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Lisa Jackson

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Beschreibung

Winter in Montana. Ein Psychopath fesselt seine weiblichen Opfer an einen Baum, um sie bei eisiger Kälte erfrieren zu lassen. Seine Nachricht an die Polizei: die Initialen der Toten und ein Stern. Es fehlen noch Buchstaben, um die Botschaft zu entschlüsseln. Als Detective Regan Pescoli verschwindet, ist deren Kollegin Selena Alvarez in höchster Alarmbereitschaft. Immer noch ist der "Unglücks-stern-Mörder" nicht gefasst und nun vermutet sie ihre Partnerin in den Fängen des Killers. "Meidet des Skorpions Zorn" – so könnte seine kryptische Botschaft lauten. Doch wer ist der Skorpion? Wird es Selena Alvarez gelingen, ihn rechtzeitig aufzuspüren?

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Seitenzahl: 684

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Lisa Jackson

Der Skorpion

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Inhaltsübersicht

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. KapitelEpilogLeseprobe1. Kapitel
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Prolog

Bitterroot Mountains, Montana November

Er wird dich umbringen.

Er bringt dich um, hier, mitten in diesem schneebedeckten gottverlassenen Tal! Du musst kämpfen, Mandy, kämpfen!

Mandy Ito mühte sich ab, wehrte sich gegen die Stricke, die in ihr nacktes Fleisch schnitten, und spürte dabei den beißend kalten, arktischen Wind, der um die Gebirgsketten des Areals heulte.

Sie war allein. Allein mit dem Psychopathen, der sie entführt hatte.

Himmel, wieso hatte sie ihm vertraut?

Wie um alles in der Welt hatte sie ihn für ihren Retter halten können? Dessen Aufgabe es gewesen wäre, sie gesund zu pflegen, bis der Schneesturm vorüber war, um dann Hilfe zu holen oder sie zum nächsten Krankenhaus zu bringen.

Hatte sie sich von seiner ernsthaften Besorgnis, als er ihr Autowrack fand, einlullen lassen? Waren es diese unglaublich blauen Augen? Sein Lächeln? Seine sanften, beschwichtigenden Worte? Oder lag es daran, dass sie keine Wahl gehabt hatte, weil sie ohne seine Hilfe zweifellos in dieser tiefen, unzugänglichen Schlucht den Tod gefunden hätte?

Warum auch immer, sie hatte ihm geglaubt, hatte ihm vertraut.

Närrin! Idiotin!

Er hatte sich als ihr schrecklichster Alptraum entpuppt, als grausamer Wolf im Schafspelz, und jetzt, o Gott, jetzt musste sie dafür bezahlen.

Zitternd, nur noch beherrscht von dem einen Gedanken, sterben zu müssen, stand sie nackt an einen Baum gebunden. Das dicke Seil schnitt in ihre bloßen Arme und ihren Körper, ihr Mund war so fest zugeklebt, dass sie kaum atmen konnte.

Und er war ganz in ihrer Nähe. So nahe, dass sie spürte, wie sein warmer Atem um den Stamm der kräftigen Kiefer herumstrich, dass sie ihn ächzen hörte, während er all seine Kraft daransetzte, sie zu fesseln. Sie sah aus den Augenwinkeln seine weißen Neopren-Skihosen und den Parka aufblitzen.

Noch einmal zurrte er das Seil fester.

Sie rang nach Luft. Ihr gesamter Körper wurde noch enger an die schuppige Baumrinde gepresst. Schmerz durchzuckte sie, aber sie biss die Zähne zusammen. Sie brauchte nur zu warten. Wenn er nahe genug an sie herankam, konnte sie ihn treten. Mit aller Kraft. Gegen das Schienbein. Oder in seine Geschlechtsteile.

Sie konnte, sie wollte sich das hier nicht gefallen lassen.

Ihr Herz raste, und sie überlegte angestrengt, wie sie sich retten könnte, wie sie sich aus ihren Fesseln herauswinden und den schneebedeckten Wildwechsel wieder hinaufsteigen könnte, den er sie herabgezerrt hatte. Oh, sie hatte sich gewehrt. Hatte sich gewunden und gekämpft, sich auf ihn gestürzt, versucht, sich zu befreien, um nicht dem grauenhaften Schicksal zu begegnen, das er ihr zugedacht hatte. Sie sah noch die frischen Spuren im hohen Schnee – die großen Abdrücke seiner Stiefel und die kleineren Spuren ihrer nackten Füße in einem wilden Zickzackmuster, das entstanden war, als sie zu fliehen versuchte, obwohl er sie mit seinem Messer bedrohte. Blutstropfen leuchteten im weißen Schnee, bezeugten, dass er sie verletzt hatte, dass er aufs Ganze ging.

Lieber Gott, hilf mir, betete sie stumm zum bleigrauen Himmel hinauf, dessen Färbung noch mehr Schnee verkündete.

Er zog das Seil, das sie fesselte, noch fester an.

»Nein!«, versuchte Mandy zu schreien. »Nein! Nein! Nein!« Doch der eklige Knebel füllte ihren Mund und dämpfte ihre Schreie, so dass sie kaum zu hören waren. Panik tobte in ihren Adern, ihr Herz hämmerte.

Warum? Warum ausgerechnet ich?

Sie blinzelte gegen die Tränen an, doch sie spürte, wie salzige Tropfen aus ihren Augen rannen und auf ihren Wangen gefroren.

Nicht weinen. Was du auch tust, zeig ihm nicht, dass du Angst vor ihm hast. Diese Befriedigung gönnst du dem Scheißkerl nicht. Aber wehre dich auch nicht. Täusch ihm vor, dass du aufgibst, und tue so, als hättest du dich in dein Schicksal ergeben. Vielleicht wird er dann unvorsichtig, und du kannst irgendwie sein Messer an dich bringen.

Ihr Magen verkrampfte sich noch schmerzhafter, und sie versuchte nun, seine Waffe, ein Jagdmesser, wie man es zum Ausweiden von Wild benutzte, im Auge zu behalten. Es war rasiermesserscharf und würde das Seil problemlos durchtrennen. Genauso problemlos konnte es allerdings auch in ihr Fleisch schneiden.

Ihre Knie wurden weich, und sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht zu jammern und zu betteln, zu wimmern und zu flehen, ihm anzubieten, alles zu tun, was er wollte, damit er ihr nur nichts Böses zufügte.

Los, mach schon, zeig ihm, dass du dich in dein Schicksal ergeben hast … Aber behalte sein Messer im Auge, das Messer mit der gefährlichen, todbringenden Klinge.

Sie zitterte inzwischen immer heftiger. So sehr, dass sich Borkensplitter in ihre Haut gruben. Zitterte sie wegen des bitterkalten Winds von Montana, der in heftigen Stößen sicherlich von Kanada und der Arktis herüberblies? Oder lag es an der Angst, die in ihren Eingeweiden wühlte?

Trotz Knebel schlugen ihre Zähne aufeinander, und der grausame eisige Wind peitschte ihren Körper. Immer mal wieder sah sie kurz die Beine des Mannes, warm eingehüllt in dicke Jägersocken und weiße Skihosen und seinen schweren, pelzgefütterten Parka, der ihn vor den Elementen schützte, denen sie wehrlos ausgesetzt war.

Dieser verlogene Schweinehund hatte nie die Absicht, dich zu retten, nach diesem grauenhaften Unfall deine Verletzungen zu heilen. Von Anfang an hat er dich am Leben erhalten und den Schneesturm als Vorwand benutzt, keine Hilfe holen zu können, um dich dann umzubringen. Zu einem Zeitpunkt, den er bestimmte. Er hat die Vorfreude ausgekostet, während du dich beinahe in ihn verliebt hättest.

Der Gedanke verursachte ihr Brechreiz. Er hatte es gewusst. Sie hatte es in seinen Augen gesehen, dass er um ihre absolute Abhängigkeit wusste, um ihren albernen, dummen und erbärmlichen Wunsch, ihm zu Gefallen zu sein.

Wenn sie es gekonnt hätte, hätte sie ihn umgebracht. Hier und jetzt, auf der Stelle.

Wieder hörte sie ihn befriedigt murmeln, während er das Seil immer fester zurrte, ihren Rücken noch dichter an die kratzende Borke zwang, ihre Schultern unbeweglich fixierte. Aber sie konnte immer noch treten. Obwohl eins ihrer Beine nach der Unfallverletzung noch schmerzte, glaubte sie in ihrer Verzweiflung, ihn dank ihres intensiven Trainings in diversen Kampfsportarten treffen, ihn böse verwunden zu können.

Doch er achtete penibel darauf, sich auf der anderen Seite des Baums außer Reichweite ihrer Füße aufzuhalten. Und allmählich forderte die Eiseskälte ihren Tribut. Sie bekam Probleme, sich zu konzentrieren, konnte an nichts anderes mehr denken als an ihre vereiste Haut, die arktische Kälte, die ihr in die Knochen drang.

Ihr wurde beinahe schwarz vor Augen. Jeder Atemzug kam mühsam und flach, ihre Lungen brannten vor Sauerstoffmangel.

Vielleicht wäre es ein Ausweg, wenn sie bewusstlos würde. Die Dunkelheit war tröstlich, nahm dem Wind seine Schärfe.

Doch dann sah sie ihn auf sich zukommen, sah, wie er sich vor ihr aufstellte und sie mit grausamem, erbarmungslosem Blick betrachtete.

Wie hatte sie ihn je für gutaussehend halten können? Wie hatte sie zulassen können, dass er in ihren Träumen eine so große Rolle spielte? Wie hatte sie je in Betracht ziehen können, mit ihm zu schlafen?

