihren Vater, woher sie stammten.[4]

Wahrscheinlich seien die Flöhe von einer anderen Katze auf Fluffys Fell gesprungen, antwortete Matthews.

»Und wie hat diese Katze die Flöhe bekommen?«, fragte Sarah.

Wahrscheinlich auch von einer anderen Katze, erklärte ihr Vater.

»Aber, Daddy«, beschwerte sich Sarah, »das kann doch nicht endlos so weitergehen. Das Einzige, was endlos weitergeht, sind Zahlen!«

Damals gab Matthews ein Seminar, das sich mit dem kosmologischen Gottesbeweis beschäftigte, dem Beweis der Existenz Gottes.[5] Es gibt viele und teilweise relativ komplizierte Versionen dieses Beweises. Die grundlegende Idee ist jedoch einfach: Jeder Vorgang hat eine Ursache. Aber diese Kette kann nicht bis ins Unendliche zurückreichen. Demnach muss es eine erste Ursache geben, die nicht verursacht wurde. Einige behaupten, diese erste Ursache sei Gott. Der bekannteste Fürsprecher dieses Ansatzes ist Thomas von Aquin.

Diese Argumentation ist nicht unproblematisch. Warum muss die Kette der Ursachen endlich sein? Vielleicht ist das Universum ja ewig und grenzenlos – unendlich in beide Richtungen? Und selbst wenn es eine erste Ursache gab, warum muss diese dann Gott gewesen sein? (Die Frage nach der Existenz Gottes stellen wir uns in Kapitel 12). Letztendlich ist es egal, ob der Beweis funktioniert oder nicht. An dieser Stelle geht es nur darum festzuhalten, dass Sarah die dem Beweis innewohnende Logik reproduziert hat. »Hier bemühe ich mich nun, meinen Studenten den Beweis für eine ›Erste Ursache‹ nahezubringen«, schrieb Matthews, »und meine vierjährige Tochter kommt einfach so daher und liefert mir einen Beweis für den ›Ersten Floh‹.«[6]

Diese Erkenntnis überraschte Matthews, da er sich auch ein wenig mit Entwicklungspsychologie auskannte. Jean Piaget zufolge, einem Schweizer Psychologen, der für seine entwicklungstheoretischen Schriften bekannt ist, befand sich Sarah im präoperationalen Stadium des vorbegrifflichen Denkens[7], was so heißt, weil angenommen wird, dass Kinder diesen Alters noch keine Logik benutzen.**[8] Sarahs Logik war allerdings bestechend – und dazu um einiges überzeugender als die des kosmologischen Arguments. Ob man sich eine unendliche Kette von Ursachen vorstellen kann, ist eine Sache. Bei einer unendlichen Kette von Katzen wird es definitiv schwierig.

Ich höre schon die Einwände: Matthews ist doch nur ein weiterer Philosoph mit einem philosophisch interessierten Kind. Das sagt uns nicht sonderlich viel über Kinder im Allgemeinen. Aber Matthews hörte nicht bei seinen eigenen Kindern auf.[9] Er sprach mit Menschen, die wenig mit Philosophie zu tun hatten, und bekam von ihnen ganz ähnliche Geschichten über ihre Kinder zu hören. Daraufhin begann er Schulen zu besuchen, um auch selbst mit mehr Kindern sprechen zu können. In den Klassen las er Geschichten vor, die philosophische Fragen aufwarfen, und hörte sich dann die daraus entstehenden Diskussionen an.

Meine Lieblingsgeschichte aus dem Fundus von Matthews ist die eines kleinen Jungen namens Ian[10]: Als Ians Eltern eines Tages Besuch bekamen, nahmen die drei Kinder der eingeladenen Freunde den Fernseher in Beschlag, sodass Ian auf seine Lieblingssendung verzichten musste. Als die Gäste gegangen waren, fragte der Junge seine Mutter: »Warum ist es besser, wenn drei Menschen selbstsüchtig sind, als wenn einer es ist?«

Ich liebe diese Frage. Sie ist so einfach – und zugleich so subversiv. Unter Wirtschaftsfachleuten herrscht die Meinung vor, dass die Staatstätigkeit auf die Erfüllung der Wünsche der Bevölkerung ausgerichtet sein sollte. Auch in der Philosophie teilen manche diese Ansicht. Ian allerdings stellt die Frage: Sollten wir auf Wünsche eingehen, wenn diese einfach nur egoistisch sind? In diesem Ansatz steckt auch eine Hinterfragung des demokratischen Systems. Angenommen Ians Mutter hätte die Kinder über das Fernsehprogramm abstimmen lassen. Ist das Zählen egoistischer Kinder etwa ein guter Ansatz zur Lösung dieser Frage?

Ich glaube nicht. Wäre Ian mein Kind, ich hätte ihm erklärt, dass wir die Gäste das Fernsehprogramm bestimmen lassen, weil sie unsere Gäste sind – und nicht, weil sie in der Mehrzahl sind. Es ist ein Zeichen der Gastfreundschaft. Selbst bei umgekehrten Zahlenverhältnissen würden wir es so halten.

Und was ist mit der Demokratie? Darauf kommen wir später zu sprechen, da Rex der Meinung ist, unsere Familie sollte eine sein. Für den Moment möchte ich dazu nur sagen, dass es bei der Demokratie nicht darum gehen sollte, die von Egoismus geleiteten Wünsche der Menschen zusammenzuaddieren. Wählende sollten von Gemeinsinn geleitet sein. Sie sollten versuchen, das Gemeinwohl zu fördern, und auch wichtige Werte wie Gerechtigkeit und Fairness anstatt ihre individuellen Interessen in den Vordergrund zu stellen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich glaube an die Demokratie, auch wenn sie die an sie geknüpften Ideale nicht erfüllt. Aber ich stimme auch Ian darin zu, dass viele egoistisch handelnde Menschen zu mehr Egoismus führen und nicht unbedingt zu guten Entscheidungen.

