Der Skandal - Fran Ray - E-Book
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Der Skandal E-Book

Fran Ray

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Beschreibung

Kann eine Polizistin allein diese Übermacht bekämpfen? Der packende Verschwörungsthriller »Der Skandal« von Fran Ray als eBook bei dotbooks. Detective Christina Andersson ist der aufsteigende Stern im Morddezernat von Milwaukee – doch als ihre Familie Opfer eines brutalen Angriffs wird, steht sie ihrem bisher härtesten Fall gegenüber. Obwohl ihre Vorgesetzten verhindern wollen, dass sie ermittelt, kommt sie nach und nach einem Skandal von nationaler Reichweite auf die Spur: Ein Milliardenunternehmen verübt unter dem Deckmantel der Redlichkeit seit Jahren schwere Verbrechen. Doch darüber wird bis in die höchsten Reihen von Politik und Wirtschaft Schweigen bewahrt. Doch wie ist Christinas Bruder Tim in diese grausame Maschinerie geraten? Während Christina entschlossen nach der Wahrheit sucht, merkt sie nicht, dass auch sie längst in tödlicher Gefahr schwebt ... Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Thriller »Der Skandal« von Fran Ray wird Fans von Marc Elsberg und Don Winslow begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 534

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Über dieses Buch:

Detective Christina Andersson ist der aufsteigende Stern im Morddezernat von Milwaukee – doch als ihre Familie Opfer eines brutalen Angriffs wird, steht sie ihrem bisher härtesten Fall gegenüber. Obwohl ihre Vorgesetzten verhindern wollen, dass sie ermittelt, kommt sie nach und nach einem Skandal von nationaler Reichweite auf die Spur: Ein Milliardenunternehmen verübt unter dem Deckmantel der Redlichkeit seit Jahren schwere Verbrechen. Doch darüber wird bis in die höchsten Reihen von Politik und Wirtschaft Schweigen bewahrt. Doch wie ist Christinas Bruder Tim in diese grausame Maschinerie geraten? Während Christina entschlossen nach der Wahrheit sucht, merkt sie nicht, dass auch sie längst in tödlicher Gefahr schwebt ...

Über die Autorin:

Fran Ray (Pseudonym) wurde 1963 in Deutschland geboren und arbeitete nach dem Studium im Filmgeschäft. Mehrere Jahre lebte sie in München und Australien und schrieb unter dem Namen Manuela Martini mehrere Krimi-Reihen. Viele Jahre stand ihr Schreibtisch in einer Finca in Südspanien. Dort entstanden die Thriller »Die Saat« und »Das Syndikat«, sowie Jugendthriller und Kinderbücher. Inzwischen lebt sie mit ihrer Frau und zwei Hunden am Ammersee in der Nähe von München. Heute befasst sich weiter mit Menschen, ihren Schicksalen und Lebensläufen, indem sie hauptberuflich als Trauerrednerin tätig ist.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Thriller »Die Saat«, »Der Skandal« und »Das Syndikat«.

***

eBook-Neuausgabe August 2024

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com und Midjourney

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-98952-038-7

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Fran Ray

Der Skandal

Thriller

dotbooks.

WIDMUNG

Für Claus und Lorrie Weingaertner

PROLOG

Captain Ruth Muller hat die Hände auf dem Verhörtisch gefaltet und sieht Christina durchdringend an.

»Ich begreife es nicht, Andersson. Ich dachte, wir hätten uns verstanden. Und dann ziehen Sie los und machen die Sache auf eigene Faust.« Sie spricht in ihrem arrogant klingenden Bostoner Akzent.

Detective Christina Andersson blickt auf die Akte, die zwischen ihnen liegt. Sie weiß, was sie enthält, aber sie weiß nicht, was sie sagen soll. Die Medikamente, die sie ihr im Rettungswagen gegeben haben, hüllen sie in einen dichten Nebel, aus dem sich nur Captain Muller im engen dunklen Kostüm und die rote Akte hervorheben.

Noch nie ist ihr das Licht der Neonlampe im Verhörraum so grell vorgekommen. Sie hat auch noch nie auf der falschen Seite des Fischs gesessen.

Muller redet weiter in ihrer sachlich kühlen Art: »Sie sind impulsiv und unbeherrscht. Sie überlegen nicht, welche Konsequenzen Ihr Handeln hat. Und Sie haben sich mehrmals über meine Anweisungen hinweggesetzt – nun, ich habe Ihnen trotzdem vertraut.«

Christina sieht in Mullers perfekt geschminktes Gesicht, es zeigt keine Regung. Weder Empörung noch Verwunderung, weder Anteilnahme noch Wut, nichts, was darauf hindeuten könnte, dass sie seit zwei Jahren Zusammenarbeiten. Sie hat Muller nie sonderlich sympathisch gefunden, aber sie hat ihre Hartnäckigkeit und Unnachgiebigkeit geschätzt. Und genau die werden Christina jetzt zum Verhängnis.

Muller schlägt die Akte auf und blättert darin. Christina will irgendetwas denken, aber es gelingt ihr nicht, ihr Kopf fühlt sich leer und dumpf an.

»Detective Andersson«, Mullers Blick kehrt zu Christina zurück, »was sehen Sie darauf? Sie haben doch sicher etwas vorzubringen zu Ihrer Verteidigung ... « Ohne Christina aus den Augen zu lassen, schiebt sie ihr vier Fotos über den Tisch.

Christina weiß, auch ohne sie zu betrachten, was sie zeigen. Doch sie weiß nicht, wie es zu all dem gekommen ist.

Sie erinnert sich an den Augenblick, als der Cop auf sie zukam. Sie saß im Krankenwagen, und der Sanitäter stach ihr gerade eine Injektionsnadel in den Arm. Breitbeinig blieb der Cop vor ihr stehen. Er war dunkelhäutig und jung, und sie kannte ihn nicht.

Er sah auf sie herunter, dann auf den Ausweis in seiner Hand. »Detective Christina Andersson, sind Sie das?«

Der Sanitäter klebte ihr ein Pflaster auf den Arm.

»Ja«, antwortete sie, »aber halten Sie sich jetzt nicht mit mir auf! Ich bin okay. Wir suchen einen metallicroten Chevrolet Van. Habt ihr die Meldung nicht gekriegt?«

Anstatt zu antworten, wies der Cop mit einer knappen Kopfbewegung hinter sich. Der Widerschein der roten und blauen Sirenenlichter des Streifenwagens flackerte über die verfallenden Backsteinmauern der leerstehenden Fabrikgebäude des Third Ward Bezirks. Ihr silberfarbener Toyota stand quer auf der Straße.

»Haben Sie diesen Wagen gefahren, Detective Andersson?«

Die Fahrertür war tief eingedrückt, sie stand offen, der Kofferraum war hochgeklappt. Dort stand ein zweiter Polizist.

»Ja«, sagte sie. Er musterte sie. Sie hatte den Eindruck, dass er unsicher war. Vielleicht, weil sie auch ein Cop war? »Ich konnte das Kennzeichen nicht erkennen, es ging zu schnell.«

Sie konnte sich nur daran erinnern, dass von links etwas auf sie zugeschossen kam, es folgte ein fürchterlicher Knall, dann waren plötzlich alle Geräusche verstummt, und sie hatte verdammt keine Ahnung, wie sie es aus dem Auto geschafft hatte.

»Würden Sie mir bitte zu Ihrem Wagen folgen, Detective?«

Sie zog die Decke von den Schultern, die ihr einer der Sanitäter umgelegt hatte.

»Mein Funk ist kaputt«, sagte sie, »rufen Sie verflucht noch mal in der Zentrale an! Ich muss wissen, ob man den Wagen schon gefunden hat ... «

»Zuerst zu Ihrem Auto, Detective.«

Sie bemerkte, wie seine Hand zum Waffenholster am Gürtel griff.

»Wo liegt das Problem?«, fragte sie, da hatten sie ihren Wagen erreicht.

»Es liegt hier.« Der Cop trat einen Schritt zurück.

Sie blickte in den Kofferraum.

Und dann leierte sein Kollege ihr ihre Rechte herunter ...

Jetzt wartet Muller auf eine Erklärung. Aber Christina hat keine für das, was sie auf den Fotos von ihrem Kofferraum sieht.

»Wissen Sie, Andersson ... « Muller beugt sich vor über den Tisch.

Christina riecht ihr Parfüm, es duftet nach Frühlingsblumen. Sie fragt sich, ob Muller es bewusst einsetzt, um in ihr die Sehnsucht nach Freiheit zu wecken. Sie traut Muller fast alles zu.

Mullers Blick bohrt sich in Christinas Augen. »Ich habe immer gedacht, ich kenne mich aus mit Menschen. Aber bei Ihnen weiß ich einfach nicht, woran ich bin. Lügen Sie? Spielen Sie mir etwas vor? Oder sind Sie einfach nur naiv?«

Eine Zeit lang hat Christina tatsächlich geglaubt, sie ist in einem Albtraum gefangen. Doch spätestens jetzt, als ihre Finger über das Foto tasten, ist diese Hoffnung dahin.

Er liegt auf der Seite, die Beine angezogen.

Sie versucht, etwas zu empfinden. Trauer, Wut, Bedauern, Schmerz, irgendwas ... aber sie fühlt nichts. Sie ist lange genug Cop, um zu wissen, dass es normal ist, wenn Menschen auf extreme emotionale Situationen so reagieren.