Langsam zog er sein Messer aus dem Gürtel. Die brutale Metallklinge blinkte im schwindenden grauen Licht auf.

Sie war dem Untergang geweiht.

Sie wusste es.

Schon bevor er langsam, unaufhaltsam, das Messer hob.

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1. Kapitel

Ivor Hicks machte Kälte normalerweise nicht viel aus, doch es gefiel ihm gar nicht, dass er gezwungen war, so kurze Zeit nach einem Schneesturm in diesem Teil der Berge zu Fuß unterwegs zu sein. Hier konnte jederzeit eine Lawine runterkommen, wenn er zu laut hustete, und husten würde er über kurz oder lang, denn seine Lungen rasselten, als ob er eine Krankheit ausbrütete.

Wahrscheinlich sind diese Aliens schuld, entschied er, schüttelte den Gedanken aber rasch wieder ab. Kein Mensch glaubte ihm, dass er Ende der Siebziger von Aliens entführt worden war, die Experimente mit seiner Lunge, seinem Blut und seinen Geschlechtsteilen durchgeführt hatten. Die verfluchten E. T.s hatten seinen ausgelaugten, erschöpften Körper in einer Schneewehe zwei Meilen von seinem Haus entfernt in den Bergen abgelegt. Als er aus dem drogeninduzierten Koma erwachte, lag er, nur mit einer Unterhose bekleidet und halb erfroren, bei einem hohlen Baumstamm, in dem ein Stachelschwein und Käfer hausten, neben sich eine leere Flasche Roggenwhiskey. Aber keiner von diesen elenden Gesetzeshütern hatte ihm glauben wollen.

Der Deputy Sheriff, bei dem er damals Anzeige erstattete, ein kleiner Klugscheißer von etwa dreißig Jahren, hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, sein ungläubiges Grinsen zu verbergen. Er hatte nur flüchtig ein Protokoll aufgenommen und Ivor dann ins örtliche Krankenhaus geschleppt, wo er seine Frostbeulen und die Unterkühlung behandeln lassen sollte. Doc Norwood hatte zwar nicht allzu deutlich gezeigt, dass er ihm nicht glaubte, doch als er Ivor dann ins Krankenhaus in Missoula überwies, hatte er ihm psychiatrische Behandlung angeraten.

Die Idioten.

Sie alle hatten den Aliens lediglich in die Hände gespielt. Crytor, der Anführer der Schar, die ihn in ihr Mutterschiff teleportiert hatte, lachte wahrscheinlich heute noch über die Erklärung der vertrottelten Erdlinge, dass Alkohol, Dehydration und Halluzinationen die Ursache seiner »Verwirrung«, wie die Ärzte es nannten, gewesen seien.

Tja, wohin man sah, nur Dummköpfe.

Sich auf seinen Gehstock stützend, stapfte Ivor den Cross-Creek-Pass hinauf. Seine Wanderstiefel knirschten im Schnee, der Himmel war wie Seide und blau wie das Meer, das er allerdings noch nie gesehen hatte. Aber Flathead Lake hatte er gesehen, und das war ein ziemlich großer See. Das Meer war bestimmt ähnlich, nur viel, viel größer, wenn man den Liveübertragungen von Hochsee-Angelausflügen im Jagd-und-Angeln-TV glauben wollte.

Schwer atmend schleppte er sich den Pfad hinauf, der sich zwischen vorspringenden schneebedeckten Felsbrocken und uralten Tannen, die bis in den Himmel zu reichen schienen, am Berg hochwand. Er blieb stehen, um Luft zu schnappen, sah, wie sein Atem eine Wolke bildete, und verfluchte die Aliens, die ihn zwangen, den Berg hinaufzukraxeln, obwohl ihm seine Arthritis so zu schaffen machte. Die Schmerzen, davon war er überzeugt, hatten sich durch die Experimente, die sie an ihm ausgeführt hatten, und durch den in seinen Körper eingepflanzten Chip noch verschlimmert.

»Ich geh ja schon, ich geh ja«, sagte er, als er wieder dieses leichte Stechen in der Schläfe spürte, das ihn aus dem Bett getrieben hatte, noch bevor die Sonne über den Berggipfeln aufgegangen war. Er hatte nicht mal einen Schluck Kaffee getrunken, geschweige denn ein Schlückchen Jim Beam. Crytor, verflucht sei seine orangefarbene Reptilienhaut, war ein schlimmerer Sklaventreiber, als es Lila je gewesen war, Gott hab sie selig. In Erinnerung an seine verstorbene Frau schlug er das Kreuzzeichen über der Brust, obwohl er nicht katholisch war, es nie gewesen war und auch nie sein würde. Es erschien ihm lediglich so, als wäre es hier angemessen.

Crytor schien es nicht einmal zu stören.

In einer Gruppe von Tannen entdeckte er Elchspuren und –dung im Schnee und wünschte sich, seine Flinte mitgenommen zu haben, obwohl zurzeit nicht Jagdsaison war. Wer würde das schon mitbekommen?

Na ja, Crytor eben.

Nach einer Wegbiegung erhaschte er einen Blick tief nach unten ins Tal.

Er blieb wie vom Donner gerührt stehen, wäre um ein Haar abgerutscht.

Sein sechsundsiebzig Jahre altes Herz hätte ihm beinahe den Dienst versagt, als sich seine Augen, scharf wie eh und je, auf eine einzeln stehende Kiefer und eine nackte, an deren Stamm gefesselte Frau hefteten.

»Heilige Mutter Maria«, flüsterte er und lief den Berg hinunter. Sein Gehstock bohrte sich tief in den Schnee, bis zum gefrorenen Boden hinab, so eilig rannte er.

Kein Wunder, dass die Aliens ihm das da zeigen wollten.

Wahrscheinlich hatten sie sie entführt, mit ihr getan, was sie wollten, und sie dann hier in diesem eisigen, abgelegenen Tal zurückgelassen. So waren sie nun mal, die Aliens.

Er wünschte, er hätte ein Handy, wenngleich er gehört zu haben meinte, dass die Dinger so hoch oben in den Bergen sowieso nicht funktionierten. Zu weit weg von irgendwelchen Funktürmen. Er glitt aus, fing sich jedoch wieder und hastete den vertrauten Weg hinunter. Wahrscheinlich lebte sie noch. War nur durch Betäubung gefügig gemacht worden. Er konnte sie in seine Jacken hüllen, zurücklaufen und Hilfe holen.

Ivor grub seinen Stock rasch und tief in den Schnee und eilte die Serpentinen hinunter zur Talsohle, wo eine Schneeeule leise in der ansonsten gespenstisch stillen Schlucht schrie.

»Hey!«, rief er im Laufen, ziemlich außer Atem. »Hey!«

Doch bevor er die an den Baum gefesselte Frau erreicht hatte, blieb er abrupt stehen und erstarrte.

Das hier war nicht das Werk von Aliens.

Hölle, nein, das war es nicht.

Es war das Werk des Teufels persönlich.

In seinem faltigen Nacken sträubten sich die Haare. Diese Frau, eine Asiatin, war längst tot. Ihre Haut war bläulich verfärbt, Schnee puderte das dunkle, glänzende Haar, die Augen starrten leblos ins Leere, und gefrorenes Blut bedeckte hier und da ihren Körper. Ihr Mund war geknebelt. Die Seile, die sie an den Baum fesselten, hatten tiefe Einschnitte, Blutergüsse und Striemen an Armen, Brust und Taille hinterlassen.

Irgendwo ächzte ein Ast unter der Schneelast, und Ivor hatte das Gefühl, als würden ihn unsichtbare Augen beobachten.

Nie im Leben hatte er solche Angst gehabt. Noch nicht einmal als Gefangener Crytors.

Wieder wünschte er sich sein Jagdgewehr herbei, bewegte sich langsam rückwärts, schlich verstohlen auf demselben Weg zurück, den er gekommen war, bis er sich, am Bergpfad angekommen, umdrehte und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen.

Derjenige, der dieser Frau das angetan hatte, musste das schiere, tödliche Böse selbst sein.

Und es war noch zu spüren.

 

Detective Selena Alvarez ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen. Es war zwar noch nicht mal sieben Uhr morgens, aber sie musste stapelweise Papierkram durcharbeiten, und die ungelösten Fälle der beiden toten Frauen, die im Abstand von fast einem Monat aufgefunden worden waren – aneinandergekoppelte Fälle aufgrund der Tatsache, dass beide Leichen im Schnee zurückgelassen worden waren –, ließen ihre Gedanken nicht los.

Es reichte schon aus, sich diese Leichen vorzustellen – wie sie nackt, an Bäume gefesselt, geknebelt und im Schnee zum Sterben zurückgelassen worden waren –, um ihr das Mark in den Knochen gefrieren zu lassen. In den letzten Jahren waren in Pinewood County und Umgebung nur selten und in großen Zeitabständen Leichen gefunden worden, gewöhnlich als Folge von Jagd-, Angel-, Ski- oder Wanderunfällen. Einmal war ein Jogger von einem Puma beinahe tödlich verletzt worden, und immer mal wieder geriet ein Ehestreit außer Kontrolle, angeheizt durch Alkohol oder Drogen, wozu dann noch eine griffbereite Waffe kam. Aber Mord war in diesem Teil des Landes ungewöhnlich. Mehrfache Morde waren noch seltener. Ein Serienmörder in dieser Gegend? Unerhört.

Doch hier hatten sie wahrhaftig einen.

Sie brauchte sich nur auf ihrem Monitor die Leichen von Theresa Kelper und Nina Salvadore anzusehen, zwei Frauen, die sonst wenige Gemeinsamkeiten hatten, um zu wissen, dass sich ein Psychopath in der Nähe aufhielt oder durchgereist war.