Ians Mutter jedenfalls war verwirrt von der Frage ihres Sohns. Sie wusste nicht, wie sie diese beantworten sollte. Ich vermute, die meisten Erwachsenen würden ebenso perplex reagieren wie sie. Oft stellen kleine Kinder Dinge infrage, die für Erwachsene selbstverständlich sind. Das ist einer der Gründe, warum sie gute Philosophinnen und Philosophen abgeben. »Der Erwachsene muss seine Naivität, die zum Philosophieren notwendig ist, geradezu kultivieren«, erklärt Matthews, »dem Kind dagegen ist sie völlig geläufig.«[11]

Das trifft zumindest für die Kleinsten zu. Matthews fand heraus, dass »spontane Ausflüge in die Philosophie«[12] im Alter von drei bis sieben Jahren nicht unüblich sind. Mit acht oder neun Jahren werden sie seltener, zumindest seltener mitgeteilt.[13] Das zu erklären ist schwierig. Möglicherweise hängt es mit einer Interessenverlagerung zusammen oder damit, dass sie den Druck von Gleichaltrigen oder Eltern spüren, diese kindischen Fragen zu unterlassen. Trotzdem war es für Matthews einfach, philosophische Gespräche mit Kindern in diesem Alter und auch mit Älteren in Gang zu bringen. Er war geradezu überrascht von ihren cleveren Gedanken. Daraus schloss Matthews, dass Kinder in mancher Hinsicht bessere Philosophen und Philosophinnen sind als Erwachsene.

◆  ◆  ◆

Sicher, das mag eigenartig klingen. Die Vorstellung von Kindesentwicklung scheint eindeutig zu implizieren, dass der Geist eines Kindes reift und sich im Prozess des Älterwerdens ausdefiniert. Matthews zufolge, zumindest in Bezug auf bestimmte Fähigkeiten, ist das Gegenteil der Fall.*** In Bezug auf philosophische Bemerkungen oder Fragen von Kindern ist für ihn offensichtlich, dass sie mit »einer Unvoreingenommenheit und einem Erfindergeist daherkommen, die selbst dem phantasievollsten Erwachsenen schwerfallen«[14]. Diese Unvoreingenommenheit hängt mit der Tatsache zusammen, dass Kinder die Welt als einen rätselhaften Ort erleben. Vor einigen Jahren hörte sich die Psychologin Michelle Chouinard Aufnahmen von Eltern-Kind-Gesprächen an.[15] In dem mehr als zweihundert Stunden umfassenden Material machte sie knapp fünfundzwanzigtausend Fragen aus. Das sind im Schnitt mehr als zwei pro Minute. Mehr als ein Viertel dieser Fragen verlangte nach Erklärungen: die Kinder wollten wissen, wie oder warum.

Außerdem gefällt es Kindern, Dinge zu durchdenken. In einer weiteren Studie fand man heraus, dass Kinder, die keine Antworten auf Wie- oder Warum-Fragen bekommen, sich ihre eigenen Erklärungen konstruieren.[16] Und selbst wenn sie Antworten bekommen, geben sie sich damit meist nicht zufrieden. Entweder schieben sie ein weiteres Warum hinterher oder stellen die angebotene Erklärung infrage.

Der wichtigste Grund jedoch, warum Kinder gute Philosophen und Philosophinnen abgeben, fehlt bislang noch: Sie machen sich keine Gedanken darüber, albern zu wirken. Sie haben noch nicht gelernt, dass ernsthafte Menschen sich mit bestimmten Fragen einfach nicht beschäftigen. Matthews erklärt das folgendermaßen:

Der Philosoph fragt beispielsweise: »Was ist Zeit?«, während andere Erwachsene, zweifellos ohne weiter nachzudenken, der Meinung sind, über eine solche Frage hinaus zu sein. Sie möchten vielleicht wissen, ob sie genügend Zeit für ihren wöchentlichen Einkauf haben oder ob die Zeit noch ausreicht, sich eine Zeitung zu besorgen. Sie möchten vielleicht von ihrem Arbeitskollegen wissen, »Was die Zeit ist«, aber es kommt ihnen nicht in den Sinn zu fragen: »Was ist Zeit?«Der heilige Augustinus hingegen hat es gut auf den Punkt gebracht: »Was ist also Zeit? Wenn mich niemand fragt, so weiß ich es; will ich es aber jemandem auf seine Frage hin erklären, so weiß ich es nicht.«[17]

Ich habe Jahre damit zugebracht, eine ähnlich albern klingende Frage zu beantworten: Was ist Recht? Ich bin Juraprofessor, man sollte meinen, ich wüsste das. (Ich lehre Rechtswissenschaften und Philosophie an der University of Michigan.) Wenn wir jedoch ehrlich sind, geht es den meisten Rechtsbeiständen wie dem heiligen Augustinus: Wir wissen, was Recht ist; werden wir jedoch danach gefragt, drucksen wir herum.

Die meisten in meiner Zunft ignorieren ihre diesbezügliche Unwissenheit bereitwillig. Sie haben wichtigere Dinge zu erledigen. Und ich vermute, sie halten mich für albern, weil ich mich mit dieser Frage befasse. Ich glaube allerdings, wir alle sollten hin und wieder mal ein bisschen albern sein. Wir sollten unsere praktischen Erwägungen öfter mal beiseitelassen und wie kleine Kinder denken. Auf diese Weise könnten wir zumindest teilweise etwas von ihrer Faszination für die Welt wiedererlangen – und uns selbst bewusst machen, wie wenig wir eigentlich davon verstehen.

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An seinem ersten Tag in der zweiten Klasse sollte Rex aufschreiben, was er später einmal werden möchte. Die Lehrerin schickte eine Liste mit den Berufswünschen der Kinder an die Eltern, kennzeichnete aber nicht, welches Kind welchen Beruf anstrebte. Es war trotzdem nicht schwer, den Berufswunsch unseres Sohns auf der Liste zu finden. Es gab ein paar zukünftige Feuerwehrmänner, mehrere Ärztinnen und Lehrer und eine überraschend hohe Anzahl von Ingenieurinnen. Auf der Liste stand allerdings nur ein einziger »Mathephilosoph«.

Beim Abendessen stellte ich Rex die Frage, die ich selbst noch immer nicht beantworten konnte: »Deine Lehrerin meint, du willst Mathematikphilosoph werden. Was ist Philosophie überhaupt?«

Rex dachte kurz nach und sagte dann: »Philosophie ist die Kunst des Denkens.«

Ich rief meinen Vater an. »Erinnerst du dich noch an unser Gespräch in diesem Hähnchengrill, als ich das erste Mal von der Uni nach Hause kam? Damals habe ich dir gesagt, dass ich Philosophie studieren will, und du hast mich gefragt, was das sein soll. Stell dir vor, ich weiß jetzt die Antwort!«

Er erinnerte sich nicht und interessierte sich auch nicht sonderlich für die Antwort. Aber Rex hatte recht. Philosophie ist die Kunst des Denkens. Ein philosophisches Problem verlangt von uns, sorgfältig über die Welt und uns selbst nachzudenken, damit wir beides besser verstehen können.