»Detective Andersson«, Mullers Stimme dringt wie durch einen Nebel zu ihr, »haben Sie Pete Kondracki umgebracht?«

Christinas Augen brennen, ihre Kopfschmerzen sind unerträglich.

»Das Licht blendet, könnten Sie bitte eine Lampe ausschalten?«

»Nein, Sie wissen selbst, dass immer beide brennen. Haben Sie gestern Medikamente genommen?« Muller ist lauter geworden, ihre Stimme ist schneidend.

»Nein«, sagt Christina.

»Nein? Warum sind dann die Schachteln in Ihrer Handtasche?«

»Ich hab sie da immer drin.«

»Wir können leicht nachprüfen, ob Sie unter Tabletteneinfluss stehen. Sie haben angefangen, Tabletten zu nehmen, als Sie erfahren haben, dass Ihr Sohn ... «

»Nein!«

Es entsteht eine Pause, dann sagt Muller frostig: »Ich hatte Ihnen psychologischen Beistand empfohlen, erinnern Sie sich? Warum haben Sie den nicht angenommen? Schildern Sie mir, was gestern passiert ist. Sie hatten am Abend eine Unterredung mit Pete Kondracki. Er war bei Ihnen. Erinnern Sie sich? Was haben Sie mit ihm besprochen?«

»Ich ... ich weiß es nicht mehr.« Sie ist benommen vor lauter Erschöpfung.

»Detective Andersson! Wir sind jetzt durch mit all den Ausflüchten. Es geht um Mord! Und Sie sind außerstande, mir eine glaubwürdige Erklärung zu liefern!«

Ja, das ist sie.

Pete war bei ihr. Und sie hat ihm etwas gesagt, was sie ihm nie hatte sagen wollen.

Ruth Muller lehnt an der Wand neben der Tür, sie hat die Arme vor der Brust verschränkt.

Die Fotos liegen noch immer vor Christina auf dem Tisch.

Inzwischen ist sie schon zwei Stunden hier.

Muller setzt sich wieder hin.

»Gut«, sagt sie. »Sein Genick ist gebrochen. Sie können Karate, richtig?«

Christina schweigt. Sie muss nicht erwähnen, dass sie bis vor einem halben Jahr auch Jiu Jitsu regelmäßig trainiert hat. Muller ist darüber informiert. Sie braucht nur Christinas Personalakte aufzuschlagen. Muller zieht den roten Folder zu sich. Die Fotos lässt sie vor Christina liegen.

»Wir haben Fasern Ihrer Kleidung an der Kleidung des Toten gefunden.«

Christina deutet zur Wand hinter Muller. »Wer sieht uns zu?«

Muller antwortet nicht.

Christina beugt sich über den Tisch zu Muller. »Sind Sie so sicher, dass Sie jedem hier trauen können?«, fragt sie leise.

Muller lehnt sich zurück. »Sie leiden unter Verfolgungswahn. Sie sehen überall nur noch Feinde. Sie haben sich in diese Sache hineingesteigert, anstatt sie Ihren Kollegen zu überlassen. Das nenne ich Selbstüberschätzung, Andersson. Das ist unprofessionell.« Muller blättert wieder in der Akte. »Wir haben bei Ihnen Provigil, Ritalin und Valium gefunden. Nehmen Sie diese Medikamente?«

Es hat keinen Sinn, zu leugnen, das weiß Christina. Jeder Test würde es beweisen. Also sagt sie: »Im Augenblick, ja.«

»Ich muss Ihnen nicht erklären, dass es dadurch zu emotionalen Kurzschlüssen kommen kann.« Muller sieht auf. »Was ist zwischen Ihnen und Pete Kondracki passiert? In welcher Beziehung stehen Sie zu ihm?«

»Wieso haben die Cops meinen Kofferraum aufgemacht?«

Muller antwortet nicht gleich, schließlich sagt sie: »Sie halten ihn für den Mörder Ihres Bruders – und deshalb haben Sie ihn umgebracht. War es nicht so?«

»Nein, so einfach ist es nicht ... «, sagt Christina zögernd.

Kapitel 1

Christina Andersson lacht.

Ed erzählt den Witz nun schon zum dritten Mal: »Und dann, müsst ihr euch vorstellen, kommt Rob und sagt zu diesem Wichser: Du Arschloch, warum hast du den Penner nicht zwei Stunden früher erledigt, jetzt hast du mir meine Kaffeepause vermiest!«

Er kriegt sich kaum ein vor Lachen, Rob haut auf den Tresen, und Gary krümmt sich, als hätte er Bauchweh. Mit so viel Bier und Whisky intus, denkt Christina, wird selbst der schlechteste Witz zum Knaller. Nur Aaron Zelman ist noch nüchtern. Schon den ganzen Abend hält er sich an Perrier. Trotzdem lacht er mit.

Christina kann immer noch nicht fassen, dass es vorbei sein soll. Sie hat tatsächlich das C auf das Factsheet an der Wand gemalt. C für Closed – Fall abgeschlossen.

Wenn sie die Augen schließt, sieht sie selbst jetzt, in der Bar, sofort wieder das tote Mädchen neben den Mülltonnen im Hinterhof liegen. Das Kleid zerrissen, die Beine verdreht. Ratten, die angefangen haben, sich über sie herzumachen, huschen weg, als sie mit Aaron zum Fundort kommt.

Seit zehn Jahren ist sie bei der Polizei, und sie hat schon mehrere tote Kinder gesehen, aber keines hat sie so berührt wie Charlene. Vielleicht lag es daran, dass sie so alt war wie Jay. Sie wirkte so dünn, so zart in dem hellen Kleid. Christina lässt sich normalerweise nicht zu Sentimentalitäten hinreißen, und an Gott kann sie auch nicht glauben, aber sie hat an einen Engel denken müssen, an einen kleinen Engel, der vom Himmel gefallen war.

»Chris, hast du das mitgekriegt?«

»Was, Ed?«, fragt sie, herausgerissen aus ihren Gedanken. Ed, Rob und Gary lachen wieder, diesmal grinst sogar Aaron. Ihre Augen sind tränennass, ihre Gesichter gerötet.

»Ich hab wieder einen eurer geistreichen Witze verpasst, oder?«

Daraufhin grölen sie wieder. Es ist das Adrenalin, das raus muss. So ist es immer, wenn sie einen großen Fall gelöst haben. Heute trinkt sie zum ersten Mal so lange mit. Und seit heute nehmen die harten Kerle von der Mordkommission sie zum ersten Mal für voll. Sie, die junge blonde, angeblich nicht unattraktive Kollegin. Sie hat ihnen gezeigt, dass sie genauso clever, hartnäckig und taff ist wie sie. Und heute demonstriert sie ihnen, dass sie auch genauso viel verträgt wie sie. Plötzlich tun sie, als hätten sie nie ein Problem gehabt mit einem weiblichen Detective, denkt sie.

»Du hättest ihn sehen sollen, Chris, Brewer ist die Kinnlade runtergefallen«, sagt Ed, genannt Ironman, der einfach nicht aufhören kann zu lachen, sein Gesicht glüht, »als Gary ihm gesagt hat, dass du den Kerl geschnappt hast.« Ed wischt sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Mit seiner rötlichen Haut, den leicht vorstehenden überwachen Augen, dem hastigen Sprechen und dem übermäßigen Schwitzen wirkt der stämmige Ed Keller immer, als bekäme er jeden Moment einen Herzinfarkt. Aber er behauptet, fit zu sein wie Ironman, und das hat ihm seinen Spitznamen eingebracht.

»Brewer kann froh sein. Ist doch gut für seine Erfolgsbilanz«, sagt sie, denn sie weiß, wie ehrgeizig der Lieutenant ist.

»Unser Lieutenant wär aber noch froher, wenn er selbst es gewesen wäre, der ihn gestellt hat«, meint Rob Winehouse in seinem dröhnenden Bariton, und die anderen nicken. »Hätte ihm ein paar Punkte mehr auf seiner Bewerbungsskala zum Captain eingebracht.« Rob lockert seinen längst schon lockeren Schlips und hebt seine mächtige dunkle Pranke. »Terry, noch mal ’ne Runde für alle!«

»Warum sind nur alle so auf eine Beförderung aus?« Gary verzieht das Gesicht zu einem Grinsen.

»Nur unser Gary Weasly nicht, was?« Ed knufft ihm in die Rippen.

»Weil ich’s einfach nicht verantworten kann, euch Dumpfbacken allein rummachen zu lassen, so einfach ist das!«, kontert Gary. »Und überhaupt, ich sag euch jetzt was, also ... «

Christina schaltet für einen Moment ab, kippt den Rest aus ihrem Glas hinunter und beobachtet die anderen. Aaron hält sich tapfer mit Perrier. Eds Schweißflecken unter den Achseln werden immer größer, Robs Augen glänzen glasig, Gary, das Wiesel, redet und redet noch mehr als sonst, und ich, denkt Christina, bin schon halb weggetreten ... Wir würden uns großartig machen auf einem Foto im Sentinel. Und darunter würde stehen: So feiert die Mordkommission von Milwaukee die Festnahme von Charlenes Mörder.