Mit einem Mausklick holte sie die Fotos von der Leiche des ersten Opfers, Theresa Kelper, auf ihren Monitor. Noch ein paar Klicks, der Bildschirm teilte sich und öffnete nun ein Foto vom Führerschein der Frau, ausgestellt von der Kraftfahrzeugbehörde in Idaho, ein Foto von dem Wrack des grünen Ford Eclipse mit der Kennzeichnung Tatort eins und eine weitere Aufnahme von einer einzelnen Tanne in einem verschneiten Tal, an deren Stamm die Frau gefesselt war, unterschrieben mit Tatort zwei. Das letzte Bild zeigte einen Zettel, der über dem Kopf der Frau an den Stamm genagelt worden war und ihre Initialen aufwies: TK. Sie waren in Blockbuchstaben unter einen Stern geschrieben, der nicht nur auf das weiße Papier gezeichnet, sondern außerdem noch etwa fünfzehn Zentimeter über ihrem Kopf ins Holz geritzt war. Das Labor hatte Blutspuren in der Schnitzerei gefunden, Blutspuren des Opfers.

Alvarez biss die Zähne zusammen und betrachtete die Hinterlassenschaften der Lehrerin aus Boise. Feinde waren nicht bekannt. Sie war seit zwei Jahren verheiratet, hatte keine Kinder, und der Ehemann war am Boden zerstört. Er hatte ausgesagt, sie sei zu Besuch bei ihren Eltern in Whitefish gewesen, was sich als wahr erwies. Die Eltern und der Bruder des Opfers waren außer sich vor Trauer und Schmerz. Der Bruder hatte verlangt, die Polizei solle endlich »das Monster finden, das ihr das angetan hat!«.

»Wir arbeiten daran«, sagte Alvarez zu sich selbst, schlug eine Akte auf und sah sich die Kopie des Zettels noch einmal an.

Ein Stern, ähnlich dem, der über dem Kopf des Opfers in den Baum geritzt worden war, war über den Buchstaben auf das Blatt gezeichnet:

 

T K

 

Warum?, überlegte Alvarez. Was wollte der Mörder damit sagen? Das Büro des Sheriffs hatte alle Leute, die sie zuletzt lebend gesehen hatten, überprüft und bisher nichts finden können. Sie hielten den Mord für einen Einzelfall – bis das zweite Opfer unter gleichartigen Umständen gefunden worden war.

Noch einmal betätigte Alvarez ihre Maus, und ein neues Bild erschien auf dem Monitor, dem ersten so zum Verwechseln ähnlich, dass ihr das Blut in den Adern stocken wollte. Eine nackte Frau mit langem dunklem Haar war an den Stamm einer Tanne gebunden. Es handelte sich hier zwar um einen anderen Schauplatz, aber alles erinnerte auf gespenstische Weise an den ersten Fall.

Opfer Nummer zwei war Nina Salvadore, alleinerziehende Mutter und Programmiererin aus Redding, Kalifornien. Auch sie war in einem kleinen Tal mitten in der Wildnis der Bitterroots an einen Baum gefesselt aufgefunden worden. Ihre Leiche befand sich zwei Meilen entfernt von ihrem Fahrzeug, einem Ford Focus, zerschrottet zu einem unförmigen Klumpen aus roter Farbe, Metall und Plastik, der einige Wochen zuvor gefunden worden war.

Der über Salvadores Leiche in den Stamm geritzte Stern fand sich in leicht veränderter Position in Bezug auf ihren Körper, und auch der am Tatort zurückgelassene Zettel sah etwas anders aus. Dieses Mal wies der Bogen Standard-Druckerpapier ebenfalls einen aufgezeichneten Stern, aber andere Buchstaben auf. Wie es aussah, waren die Initialen beider Opfer leicht durcheinandergerüttelt worden:

T SK N

Trieb der Mörder ein Spiel mit ihnen? Wenn er lediglich die Urheberschaft für beide Morde für sich beanspruchen wollte, warum schrieb er dann nicht einfach TKNS in der Reihenfolge der Vor- und Zunamen der Frauen? Warum hatte er die Reihenfolge der Buchstaben umgestellt?

Alvarez kniff die Augen zusammen. Sie war ein Computergenie und hatte bereits verschiedene Entschlüsselungsprogramme durchlaufen lassen, um herauszufinden, ob hinter den vier Buchstaben irgendeine Bedeutung steckte. Bisher ohne Erfolg.

»Mistkerl«, knurrte sie und versuchte, sich vorzustellen, was für ein Ungeheuer etwas so Brutales, Grausames tun und eine Frau im Winter mitten in der Wildnis von Montana auf diese Weise erfrieren lassen konnte.

Die Gespräche mit den Menschen, die Nina Salvadore am nächsten standen, hatten keine zusätzlichen Hinweise gebracht. Sie war auf dem Rückweg nach Kalifornien, wollte sich jedoch vorher mit Freunden in Oregon treffen, und kam aus Helena, Montana, wo sie ihre Schwester besucht hatte. Die Vermisstenanzeige war zuerst in Oregon aufgegeben worden, nachdem sie nicht in der Kleinstadt Seaside eingetroffen und schon vierundzwanzig Stunden überfällig gewesen war. Am selben Tag hatte dann Ninas Schwester in Helena ebenfalls eine Vermisstenanzeige aufgegeben.

Trotz gründlichster Untersuchungen der Fundorte der Leichen und der Autowracks und der Zusammenarbeit mit der Polizei in den jeweiligen Heimatstädten der Frauen konnte das Morddezernat bisher keinen einzigen Verdächtigen vorweisen.

Waren es willkürliche Morde? Oder waren die Opfer ausgesucht und vorher belauert worden? Alvarez nagte an ihrer Unterlippe. Sie fand einfach keine Antworten.

Nachdem sie ein paar Minuten lang auf den Monitor gestarrt hatte, gab sie es auf, verließ ihren Schreibtisch und schritt einen langen Flur entlang. Sie bog nach links und gelangte durch eine Tür in den Frühstücksraum, einen fensterlosen Bereich mit einer kleinen Küche und ein paar Tischen.

Eine Glaskanne mit altem, längst eingedampftem Kaffee stand auf der Wärmeplatte. Reste von der Nachtschicht. Selena entsorgte die dunkle Flüssigkeit samt dem Kaffeepad, um frischen zu bereiten. Sie spülte die Kanne aus, füllte den Wasserbehälter und fand in einer Schublade einen neuen Kaffeepad.

Während die Kaffeemaschine fauchte, tropfte und köchelte, dachte sie über die grotesken Morde nach. Das Labor hatte in den Haaren beider Opfer Spuren von Rinde gefunden. Das Holz entsprach dem der Bäume, an die sie gefesselt waren. Die Blutergüsse und Prellungen an den Leichen stammten unübersehbar von den Fesseln, und beide wiesen Schnittwunden von einem Messer auf, nicht tief, nur ein rascher kleiner Schnitt oder Stich, als hätte derjenige, der sie zum endgültigen Schauplatz ihres Todes schleifte, sie auf diese Weise vorwärtsgetrieben.

Doch andere Verletzungen hatten laut Autopsiebericht angefangen zu verheilen. Es waren Verletzungen, die mit demjenigen übereinstimmten, was ihnen bei ihrem Autounfall zugestoßen sein musste: Mittelhandfrakturen, angebrochene Rippen und in Theresa Kelpers Fall einen gebrochenen Unterarmknochen, in Nina Salvadores ein Schlüsselbeinbruch und ein verrenktes Knie. Wie es aussah, waren die Brüche beider Frauen gerichtet und ihre Schürfwunden behandelt worden. Offenbar war bei Salvadore sogar erst kürzlich eine Wunde an der Wange und eine am Schädel genäht worden, was man daran erkennen konnte, dass das Haar an der betreffenden Stelle abrasiert worden war.

Wo hatte er die Frauen festgehalten?

Und warum?

Warum hatte er sie gewissermaßen fast gesund gepflegt, um sie schlussendlich nackt dem eisigen Wetter auszusetzen? Warum hatte er sie geheilt, nur, um sie dann sterben zu lassen?

Laut Gerichtsmedizin waren beide Frauen nicht sexuell belästigt worden.

Der Fall war sonderbar. Nervenaufreibend. Und Alvarez hatte schon Dutzende von Überstunden mit dem Versuch verbracht, sich in den Mörder hineinzudenken. Ohne Erfolg.

Das FBI war hinzugezogen worden. Agenten aus Salt Lake City waren gekommen und wieder gegangen. Ohne Ergebnis.

Die Kaffeemaschine auf dem Küchentresen gurgelte und spuckte die letzten Tropfen in die Glaskanne, als Joelle Fisher, die Sekretärin und Empfangsdame des Dezernats, hereinwirbelte.

»Oh, du hast schon Kaffee gekocht. Das ist eigentlich mein Job, weißt du«, sagte sie mit ihrem allgegenwärtigen Lächeln. Joelle ging auf die sechzig zu, sah aber zehn Jahre jünger aus. Das Einzige, was dagegen sprach, war ihre Gewohnheit, ihr platinblondes Haar zu einer Frisur zu toupieren, die doch sehr an die Kinoheldinnen der fünfziger Jahre erinnerte. Jedes Mal, wenn sie ihr begegnete, musste Alvarez an die Filme denken, die sie früher gemeinsam mit ihrer Mutter angesehen hatte.

»Ja, ich weiß.«

Joelle verzog das hübsche Gesicht, sammelte rasch ein paar alte Servietten und Rührstäbchen von einem der Tische ein und wischte ihn ab. »Du handelst mir Probleme mit dem Sheriff ein.«

Selena füllte einen Becher mit Kaffee und dachte bei sich, dass es Sheriff Dan Grayson wohl ganz egal sein würde, wer den Kaffee kochte, doch sie behielt ihre Meinung für sich. Joelles selbstgefällige Art in Bezug auf sämtliche Haushaltsfragen störte sie nicht sonderlich. Wenn sie die Küche als ihr kleines Königreich betrachten wollte, bitte schön.