Erwachsene und Kinder beschäftigen sich auf unterschiedliche Weise mit Philosophie. Erwachsene denken disziplinierter, Kinder sind in der Regel kreativer. Erwachsene wissen viel über die Welt, aber Kinder können ihnen helfen, sich die Begrenztheit ihres Wissens bewusst zu machen. Kinder sind neugierig und mutig, Erwachsene eher vorsichtig und verschlossen.

David Hills, der an der Stanford University lehrt, beschreibt Philosophie als »den unbeholfenen Versuch, für Kinder selbstverständliche Fragen mit für Anwälte selbstverständlichen Methoden zu bearbeiten«.[18] Das ist eine treffende Beschreibung für professionelle Philosophie. Sie enthält allerdings eine Arbeitsteilung, die wir nicht benötigen: Erwachsene und Kinder können sich sehr wohl gemeinsam der Philosophie widmen. Genau genommen sollten sie das sogar. Kinder und Erwachsene ergänzen sich in Gesprächen, da beide Gruppen eigene Ideen einbringen.[19] Und Spaß machen tut es auch. Philosophie ist ein Spiel mit Ideen. Wir sollten definitiv öfter wie kleine Kinder denken. Aber wir sollten auch mit ihnen denken.

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Dieses Buch ist von Kindern inspiriert, aber es ist nicht für Kinder geschrieben. Eigentlich sind die Kinder mein trojanisches Pferd. Ich will die Begeisterung für philosophische Fragen nicht bei den Kindern wecken, sondern bei Ihnen.

Kinder widmen sich ohnehin philosophischen Themen, ob mit Ihnen oder ohne Sie. Ich will Sie dazu bringen, es noch einmal zu versuchen. Indem ich Ihnen die philosophischen Themen zeige, die unseren Alltag prägen, hoffe ich, Ihnen das nötige Selbstvertrauen zu schenken, um mit Ihren Kindern darüber zu reden.

Ich werde Ihnen Geschichten erzählen, größtenteils über Rex und Hank. In einigen dieser Geschichten widmen sich die beiden philosophischen Fragen. Sie erkennen eine Denkaufgabe und versuchen, diese zu lösen. In anderen Geschichten sagen oder tun sie unbewusst etwas, das ein philosophisches Problem darstellt. Darüber hinaus gibt es noch Geschichten über unsere glücklose Erziehung. Bei diesen bietet die Philosophie Einblicke, was falsch gelaufen sein könnte.

Manchmal denken wir gemeinsam mit den Jungs nach. Manchmal denken wir über sie nach. Und manchmal denken wir ganz allein für uns als Erwachsene über Fragen nach, die die Jungs aufgeworfen hatten. Trotzdem geht es immer irgendwie auch um die beiden, da sie einfach viel zu sagen haben.

Rex und Hank nehmen uns mit auf eine Reise durch die zeitgenössische Philosophie. Wie viele großartige Reisen ist auch diese ein bisschen skurril. Einige der Fragen, denen wir begegnen, sind universell. Sie kommen allen Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder unter. In diese Kategorie gehören Fragen über Autorität, Strafe und Gott. Andere spiegeln die individuellen Interessen von Rex und Hank, zum Beispiel die Frage nach der Größe des Universums. So ist das eben: unterschiedliche Kinder, unterschiedliche Interessen.

Wenn Eltern von diesem Projekt erfahren, berichten sie mir oft von den Fragen ihrer Kinder. Einige sind phänomenal. So fragte ein Mädchen ihre Mutter über Wochen hinweg jeden Abend: Warum beginnt immer wieder ein neuer Tag?[20] Ihre Mom erzählte ihr von der Rotation der Erde, aber es war offensichtlich, dass das Mädchen kein Interesse an den physikalischen Hintergründen hatte. Ich hätte ihr möglicherweise von der fortdauernden Schöpfung erzählt – der (in der christlichen Lehre vertretenen) Vorstellung, dass Gott die Welt in jedem Moment erschafft, nicht nur einmal ganz am Anfang.[21] Ob sie diese Antwort zufriedengestellt hätte, kann ich nicht sagen. Möglich, dass die Frage des Mädchens einen beklemmenden Ursprung hatte, geboren aus einer Angst gegenüber der Welt und allem, was sie mit sich bringt.

Meine Söhne kennen eine derartige Bedrücktheit nicht – noch nicht. Aber ihre Neugier ist riesig, sodass es um sehr viele verschiedene Themen gehen wird. Dieses Buch besteht aus drei Teilen. Der erste trägt den Titel Moral verstehen. Darin gehen wir der Frage nach, was Rechte sind und wann es zulässig ist, sie außer Kraft zu setzen. Wir werden uns ansehen, wie man auf das Fehlverhalten anderer reagiert und ob Rache jemals gerechtfertigt ist. Wir werden uns auch mit Strafe beschäftigen – was sie ist und warum wir sie anwenden. Dann werden wir über Autorität nachdenken. Wir werden uns fragen, warum die Formulierung »Weil ich es sage!« tatsächlich ein Grund für Kinder sein kann, eine Anweisung zu befolgen. Abschließend werden wir über Worte nachgrübeln, die wir eigentlich nicht in den Mund nehmen sollten, wie etwa Schimpfwörter. (An dieser Stelle sollte ich Sie warnen: Ich fluche gelegentlich, öfter sogar. Gehen Sie deswegen nicht zu hart mit mir ins Gericht. Zu meiner Verteidigung lesen Sie mehr in Kapitel 5.)

Im zweiten Teil des Buches mit dem Titel Uns verstehen widmen wir uns dem Thema Identität. Wir fragen, was es mit Geschlecht, Gender und race auf sich hat. Aber Fragen der Moral bleiben uns trotzdem erhalten. Wenn wir uns mit Geschlecht und Gender befassen, erörtern wir auch, welche Rollen diese im Sport spielen sollten. Und beim Thema race ergründen wir, ob dies eine Grundlage für Verantwortung ist – und ob Reparationszahlungen für Sklaverei und Segregation angebracht wären.