Wer, um Himmels willen, kann so etwas tun?, hat sie sich die letzten sechs Monate gefragt. Die Stadt hat es auf Platz fünf geschafft auf der Liste der kriminellsten Städte des Landes, hundert Morde im Durchschnitt jedes Jahr. Die Frage müsste sie sich also öfter stellen. Aber die Sache ist: Sie hat sich gewöhnt an die Gewalt. Und trotzdem: Diesmal war es anders. Jedes Mal, wenn sie nach Hause kam und ihren Sohn Jay in den Arm nahm, drückte ihr die Wut die Luft ab. Sie kann nicht gut umgehen mit Emotionen, das weiß sie selbst.

Charlene Brickerton, sieben Jahre alt, kein Vater, Mutter Junkie und Prostituierte.

»Es tut uns leid, aber Ihre Tochter ist einem Gewaltverbrechen ... «, hat Christina damals angefangen und dabei gedacht, es hört sich falsch an.

»Was?«, hat Evelyn Brickerton gefragt und die Stirn gerunzelt.

Gewaltverbrechen ... Warum hat sie nicht gleich gesagt: Ihre Tochter Charlene wurde mehrfach vergewaltigt, durch Messerstiche schwer verletzt und dann erschossen? Zwei Schüsse in die Brust. Sie sagt Gewaltverbrechen, weil es nicht so brutal klingt, weil sich nicht gleich Bilder einstellen. Aber Mrs. Brickerton versteht nicht, sie zieht den Gürtel des Morgenmantels enger, als könnte sie sich so besser konzentrieren. Es ist später Nachmittag, und gelblich kränkliches Licht sickert durch die Wolkenschicht. Christina hat noch den Geruch in der Nase, der aus der Wohnung dringt, Zigarettenrauch und billiges Parfüm. Als Mrs. Brickerton dann endlich versteht, was dieser Cop da gerade zu ihr gesagt hat, zerreißt etwas in ihr, das hat Christina ganz deutlich gesehen, etwas, das sie am Leben gehalten hat. Vielleicht ist es ihr Glaube, hat Christina gedacht, oder einfach ihre Hoffnung, dass doch noch so etwas wie Glück auf sie und ihre Tochter warten könnte. Mrs. Brickerton sackt zu Boden, und Christina muss ihr wieder auf die Beine helfen.

»Ich versichere Ihnen, wir werden den Tod von Charlene nicht so einfach hinnehmen«, sagt sie der Mutter und sieht ihr dabei fest in die Augen. »Wir finden den, der ihr das angetan hat. Glauben Sie mir, Sie haben mein Wort.« Dazu hat sie sich hinreißen lassen, zu solch einer Versprechung. Dabei weiß sie, dass sie das nicht tun darf. Auch sie hat nicht alle Fälle aufgeklärt. Natürlich nicht. Manchmal melden sich die Toten, nachts, wenn sie schläft. Dann sieht sie sich an einer langen Mauer aus schwarzem Granit vorbeigehen, darin eingeritzt jeder einzelne Name mit dem Todesdatum und dem Vermerk: Mörder nicht gefasst.

Jeden Tag, sechs Monate lang, hat sie ihr Versprechen im Ohr.

Und dann heute: »Wir haben ihn«, hat sie am Telefon gesagt, »wir haben Charlenes Mörder.«

Aber Mrs. Brickerton hat geschwiegen. Das lässt Christina nicht los. Wenn schon nicht ein Danke, aber wenigstens so etwas wie ein erleichtertes Ja hat sie erwartet. Doch Mrs. Brickerton hat einfach nur den Hörer aufgelegt ...

»Hey, mach mal lauter, Terry!«, donnert Rob. Er zeigt auf den Fernseher über der Theke, und der Barmann drückt auf die Fernbedienung. Christina sieht auf, die Kollegen werden still. Auch ihnen ist der Fall nahegegangen. Die meisten haben Kinder zu Hause, Ed ist zwar geschieden, aber er sieht seine beiden Kinder einmal im Monat, und er redet schon eine Woche vorher dauernd davon. Oder Rob, auch geschieden, hat einen Sohn. »Nach über sechs Monaten intensiver Ermittlungen konnte die Polizei endlich den Mörder der siebenjährigen Charlene Brickerton festnehmen«, sagt die Sprecherin im Fernsehen. Fotos werden eingeblendet. »Captain Ruth Muller von der Milwaukee Homicide Squad konnte heute mit dieser Nachricht vor die Presse treten, nachdem ... «

»Muller braucht das für ihre Karriere.« Aaron hat sich zu ihr herübergebeugt, er sagt es ihr fast ins Ohr. »Es weiß doch sowieso jeder, dass wir das nur dir zu verdanken haben.«

Christina will sagen, es ist egal, Hauptsache, der Typ ist gefasst, aber sie sagt es nicht, denn es macht ihr doch etwas aus, dass Muller sich mit fremden Lorbeeren schmückt. Ausgerechnet Muller, die nicht einmal mehr an die Aufklärung des Falls geglaubt hat. »Wir haben hier mehr als genug zu tun, Andersson. Dieser Fall ist kalt. Kümmern Sie sich darum, wenn es mal nichts mehr zu tun gibt.«

Monatelang hat sie nicht mehr richtig schlafen können. Hat immer wieder die Kleine vor sich gesehen, wie sie in ihrem Blut lag. Und sie hat die Mülltonnen gesehen und die Ratten. So ein kurzes Leben. Sie hat nicht lockergelassen. Wie oft ist sie zum Tatort gefahren? Zwanzig Mal? Dreißig Mal? Jeden Stein, jedes Stück Müll hat sie umgedreht, obwohl die Spurensicherung nichts gefunden hatte. Und wie viele Typen aus der Drogenszene hat sie vernommen? Wie viele Anwohner? Du reibst dich auf, haben ihre Kollegen gesagt – und sogar ihr Bruder. Du musst mal abschalten! Du trägst nicht die Verantwortung. Für ihre Mutter war es mal wieder ein Beweis dafür, dass die anderen ihr wichtiger sind als ihre eigene Familie. Denn sonst hätte sie ja wohl auch einen anderen Beruf gewählt und wäre nicht Cop geworden. Du musst mal an dein eigenes Kind denken, Christina. Genau deshalb hat sie ja nicht auf gegeben, aber das versteht ihre Mutter nicht.

Als sie ihm heute endlich gegenübergestanden hat, dem fetten Travis Raymond, hätte sie beinahe die Kontrolle verloren. Sie hat ihm den Pistolenlauf an die Schläfe gedrückt, obwohl er sich schon ergeben hatte. Ihr Finger hat gezuckt, und sie hat gesagt: Eine Bewegung, du Bastard, und ich puste dir das Hirn weg! Kapiert? Erschossen auf der Flucht, Notwehr, aber dann hat sie gedacht, das wäre zu einfach. Er soll leiden. Jeden Tag. Kindermördern geht es nicht gut im Knast. Da werden ihm seine Verbindungen auch nicht viel helfen. Im Knast sitzen Mächtigere als er.

»Sie werden ihn fertigmachen«, sagt sie.

Ed nickt. »Sie werden ihm den Arsch aufreißen!«

Alle heben das Glas und trinken darauf.

Ruth Muller hängt ihren Mantel an die Garderobe. Sie ist erschöpft. Die letzten Wochen hat sie durchgearbeitet. Als sie in der Garage aus dem Wagen gestiegen ist und gesehen hat, dass Adams Porsche auch da ist, ist sie fast ein bisschen enttäuscht gewesen. Sie hat vorgehabt, eine heiße Dusche zu nehmen und sich dann ins Bett zu legen – ohne mit jemandem reden zu müssen.

»Adam?« Vielleicht ist er ja doch noch unterwegs, mit irgendeinem Auftraggeber oder mit Thomas Engstroem, seinem Partner, denkt sie kurz, doch da kommt er ihr schon entgegen. Ganz in Schwarz, wie meistens, auch wenn alle Welt behauptet, schwarz wäre out.

»Hallo Liebling!« Die Wohnzimmertür öffnet sich, und Adam kommt in die Diele, eingehüllt in die gedämpften Klänge seiner Lieblingsmusik. Modern Jazz, allerdings gemäßigt, sodass ein Nicht-Musikkenner wie sie auch noch etwas damit anfangen kann. Er gibt ihr einen Kuss auf den Mund.

»Was gibt’s? Du wirkst so aufgekratzt!« Sie streift die Schuhe ab und versucht, sich ihre Anspannung nicht anmerken zu lassen. »Ist alles okay?«

»Es ist mehr als okay, Liebling.« Er dreht sich um. »Alex! Deine Mutter ist da!«

Alex kommt angeschlurft. Wenn sie ihm das nur abgewöhnen könnte. Er sieht so gut aus mit seinen fransigen dunklen Haaren, den braunen Augen, dem für sein Alter schon markanten Kinn. Es nervt sie ungeheuer, dass er so daherkommt, mit der unter der Hüfte hängenden Jeans, sodass man seine Unterhose sehen kann, und diesen ausgelatschten Skaterschuhen, die er nicht zubindet. Als wäre alles immer nur cool.

»Also, was habt ihr zwei so Geheimnisvolles für mich?«, fragt sie, ohne sich etwas anmerken zu lassen.

»Sag’s deiner Mutter, komm schon«, drängt Adam und legt Alex den Arm über die Schulter, nur kurz, weil er ja weiß, dass Alex das nicht mehr mag.