»Hey!« Cort Brewster, der Undersheriff, stapfte, eine Zeitung unter den Arm geklemmt, in die Küche.

»Wie sieht’s aus?«, fragte Alvarez und schenkte ihm einen Hauch von einem Lächeln. Brewster war ein feiner Kerl, glücklich verheiratet, Vater von vier Kindern, aber er hatte etwas an sich, das sie ein bisschen nervös machte. Ein Glitzern in den Augen vielleicht, oder die Tatsache, dass sein Lächeln nicht immer seine Augen erreichte. Vielleicht war sie aber auch übersensibel. Brewster hatte ihr noch nie etwas getan und, soweit sie wusste, auch sonst niemandem in ihrer Abteilung.

»Falls Ihnen der Kaffee nicht schmeckt, tut es mir leid«, sagte Joelle und hob resigniert die Hände. »Er, hm, er lief bereits durch, als ich hier ankam.« Ihre perfekten, zart pink gefärbten Lippen schmollten leicht, und sie zog die Brauen hoch wie eine Schulmeisterin, die den kleinen Timmy zurechtweist, weil er unter dem Tisch mit sich gespielt hat.

»Meine Schuld, wenn der Kaffee wie Spülwasser schmeckt«, gestand Alvarez. »Ich habe ihn gekocht.«

Lachend holte Brewster sich einen Porzellanbecher aus dem Schrank und goss sich Kaffee ein. Verschnupft stolzierte Joelle aus der Küche; empört klapperten ihre High Heels den Flur entlang.

»Sieht aus, als hättest du heute Morgen schon jemandem auf die Zehen getreten«, bemerkte Brewster.

»Wie jeden Morgen.« Selena trank einen Schluck Kaffee. »Für die Arbeit hier müsste man eine Gefahrenzulage bekommen.«

»Miau«, machte Brewster leise über seinem Becher.

»Das gehört eben dazu.« Sie zuckte die Achseln und ging wieder zu ihrem Schreibtisch zurück. Ihre Schicht begann zwar erst in einer Dreiviertelstunde, doch ein paar Kollegen von der Nachtschicht unterhielten sich nur noch und packten bereits ein.

Als das Telefon klingelte, setzte sie sich. Sie meldete sich mit einem Brummen.

»Alvarez? Hier ist Peggy Florence aus der Zentrale. Ich habe einen Anruf bekommen, den sollten Sie sich mal anhören.«

Peggys Tonfall ließ ahnen, was kam, und sie wappnete sich.

»Ist gerade erst vor zwei Minuten reingekommen. Von Ivor Hicks. Wenn man ihm glauben kann, gibt es wohl ein neues Opfer.«

 

»… und heute ist wieder ein typischer Wintertag in Montana mit Minusgraden, vereisten Straßen und einer weiteren Schneesturmwarnung für den Nachmittag.« Der Nachrichtensprecher im Radio klang entschieden zu munter angesichts der Neuigkeiten, die er verbreitete. »Gleich anschließend hören Sie einen ausführlichen Bericht über die Situation auf unseren Straßen und darüber, wo überall wetterbedingt die Schule ausfällt, also bleiben Sie dran, bei KKAR auf siebenundneunzig Komma sechs.«

Als Überleitung erklangen die ersten Töne von »Winter Wonderland«.

Regan Pescoli wühlte ihr Gesicht tiefer ins Kopfkissen und stöhnte bei dem Gedanken ans Aufstehen laut auf. Bing Crosbys Schnulze über die Freuden des Schnees war nicht unbedingt das, was sie hören wollte, nicht an diesem Morgen. Ihr Kopf dröhnte, sie hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund, und das Letzte, was sie jetzt wollte, war, sich aus dem schönen warmen Bett zu wälzen und zum Büro des Sheriffs zu fahren, wo nach dem letzten Schneesturm wahrscheinlich wieder der Teufel los war.

Außerdem war es erst November. Bis Weihnachten war es noch lange hin.

Ohne die Augen zu öffnen, schlug sie nach der Aus-Taste des Radios, verfehlte sie und bemerkte erst jetzt, dass sie sich gar nicht in ihrem eigenen Bett befand. Mühsam hob sie ein Augenlid und sah sich um, nur um die zerkratzte, schäbige Einrichtung von Zimmer sieben im North Shore zu erkennen, einem kleinen Motel am Ort, in dem sie mit ihrem Gelegenheits-Lover hin und wieder eine Nacht verbrachte. Nebensächlich war, dass das niedrige Betonstein-Motel im Süden der Stadt nahe an der Landesgrenze lag und trotz des Namens weit und breit kein Ufer, kein Fluss, kein See und ganz bestimmt kein Meer zu sehen war.

Regan blinzelte in das höhnisch aufleuchtende rote Digital-Display des Radioweckers: 7:08 Uhr. Wenn sie sich nicht sputete, kam sie zu spät zur Arbeit.

Wieder einmal.

Regan befreite die Beine von der zerwühlten, blass gestreiften Bettdecke des Doppelbetts.

Er lag einfach so da, schnarchte leise, kehrte ihr seinen unglaublich muskulösen Rücken zu, und sein Haar stach schwarz und glänzend vom Kopfkissen ab. »Süße Träume, Teufelskerl«, flüsterte sie ungnädig und suchte im Dunkeln ihre Sachen zusammen. Schwarzer Spitzenslip, dazu passender BH, Hose und Pullover.

»Gleichfalls, Sonnenschein«, flüsterte er, ohne auch nur den Kopf zu heben.

»Manche Leute müssen arbeiten.«

»Tatsächlich?« Er wälzte sich herum, war auf Anhieb hellwach, packte sie an der Hand und zog sie zurück aufs Bett.

»Ich habe keine Zeit für solche …«

»Doch, hast du.«

»Wirklich, ich …«

Doch er hatte ihr bereits den BH wieder abgestreift, den sie gerade angezogen hatte, und riss ihr mit einer raschen, sicheren Bewegung den Slip herunter. Er zog sie über sich, und sie spürte seine Erektion, dick, hart und bereit.

»Du elender Mistkerl«, sagte sie, als er in sie hineinstieß.

»Ganz recht.«

Himmel, war er gut. Innerhalb von Sekunden war sie feucht, und seine Hände, die ihre Brüste kneteten, bevor er sich halb aufrichtete, um an ihren Brustwarzen zu saugen, ließen sie vor Wonne aufschreien.

Seine Bewegungen waren schnell. Sicher. Gründlich.

Sie keuchte, ihr Atem ging schnell und flach, das Blut rauschte heiß durch ihre Adern, in ihrem Kopf drehten sich Bilder von Liebemachen und Begehren.

Ihre Fingernägel gruben sich in seine Schultermuskeln, als sie die Kontraktionen kommen fühlte. Ein überwältigender Spasmus nach dem anderen; sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Der Orgasmus nahm tief in ihrem Inneren seinen Anfang und erschütterte sie bis in die Seele. »O Gott … o Gott …«

Er hielt sie fest, seine kräftigen Hände umspannten ihre Taille, pressten ihren Körper eng an seinen, während er aufwärts zustieß, schneller und schneller, bis ihr der Atem stockte und sie erneut die Kontrolle über ihr Denken verlor. »Uuuh«, hauchte sie, als er sich schließlich aufbäumte, die Muskeln an den Oberschenkeln hart und fest. Mit einem Knurren und einem letzten, heftigen Stoß ließ er los, ergoss sich in ihr.

Sie spürte, wie er sich versteifte, wie seine Rückenmuskeln zuckten, und als sie die Augen öffnete, sah sie, dass er sie anblickte, wie immer, wenn sie sich liebten.

Schweiß rann ihr über den Rücken und kräuselte das Haar in ihrem Nacken. »Fahr zur Hölle.«

»Zu spät«, sagte er und zog sie lachend herab auf die zerwühlten Laken. »Ich bin bereits da.«

»Ich weiß.« Sie stieß einen langen Seufzer aus und ermahnte sich, dass sie jetzt aber wirklich aufstehen musste. »Ich auch.«

»Du bist spät dran, weißt du?«

»Das macht dir Spaß, wie?«

»Was macht mir Spaß?«

»Ein gemeiner Kerl zu sein.«

Sein Grinsen blitzte weiß und frech im Halbdunkel. »Nein, Schätzchen, dir macht es Spaß.«

Sie schnaubte und wälzte sich aus dem Bett, hob ihre Kleider auf und flüchtete, bevor er sie noch einmal packen konnte, ins Bad, wo es so kalt war, dass ihr Atem kleine Wölkchen vor ihrem Mund bildete. Was war es nur, das ihn so verflixt verführerisch wirken ließ? Warum konnte sie nie nein sagen und auch dabei bleiben? Was an ihm fand sie denn so sexy? Hatte sie sich nicht immer wieder geschworen, dass sie über ihn hinwegkommen, nicht wieder in seine Falle tappen würde?

Ja, toll, das hatte viel genützt.

Wenn er nur nicht so unverschämt gut ausgesehen hätte.

Sie hatte viele Männer gekannt. Viele gutaussehende Männer. Die meisten mit eisenhartem Körper. Aber dieser hier … dieser war anders.

Tatsächlich? Ist er nicht nur ein weiterer böser Junge in einer langen Reihe, angefangen mit Chad Wheaton in der achten Klasse? Sieh den Tatsachen ins Gesicht, Regan, du hast einen grauenhaften Männergeschmack und zum Beweis dafür ausreichend Scheidungsurteile vorliegen.