Der dritte Teil trägt den Titel Die Welt verstehen. Er beginnt mit Fragen zum Thema Wissen. Gemeinsam mit Rex werden wir überlegen, ob wir möglicherweise unser gesamtes Leben über träumen. Und wir werden uns mit dem Skeptizismus beschäftigen – der Befürchtung, dass wir absolut nichts über absolut nichts wissen könnten. Anschließend nähern wir uns dem Thema Wahrheit und denken dabei auch über die Zahnfee nach. Dann setzen wir unsere Gedanken auf unsere Gedanken an und gehen der Frage nach, was Bewusstsein ist. Außerdem nähern wir uns der Unendlichkeit. Am Ende unserer Reise fragen wir, ob es einen Gott gibt.

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Das Tempo wird hoch sein, zumindest für die philosophische Zunft. Man könnte problemlos sein ganzes Leben mit dem Studium jedes einzelnen dieser Themen zubringen. Deshalb werden wir uns auf die Highlights konzentrieren. Aber wenn alles gut geht, werden Sie am Ende der Lektüre gewappnet sein, um die philosophischen Rätsel und Probleme zu durchdenken, denen Sie – mit Kind oder allein – begegnen. Das ist ein Aspekt, den ich an der Philosophie besonders schätze: Man kann ihr jederzeit und überall nachgehen, in Gesprächen mit anderen oder ganz allein. Man muss einfach nur die Dinge durchdenken.

Deshalb möchte ich Sie bitten, dieses Buch anders zu lesen als andere. Sachbuchautorinnen und -autoren wollen meist, dass man glaubt, was sie in ihren Büchern schreiben. Sie hoffen, dass die Leserschaft ihre Autorität akzeptiert und ihre Sichtweise der Welt übernimmt.

Darum geht es mir nicht. Natürlich würde ich Sie gern überzeugen, die Dinge so zu sehen, wie ich es tue. Die Wahrheit ist jedoch: Ich freue mich darüber, wenn Sie anders denken, solange Sie den betreffenden Sachverhalt erschöpfend analysiert haben. Ich gehe sogar noch weiter und empfehle Ihnen, die von mir vorgetragenen Argumente mit einer gewissen Skepsis zu betrachten. Gehen Sie nicht einfach davon aus, ich hätte immer recht. Im Gegenteil, Sie sollten annehmen, dass ich mich an irgendeiner Stelle irre, und es darauf anlegen, diesen Irrtum aufzudecken.

Aber tun Sie mir dabei bitte einen Gefallen. Seien Sie nicht einfach nur dagegen. Wenn Sie der Meinung sind, ich läge falsch, dann arbeiten Sie die Gründe dafür heraus. Wenn Sie so weit sind, dann stellen Sie sich vor, was ich auf Ihre Fragen erwidern könnte. Und wie Sie reagieren würden und was ich dann Ihrer Antwort entgegenhalten könnte. Und so weiter und so fort, bis Sie der Meinung sind, es gäbe nun nichts mehr dabei für Sie zu entdecken. Aber geben Sie nicht zu früh auf. Je weiter Sie das Spiel treiben, desto mehr werden Sie verstehen.

So funktioniert Philosophie, zumindest in der Erwachsenenversion. Meinen Studierenden sage ich oft Folgendes: Wenn ihr einen Einwand gegen die Arbeit einer Philosophin habt, dann solltet ihr davon ausgehen, dass die Autorin diesen bereits erwogen und durchdacht hat, ihn dann aber zu abwegig fand, um ihn zu erwähnen. Anschließend solltet ihr versuchen herauszufinden, warum das so ist. Wenn ihr trotz größter Anstrengung nicht darauf kommt, wo euer Fehler liegt, dann ist es an der Zeit, mit anderen darüber zu diskutieren. Das Ziel besteht darin, die eigenen Ideen genauso kritisch zu betrachten wie die Ideen anderer Menschen.

Dieser Ratschlag zeigt sich auch in der Art, wie ich mit meinen Söhnen rede. In unserem Haushalt hat niemand per se »ein Recht auf seine Meinung«, wie es viele Menschen in den USA gern ausdrücken. Bei uns muss man seine Meinung verteidigen. Ich löchere die Jungs mit Fragen. Dann hinterfrage ich ihre Antworten, sodass sie ihre eigenen Ideen kritisch unter die Lupe nehmen müssen. Das nervt sie manchmal, aber ich halte das für einen wichtigen Erziehungsaspekt.

Wir sind es gewohnt, unsere Kinder in ihren Interessen zu unterstützen und ihnen dabei zu helfen, neue zu entdecken. Wir bringen ihnen Kunst, Literatur und Musik nahe. Wir ermutigen sie, neue Sportarten auszuprobieren. Wir kochen und tanzen mit ihnen. Wir erklären ihnen Wissenschaft und zeigen ihnen die Natur. Es gibt jedoch eine Aufgabe, die viele Eltern vernachlässigen, weil sie nicht als eigenständige Aufgabe wahrgenommen wird: Kinder sollten als Denker und Denkerinnen gefördert werden.

Dieses Buch vermittelt Ihnen viele Möglichkeiten, wie Sie das tun können. Die einfachste Methode besteht darin, Fragen zu stellen und Antworten zu hinterfragen. Sie müssen dabei jedoch nicht die Lehrkraft spielen. Es ist sogar besser, wenn Sie das nicht tun.

Ähnlich wie Matthews, besucht auch Jana Mohr Lone, die Leiterin des Center for Philosophy for Children (Zentrum für Philosophie für Kinder) der University of Washington, Schulen, um mit Kindern über Philosophie zu sprechen. Sie bringt ihnen allerdings keine Philosophie bei, sondern philosophiert mit ihnen.[22] Ein feiner, aber wichtiger Unterschied. Kinder können bereits philosophieren, in mancher Hinsicht sogar besser als Sie. Also sollten Sie Kinder lieber als Verbündete behandeln. Nehmen Sie ihre Ideen ernst. Versuchen Sie, Probleme mit ihnen, nicht für sie zu lösen. Wenn es um philosophische Themen geht, ist das gar nicht so schwer, schließlich stehen die Chancen gut, dass auch Sie noch keine Antworten auf die Fragen haben.