»Ach ... « Alex stöhnt auf und wendet den Kopf ab. Er hat ihr noch nicht einmal Hallo gesagt.

»Nicht so bescheiden, komm, sag’s ihr!«, sagt Adam grinsend.

»Was?« Muller sieht erst ihren Mann an, dann ihren Sohn. Sie sind Verbündete, denkt sie kurz, und ich bin draußen.

Adam sieht ihrem Sohn über den Rand seiner Hornbrille in die Augen.

Der nuschelt: »Ich bin angenommen.«

»In Pasadena?«

»Yep.« Mehr sagt er nicht.

Adam schlägt ihm anerkennend auf die Schulter, dann geht er in die Küche und öffnet den Kühlschrank.

Sie steht einfach da. Andere Mütter, denkt sie, hätten ihren Sohn umarmt, auch wenn er schon achtzehn ist, aber sie hat das nie gekonnt. Dabei hat sie es sich immer gewünscht. Ja, sogar heute noch. In diesem Augenblick. Stattdessen setzt sie ein stolzes Lächeln auf. »Das ist ja großartig, Alex! Ich freue mich für dich.«

»Für mich?« Er hebt die Schultern und lässt sie wieder sinken. »Du freust dich für dich. Du hast es mal wieder geschafft. Du bist nicht nur ein Superbulle, du bist auch noch eine Supermom.«

»Aber Alex, das ist doch Unsinn!«, widerspricht sie schnell. »Du bist derjenige, der es geschafft hat, niemand sonst!«

Er nickt, ohne zu lächeln. »Ich hab mich nicht besonders anstrengen müssen.«

Adam steht mit einer Flasche Champagner und drei Gläsern in der Tür. Sie zwingt sich zu einem Lächeln und sagt:

»Pasadena. Ist das nicht wunderbar, Adam?«

»Ja! Kommt, darauf stoßen wir an!«

Alex sieht ihr in die Augen. Es ist ein seltsamer Blick, den sie

nicht deuten kann, aber er tut ihr weh – und er hinterlässt ein ungutes Gefühl. »Ich mag keinen Champagner«, sagt er und dreht sich einfach um. Langsam geht er die Treppe hinauf.

Adam seufzt. »Komm, lassen wir ihn. Feiern wir ohne ihn.«

Obwohl auch sie keine Lust mehr hat auf Champagner, folgt sie ihm ins Wohnzimmer, wo er die Flasche öffnet.

»Ohne Alkohol- und Drogenexzesse, ohne Motorradunfälle, durchgeknallte Mädchen oder Schulverweigerungen haben wir ihn großgezogen. Ist doch auch ein Grund zum Feiern, oder?«, meint er, und sie wundert sich wieder einmal über seinen Langmut.

Der Champagner schmeckt ihr nicht. Zu trocken. Es gibt diese Tage, da will sie sich einfach vor der Welt verkriechen.

»Und, wie war dein Tag?«, fragt Adam gut gelaunt, als wäre das eben gar nicht passiert. Er lässt sich auf die Couch fallen und streckt die Beine aus.

Bevor sie antworten kann, kommt Alex die Treppe herunter, und kurz darauf hören sie, wie die Haustür zuschlägt.

Adam lächelt gezwungen.

»Wo wird er wohnen?«, fragt sie rasch und sachlich. Sie setzt sich in einen Sessel, aber sie kann sich nicht entspannen.

»Er kümmert sich selbst darum, hat er gesagt.« Adam nippt an seinem Glas, sie stellt ihres auf den Tisch.

»Ich verstehe einfach nicht, warum er sich so verhält.«

»Ach Ruth, er ist nun mal so. Es ist das Alter. Ich war damals auch nicht so nett wie heute ... «

Er versucht, sie aufzuheitern, das sollte sie zu schätzen wissen. Aber sie ist nicht in der Stimmung.

»Ich kann es nicht leiden, wie er sich benimmt, seine Kleidung ... dieses coole Gehabe! Ich hab jeden Tag mit solchen Typen zu tun. Und die haben nicht so ein Elternhaus. Sie sind nicht so privilegiert, sie ... «

»Ruth, es ist nur eine Phase. Er will sich und uns beweisen, dass er unabhängig ist.«

»Hat er eigentlich eine Freundin?«, fragt sie.

Adam steht auf und schenkt ihnen beiden nach. Dann stellt er sich hinter sie und gibt ihr einen Kuss in den Nacken. »Sie heißt Nora.«

»Aha. Dir hat er es also erzählt.«

»Ich weiß es auch erst seit gestern ... «

»Gestern?«

»Liebling, du bist in letzter Zeit immer sehr spät nach Hause gekommen.«

»Einer muss ja die Verbrecher bekämpfen, damit du in Frieden Häuser bauen kannst!« Es klingt spitzer, als sie gewollt hat. Manchmal ist sie neidisch auf Adam, der sich die helle Seite des Lebens ausgesucht hat. Aber sie hatte doch auch die Wahl, oder nicht?

»Auch darauf wollte ich mit dir anstoßen.« Geschickt versucht er wieder die Kurve zu kriegen.

Aber so leicht kann sie das Thema nicht wechseln. »Und wer ist dieses Mädchen?«

»Oh, er hat mir nur ein Foto gezeigt. Sie ist hübsch.«

»Ja, das ist das Wichtigste, nicht wahr? Dass sie hübsch ist! Gibt’s sonst noch Informationen?«

»Ruth, du kannst wirklich beruhigt sein, das Mädchen macht einen netten Eindruck.«

»Nett?« Sie hebt die Brauen.

»Ja. Aufrichtig, sie wirkt intelligent ... «

»Klingt erfreulich.«

»Sei doch nicht so sarkastisch! Es wird Zeit, dass er eine Freundin hat, ich hatte schon befürchtet, er ist schwul! Sie wird dir bestimmt gefallen.«

»Wenn ich sie denn mal kennenlernen sollte.«

»Liebling«, er beugt sich zu ihr und gibt ihr noch einen Kuss, dann setzt er sich wieder.

»Und was macht sie? Kommt sie von hier?«

»Sie will Jura studieren. Ihr Vater ist Arzt und ihre Mutter Lehrerin. Sie ist ... «

»Wie schön«, sagt sie mürrisch.

»Das klingt doch nicht schlecht!«

»Ja, nur hätte ich es gern von Alex selbst erfahren.«

»Sei ein bisschen nachsichtig. Er ist gerade ziemlich mit sich beschäftigt.« Adam hebt sein Glas. »Ich habe auch eine Neuigkeit. Und du erfährst sie als Erste: Wir haben die Ausschreibung für den Think Tank in Ashland gewonnen!«

Sie braucht einen Moment, um zu begreifen, welches Projekt er meint, da sagt er schon: »Polycorp Minerals!«

Sie denkt nach.

»Komm schon, Liebling! Ich hatte dir doch gesagt, dass das ein Millionenauftrag werden könnte.«

Sie war beschäftigt, mit ihren Fällen, mit der Personalpolitik und mit Milosz ... »Der Think Tank«, sagt sie und versucht sich zu erinnern. Sie weiß, dass er gekränkt ist, wenn er meint, sie interessiert sich nicht für seine Arbeit.

»Genau! Das Technologie-Center für Seltene-Erden-Metalle.«

»Das ist ja wunderbar! Das freut mich!« Sie bemüht sich, begeistert zu klingen.

»Das freut dich nur? Liebling, Polycorp besitzt Minen- und Schürfrechte in Kalifornien, Minnesota, hier in Wisconsin und sogar in Malaysia! Sie haben gerade eine ziemlich großzügige staatliche Unterstützung kassiert, um stillgelegte Minen wieder zu eröffnen. Das heißt, es könnten vielleicht noch mehr Projekte in der Zukunft laufen!«

Er kommt ins Schwärmen, wie so oft, wenn er von seiner Arbeit spricht. Es ist wie ein warmes Bad, sie lässt sich einlullen und merkt, wie ihr Alltag weiter und weiter zurücksinkt.

»Und?«, fragt er und schaut sie abwartend an.

Sie weiß nicht, was er meint. Offenbar hat sie gerade etwas verpasst.

Sein Lächeln erstirbt ganz langsam. »Hast du mir überhaupt zugehört?« Er trinkt sein Glas aus und steht auf.

»Adam ... « Sie versucht, ihn zurückzuhalten, und streckt den Arm nach ihm aus, doch er trägt sein Glas in die Küche, und dann hört sie ihn in sein Arbeitszimmer gehen.

Sie hat es verdorben, mal wieder.

Sie bleibt sitzen und trinkt den Rest der Flasche. Wenn sie Chief of Police von Milwaukee werden sollte, wird sie noch weniger Zeit haben.

Auf einmal merkt sie, dass die CD, die Adam eingelegt hat, zu Ende ist. Ihr Blick schweift durch den Raum, den Adam eingerichtet hat, genauso wie das ganze Haus. Natürlich weil er Architekt ist und ein Auge dafür hat. Für so etwas hat sie sowieso nie Zeit.

Trotzdem ist sie verletzt.

Alex hat zum ersten Mal eine Freundin, und nicht er sagt es ihr, sondern Adam, der ja noch nicht einmal sein richtiger Vater ist ... Schluss jetzt, Muller! Adam hat sich immer wie ein richtiger Vater benommen, also sei nicht ungerecht!

