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Anthony de Mellos meisterhafte Anleitung zu einem Leben frei von Zwängen, frei von Enttäuschungen, frei von Ängsten. Wer den Mut hat, sich darauf einzulassen, wird es erleben. Mit weisheitlichen Geschichten aus der östlichen und westlichen Welt bringt er die Kernthemen des Lebens und damit Leserinnen und Leser auf den sprichwörtlich springenden Punkt.
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Seitenzahl: 263
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Anthony de Mello
Der springende Punkt
Wach werden und glücklich sein
Aus dem Englischen übersetztvon Irene Lucia Johna
Titel der Originalausgabe: Der springende Punkt. Wach werden und glücklich sein
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlagkonzeption: Margret Russer, München
Umschlagmotiv: © Margret Russer, München
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book): 978-3-451-80544-8
ISBN (Buch): 978-3-451-06251-3
Inhalt
Vorwort des Herausgebers
Über das Wachwerden
Werde ich Ihnen mit dem, was ich hier sage, helfen können?
Über den wahren Egoismus
Das Glück wollen
Geht es um Spiritualität oder Psychologie?
Auch Entsagen ist keine Lösung
Zuhören und umlernen
Die Maskerade der Nächstenliebe
Was haben Sie auf dem Herzen?
Gut, böse oder einfach Glück gehabt
Enttäuschung – Befreiung von Täuschung
Selbst-Beobachtung
Bewusstheit, ohne alles zu bewerten
Die Illusion der Belohnungen
Zu sich selbst finden
Das »Ich« herausschälen
Negative Gefühle gegenüber anderen
Über die Abhängigkeit
Wie Glücklichsein glücken kann
Angst – Ursprung von Gewalt
Bewusstheit und Kontakt mit der Wirklichkeit
Gute Religion – die Antithese zur Nicht-Bewusstheit
Schubladen – Etiketten – Aufkleber
Hindernisse auf dem Weg zum Glück
Vier Schritte zur Weisheit
Die Welt ist schon in Ordnung
Schlafwandeln
Begierig nach Veränderung
Ein veränderter Mensch
Zur Stille gelangen
Den Konkurrenzkampf aufgeben
Bleibender Wert
Vorlieben, nicht Wünsche
Sich an Illusionen klammern
Die lieben Erinnerungen
Konkret werden
Nach Worten suchen
Geprägt durch Bildung und Kultur
Gefilterte Wirklichkeit
Sich loslösen
Liebe, die süchtig macht
Noch mehr Worte
Versteckte Rangordnungen
Nachgeben
Allerlei Tücken
Der Tod des »Mich«
Einsicht und Verständnis
Nichts erzwingen
Wahr werden
Verschiedene Bilder
Über Liebe lässt sich nichts sagen
Die Kontrolle verlieren
Dem Leben lauschen
Das Ende aller Analyse
Vor uns der Tod
Das Land der Liebe
Die Bücher von Anthony de Mello entstanden in einem multireligiösen Kontext und sollten Anhängern anderer Religionen, Agnostikern und Atheisten eine Hilfe bei ihrer geistlichen Suche sein. Dieser Intention des Autors entsprechend sind sie nicht als Darstellungen des christlichen Glaubens oder als Interpretationen katholischer Dogmen zu verstehen.
X. Diaz del Rio S. J., Gujarat Sahitya Prakash
ANTHONY DE MELLO wurde einmal von Freunden gebeten, seine Arbeit mit ein paar Worten zu beschreiben. Daraufhin stand er auf und erzählte eine Geschichte, die er auch später bei Vorträgen gern wiederholte. Ich war sehr erstaunt, als er sagte, die Geschichte beziehe sich auf mich.
»Ein Mann fand ein Adlerei und legte es in das Nest einer gewöhnlichen Henne. Der kleine Adler schlüpfte mit den Küken aus und wuchs mit ihnen zusammen auf.