Sie blickte in den Spiegel und verzog das Gesicht: rotgeränderte Augen, zerzaustes Haar, verlaufenes Make-up, einen riesigen Knutschfleck seitlich am Hals. Sie sah furchtbar aus. Und ihr blieb keine Zeit mehr, nach Hause zu fahren und ausgiebig zu duschen. Eilig wusch sie sich mit Waschlappen und warmem Wasser. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht und wischte die Wimperntusche- und Lippenstiftspuren vom Vortag ab. Dann reinigte sie sich mit dem Lappen in den Achselhöhlen und zwischen ihren Beinen.

Binnen fünf Minuten war sie fertig. Schlüpfte in die Kleider, strich sie einigermaßen glatt, legte Make-up auf und fasste die Haare zu einem Lockentuff tief im Nacken zusammen. Als sie danach ins abgedunkelte Schlafzimmer zurückkam, hörte sie ihn schon wieder schnarchen.

»Mistkerl«, knurrte sie, bemüht, ärgerlicher zu wirken, als sie war.

»Ich hab’s gehört«, kam es gedämpft aus den Kissen.

»Gut.« Sie schlüpfte in die Stiefel, die sie an der Tür ausgezogen hatte, und schnappte sich ihre Jacke von der Stuhllehne. Dann legte sie das Schulterhalfter an, prüfte nach, ob ihre Waffe gesichert war, und schob ihre Brieftasche mit der Dienstmarke in die Tasche.

Ohne ein weiteres Wort stieß Detective Regan Pescoli die Moteltür auf und trat hinaus in die bittere Kälte eines neuen Wintermorgens in Montana.

Was war denn nur los mit ihr?, fragte sie sich auf dem Weg zu ihrem Jeep. Sie schloss die Fahrertür auf und setzte sich hinters Steuer. Ihr Handy klingelte, als sie rückwärts von dem mit Schlaglöchern durchsetzten Parkplatz fuhr, und sie warf einen Blick auf das Display. Zum Glück handelte es sich bei dem Anrufer nicht um ihren Ex-Mann oder um seine widerliche Barbiepuppe von Frau, die wegen der Kinder anrief.

Aber es waren keine guten Nachrichten. Sie kannte die Handynummer auf dem Display: ihre Partnerin, Selena Alvarez.

»Pescoli«, meldete sie sich, sah in den Rückspiegel und schaltete auf »Drive«.

»Wir haben noch eine.«

Regans Herz setzte einen Schlag aus. Sie wusste, was jetzt kam. Noch eine Leiche, gefunden in den eisigen Felsen und Tälern der Bitterroot Mountains, mit schönen Grüßen von ihrem ureigenen Serienmörder. »Wo?«

»Wildfire Canyon.« Ganz und gar geschäftsmäßig erklärte sie Pescoli den Weg zum Tatort.

»Bin in einer halben Stunde da«, sagte sie und beendete das Gespräch. Die Reste der großen Cola light von gestern, wahrscheinlich gefroren, befanden sich noch in dem Becherhalter zwischen den Schalensitzen. Sie überlegte nicht lange, griff nach dem durchweichten Pappbecher, nahm den Strohhalm zwischen die Lippen und trank einen langen Zug von dem schal gewordenen Getränk. Als sie auf die Landstraße bog, kramte sie im Handschuhfach nach den Zigaretten, die sie dort versteckt hielt. Sie rauchte inzwischen nur noch eine Schachtel pro Woche. Das war nicht schlecht angesichts ihrer früheren Gewohnheit, drei Päckchen am Tag zu rauchen. Aber dieser Killer, der Frauen in der Eiseskälte aussetzte und sie dort umkommen ließ, machte all ihre guten Vorsätze zunichte.

Sie plante, nach Neujahr, in knapp zwei Monaten also, ganz und gar aufzuhören, doch unter dem Druck vonseiten ihres Ex-Manns, ihres Jobs und dieses geisteskranken Idioten, der sich an der Folterung seiner Opfer in der Kälte Montanas aufgeilte, befürchtete sie, dass alle guten Vorsätze und Absichten ins Wanken gerieten.

Sie schaltete die Sirene und das rotierende Licht ein und trat das Gaspedal durch. Der Mann im Motelzimmer kam ihr kurz noch einmal in den Sinn, doch sie drängte ihn energisch in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins zurück. In den Winkel, den sie meistens eher links liegenließ, weil sie dort daran erinnert wurde, dass sie noch immer eine sinnliche sexy Frau mit gewissen Bedürfnissen war.

Im Augenblick jedoch, wie den größten Teil ihres Lebens, war sie Polizistin.

Schluss jetzt mit bösen Jungs, sie hatte in einem Mordfall zu ermitteln.

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2. Kapitel

Ohne auf den schneidenden Wind zu achten, nahm Alvarez den Tatort in Augenschein, wo eine nackte Frau an einen einzeln stehenden Baum gebunden worden war. Äste raschelten, und Schnee wehte von den schwerbeladenen Zweigen.

Selena Alvarez hatte in ihrem ganzen Leben noch nie solche Kälte gefühlt. In Dienstjacke und –hose stand sie vor der erstarrten Leiche, und das Blut gefror ihr in den Adern vor Entsetzen.

Das Opfer sah aus, als wäre es asiatischer Herkunft. Glattes schwarzes Haar, jetzt mit einem Schneehäubchen bedeckt, vormals glatte Haut, jetzt von Blutergüssen und Schrammen verunstaltet, Blut, das den Schnee an der Wurzel des Baumes rot färbte. Der Schnee, vor nicht allzu langer Zeit von Stiefeln und nackten Füßen zertreten und dann wieder überfroren, bildete deshalb trotz des neuerlichen Schneefalls keine glatte weiße Decke mehr.

Die Kriminaltechniker hofften, von den verbliebenen Fußspuren Abdrücke nehmen zu können oder Beweismaterial in Form von Erde, Haaren, Fasern oder anderen Rückständen von der Kleidung oder den Stiefelsohlen des Täters zu finden.

Alvarez sah in dieser Hinsicht ziemlich schwarz, denn bisher war der Mörder entweder sehr penibel gewesen oder hatte einfach großes Glück gehabt.

Wie in den vorangegangenen Fällen befand sich auch hier ein Zettel am Tatort, über dem Kopf des Opfers an den Baum genagelt, und über ihrem Scheitel war ein Stern in die Rinde geritzt. Doch wieder schien die Position des Sterns leicht verschoben zu sein, entsprechend seiner Plazierung auf dem Blatt Papier.

Dieses Mal lautete die Botschaft:

M I T SK N

»Was soll das heißen?«, fragte Brewster, der zusammen mit Alvarez zum Tatort gefahren war.

»Weiß nicht.«

»Soll das eine Art Warnung oder Erklärung sein?«

Alvarez schüttelte den Kopf. »Er führt uns an der Nase herum. Offenbar sind M und I die Initialen des Opfers, aber es ist unklar, welcher Buchstabe für den Vor- und welcher für den Nachnamen steht.«

»Du meinst, wie zum Beispiel Magdalena Ingles oder Ida Mannington?«

»Ja«, bestätigte sie sarkastisch und ging mit etwas Abstand langsam um den Baum herum. »Wie Magdalena.« Die Kriminaltechniker und der Gerichtsmediziner untersuchten bereits die Leiche, versuchten, den Zeitpunkt des Todes und vielleicht die Todesursache zu bestimmen, und sahen sich in ihrer Umgebung nach eventuellen anderen Beweisstücken oder überraschenden Funden überhaupt um.

Was die Todesursache betraf, hätte Alvarez darauf gewettet, dass sie der der anderen Opfer entsprach: Erfrieren. Zwar wies die Leiche dieser Frau weit mehr Blutergüsse und Schnittwunden auf, doch Alvarez vermutete, dass das Endergebnis das gleiche sein würde. Vielleicht wurde der Mörder gewalttätiger, vielleicht erregte es ihn immer mehr, seine Opfer zuerst zu foltern. Oder diese zierliche Frau hatte sich heftiger gewehrt als die anderen, weil sie womöglich bei dem »Unfall«, als ihr Auto von der eisglatten Straße abkam, weniger Verletzungen erlitten hatte.

»Ein Fahrzeug wurde bisher nicht gefunden«, sagte Brewster, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

»Noch nicht.« Selena blickte zu ihm auf. »Nur noch eine Frage der Zeit.« Aus den Augenwinkeln sah sie eine Bewegung auf dem Weg, über den sie in diese Schlucht gelangt waren, dann tauchte dort ihre Partnerin Regan Pescoli in voller Lebensgröße auf und trug sich in die Anwesenheitsliste des Verkehrspolizisten ein, der als Erster am Tatort eingetroffen war.

Pescoli trug eine Sonnenbrille, obwohl es nicht sonderlich hell war und Wolken aufzogen, und die gleiche, wenig schmeichelhafte wetterfeste Kleidung wie die übrigen Detectives und Polizisten am Tatort.

»Da haben wir also die Nächste«, sagte Regan, bei Alvarez und Brewster angekommen. Ihr Gesicht war gerötet, das rote Haar lockte sich wild unter ihrer Strumpfmütze hervor, und der Geruch von Zigarettenrauch hüllte sie ein wie ein Leichentuch.

Alvarez zweifelte keine Sekunde daran, dass Pescoli am Vorabend einen draufgemacht, sich wieder einmal auf irgendeinen Loser eingelassen hatte, aber sie sagte nichts dazu. Solange die Freizeitbeschäftigungen ihrer Partnerin sie nicht in der Ausübung ihres Berufs beeinträchtigten, gingen sie Selena im Grunde gar nichts an.