Schon lange nicht mehr ist ihr die Stille so aufgefallen wie in diesem Augenblick – und schon lange nicht mehr hat sie sich so einsam gefühlt.

Ihr Blick fällt auf die Fotos auf dem Kamin, sie kann sich nicht dagegen wehren, etwas in ihr zwingt sie aufzustehen, sie sich anzusehen, eins ganz besonders. Alex im Trikot seiner Schulmannschaft. Da war er sieben. So alt wie das ermordete Mädchen.

Auf einmal fühlt sie sich wieder besser. Sie weiß, warum sie das alles tut. Warum sie so selten zu Hause ist, warum sie keine Wohnung einrichten kann – und warum ihr eigener Sohn nichts von seiner Freundin gesagt hat. Sie hat eine Aufgabe übernommen, sie will dafür sorgen, dass die Menschen dieser Stadt in Frieden leben können. Sie greift zum Champagnerglas. »Auf dich, Muller!«

Ihr Handy klingelt. Sie will es überhören, aber sie weiß, dass sie dran gehen muss.

Wenn Hal Harpole sich vorstellt, wie die Schneeflocken auf das Dach des Wohncontainers rieseln, kann er am besten einschlafen. Oder wenn der Wind draußen heult und die Explosion in seinem Kopf übertönt. Am Abend hat es angefangen zu schneien.

22:46 zeigen die roten Leuchtdioden seines Weckers auf dem Nachttisch. Er schläft schlecht ein. Nur wenn Katie bei ihm ist, nicht. Dann vergisst er die Schmerzen in der Schulter und irgendwie auch so viel anderes.

Er schaltet das Radio im Wecker an. Ein altmodisches Teil, aber es gehört zu den wenigen Dingen, die er aus seinem Haus in Montana mitgebracht hat. Dort hat er auch immer diesen Sender gehört. Nein, nicht immer, aber seit der Sache mit Ike. Er verschränkt die Arme unter dem Kopf und lauscht der vertrauten Stimme.

»Ihr werdet aber von Kriegen und Kriegsgerüchten hören. Sehet zu, erschrecket nicht; denn dies alles muss geschehen, aber es ist noch nicht das Ende. Denn es wird sich Nation wider Nation erheben und Königreich wider Königreich, und es werden Hungersnöte und Seuchen sein und Erdbeben an verschiedenen Orten. Alles dieses aber ist der Anfang der Wehen. Ja, es hat schon angefangen. Wir leben bereits in dieser Zeit! Aber fürchtet euch nicht: Christus kommt bald zurück! Ich begrüße unseren nächsten Anrufer. Hi Nick. Was für Beobachtungen hast du gemacht?«

»Hallo, alle zusammen! Ich weiß, dass wir in der Endzeit leben. Ich meine, wenn ich dran denke, was alles so passiert. Ich habe eine Farm, Milchbetrieb. Und seit drei Tagen ist nach jedem Melken die Milch sauer. Wir haben alles sterilisiert und gereinigt, aber es ändert sich nichts. Und dann haben wir herausgefunden, dass die Milch schon im Euter sauer ist.«

»Nick, das klingt ja furchtbar.«

»Ja, ist es auch. Abgesehen von der finanziellen Sache.«

»Und du glaubst, das hat mit der Endzeit zu tun?«

»Ja, klar! Die Koordinaten haben sich verschoben, Nord- und Südpol vertauschen sich, der Polsprung, du weißt schon. Da werden natürlich enorme elektrische Spannungen frei, und das macht sich überall bemerkbar, auch in der sauren Milch.«

»Und hinter all dem steht Gott, ja?«

»Natürlich! Gott ist der Schöpfer der Welt.«

»Wir dürfen uns nicht anmaßen, die Wege Gottes zu kennen, aber wenn wir uns ihm öffnen, werden wir die Zeichen zu deuten wissen.«

»Ja.«

»Und welche Konsequenzen ziehst du für dich daraus, Nick?«

»Ich bete um die Gnade der Erkenntnis.«

»Nick, wir fühlen mit dir und deiner Familie.«

»Danke.«

»Ja, liebe Hörer, wir haben schon wieder einen Anrufer! Hallo.

Jack, von wo rufst du an?«

»Guten Morgen, Bruce! Ich wohne in Hurley. Und ich höre jeden Abend deine Sendung. Ich wollte dir nur sagen, dass du mir geholfen hast, meinen Weg zu Gott zu finden.«

»Danke, Jack. Aber das war nicht ich, das war Gott. Gott hat dir die Hand gereicht, und du hast sie ergriffen.«

»Genauso war es ... «

»Also, Jack, du hast auch Zeichen einer Endzeit gesehen?«

»Ja ... Ich hab ein paar Papageien gehabt. Tolle Vögel, sie haben bei mir im Haus gelebt. Und eines Tages komm ich ins Wohnzimmer, und sie liegen einfach auf dem Boden. Alle zehn tot. Der Tierarzt konnte nichts feststellen. Einfach tot.«

»Das ist ja schrecklich, Jack.«

»Ja. Ich glaube fest daran, dass Gott uns diese Zeichen sendet.«

»Und was, glaubst du, wollte er dir sagen?«

»Ich glaube, er wollte mir sagen, dass ich nicht so egoistisch sein soll.«

»Hm. Hast du dein Leben jetzt geändert?«

»Und ob! Ich werde nie wieder Tiere einsperren. Und ich arbeite jetzt zweimal die Woche in einer Einrichtung für Waisenkinder.«

»Das ist ja großartig, Jack, ganz, ganz großartig! Danke, dass du uns an deinem Erlebnis hast teilhaben lassen!«

»Ich hab zu danken. Und ich wünsche allen Zuhörern einen Tag voller Frieden. Amen.«

»Amen. Und jetzt, liebe Hörer, ein Song, der ... «

Harpole schaltet das Radio aus und steht auf. Er stellt sich vor, wie traurig es ist, wenn man seine Papageien tot im Wohnzimmer findet.

Plötzlich muss er an sein Haus denken, es ist leer und verlassen – und sein Leben ist so nutzlos geworden. Sie hat wieder geheiratet, hat sich ein neues, besseres Leben geschaffen, mit Haus und Garten und Reisen. Die Kinder besuchen sie.

Ihn nicht. Aber was sollen sie auch mit ihm anfangen? Einem verschlossenen, eigenbrötlerischen Mann?

Er zieht den dicken Anorak und die warmen Stiefel an. Zuletzt setzt er die Strickmütze auf und nimmt die Handschuhe.

Als er ins Freie tritt, wundert er sich, wie klar die Luft ist. Der Schnee reflektiert jeden Lichtstrahl. Der Mond ist fast voll, und sogar die Milchstraße kann er erkennen. All das ist Gottes Werk, denkt er, und in der beißenden Kälte spürt er auf einmal ein warmes Gefühl in sich. Wenn er nicht zu Gott zurückgefunden hätte, wäre er wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Dann hätte ihn die Schuld erdrückt, und er wäre eines Morgens einfach nicht mehr aufgestanden.

Er atmet tief ein und lässt seinen Blick schweifen. Vor ihm erstreckt sich das Gelände der Redmill Mine. Den See haben sie schon abgepumpt, jetzt hat Schnee die Senke bedeckt, aus der früher Erze herausgegraben wurden.

Nur noch ein paar alte, verrostete Rohre und Maschinenteile befinden sich zwischen den Bäumen, die man nach der Stilllegung angepflanzt hat. Auch das alte Bürogebäude steht noch. Es wird in den nächsten Tagen abgerissen.

Man wird versuchen, noch in diesem Frühjahr mit der Erzförderung zu beginnen. Kupfer, Zink – aber vor allem das Seltene-Erden-Metall Neodym wird man hier abbauen. Bis jetzt wurden Bäume gefällt, Leitungen verlegt und Container für provisorische Unterkünfte und Büros aufgestellt. Die erste Sprengung für den Einstiegsschacht findet übermorgen statt.

Sie sind im Zeitplan. Er macht seine Sache gut. Er ist ein Profi.

Sie sind genau der richtige Mann, Harpole, um die Arbeiten hier zu organisieren, hat Charles Frenette gesagt und ihm fest die Hand geschüttelt.

Sind Sie sicher?, hätte er beinahe gefragt. Er blickt auf sein Dossier, das Frenette lächelnd hochhält.

Aber da steht nicht alles drin.

Sie will aufhören zu denken. Du trägst keine Verantwortung in diesem Fall mehr, Christina! Es ist vorbei! Lass los!

In dem Moment denkt sie, dass sie heimfahren sollte. Obwohl sie den anderen doch gerade beweist, dass sie auch einiges verträgt. Und obwohl ihr Bruder bei Jay ist. Bevor sie angefangen haben, ihren Erfolg ein bisschen zu feiern, hat sie ihn angerufen. Jay hat abgenommen. Worauf sie sich mal wieder aufgeregt hat. Er weiß, dass er nicht ans Telefon gehen soll, weil dann Fremde denken könnten, er ist allein. Du bist paranoid, hat ihr Bruder gemeint, der Junge wächst ja in permanenter Angst auf. Solche Kinder landen irgendwann in meiner Praxis. Sie kann nicht anders, auch wenn sie weiß, sie sollte es versuchen.