Das bringt mich zu meiner letzten Bitte: Legen Sie Ihre Erwachsenenbefindlichkeiten ab. Die meisten Erwachsenen sind wie mein Vater. Sie haben keine Geduld für die Art von Problemen, über die wir uns in der Philosophie den Kopf zerbrechen und die alles andere als praktischer Natur sind. Durch das Nachdenken darüber, dass die Welt nicht so ist, wie sie scheint, wird die Wäsche nicht fertig. Das mag stimmen. Aber ich hoffe, dass die Jungs und ich den Spieß umdrehen können, zumindest für eine Weile. Warum die Wäsche erledigen, wenn die Welt möglicherweise nicht ist, was sie vorgibt zu sein?

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In letzter Zeit haben Rex und Hank sich gefragt, warum dieses Buch auf Englisch den Titel Nasty, Brutish, and Short (Garstig, brutal und kurz) trägt. Wahrscheinlich haben Sie diese Formulierung schon einmal gehört. Sie stammt von Thomas Hobbes, der ungefähr zur selben Zeit wie Locke lebte. Hobbes interessierte sich für die Frage, wie das Leben ohne irgendeine Art der Regierung wäre, ein Zustand, den man in der Philosophie den Naturzustand nennt. Hobbes war überzeugt, das müsse schrecklich sein. Er nahm an, es käme in dieser Situation zu einem »Krieg aller gegen alle«.[23] Im Naturzustand wäre das Leben Hobbes zufolge »solitary, poor, nasty, brutish, and short« – also einsam, kümmerlich, garstig, brutal und kurz.[24]

Mit dem Naturzustand kenne ich mich nicht aus, aber »ein Krieg aller gegen alle« ist eine treffende Beschreibung des Lebens in einem Haushalt mit kleinen Kindern.

Wir haben Glück. Unser Leben ist nicht einsam oder kümmerlich. Aber unsere Kinder sind garstig, brutal und kurz. Sie sind aber auch süß und freundlich. Auch in dieser Hinsicht haben wir Glück. Rex und Hank sind außergewöhnlich süß und freundlich. Aber alle Kinder sind nun mal beizeiten garstig und brutal. Aus diesem Grund werden wir über Rache nachdenken und die Frage stellen, ob Strafe geeignet ist, bessere Individuen aus den Bestraften zu machen.

Die Kinder nehmen meine Beschreibung ihres Wesens bereitwillig an, zumindest teilweise.

»Bist du garstig und brutal?«, fragte ich Hank.

»Ich kann garstig sein«, sagte er, »aber ich bin nicht global.«

Rex versuchte, mich für einen anderen Titel zu gewinnen. Er wollte das Buch Nicht garstig oder brutal, nur kurz nennen. Da er mit diesem Vorschlag nicht weit kam, bettelt er mich neuerdings an, unter diesem Titel bloggen zu dürfen. Halten Sie also die Augen offen. Vielleicht sind seine Beiträge schon bald in einem Internet Ihrer Wahl erhältlich.

Bis dahin ist er erst mal, zusammen mit seinem kleinen Bruder Hank, der Star dieser Show. Die beiden sind zwei der besten Philosophen, die ich kenne. Außerdem gehören sie zu den witzigsten. Und machen irrsinnig viel Spaß.

*  Diese Frage wüsste er sofort zu beantworten – und es würde nicht gut für mich ausgehen.

**  Matthews dokumentiert mehrfach, wie Piaget ganz einfach nicht versteht, was Kinder sagen – und deshalb die Feinheit ihrer Gedanken übersieht. Häufig besteht das Problem darin, dass Piaget nicht so kreativ ist wie die Kinder.

***  Wie wir in Kapitel 10 sehen werden, teilen viele Fachleute der Entwicklungspsychologie mittlerweile Matthews’ Ansicht. Der Verstand von Kindern funktioniert einfach anders – nicht schlechter oder besser.

Teil 1

Moral verstehen

1

Rechte

Ich liebe es, ein Bad einzulassen. Nicht für mich natürlich. Ich bin ein heterosexueller Mann und wurde im letzten Jahrhundert sozialisiert. Ich bade also weder, noch äußere ich die volle Bandbreite menschlicher Gefühle. Aber meine Kinder baden, und jemand muss ihnen das Bad einlassen. Meistens fädele ich es so ein, dass ich dieser Jemand bin.

Warum? Weil das Badezimmer oben ist, im ersten Stock, und unten ist ein verdammtes Irrenhaus. Wenn die Kinder müde werden, steigt ihre Bewegungsenergie, und ihre Selbstkontrolle setzt aus. Der Lärm ist so ohrenbetäubend wie auf einem Rockkonzert. Irgendjemand schreit, weil es an der Zeit ist, Klavier zu üben, oder weil keine Zeit mehr ist, Klavier zu üben. Oder weil es keinen Nachtisch gab oder weil es Nachtisch gab und dieser auf dem T-Shirt landete. Oder ganz einfach, weil eben geschrien werden muss. Geschrei ist die kosmologische Konstante.

Ergo: ich fliehe. »Ich fang schon mal mit Hanks Bad an«, sage ich und steige die Treppe hinauf, dem besten Teil meines Tages entgegen. Ich schließe die Badezimmertür, drehe das Wasser auf und stelle die Temperatur ein. Nicht zu warm, nicht zu kalt. Ein bisschen nach links, dann wieder nach rechts, als ob ich es so hinbekommen könnte. Fest steht: Das Wasser wird zu warm sein. Oder zu kalt. Oder beides, denn der Satz vom Widerspruch gilt bei meinen Kindern nicht. Ich werde also scheitern. Und trotzdem bin ich von Frieden erfüllt, denn das Badewasser dämpft das Geschrei. So sitze ich allein auf den Fliesen, allein mit meinen Gedanken (und wenn ich Gedanken sage, meine ich Telefon) und sauge die Einsamkeit auf.