»Ja, sieht ganz so aus«, bestätigte sie. Sie informierte Pescoli, dass kein Fahrzeug gefunden worden war, zu der bisherigen Botschaft neue Buchstaben hinzugekommen waren und Ivor Hicks die Leiche entdeckt hatte.

»Der alte Hicks war hier oben?«, hakte Pescoli nach und ließ den Blick hinter den dunklen Gläsern über die trostlose Gegend schweifen.

»Auf einem Spaziergang.«

»Wer macht denn vor Sonnenaufgang hier oben einen Spaziergang?«

»Es waren mal wieder die Aliens«, erklärte Brewster. »Sie haben ihn gezwungen.«

Pescoli verzog den Mund zu einem abschätzigen Lächeln. »Hat Crytor, dieses Reptilien-Genie, ihn hier raufgeschickt?«

»Der General, der Reptilien-General. Nicht Genie«, korrigierte Brewster. Auf dem Revier wussten alle Bescheid über Hicks’ Entführung auf das »Mutterschiff«, wo die Aliens Experimente und Versuche mit ihm angestellt hatten. Das Lokalblättchen hatte die Story in den Siebzigern gebracht, und dann noch einmal vor kurzer Zeit, zum dreißigsten Jahrestag der Entführung.

»Hatte Ivor getrunken?«, wollte Pescoli wissen.

Alvarez schüttelte den Kopf. »Er sah nicht so aus.«

»Er trinkt eine Menge.«

»Ich weiß.«

Brewster schnaubte verächtlich. »Diese Aliens, die Versuche mit ihm angestellt haben? Möchte wissen, ob sie auch einen Alkoholtest durchgeführt haben.«

Alvarez lächelte schwach.

»Ja, wahrscheinlich glauben sie seitdem, dass alle Menschen mit einem Alkoholpegel von über drei Promille herumlaufen.«

Pescoli betrachtete das Opfer, während die Sanitäter Plastikbeutel über die Hände und Füße stülpten, die Frau losschnitten und in einen Leichensack legten. »Ich glaube nicht, dass Ivor die Kraft, den Verstand und so weiter hat, um der Täter sein zu können. Was mag er wiegen, sechzig, fünfundsechzig Kilo?« Sie schüttelte den Kopf. »Du hast mit ihm gesprochen?«, fragte sie Alvarez.

»Ausführlich. Er sitzt in Deputy Hansons Wagen, falls du mit ihm reden willst.«

»Ja«, sagte Pescoli.

»Dir ist klar, dass er sofort zur Presse rennt, wenn er wieder in der Stadt ist?«

Pescoli verzog das Gesicht. »Einige Einzelheiten haben wir der Presse vorenthalten, aber falls Ivor seine große Klappe aufreißt …«

»Dann kommen sämtliche Schwachköpfe, die ein bisschen Publicity wollen, aus ihren Löchern«, sagte Alvarez und dachte voller Unbehagen an die Kraft und die Stunden, die sie damit verschwenden würden, all die Möchtegerns auszusortieren. Das Aussondern unsinniger Aussagen würde ihnen eine Menge Zeit stehlen, die sie sonst der Jagd auf den Mörder hätten widmen können.

»Er gehört dir.« Alvarez’ Kinn wies in die Richtung des Wegs, über den sie alle in die Schlucht gelangt waren, und Pescoli machte sich auf, in der Hoffnung, Ivor Hicks’ alkoholgetränktem Hirn ein paar mehr Informationen entlocken zu können.

»Viel Glück«, knurrte Alvarez.

»Danke.« Pescolis Lächeln war ohne jegliche Wärme. »Ich funke die Vermisstenabteilung an und frage nach einer asiatischen oder asiatisch-amerikanischen Frau, auf die die Beschreibung unseres Opfers zutrifft. Und ich lasse sie Vermisstenmeldungen von Frauen mit den Initialen M und I aus der letzten Woche suchen.«

»Und zwar überregional. Sie sollen Idaho, Washington, Oregon, Wyoming und Kalifornien in die Suche mit einbeziehen.«

»Verstanden.« Pescoli stapfte bereits den Weg zu dem Fahrzeug mit laufendem Motor entlang, in dem Ivor Hicks darauf wartete zu versichern, dass alles, was er tat, nur auf die Aliens zurückzuführen war. Nicht unbedingt der glaubwürdigste Zeuge.

Alvarez sah zu, wie der Leichensack abtransportiert wurde. »Hier sind wir wohl fertig.«

»Ja.« Brewster schüttelte den Kopf. »Was ist nur los hier?«

»Keine Ahnung.« Auch sie wollten gerade die schneebedeckte Lichtung verlassen. »Bevor das nächste Unwetter einsetzt, brauchen wir Hubschrauber und Fahrzeuge, die sämtliche Straßen in einem Umkreis von zwei Meilen von diesem Punkt aus absuchen. Die Leichen der anderen beiden Opfer wurden etwa anderthalb Meilen entfernt von der Stelle, an der ihre Fahrzeuge von der Straße abkamen, gefunden. Achte besonders auf kurvenreiche Strecken direkt über einem Abhang.«

Brewster schnaubte. »Damit kommt jede Straße in dieser Gegend in Frage.«

»Ich weiß.« Sie blickte zum Himmel auf, wo eindeutig Wolken aufzogen. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit, doch je länger sie warteten, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass das Fahrzeug der Asiatin bis zum Einsetzen des Tauwetters im Frühling unter Schneemassen begraben liegen würde. Dann wäre sämtliches Beweismaterial aus dem Wagen verloren oder doch zumindest stark beeinträchtigt. In der Zwischenzeit würde sie zurück ins Büro gehen, die Leichenfundorte kartieren und prüfen, wo, wenn überhaupt, sich die jeweiligen Zwei-Meilen-Umkreise schnitten. Vielleicht kam sie der Verhaftung des Scheißkerls damit einen Schritt näher.

 

Sheriff Dan Graysons Tag hatte schlecht angefangen und sich noch schlechter entwickelt.

Und es sah nicht so aus, als würde sich die Situation in absehbarer Zeit verbessern. Von Sodbrennen geplagt, stand er hinter dem Schreibtisch in seinem Büro und blickte aus dem Fenster in das heraufziehende Unwetter. Um siebzehn Uhr am Nachmittag waren in der Stadt bereits die Lichter angegangen und spiegelten sich bläulich auf den schneebedeckten Straßen. Da das Büro des Sheriffs und das Gefängnis oben auf dem Boxer Bluff gelegen waren, genoss er den Ausblick über den Fluss und die Wasserfälle knapp eine Meile weiter unten, wo sich ein Großteil der Stadt, unter anderem auch das über hundert Jahre alte Gerichtsgebäude aus Backstein, ausbreitete.

Die Presse in Gestalt von Mikrofone schwingenden Fernsehreportern war en masse in die bisher so bedeutungslose Kleinstadt Grizzly Falls eingefallen.

Der letzte große Knüller in der Gegend war die Flut von achtundachtzig gewesen, die den Bootsanleger und das Naturschutzgebiet an den Ufern des Grizzly River vernichtet hatte.

Aber jetzt hatte so ein elender Psychopath beschlossen, in dieser Gegend der Bitterroot Mountains nackte Frauen an Bäume zu fesseln, und das hatte eine Invasion von Kamerateams mit ihren Aufzeichnungsgeräten, Lampen und Kleinbussen mit Satellitenschüsseln wie Ivors Aliens über die verschlafene, gewöhnlich so langweilige Stadt hereinbrechen lassen. Freiberufliche Reporter und Fotografen der ortsansässigen, überregionalen und sogar nationalen Zeitungen bevölkerten die Motels am Ort. Ausgerüstet mit Diktiergeräten, einem Maschinengewehrfeuer an Fragen und wichtigtuerischem Gehabe mischten sie sich Seite an Seite mit ihren Gegenstücken vom Fernsehen unter die Einheimischen.

Irgendein verblödeter Gastwirt hatte Grayson beim Kaffeetrinken zugezwinkert und gesagt: »Tja, eins kann ich dir sagen, Sheriff, dieser Presserummel ist einfach gut fürs Geschäft.«

Grayson hätte Rod Larimer am liebsten mit seiner Danish Mixture Cherry das Maul gestopft. Stattdessen hatte er mit einem Schluck seinen Kaffee geleert und gesagt: »Das, was hier passiert, Rod, ist für überhaupt nichts gut. Auch nicht fürs Geschäft.«

Jetzt kramte Grayson ein Röhrchen Antazidum aus seiner Schreibtischschublade, öffnete mit einer Hand den Plastikverschluss und schluckte eine Tablette trocken hinunter, bevor er sich in seinem knarzenden alten Ledersessel niederließ. Etwas früher, kurz nach Mittag, hatte er eine Pressekonferenz abgehalten, die Öffentlichkeit gewarnt und den Ernst der Lage erläutert. Das hätte sie eigentlich zufriedenstellen müssen, doch als er zum Schluss kam, hatten die Reporter immer noch mehr Informationen gefordert. Er hatte ihnen gesagt, was er konnte, nur ein paar entscheidende Einzelheiten verschwiegen, und er hatte Ivor Hicks mit einer aus den Fingern gesogenen Klage eingelocht, um ihn von der Presse fernzuhalten.

Ivors Sohn, Bill, hatte von der Zwangslage seines Vaters erfahren und auf der Freilassung des alten Mannes bestanden. »Sie können ihn nicht festhalten, Sheriff«, hatte er früher am Tag telefonisch auf seine Rechte gepocht. »Dad hat Ihnen doch geholfen, oder?«

Grayson hatte das nicht bestreiten können und ihm versprochen, Ivor freizulassen, sobald die Detectives ihn noch einmal verhört und seine Aussage zu Protokoll genommen hatten.