Mom geht mit ihren Leuten noch weg, hat sie ihm gesagt, und dass er einen neuen Schlafanzug anziehen und rechtzeitig ins Bett gehen soll. Du hast morgen Schule, mein Schatz.

Sie ist sich ziemlich sicher, dass er viel länger wach geblieben ist, dass er es sich mit ihrem Bruder auf der Couch bequem gemacht hat – und fernsieht. Er liebt seinen Onkel Tim. Kein Wunder, der ist ja auch viel cooler als seine nervende Mom.

»Für mich ist jetzt Schluss, Jungs.« Christina stellt das leere Glas auf die polierte Holztheke und lässt sich vom Barhocker gleiten.

»Wir haben doch gerade erst angefangen, Chris!«, sagt Rob über die ganze Theke hinweg und will ihr einen neuen Drink ordern, Rob, der gern den Gentleman spielt und zugleich Frauen

nicht richtig ernst nimmt. Er beugt sich gern zu ihnen hinunter und redet sie mit Babe an.

»Ich muss mal richtig ausschlafen, Leute«, sagt sie.

»Ich fahr dich heim.« Aaron steht neben ihr und hält ihr die Daunenjacke hin, sodass sie nur noch hineinschlüpfen muss. Er sieht so viel jünger aus als die anderen hier, mit seinen vollen rotbraunen Haaren und seinem jungenhaften Lächeln. Und er sieht definitiv nicht aus wie ein Polizist. Was hat er doch noch studiert? Christina versucht sich zu erinnern. Sie ist immer viel zu sehr mit ihren Fällen beschäftigt, um sich für andere zu interessieren. Bei ihren Partnern ist ihr nur wichtig, dass sie sich auf sie verlassen kann. Kein Wunder, nachdem das mit Dave passiert ist.

»Ich kann mir ein Taxi rufen.« Sie zieht den Reißverschluss zu. Seit zwei Monaten schon ist es verdammt kalt draußen. Der See ist zugefroren, das kommt nicht jedes Jahr vor.

»Nein, ist schon okay, ich fahr sowieso in deine Richtung«, sagt Aaron. Er ist so ganz anders als diese Kerle von der Mordkommission, denkt sie, manchmal bringen seine sanfte Art und sein Verständnis sie zur Weißglut. Jetzt ist sie ihm dankbar dafür. Auch dafür, dass er sie ganz dezent am Arm hält, denn sie fühlt sich ein bisschen wacklig auf den Beinen. Vielleicht liegt’s am Alkohol, dass sie sich plötzlich so durcheinander fühlt. Wahrscheinlich war alles zu viel für sie.

»Aaron, pass gut auf Chris auf!« Das kommt von Ed Iron- man, der den nächsten Whisky kippt. Den Ironman im Saufen könnte er jedenfalls glatt gewinnen.

»Nicht dass uns Beschwerden zu Ohren kommen!« Gary zwinkert.

Aaron, das sieht sie, will etwas erwidern, lässt es dann aber. Nein, so ganz ist er noch nicht bei ihnen angekommen.

»Passt mal lieber auf, dass Muller keine Beschwerden über euch zu Ohren kommen, Jungs!«, sagt sie und hängt sich bei Aaron ein.

»Kannst uns ja die Polizei vorbeischicken!«, rufen sie hinter ihnen her und grölen vor Lachen.

Auf einen Schlag ist sie wieder nüchtern. All die Whiskys haben nicht gereicht, um die Erinnerung an die kleine Charlene zu ertränken.

Das kriegt sie einfach nicht aus dem Kopf.

Der Wind vom See schneidet ihr ins Gesicht, die Kälte nimmt ihr die Luft, spätestens jetzt fühlt sie sich stocknüchtern. Aaron hält ihr die Tür seines Wagens auf. Ihren hat sie beim Präsidium in der State West Street stehen lassen. Sie wusste, dass sie viel zu viel trinken würde.

Sein Auto ist kein Müllplatz wie die der anderen Kollegen, in diesem Augenblick ist sie dankbar dafür. »Sag mal, riecht’s hier nach Kaffee?«

»Gibt’s bei Walmart.« Er tippt den am Rückspiegel hängenden Duftstreifen in Form einer Kaffeetasse an.

»Kann man sich damit das Kaffeetrinken sparen?«

»Manchmal ... «

Sie schnuppert daran, lehnt sich zurück, entspannt sich sogar ein bisschen. Verflucht, sie weiß schon gar nicht mehr, wie das ist: entspannen. Jeder einzelne Muskel, jede Sehne fühlt sich hart an, wie ein Drahtseil.

Sie schließt die Augen und spürt, wie der Wagen durch die nächtliche Stadt gleitet. Auf einmal fühlt sie sich unendlich müde und leer. Dabei sollte sie erleichtert sein. Ihre Gedanken treiben ziellos dahin, sie stellt sich vor, wie es wäre, einfach mit Jay abzuhauen. Irgendwo ein neues Leben anzufangen. Wo es keine Gewalt gibt, keine Grausamkeit.

Andersson, denkt sie, du bist total schräg drauf.

»Ist irgendwie komisch«, sagt Aaron unvermittelt, »dass man sich nicht viel besser fühlt, oder? Ich meine, wir haben ihn verhaftet, aber ... da draußen laufen noch so viele Mörder rum ... « Als sie die Augen öffnet und zu ihm hinübersieht, schüttelt er nachdenklich den Kopf. »Ich hab dich beobachtet, Chris.«

»Wann?«

»Als wir Raymond gestellt haben.«

»Travis Raymond, ich hätte dem Kerl am liebsten das Gehirn weggeblasen!« Schon wieder schießt die Wut in ihr hoch.

»Ich hätte dem Ausschuss gesagt, es war Notwehr«, sagt er. Sie sieht ihn lange an, er scheint es ernst gemeint zu haben. Irgendetwas warnt sie vor zu viel Offenheit. Sie kennt Aaron doch kaum. Er ist erst seit drei Monaten ihr Partner.

»Du musst die Nächste rechts«, sagt sie deshalb nur.

»Es ist wegen Dave, oder?« Er biegt rechts ab. »Stimmt’s?«

Wie lange dauert diese Fahrt denn noch?, denkt sie. Sie ist zu müde für solche Gespräche, viel zu müde, um ihm zu erklären, dass sie so gut wie niemandem vertraut, und neuen Partnern erst recht nicht.

»Er hat dir bei der Sache auf dem Schlitz-Gelände keinen Feuerschutz gegeben«, redet er weiter.

Dave, ihr damaliger Partner, hatte völlig überraschend die Nerven verloren, als sie von dieser Gang auf dem verlassenen Brauerei-Gelände beschossen wurden. Sie hatte Glück, dass die beiden Kugeln sie nur an der linken Schulter getroffen hatten.

»Schreibst du meine Biografie, oder was?«, brummt sie.

Er lacht.

Unvermittelt fällt ihr ein, wie sie ihm das erste Mal begegnet ist. In der Cafeteria im Gerichtsgebäude. Sie hatte eine Aussage zu machen und wollte für ein paar Minuten in Ruhe einen Kaffee trinken. Er saß allein an einem Tisch, an allen anderen Tischen ging es laut zu. Sie zögerte, er lächelte und sagte: »Sie können sich gern setzen.«

»Okay, aber ich will mich nicht unterhalten.«

»Ich mich auch nicht«, erwiderte er.

Sie haben tatsächlich nicht miteinander geredet, sie hat nur ein paarmal aufgesehen, und da hat er ihr zugelächelt.

Vielleicht ist sie eben ein bisschen zu ruppig gewesen. Naja, denkt sie, kommt mal vor, morgen hat er es vergessen.

Sie will in ihr Bett und einfach nur schlafen – und keine tiefschürfenden Gespräche führen. Jetzt nicht und sonst auch nicht. Sie handelt lieber und tut, was getan werden muss, anstatt zu reden.

Endlich sind sie vor ihrem Haus angekommen.

»Danke.« Sie macht die Tür auf. »Bis morgen dann.«

»Hey, du hast den Typen geschnappt! Genieß es ein bisschen!« Er lächelt sie an, sie murmelt irgendetwas, steigt aus und wirft die Tür zu. Um diese Uhrzeit, in diesem Zustand ist sie noch weniger charmant als sonst, das weiß sie. Auch Aaron wird es jetzt gemerkt haben.

Er wartet mit laufendem Motor, bis sie die wenigen Meter über die wieder zugeschneiten Platten durch den Vorgarten gegangen ist. Dann erst fährt er los. Nach Hause zu seiner Freundin, denkt sie. Er hat doch bestimmt eine Freundin, oder nicht? Die ganzen Monate hat sie kaum noch richtig zugehört. Das ist nicht unser einziger Mordfall, du bist ja wie besessen, Chris, haben die Kollegen zu ihr gesagt. Aaron nicht, er hat ihr nur ab und zu einen besorgten Blick zugeworfen und ihr Vitamindrinks mitgebracht.

Sie schließt auf – und stolpert, als sie hineingehen will. Sie bückt sich und entdeckt zwei Pizzakartons.

»Tim, du Blödmann«, murmelt sie. Was seine eigenen Sachen angeht, ist er total pingelig. Bei ihr legt er den Müll einfach so vor die Tür. Ausgerechnet er, dem nichts sauber genug ist. Der noch nicht mal die Mülltüte über Nacht in seinem Haus ertragen kann. Sie will die Kartons aufheben. Seltsam, sie sind schwerer, als sie erwartet hat. Tatsächlich ist die Pizza noch drin. Frisch, aber eiskalt.