Meine Frau hat mich durchschaut und kommt mir manchmal zuvor. »Ich fang schon mal mit Hanks Bad an«, sagt sie dann und zermalmt damit meine Seele. Aber sie ist eine heterosexuelle Frau und wurde im letzten Jahrhundert sozialisiert; also nutzt sie die Chance nicht. Sie stellt das Badewasser an, aber anstatt dann auf ihrem Telefon herumzuspielen, während sich die Wanne füllt, tut sie etwas Sinnvolles, wie Wäsche waschen. Oder aber etwas Unerklärliches, wie zu den Kindern zurückzukehren, um … nun ja, sie zu erziehen? Ich weiß, dass ich ein schlechtes Gewissen wegen dieser Sache haben sollte. Und das habe ich auch. Aber nicht aus dem Grund, der eigentlich naheliegen sollte. Einsamkeit ist der größte Luxus, den wir uns leisten können. Irgendjemand sollte ihn sich gönnen. Eher Julie als ich, sicher, aber wenn nicht sie, dann definitiv ich.

Da sitze ich also, auf dem Boden im Badezimmer, und mir schwant, dass der Wahnsinn im Erdgeschoss wahnsinniger ist als normalerweise. Hank (fünf Jahre alt) hat eine ausgewachsene Heulattacke, sodass es sich um etwas Ernstes handeln muss (und mit ernst meine ich nichtig). Irgendwann muss ich das Wasser abstellen, und meine Gelassenheit ist dahin.

»Hank, dein Bad ist fertig«, rufe ich die Stufen hinab.

Keine Antwort.

»HANK, DEINBADISTFERTIG!«, schreie ich, um seine Schreie zu übertönen.

»HANK, DEINBADISTFERTIG!«, wiederholt Rex genüsslich.

»HANK, DEINBADISTFERTIG!«, sagt Julie verärgert.

Dann quält sich das Schluchzen die Treppe hinauf. Langsam. Ein. Schritt. Nach. Dem. Anderen. Bis Hank, vollkommen außer sich und auch außer Atem, schließlich im Bad eintrifft.

Ich versuche, ihn zu beruhigen. »Hank«, sage ich sanft, »was ist los?« Keine Antwort. »Hank«, flüstere ich noch etwas sanfter, »was ärgert dich?« Er kann immer noch nicht antworten. Ich ziehe ihm die Sachen aus, während er versucht, wieder zu Atem zu kommen. Als er schließlich in der Wanne sitzt, versuche ich es noch einmal. »Hank, was ärgert dich?«

»Ich habe keine … Ich habe keine …«

»Was hast du nicht, Hank?«

»ICHHABEKEINERECHTE!«, bricht es aus Hank heraus, und wieder kullern die Tränen.

»Hank«, sage ich leise, weiterhin in der Hoffnung, ihn beruhigen zu können, aber auch neugierig. »Was sind Rechte?«

»Ich weiß nicht«, wimmert er, »aber ich habe keine.«

◆  ◆  ◆

Dieses Mal brauchte Hank einen Philosophen. Glücklicherweise hatte er einen.

»Hank, du hast sehr wohl Rechte.«

Das ließ ihn aufhorchen und seine Tränen etwas langsamer kullern.

»Und zwar eine ganze Menge.«

»Wirklich?«, fragte Hank, während sich seine Atmung normalisierte.

»Ja, hast du. Willst du mehr über deine Rechte wissen?«

Er nickte.

»Dann lass uns über Tigi reden«, sagte ich. Tigi ist für Hank wie Hobbes für Calvin: ein weißer Plüschtiger, der Hank seit der Geburt begleitet. »Kann dir irgendjemand Tigi wegnehmen?«

»Nein«, sagte er.

»Kann jemand mit Tigi spielen, ohne dich vorher zu fragen?«

»Nein«, erwiderte Hank. »Tigi gehört mir.« Die Tränen waren fast verschwunden.

»Das stimmt«, sagte ich. »Tigi gehört dir. Und das bedeutet, dass du ein Recht auf ihn hast. Niemand kann Tigi nehmen oder mit ihm spielen, wenn du es nicht erlaubst.«

»Aber es könnte jemand kommen und Tigi wegnehmen«, wandte Hank ein und stand wieder kurz vor den Tränen.

»Das ist richtig«, sagte ich. »Jemand könnte Tigi nehmen. Aber wäre das in Ordnung? Oder wäre das falsch?«

»Es wäre falsch«, sagte er.

»Richtig. Und wenn es falsch ist, dass jemand deinen Tigi nimmt, dann bedeutet das: du hast ein Recht darauf, dass ihn niemand nehmen darf.«

Hanks Gesicht leuchtete auf. »Ich habe ein Recht auf alle meine Toffstiere!«, sagte er und brachte mich mit seinem niedlichen Buchstabendreher zum Schmunzeln.

»Das ist richtig! Das hast du! Genau das bedeutet es, dass sie deine Stofftiere sind.«

»Ich habe ein Recht auf alle meine Spielzeuge!«, sagte Hank.

»Ja, das hast du!«

Dann verzog sich sein süßes Gesicht. Wieder Schluchzen, wieder Tränen.

»Hank, warum bist du jetzt traurig?«

»Ich habe kein Recht auf Rex.«

Das war also der Grund für den Tumult im Erdgeschoss. Hank wollte mit Rex spielen. Rex jedoch wollte lesen. Und Hank hatte, de facto, kein Recht auf Rex.

»Nein, du hast kein Recht auf Rex«, erklärte ich. »Er kann selbst entscheiden, ob er spielen möchte oder nicht. Wir haben kein Recht auf andere Menschen, außer wenn sie etwas versprechen.«

Zugegeben, das ist ein wenig vereinfacht. Manchmal haben wir nämlich Ansprüche an andere, selbst wenn sie uns nichts versprochen haben. Ich entschied mich allerdings dafür, eine eingehendere Erörterung des Themas so lange aufzuschieben, bis der Lernende sich emotional stabilisiert hatte. Stattdessen sprachen wir darüber, was Hank allein unternehmen könnte, wenn Rex mal wieder lesen wollte.

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Mit den Tränen kämpfend, machte Hank eine scharfe Beobachtung über Rechte. Ich fragte ihn, ob jemand Tigi ohne seine Erlaubnis nehmen könne. Er sagte Nein. Einen Augenblick später besann er sich eines Besseren. Jemand könnte Tigi ohne seine Erlaubnis nehmen. Interessanterweise hatte Hank nur wenige Jahre zuvor genau das mit den Spielsachen von Rex gemacht. Der Tigi von Rex heißt Giraffi. (Und bevor Sie die Namenskonventionen meiner Söhne kritisieren, sollten Sie wissen, dass ich als Kind sogar noch einfallsloser war. Meine Begleiter hießen Affe und Giraffe.) Als Hank krabbeln lernte, verschwand er, wann immer sich die Gelegenheit bot, im Zimmer von Rex, stopfte sich Giraffi unters Kinn und kam in Höchstgeschwindigkeit wieder heraus. Rex hatte ein Recht auf Giraffi, genauso wie Hank ein Recht auf Tigi hat. Aber Hank konnte Giraffi nehmen und tat es auch.