»Ich nehme Sie beim Wort«, hatte Bill Hicks geknurrt, bevor er auflegte. Es war nicht das erste Mal, dass Ivors Sohn versuchte, seinem Vater aus der Klemme zu helfen. Und es war bestimmt nicht das letzte Mal.

Im Grunde genommen hatte Ivors Sohn es darauf ankommen lassen. Den Mann festzuhalten war tatsächlich Blödsinn. Mehrere Detectives hatten Hicks vernommen. Grayson war überzeugt davon, dass das Büro des Sheriffs alles aus dem alten Mann herausgequetscht hatte, was sie kriegen konnten, trotzdem mochte er gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn irgendein Reporter Ivor zu einem Drink einlud. Ivor könnte dem Kerl ohne weiteres Einzelheiten über die Ermittlungen verraten, von denen nur die Polizei wusste. Unter Druck würde er aber doch eher über die Aliens faseln, die ihn zu dem Mordschauplatz getrieben hatten, wodurch der Reporter den Alten als unzuverlässige Informationsquelle abtun würde.

Oder auch nicht.

Sobald Grayson eingefallen war, wie er Ivor daran hindern konnte, bei der Presse, einem Nachbarn oder irgendwem, der ihm für eine tolle Story einen Drink anbot, das Maul aufzureißen, würde er ihn laufenlassen.

Doch Ivor Hicks war nicht seine einzige Sorge. Das FBI war auch schon eingeschaltet, was allerdings nicht unbedingt schlecht war. Im Augenblick hatte er das Gefühl, alle Hilfe zu brauchen, die er nur bekommen konnte, von der Polizei des Bundesstaates bis zum FBI.

Geistesabwesend zupfte Grayson an seinem Schnurrbart und sah hinaus in den vom Nordwind getriebenen Schnee. Laut Wetterbericht war ein weiterer Schneesturm zu ihnen unterwegs. Also noch mehr Hiobsbotschaften. Das Revier war ohnehin schon völlig überlastet. Straßen wurden gesperrt, Elektriker arbeiteten in Doppelschicht, um die Strom- und Gasversorgung der Stadt zu gewährleisten, und während manche Leute ohne Heizung waren, stiegen gewisse Idioten immer noch in ihre Autos und fuhren sie zu Schrott, und als ob das nicht genug wäre, plante irgendwo in der hereinbrechenden eiskalten Nacht ein Psychopath seinen nächsten Zug.

Grayson verzog den Mund zu einer Seite. »Nicht in meinem Bezirk«, sagte er, doch die Worte klangen selbst in seinen Ohren hohl. Drei Morde waren bereits begangen worden, sämtlich auf dem Gebiet von Pinewood County. Er konnte nur hoffen, dass nicht noch mehr folgten.

Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.

»Sheriff«, sagte Selena Alvarez, als er über die Schulter zu ihr hinsah. »Ich dachte, Sie würden gern wissen, was wir über das dritte Opfer herausgefunden haben.«

»Sagen Sie doch einfach, dass Sie wissen, wer der Killer ist.«

Alvarez’ braune Augen wurden eine Spur dunkler. »Wir wissen es immer noch nicht«, gab sie zu. Sie war ernst, noch ernster als sonst, ihre Mundwinkel hingen herab, ihr schwarzes Haar war im Nacken zu einem Knoten geschlungen, zwischen den schwarzen Bögen ihrer Augenbrauen waren ein paar feine Fältchen erkennbar. Selena Alvarez mit ihrem messerscharfen Verstand erfüllte ihre Pflicht immer hundertzwanzigprozentig, doch aus ihrem Privatleben machte sie ein Geheimnis.

Was aber nichts zu bedeuten hatte.

Er folgte ihr durch einen kurzen Flur zu dem Raum, der der sich formierenden Einsatzgruppe vorbehalten war. An den zerkratzten grünen Wänden waren Tafeln mit Bildern und Informationen zu jedem einzelnen Opfer angebracht, einschließlich der Einzelheiten ihres Todes. Fotos von den Leichen, den Fahrzeugwracks und Führerscheinen der Opfer gehörten ebenfalls dazu. Theresa Kelpers Bilder samt Info hingen neben Nina Salvadores, und auf dem dritten Feld stand der Name Mandy Ito mit einem Fragezeichen.

»Schon identifiziert?«, fragte Grayson.

»Nicht endgültig, aber ihre Initialen sind M und I oder I und M«, erklärte Alvarez, »und auf unserer bundesweiten Suche nach einer vermissten Asiatin haben wir Mandy Ito gefunden. Single, Friseurin aus Spokane in Washington, wird vermisst seit der zweiten Novemberwoche, nachdem sie mit Freunden ein Wochenende in Whitefish verbracht hatte. Jetzt überprüfen wir diese Freunde und die Eltern.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir warten immer noch auf den Lichtbildausweis von der Kraftfahrzeugbehörde in Washington.«

Sie deutete auf eine große Karte von Pinewood County an einer der anderen Wände. Reißzwecken markierten die Stellen, wo die Leichen und die zertrümmerten Autos gefunden worden waren. Drei rote Pins kennzeichneten die Fundorte der Leichen, jeder in einem anderen kleinen Tal der Gebirgskette. Zwei gelbe Pins zeigten an, wo die Autowracks entdeckt worden waren. Um das Gebiet herum war ein großer Kreis gezogen, und auch die Entfernungen zwischen den Tatorten waren angegeben.

Grayson betrachtete die Karte. »Sie haben mit allen gesprochen, die dort Grundbesitz haben oder dort leben?«, fragte er und tippte auf die Mitte des Kreises.

»Wir sind noch dabei. Ist eine ziemlich abgelegene Gegend. Ein paar Sommerhäuser, aber nicht viele. Wenige Ganzjahres-Bewohner.« Sie sah zu ihm auf. »Mit den meisten haben wir gesprochen.« Bevor er nachfragen konnte, fügte sie hinzu: »Niemand weiß etwas.«

Sein ohnehin verkrampfter Magen zog sich noch stärker zusammen. »Fragen Sie weiter. Haben wir das Fahrzeug des letzten Opfers schon gefunden?«

»Noch nicht.«

Noch einmal warf er einen Blick auf die Karte. »Suchen Sie weiter.«

»Das tun wir«, versicherte sie, und ihr entschlossen gerecktes Kinn überzeugte ihn, dass sie bei ihrer Suche jeden Stein einzeln umdrehen würde. Er war sich nur nicht sicher, ob das genug war.

 

Um halb sieben war die Sonne in Seattle noch nicht ganz aufgegangen. Jillian Rivers schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein und hätte ihn beinahe auf den Ärmel ihres Bademantels schwappen lassen, als irgendwo in den Abgründen ihrer Handtasche das Handy klingelte. Sie warf einen Blick auf die Digitaluhr der Mikrowelle und fragte sich, wer um alles in der Welt schon so früh anrief.

Derselbe Idiot, der vor drei Tagen um fünf Uhr morgens angerufen und keine Nachricht hinterlassen hatte. Als ob das witzig wäre.

Unvermittelt stieg Ärger in ihr auf, noch bevor sie sich sagen konnte, dass sie überreagierte. Der Anruf konnte ja auch von jemandem an der Ostküste stammen, der vergessen hatte, wie früh es drei Zeitzonen entfernt noch war. Ihre Zimmergenossin aus dem College hatte den gleichen Fehler schließlich nicht nur einmal, sondern schon öfter gemacht.

Sie kramte in ihrer Handtasche, fand das Handy im selben Moment, als es aufhörte zu klingeln, und meldete sich in der toten Leitung. »Toll.« Im Menü des Handys klickte sie die Liste der eingegangenen Anrufe an. Der letzte lieferte keine Informationen.

»Wunderbar«, sagte sie mit unüberhörbarem Sarkasmus. In diesem Moment bewegte sich die Katzenklappe.

Marilyn, ihre langhaarige mehrfarbige Katze, stemmte den Kopf gegen das Plastikbrett, schlüpfte durch die Öffnung und stelzte in die Küche. Jillian hatte die Klappe eigenhändig installiert, als sie in dieses Stadthaus am Ufer des Lake Washington eingezogen war. »Wie bitte, keine Maus? Keine Ratte? Keine eklige Schlange ohne Kopf?«, fragte sie, als Marilyn im Slalom um ihre Knöchel strich, sich an ihnen rieb und laut schnurrte. »In Ordnung, mächtige Jägerin. Selbst die besten Mauserinnen haben mal einen schlechten Tag.« Sie hob die Katze hoch und flüsterte in ihr spitzes, zuckendes Ohr: »Trotzdem bist du die Schönste von allen, weißt du?«

Die Katze, schneeweiß mit nur ein paar orangefarbenen und schwarzen Flecken, war von Jillians Mutter nach Marilyn Monroe Marilyn getauft worden.

»Sie ist einfach so schön. Sie hat das Zeug für Hollywood, findest du nicht?«, hatte Linnie White geschwärmt, als sie das acht Wochen alte Kätzchen bei ihrer jüngsten Tochter ablieferte. »Glaub mir, ich habe sie gesehen und konnte nicht widerstehen. Wir nennen sie Marilyn.«

»Wäre Norma Jean nicht ein bisschen … ich weiß nicht … dezenter … oder intellektueller? Wie eine Art Insiderwitz?«, schlug Jillian vor.