Sie nimmt die Kartons mit rein, damit sie keine Ratten anlocken, aber womöglich ist es denen auch zu kalt.

Sie macht die Tür hinter sich zu. Ihr Bruder ist noch wach, aus dem Wohnzimmer dringen Licht und Stimmen aus dem Fernseher bis in die Diele. Sie lässt immer das Licht brennen, bis sie nach Hause kommt.

Sie geht in die Küche, legt die Kartons auf die Arbeitsplatte, zieht ihre Jacke aus und hängt sie über die Stuhllehne.

»Tim?«

Er ist vor dem Fernseher eingeschlafen, denkt sie, das passiert ihm öfter. Da kann ich am besten abschalten, sagt er, sonst würde ich jede Nacht von meinen Patienten träumen! Sie fragt sich, ob Jay auch auf der Couch schläft. Er hat doch morgen wieder Schule. Seit ihr Bruder bei ihr eingezogen ist, ist Jay soviel ausgeglichener und fröhlicher geworden. Obwohl er abends später ins Bett geht, als wenn sich ihre Mutter um ihn kümmert.

Sie holt sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und geht über den Flur ins Wohnzimmer. Die Dielen knarren, und wieder ist sie froh, dass sie dieses alte Haus gekauft hat, mit Veranda und einem Garten für Jay.

Wenn er schon ohne Vater und mit einem Cop als Mutter aufwächst, dann sorg wenigstens für eine schöne Umgebung!, hat sie sich gesagt.

Uber die Rückenlehne der Couch hinweg sieht sie in den Fernseher. Irgendeine billig produzierte Polizeiserie läuft, das hört sie schon an der Musik, und sie ist sich sicher, dass ihr Bruder eingeschlafen ist, denn so etwas gehört nicht unbedingt zu seinen Lieblingssendungen.

»Tim?«, sagt sie leise und geht näher zur Couch.

Da ist er nicht.

Und dann entrollt sich die Szene: Der Couchtisch ist umgekippt, davor liegt ihr Bruder, auf dem Rücken, den Kopf nach rechts gedreht, um seinen Oberkörper herum ist der dicke helle Teppich rotbraun.

Sie geht zu ihm, sinkt auf die Knie, will seinen Kopf zu sich drehen, aber das ist nur ein Reflex, sie weiß, dass sie nichts anfassen darf, nicht an einem Tatort ... Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund ist offen. Das weiße T-Shirt ist voller Blut, jemand hat ihm in die Brust geschossen oder gestochen ...

Sie will es nicht denken, sie hofft, dass es die vielen Whiskys sind, dass ihr Bruder gleich die Augen aufschlägt und sie angrinst. Doch nichts geschieht.

Und dann schießt die Panik in ihr hoch.

»Jay ... «

Jetzt erst zieht sie die Waffe aus dem Holster.

Wo ist Jay?

Der Albtraum ist nicht vorbei.

Ihre Beine zittern, als sie aufsteht, sie schleicht durch die Wohnung, will auf alles gefasst sein. Und trotzdem wischt sie die Bilder von den Tatorten zur Seite, die sich ihr vor die Augen projizieren. Das Schlafzimmer, denkt sie, er hat sich vielleicht im Schlafzimmer versteckt. Sie zögert, etwas in ihr will nicht wissen, was sie dort finden könnte, sie würde es nicht ertragen ... Aber dann steht sie doch vor der Tür, stößt sie auf, schaltet das Licht an. Alles ist wie immer. Ihr Bett ist unbenutzt, ein paar Kleidungsstücke liegen auf dem Stuhl neben dem Fenster, die Rollos sind heruntergelassen, die Lamellen gekippt. Es gibt keine Nischen, keinen Raum unter dem Bett. Nur den Schrank. Dort hängen ihre Kleider und Hosen, liegen ihre Blusen, T-Shirts, ihre Unterwäsche und Strümpfe. Wenn er sich dort versteckt hat ... Sie holt Luft und reißt den Schrank auf.

Zum ersten Mal denkt sie an Entführung. Dann wäre er vielleicht noch am Leben, oder?

Jetzt zögert sie nicht mehr. Sie hält die Waffe schussbereit, verbietet sich jeden Gedanken und nimmt sich das nächste Zimmer vor. Sein Kinderzimmer. Auch sein Bett ist unbenutzt. Dann steht sie vor dem Schrank mit den blau gestrichenen Türen. Sie macht ihn auf. Die Regalbretter mit seinen T-Shirts, die Stange mit seinen Jacken.

Bleibt das Badezimmer. Und der Garten.

Die Badezimmertür ist angelehnt, drinnen ist es dunkel. Es ist still bis auf die Stimmen aus dem Fernseher. Irgendetwas sagt ihr, dass er da drin ist. Ist es das unsichtbare Band zwischen Mutter und Kind? Oder ist es die jahrelange Erfahrung als Cop? Weil ein Badezimmer oft als geschützter Raum wahrgenommen wird – klein, ohne Fenster. Und weil es genau deshalb zur Falle wird.

Sie drückt die Tür auf und tastet nach dem Lichtschalter. Gleißendes Licht schießt in den Raum und blendet sie. Als Erstes nimmt sie es als Schatten wahr, dann weiß sie, was es ist: Blut. Blutschlieren an den Wandfliesen, Blutschlieren auf den Bodenfliesen. Sie muss keine Spezialistin sein, um eine Richtung zu erkennen. Die Spuren führen zur Dusche hinter der gemauerten Trennwand. Etwas in ihr will auf dem Absatz kehrtmachen und weglaufen, doch etwas anderes in ihr ist stärker.

»Jay«, flüstert sie. »Jay?«

Das alles passiert in Bruchteilen von Sekunden, und doch dehnt sich die Zeit. Die zwei, drei Schritte um die Trennwand herum scheinen eine Ewigkeit zu dauern.

Klein, ganz klein kauert er in der Ecke der Dusche. Sein Pyjama ist voller Blut. Sie stürzt auf ihn zu, fällt auf die Knie, zieht ihn zu sich, umarmt ihn ganz fest.

»Jay!« Sie zwingt sich, die Tränen zurückzuhalten, aber es gelingt ihr nicht. Er fühlt sich so kalt an und so schweißig. Aber er lebt doch, oder, er lebt? Sie presst ihn noch stärker an sich, diesen zarten, kleinen Körper, sie will ihn wärmen, er bewegt sich nicht, lieber Gott, er darf nicht tot sein, bitte ...

Endlich spürt sie seinen Atem, sein Herz, aber er sieht sie nicht an. Seine Augen starren auf irgendetwas hinter ihr. Mit ihm im Arm wirbelt sie herum, die Waffe in der Hand. Sie wird abdrücken, ohne zu zögern.

Doch da ist nichts.

»Jay, mein Schatz«. Sie streichelt sein Gesicht. Eine Woge aus unermesslicher Wut rollt auf sie zu. Sie spürt die Pistole in der Hand und wünscht sich, dass er genau jetzt zur Tür hereinkommt. Dann wird sie ihn abknallen, genau aufs Gesicht zielen und dann – das ganze Magazin abfeuern.

Aber es kommt niemand durch die Tür, nur die Stimmen aus dem Fernseher dringen zu ihr, dumme, ausgedachte Dialoge.

Jays Kopf liegt auf ihrer Brust, so wie früher, als er noch ein Baby war, als sie nachts aufstand, um ihn zu füttern, als sie oft still weinte vor so viel Glück. Dieses Wesen ist ein Teil von ihr, sie hat ihm das Leben geschenkt, und sie will dieses Leben behüten, alles Böse von ihm fernhalten. Oft hat sie gedacht, dass sie töten würde, um dieses Leben zu beschützen.

Der Cop in ihr meldet sich zurück, erteilt klare Anweisungen. Polizei anrufen, Jay in Sicherheit bringen, vielleicht ist der Kerl immer noch im Haus.

Sie will Jay im Badezimmer einschließen, doch sie bringt es nicht über sich, ihn wieder allein zu lassen. Sie trägt ihn, ihren siebenjährigen Jungen, auf dem Arm, in der anderen Hand hält sie die Pistole schussbereit. Sie geht zurück ins Wohnzimmer. Ihr Bruder liegt immer noch so da. Sie will sich vormachen, dass sie an irgendeinem Tatort ist und dass sie den Toten nicht kennt, dass sie Detective Andersson ist, in irgendeinem Einsatz. Aber es funktioniert nicht. Zu schrecklich ist der Anblick ihres Bruders, die lockigen hellbraunen Haare ... Sie zwingt sich weiter, geht zurück in die Diele und von dort aus in die Küche.

Sie holt ihr Handy aus der Jackentasche und wählt Aarons Nummer. Jay wird immer schwerer auf ihrem Arm. »Jay!« Du darfst nicht sterben, nicht du auch noch. »Jay, Jay, Liebling, bitte ... « Nein, sie darf jetzt nicht heulen! Sie streicht ihm übers Gesicht, es ist so blass, aber die Augen sind offen, er sieht sie an, oder nicht? »Jay? Kannst du mich hören?«

Als es klingelt, zuckt sie zusammen. Sie reißt die Tür auf, ein eiskalter Windstoß fegt herein.