Was sagt uns das über Rechte? Nun, Hanks Recht auf Tigi schützt den Besitz von Tigi. Aber der durch dieses Recht verliehene Schutz ist nicht physischer Natur. Es gibt kein Kraftfeld um Tigi herum, das andere Menschen daran hindert, ihn zu nehmen. Stattdessen ist der Schutz, den ein solches Recht bietet, in Philosophensprech normativ. Das bedeutet, dass dieser Schutz durch die Normen und Standards entsteht, die gutes Verhalten definieren. Jemand, der sich gut verhalten will, würde Tigi nicht ohne Hanks Erlaubnis nehmen (zumindest nicht ohne einen wirklich guten Grund, darauf kommen wir gleich noch einmal zurück). Aber nicht alle Menschen streben danach, sich gut zu verhalten. Der Schutz, den ein Recht bietet, hängt von der Bereitschaft der anderen ab, dieses Recht anzuerkennen und zu respektieren.

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Bevor wir zum nächsten Punkt kommen, möchte ich mich kurz zum Thema Sprachpedanterie äußern. Wie beschrieben fragte ich Hank, ob jemand ohne seine Erlaubnis Tigi nehmen könne, und er sagte Nein. Dann dachte er noch einmal genauer nach und antwortete mit Ja. Er hatte beim ersten Mal recht. Und beim zweiten Mal auch.

Moment mal. Wie bitte? Wie kann das sein?

Das Wort können ist äußerst flexibel. Hier kommt eine kurze Geschichte zur Veranschaulichung:

Als ich in Oxford studierte, nahm mich ein Freund mit in eine Bar. Er bestellte zwei Pints.

»Sorry, Mate, kann ich nicht machen. Wir haben geschlossen«, sagte der Mann hinter der Bar.

Mein Freund sah auf die Uhr. Es war eine Minute nach elf, die Bar schloss um elf. »Ach, komm schon, nur zwei Pints.«

»Sorry, ich kann nicht. Vorschriften.«

»Na ja, du kööööönntest schon«, sagte mein Freund.

Kurze Pause. Wollte mein Bekannter damit sagen, dass der Mann hinter der Bar die Bedeutung des Wortes können nicht kannte? Nein. Es gibt eine Lesart, nach der uns der Barkeeper keine Getränke verkaufen konnte. Und eine andere Lesart, nach der er es sehr wohl hätte tun können. Das lang gezogene kööööönnte meines Bekannten sollte die Aufmerksamkeit des Barmanns auf die zweite Lesart lenken. Der Mann teilte uns mit, dass es ihm nicht erlaubt sei, uns zwei Pints zu verkaufen. Mein Freund wies darauf hin, dass es dennoch möglich sei – schließlich war niemand da, der es hätte verraten können.**** Das Manöver funktionierte: Der Mann gab uns zwei Pints, obwohl er es (zulässigerweise) nicht konnte, aber (da konsequenzlos) doch konnte.

Hank vollzog mitten in unserem Gespräch einen ähnlichen Wandel. Er verstand, dass ich fragte, ob jemand (zulässigerweise) Tigi nehmen konnte, und er antwortete (korrekt) mit Nein. Aber dann machte er sich Sorgen darüber, dass jemand (möglicherweise) Tigi nehmen könnte, und stand wieder kurz vor den Tränen.

Warum nehme ich mir die Zeit, diesen Sachverhalt auseinanderzudividieren? Nun, genau das tut man in der Philosophie: Wir achten sehr genau darauf, wie Worte funktionieren. Sicher gibt es auch in Ihrem Bekanntenkreis jemanden, der auf Ihre höfliche Frage »Kann ich eine Tasse Tee haben?« mit »Ich weiß nicht, kannst du?« antwortet und diese Replik für unheimlich lustig hält.

Vermutlich ist diese Person der Meinung, Sie hätten die Frage präziser stellen sollen: »Könnte ich eine Tasse Tee haben?« Aber ich verrate Ihnen etwas: Diese Person ist ein Dummschwätzer. Lassen Sie sie links liegen. Und wenn Sie das tun, dann sagen Sie ihr bitte zum Abschied, dass sie sich in puncto sprachlicher Präzision das ein oder andere Kleinkind zum Vorbild nehmen kann, könnte, sollte oder müsste.

◆  ◆  ◆

Aber zurück zu den Rechten. Was genau sind Rechte? Schwer zu sagen. Hank und ich sprachen eines Tages darüber. Er war gerade acht Jahre alt und hatte den Nachmittag damit verbracht, sein Zimmer aufzuräumen. Er rief mich hinzu, um mir das Ergebnis seiner Mühen zu präsentieren.

»Wow, das sieht echt gut aus«, sagte ich.

»Danke! Ich habe fast alles weggeräumt.«

»Wo hast du deine Rechte hingeräumt?«, fragte ich.

»Was meinst du?«

»Deine Rechte – zum Beispiel dein Recht auf Tigi. Wo ist es?«

»Das habe ich nicht weggeräumt«, sagte Hank. »Das ist in mir.«

»Echt? Wo genau? In deinem Bauch?«

»Nein«, sagte Hank. »Das ist nicht an einem bestimmten Ort, sondern einfach nur in mir.«

»Warum nimmst du es nicht raus? Dann musst du es nicht mit dir herumschleppen.«

»Es ist keine Sache, die man einfach aus sich herausnehmen kann«, sagte Hank. »Man kann es ja noch nicht mal in der Hand halten.«

»Kann man es denn herausrülpsen?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete Hank, »Rechte sind nicht rülpsbar.«

Und dann lief er weg. Bis auf die Feststellung ihrer Unrülpsbarkeit, konnten Hank und ich das Wesen von Rechten damals nicht näher eingrenzen.

Diese Aufgabe kann ich aber jetzt übernehmen. Hank lag zur Hälfte richtig. Rechte kann man nicht in der Hand halten. Aber sie sind auch nicht in einem. Rechte sind Beziehungen.