»Ach, um Gottes willen, Jillian, sie ist nur eine Katze! Warum muss man da dezent und intellektuell sein?«

»Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt eine Katze will.«

»Aber natürlich willst du.« Linnie hatte Jillian das hinreißende kleine Fellbündel gereicht, und das winzige Ding bewies genug Verstand, um Jillian mit großen grünen Augen anzusehen und wie wild zu schnurren. Als Jillian sie höher an ihren Hals hob, verfiel das Kätzchen mit seinen zierlichen Pfötchen in den Milchtritt, und damit war es geschehen: Jillian hatte sich verliebt. Ihre Absage an Haustierhaltung war null und nichtig. »O Gott, sie hat mich ja schon rumgekriegt«, sagte sie und wusste, dass sie in der Falle saß. Jillian hätte es abstreiten können, solange sie wollte, und sie war auch nie eine Katzenfreundin gewesen und hatte nach dem Tod ihres alten blinden Hundes, auch eines der aus dem Tierheim geretteten Tiere, der Haustierhaltung abgeschworen, doch das alles war vergessen, als Marilyn an ihrem Hals schnurrte.

»So sind Katzen nun mal. Sie kriegen dich rum«, pflichtete Linnie ihr bei und war mit sich selbst mehr als zufrieden, weil Jillian sich von dem Kätzchen bezaubern ließ und es nicht ins Tierheim zurückgebracht werden musste. »Deshalb haben sie auch so große Ähnlichkeit mit Ehemännern.«

»Schön, schön, Marilyn kann bleiben. Aber komm bitte nicht auf die Idee, mir jetzt auch einen Mann aus dem Heim für Ex-Ehemänner zu besorgen!«

Linnie lächelte. »Sehr witzig. Hab ich dir nicht davon abgeraten, Mason zu heiraten? Ich erinnere mich sehr gut daran, erwähnt zu haben, dass du noch nicht über Aaron hinweg warst, als du dich mit ihm eingelassen hast.«

»Mom, Aaron war seit vier Jahren tot, als ich Mason geheiratet habe.«

»Er war seit vier Jahren vermisst. Und du hattest schon immer den Verdacht, dass Aaron in irgendetwas verwickelt war, bevor er verschwand.«

»Die Polizei auch. Aber das ist jetzt Schnee von gestern«, erinnerte sie ihre Mutter. Sie wollte nicht daran denken, wie ihr Mann sie hereingelegt hatte und was sie nach seinem Tod hatte durchmachen müssen.

Linnie hatte offensichtlich noch mehr sagen wollen, überlegte es sich aber ausnahmsweise einmal anders. »Also bleib am besten für eine Weile bei Katzen.«

»Oh, ganz bestimmt«, versicherte Jillian. »Glaub mir.«

»Keine Männer?«

»Nein, Mom, keine Männer. Auf sehr lange Sicht nicht mehr.«

So war die Katze geblieben, und bisher hatte Jillian ihr Versprechen gehalten. Das beantwortete jedoch nicht die Frage, wer sie schon bei Tagesanbruch anrief. Nein, noch vor Tagesanbruch.

Sie trank einen Schluck Kaffee, ließ die zappelnde Marilyn zu Boden und wollte gerade die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinaufsteigen, als das Handy in ihrer Hand aufs Neue zu klingeln begann.

Sie meldete sich vorm zweiten Klingeln. »Hallo?«

»Er lebt«, flüsterte eine nasale, dünne Stimme.

»Wie bitte?«

»Er lebt.«

»Wer? Wer lebt? Wer spricht da?«

»Dein Mann. Er lebt.«

»Ich weiß, dass er lebt. Übrigens, er ist mein Ex-Mann.« Sie wusste, dass Mason Rivers ausgesprochen lebendig war, immer noch einen BMW fuhr, als Anwalt praktizierte und höchstwahrscheinlich auch seine zweite Frau betrog. Viele Frauen wünschten ihm den Tod, doch Mason war einfach viel zu ichbezogen, um zu sterben. »Wer spricht da?«

»Doch nicht dein Ex.«

»Ich lege jetzt auf«, sagte Jillian nach kurzem Zögern. Ein kalter Schauer kroch ihr über den Rücken bis hoch in den Nacken, während sie aus dem Fenster auf das graue Wasser des Sees blickte. Ihr blasses Spiegelbild in der Scheibe sah verängstigt aus. »Wer sind Sie?«

Klick.

Das Handy blieb stumm, und als sie darauf sah, bemerkte sie, dass ihre Hand zitterte. Heftig. Ihr Gaumen war staubtrocken.

Aaron. Der unbekannte Anrufer wollte ihr sagen … sie warnen … dass Aaron lebte? Was sollte das? Und es stimmte doch gar nicht!

Aber seine Leiche wurde nie gefunden, oder?

Du hast nie aufgehört zu glauben, dass er irgendwann zur Tür hereinkommen und dir erklären würde, warum er dich allein zurückließ, nachdem er all das Geld unterschlagen hatte. Nachdem die Polizei dich verdächtigt hat, an dem Plan beteiligt zu sein, eine halbe Million Dollar in Fonds von Menschen zu stehlen, die bei ihm investiert hatten.

»O Gott«, flüsterte sie und ließ das Handy fallen, das mit einem Klappern auf dem Fliesenboden aufschlug. Tränen traten ihr in die Augen, und ihr Herz hämmerte, als sie sich gegen das Spülbecken sinken ließ. Aaron war tot. Und zwar für immer. Ein Unfall während einer Wanderung in Surinam. Dass seine Leiche nie aus dem südamerikanischen Regenwald geborgen wurde, hieß noch lange nicht, dass er noch lebte. Und dann wurde sie wütend. Stinksauer auf den unbekannten Anrufer. Sie hasste derartige Streiche. Hasste sie. Aaron war tot, schon seit Jahren.

Mit einiger Mühe konnte sie sich allmählich beruhigen. Marilyn starrte sie auf nervtötende Weise an, was Jillian einen merkwürdigen kleinen Schauer über den Rücken jagte.

»Er ist tot«, sagte sie mit fester Stimme zu der Katze. Statt einer Antwort zuckte Marilyn verlegen mit dem Schwanz und huschte durch die Katzenklappe nach draußen. Jillian sah ihr nach … und überlegte.

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3. Kapitel

Raus aus den Federn«, befahl Regan Pescoli an der offenen Tür zum Schlafzimmer ihres Sohnes. Poster von Grunge- und Heavy-Metal-Bands an den Wänden wetteiferten um Platz mit Bildern von Basketballprofis. Kleidungsstücke, DVDs und Teller mit angetrockneten Resten von Spaghetti und Pizza lagen auf dem Boden verstreut oder stapelten sich auf dem Schreibtisch und dem kleinen Fernseher. Mit anderen Worten, der zehn Quadratmeter große Kellerraum war ein Saustall.

Von dem großen Wulst mitten auf dem Futon, dem Bett ihres Sohnes, kam keine Antwort.

»Hey, Jeremy, hörst du mich nicht? Zeit zum Aufstehen! Du musst zur Schule.« Dieses Mal vernahm sie ein Grunzen. »Du weißt genau, dass du noch lange nicht aus dem Schneider bist. Wenn du noch einmal zu spät kommst, wird Mr. Quasdorf dich …«

»Ist mir … so was von egal, was Mr. Quasdorf macht!«, verkündete ihr Sohn und warf die Bettdecke zurück. So, wie er jetzt wütend an die Zimmerdecke starrte, glich er ihrem ersten Mann so sehr, dass es Regan wie ein Schlag in die Magengrube traf. »Der ist ja so was von schwul!«

»Mit solchen Behauptungen würde ich vorsichtig sein. Besonders seiner Frau und seinen Kindern gegenüber.«

Mürrisch wälzte sich Jeremy aus dem Bett, und Cisco, der gefleckte Terriermischling, sprang zu Boden. Cisco war zehn Jahre alt und wurde schon grau, glaubte aber anscheinend immer noch, ein Welpe zu sein. »Ich hätte jetzt gern ein bisschen Privatsphäre«, grummelte Jeremy und reckte sich zu seiner stattlichen Größe von eins achtzig auf. Regan trank von ihrem Kaffee und rührte sich nicht vom Fleck. »Ich hab’s kapiert, Mom, okay?«

»Und fahr deine kleine Schwester bitte zur Schule.«

»Ich weiß.« Er sah sie mit immer noch verschlafenem Blick an, und sie erkannte nur noch einen schwachen Abglanz des unbeschwerten Kindes, das er einmal war. Jetzt ließ er sich einen Soul Patch wachsen, sozusagen eine dunklere Stelle am Kinn, dazu einen flaumigen, unregelmäßigen Oberlippenbart und redete von Tattoos und Piercings, die er sich machen lassen wollte, trotz ihrer Ermahnungen, damit wenigstens zu warten, bis er achtzehn war.

Wenn doch sein Vater noch lebte. Wenn Joe doch kein Held gewesen und nicht in Ausübung seines Dienstes gestorben wäre. Wenn ich ihm eine bessere Frau gewesen wäre …

Jeremy wäre auf dem Weg nach oben zum einzigen Bad fast mit ihr zusammengestoßen und knallte jetzt die Tür. Durch die dünnen Wände hörte sie, wie er die Dusche aufdrehte und, während das Wasser warm wurde, den Klodeckel hob und sein Geschäft verrichtete.

Alles wäre besser, wenn Joe noch am Leben wäre, dachte sie. Nein, Moment. Das muss anders lauten. Alles wäre anders, so viel war klar. Besser? Das war reine Spekulation.

Sie ging die paar Schritte bis zur Küche, wo ihre Tochter auf einem Barhocker saß, ihren Erdnussbuttertoast links liegenließ und simste, als wäre sie mit dem Handy, das sie mit ihren schlanken, beringten Fingern bearbeitete, auf die Welt gekommen. Mit ihren üppigen, rötlichen Locken, dem seidigen mediterranen Teint und Augen, so blau wie der Sommerhimmel, stellte Bianca eine kleinere, weibliche Version ihres Vaters, Luke Pescoli, dar.