»Christina ... «

Sie bringt kein Wort heraus, starrt Aaron nur an.

»Der Notarzt müsste gleich da sein.«

Sie blickt ihm ins Gesicht, dabei weiß sie gar nicht, was sie dort sucht. Vertrautheit vielleicht, Verbundenheit. Dabei arbeiten sie noch gar nicht lange zusammen. Und wieder, für einen Moment nur, kommt es ihr vor, als wäre sie in einem normalen Einsatz. Sie will ihr Programm abspulen und sich bereit machen, um den Angehörigen gegenüberzutreten. Bis ihr klar wird, dass sie selbst die Angehörige ist.

Mutter und Schwester ...

»Bist du sicher, dass er nicht mehr da ist?«, fragt Aaron leise und zieht seine Waffe.

»Ziemlich ... aber«, sie schüttelt den Kopf, »ich weiß es nicht ... Vielleicht ist er noch da, in einem Schrank oder unter einem Bett, oder ... vielleicht auch draußen im Garten ... « Ihre Stimme zittert.

»Leg Jay auf den Boden«, sagt er.

Da erst wird ihr klar, dass sie ihn immer noch an sich gedrückt hält.

»Ja, ja«, sagt sie, zieht eine Jacke von der Garderobe herunter und legt Jay vorsichtig darauf. »Es wird alles gut«, flüstert sie ihm ins Ohr und streichelt ihm über die Wange.

Aaron geht an ihr vorbei.

Sie lauscht. Sie will da nicht noch mal reingehen, nicht noch mal ihren toten Bruder sehen, nicht noch mal die Blutspuren im Badezimmer, nicht noch mal den ganzen Horror. Ihre ganze Professionalität ist weg, ihre Kaltblütigkeit, ihre Wut. Im Augenblick hat sie nur Angst, panische Angst um Jay. Und sie versucht zu begreifen, dass Tim tot ist.

Während Aaron jeden Raum durchsucht, hockt sie neben Jay, hält seinen Kopf, wickelt die Jacke um ihn und wiederholt wie ein Mantra: »Es wird alles gut.« Sie glaubt es tatsächlich – bis sie an ihren Bruder denkt. Für ihn wird nichts mehr gut.

Aaron kommt zurück, steckt die Waffe zurück ins Holster.

»Nichts. Da ist keiner mehr. Der Täter ist wahrscheinlich durchs hintere Fenster eingestiegen.«

Er hilft ihr auf, zusammen tragen sie Jay in die Küche, wo es wärmer ist.

Sie zittert so stark, dass sie sich hinsetzen muss. Jay sitzt auf ihrem Schoß, sie drückt ihn an sich, sie will ihn nicht loslassen. Sie muss spüren, ob er weiter atmet. Seine Haut ist blass, und sein Atem geht flach. Sie tastet nach seinem Puls.

»Aaron, sein Puls! Ich kann seinen Puls nicht mehr fühlen! Aaron, bitte!« Sie kennt sich nicht wieder, sie war noch nie so hilflos, so kopflos.

»Hier«, sagt Aaron beruhigend, »ich hab ihn, ein bisschen schneller, aber er ist da.« Für einen Augenblick ist sie erleichtert.

»Wann kommen die denn endlich? Hast du gesagt, dass es dringend ist? Dass es um Leben und Tod geht – und um ein Kind?«, schreit sie ihn an. »Gehen die vorher noch was trinken?«

»Chris ... «, versucht er sie zu beruhigen, »es ist gerade mal zehn Minuten her, dass ich angerufen habe. Sie sind sicher gleich da, bestimmt.«

»Und wenn nicht, Aaron? Was ist, wenn Jay auch noch ... «

»Chris!«, herrscht er sie an, und sie zuckt zusammen. So hat sie ihn noch nie erlebt. »Chris! Du bist Detective! Hör auf!«

Er will Jay über den Kopf streichen, aber sie schiebt seine Hand weg und drückt Jays Kopf an sich. Noch immer keine kreisenden Lichter des Krankenwagens. Jay atmet, vergewissert sie sich, sein Herz schlägt, und sein Körper scheint ein bisschen wärmer geworden zu sein.

Sie atmet durch. Sie hat die Nerven verloren.

»Tut mir leid, Aaron«, ihre Stimme zittert wieder, »tut mir leid.«

Aaron muss der Notärztin geöffnet haben. Christina weiß nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist.

»Ms. Andersson«, sagt die Ärztin, eine übergewichtige Frau mit kurzen roten Haaren, »bitte, Sie können mir vertrauen.«

Widerwillig gehorcht Christina, eigentlich will sie Jay dieser Fremden nicht anvertrauen, nicht ihr und auch niemand anderem.

Aaron legt die Hand auf ihre. »Chris, sie ist Ärztin«, sagt er, und endlich ist sie bereit, Jay loszulassen.

»Bitte ... «, flüstert sie, »er darf nicht ... «

Die Ärztin nickt, sie nimmt Jay hoch und legt ihn auf eine Trage. Dann untersucht sie ihn mit präzisen, schnellen Bewegungen.

»Ms. Andersson«, sagt die Ärztin, »ich werde Jay jetzt intubieren.«

»Warum?«, fragt Christina. Sofort steigt die Panik wieder in ihr hoch. »Er atmet doch!«

»Chris ... « Aaron berührt ihren Arm.

»Er ist bewusstlos«, sagt die Ärztin. »Wahrscheinlich ist die Lunge verletzt.«

Alles geht so schnell, schon transportieren sie Jay nach draußen, Christina läuft hinter ihnen her, aber sie weiß, dass da drin ihr Bruder liegt und dass gleich die Cops kommen und ihr Fragen stellen wollen.

»Christina, fahr mit, ich warte auf die Kollegen und kümmere mich drum«, hört sie Aaron hinter sich sagen.

Als sie ins Freie tritt und die grellen Lichter des Rettungswagens ins Dunkel der Nacht brennen, wird auf einmal alles real. Schlimmer noch: Ihr Albtraum und der vieler Cops ist wahr geworden: Die eigene Familie ist Opfer eines Verbrechens geworden.

Benommen steigt Christina in den Krankenwagen und nimmt Jays Hand. Sie erschrickt, weil sie so kalt ist. Sie will etwas sagen, doch die Notärztin hat schon verstanden. »Er hat viel Blut verloren, wir geben ihm eine Ersatzlösung.«

Eine Ersatzlösung ... Mein Gott, er ist doch noch so klein! Bleib bei mir, Jay, bleib bei mir!

Als sie losfahren, nimmt sie die kreisenden Lichter und die Sirene der beiden Polizeiwagen wahr, die gerade vor dem Haus halten. Die Spurensicherung wahrscheinlich.

Durch das Heckfenster sieht sie, wie ihr Haus immer kleiner wird. Ein ganz normales Haus, vier Zimmer, eine kleine Terrasse, ein Garten mit Garage. Am Nachbarhaus leuchtet noch der Weihnachtsschmuck vom letzten Monat. Santa Claus zieht auf seinem Rentierschlitten über das Dach. Hier glaubt man sich in Sicherheit, einigermaßen wenigstens, deshalb wohnt man nicht in der Innenstadt, nicht im Westen, nicht im Süden.

Sie ist in dieses Viertel gezogen, in dem fast ausschließlich Weiße leben. Sie hat Jay aus der öffentlichen Schule in eine Privatschule wechseln lassen. Ihren Eltern ist sie dankbar für die finanzielle Unterstützung. Sie will nicht rassistisch denken, aber sie kann auch nicht so tun, als gäbe es kein Schwarz, kein Weiß, selbst wenn sie weiß, dass es nicht an der Hautfarbe liegt, sondern am sozialen Umfeld ...

Sie rutscht auf ihrem Sitz herum, der Fahrer weiß, wie eilig es ist, er gibt Gas und bremst und gibt wieder Gas. Ich muss Mom und Dad Bescheid geben, fällt ihr ein. Tim ist tot. Mein Gott, wie soll ich es ihnen sagen?

Sie erinnert sich noch genau: Kurz vor Weihnachten hat Tim sie angerufen. »Ich brauche Abstand, Chrissie! Ich kann nicht mehr mit Rita Zusammenleben.«

»Du kannst erst mal bei uns wohnen. Jay freut sich über einen Mann im Haus«, hat sie gesagt.

Und ihre Eltern sind glücklich. Tims Frau haben sie nie besonders gemocht – und auf einmal ist es fast so wie früher. Vater, Mutter, Bruder, Schwester. Und Jay.

Harpole stapft in der Dunkelheit durch den Schnee hinüber zum Bürocontainer. Nur wenige Strahler werfen helles Licht auf das Minengelände. Ein Schatten huscht vorbei. Neben dem Bürocontainer, in einem Schuppen, hat er einen Teller mit Katzenfutter hingestellt.

Er kauft es im Ort, im Supermarkt. Es sind zwei Katzen, soweit er weiß. Eine schwarze und eine grau getigerte. Vielleicht ist es auch eine Katze und ein Kater. Beide sind sehr scheu.

Er schließt die Tür auf. Das alte Gebäude soll in den nächsten Tagen endgültig abgerissen werden. Damit das neue gebaut werden kann. Und der CEO von Polycorp Minerals