Lassen Sie mich das veranschaulichen. Angenommen ich schulde Ihnen 1 000 Dollar, dann haben Sie ein Recht darauf, dass ich Ihnen die Summe bezahle. Ihr Recht ist ein Anspruch auf dieses Geld. Dieser Anspruch richtet sich gegen mich, und wenn ich die einzige Person bin, die Ihnen dieses Geld schuldet, dann richtet er sich nur gegen mich. Manchmal jedoch hat man aber auch ein Recht mehreren Personen gegenüber (vielleicht schulden Julie und ich Ihnen das Geld gemeinsam). Zudem besitzt man auch einige Rechte allen Menschen gegenüber. Zum Beispiel hat man ein Recht darauf, nicht ins Gesicht geschlagen zu werden. Wenn also irgendjemand vorschlägt, Sie ins Gesicht zu schlagen, können Sie diese Person an ihre Verpflichtung erinnern, es nicht zu tun.

Der letzte Satz deutet es bereits an: Wenn Sie ein Recht haben, hat jemand anders eine Pflicht. Deshalb sagte ich, dass Rechte im Grunde Beziehungen sind. Zu jedem Recht gibt es mindestens zwei Personen, die eine Beziehung eingehen: Rechtsinhaberin und Pflichtträger. Rechte und Pflichten gehen Hand in Hand. Sie sind zwei Seiten ein und derselben Beziehung.

Was ist das Wesen dieser Beziehung? An dieser Stelle können wir uns von einer meiner Lieblingsphilosophinnen unterstützen lassen: Judith Jarvis Thomson, eine Ethik-Expertin. Sie hatte ein Händchen für das Erstellen von Gedankenexperimenten, also jener kurzen Geschichten, mit denen man in der Philosophie Ideen überprüft. Gleich werden wir einige davon kennenlernen. Aber Thomson war auch für ihre Rechtstheorien berühmt.[25]

Wenn man ein Recht hat, so Thomson, steht man in einer Beziehung zu der Person, der die damit zusammenhängende Pflicht zukommt. Diese Beziehung kann sehr unterschiedliche Ausprägungen haben. Hier einige davon: Wenn ich Ihnen 1 000 Dollar schulde und diese am nächsten Dienstag bezahlen soll, muss ich Sie vorwarnen, falls ich dazu nicht in der Lage sein werde. Wenn ich zum festgelegten Zeitpunkt meine Schulden nicht begleichen kann, muss ich mich dafür entschuldigen und dieses Versäumnis auf irgendeine Art kompensieren. Am wichtigsten ist jedoch: Unter sonst gleichen Bedingungen muss ich Ihnen am nächsten Dienstag die 1 000 Dollar zahlen.

Was meine ich mit unter sonst gleichen Bedingungen? Das ist eine in der Philosophie häufig verwendete Formulierung, um auszudrücken, dass manchmal unvorhergesehene Dinge passieren. Ich schulde Ihnen 1 000 Dollar, zahlbar am Dienstag. Aber am Dienstag stellt sich heraus, dass ich das Geld für die Miete brauche, andernfalls wird meine Familie auf die Straße gesetzt. Sollte ich meine Schulden begleichen? Vielleicht. Möglich, dass es Ihnen noch viel schlechter ergeht, sollte ich es nicht tun. Wenn für Sie allerdings nichts Schwerwiegendes zu befürchten ist, dann sollte ich meine Miete bezahlen, mich bei Ihnen für die nicht erfolgte Rückzahlung entschuldigen und versuchen, diese so bald wie möglich nachzuholen.

Eine der drängendsten Fragen in der Moralphilosophie lautet: Was muss alles geschehen, um ein Recht außer Kraft zu setzen? Die Antwort darauf: nicht viel. Vielleicht sollten wir die Rechte der Menschen immer dann nicht beachten, wenn sich dieser Schritt als besser erweist, als diese zu respektieren. Wenn wir dieser Sichtweise folgen, können Sie mich ins Gesicht schlagen, sollten die positiven Ergebnisse dieser Handlung die negativen überwiegen.

In den Ohren mancher Menschen mag das vernünftig klingen. Vorsicht ist jedoch geboten, da Rechte dadurch belanglos werden. Anstatt zu überlegen, wer welche Rechte hat, könnten wir einfach fragen: Hat die geplante Handlung gute oder schlechte Konsequenzen? Bei positiven Folgen können Sie es tun, andernfalls sollten Sie es lieber unterlassen. Rechte spielen in diesem Szenario keine Rolle bei der Frage, was Sie tun sollten.

Diese Perspektive nennt sich Konsequentialismus[26], weil sie davon ausgeht, dass der moralische Wert einer Handlung von den Konsequenzen selbiger abhängt. Die bekannteste Version des Konsequentialismus ist der Utilitarismus, der verlangt, dass wir nach der Maximierung des Wohlergehens aller Betroffenen streben sollten. Was ist damit gemeint? Es gibt viele Möglichkeiten der Auslegung. Eine verbreitete Ansicht besagt, dass die Freude das Leid im Universum überwiegen sollte. Wenn Sie also wissen wollen, ob Sie mich ins Gesicht schlagen können, würde manch ein Utilitarist (einer bestimmten Richtung) Ihnen raten, sich zu fragen, ob die aus dem Schlag entstehende Freude für die Menschen größer wäre als das durch ihn verursachte Leid. Rechte spielen bei dieser Betrachtungsweise keine Rolle.

Ronald Dworkin missfiel diese Art, über Moral nachzudenken. Deshalb schrieb er ein Buch mit dem Titel Bürgerrechte ernstgenommen, in dem er dafür plädiert, dass wir, nun ja, Rechte ernst nehmen sollten.[27] Dworkin war Rechtsphilosoph, möglicherweise sogar der einflussreichste der letzten Jahrzehnte. Meine philosophische Arbeit ist in gewisser Weise eine Fortführung der seinigen. Dworkin borgte sich ein Konzept aus der Welt der Kartenspiele, wie Bridge, um die Relevanz von Rechten zu erklären. In einer moralischen Debatte, so Dworkin, übertrumpfen Rechte das Streben nach allgemeinem Wohlergehen.[28]

Zum besseren Verständnis von Dworkins Anliegen greifen wir auf folgendes Gedankenexperiment zurück, das unter dem Titel Transplantation[29]