Sein ganzes Leben lang benahm sich der Adler wie die Küken, weil er dachte, er sei ein Küken aus dem Hinterhof. Er kratzte in der Erde nach Würmern und Insekten. Er gluckte und gackerte. Und ab und zu hob er seine Flügel und flog ein Stück, genau wie die Küken. Schließlich hat ein Küken so zu fliegen, stimmt’s?
Jahre vergingen, und der Adler wurde sehr alt. Eines Tages sah er einen herrlichen Vogel hoch über sich im wolkenlosen Himmel. Anmutig und hoheitsvoll schwebte er durch die heftigen Windströmungen, fast ohne mit seinen kräftigen goldenen Flügeln zu schlagen. Der alte Adler blickte ehrfürchtig empor. ›Wer ist das?‹, fragte er seinen Nachbarn.
›Das ist der Adler, der König der Vögel‹, sagte der Nachbar. ›Aber reg dich nicht auf. Du und ich sind von anderer Art.‹
Also dachte der Adler nicht weiter an diesen Vogel. Er starb in dem Glauben, ein Küken im Hinterhof zu sein.«
Erstaunt? Zuerst war ich regelrecht beleidigt! Verglich er mich vor allen Leuten mit einem Küken im Hinterhof? In einer Hinsicht ja, andererseits auch nein. Beleidigend? Niemals. Das war nicht Tonys Art. Aber er erzählte mir und diesen Leuten, dass ich in seinen Augen ein »goldener Adler« war, der nichts von den Höhen wusste, zu denen ich fähig war, aufzusteigen. Diese Geschichte ließ mich die Wesensart dieses Mannes verstehen, seine echte Liebe und seinen großen Respekt vor den Menschen, wobei er immer die Wahrheit sagte. So ging es ihm bei seiner Arbeit darum, die Menschen aufzuwecken, damit sie ihre wirkliche Größe erkennen. Das war Tony de Mellos stärkste Seite, die ihn die Botschaft des »Bewusstwerdens« verkünden ließ, das Licht zu sehen, das wir für uns selbst und für die anderen sind, und zu erkennen, dass wir besser sind als wir meinen.
All dies an Tony fängt dieses Buch ein. Es behandelt – lebendig und im lockeren Hin und Her des Dialogs – eine Fülle von Themen, die die Herzen derer stärken können, die zuhören. Den Geist seines gesprochenen Wortes und sein spontanes Eingehen auf die Reaktionen seiner Hörer auch in gedruckten Texten zu bewahren, war meine Aufgabe nach seinem Tod. Ich danke für die große Hilfe, die mir dabei George McCauley SJ, Joan Brady, John Culkin und viele andere zukommen ließen. Die interessanten, spannenden und anregenden Stunden, die Tony in Gesprächen mit vielen Leuten verbracht hat, sind auf den folgenden Seiten wundervoll eingefangen.
Genießen Sie das Buch. Lassen Sie die Worte in sich hineinschlüpfen und hören Sie – wie Tony sagen würde – mit dem Herzen zu. Hören Sie seine Geschichten, und Sie hören Ihre eigenen. Ich lasse Sie nun mit Tony – einem geistlichen Begleiter – allein, und Sie werden einen Freund fürs Leben finden.
J. Francis Stroud S. J.
SPIRITUALITÄT BEDEUTET WACH werden. Die meisten Leute schlafen, ohne es zu wissen. Sie wurden schlafend geboren, sie leben schlafend, sie heiraten im Schlaf, erziehen im Schlaf ihre Kinder und sterben im Schlaf, ohne jemals wach geworden zu sein. Niemals verstehen sie den Reiz und die Schönheit dessen, was wir »menschliches Leben« nennen. Bekanntlich sind sich alle Mystiker – ob christlich oder nichtchristlich und egal, welcher theologischen Richtung oder Religion sie angehören – in diesem einen Punkt einig: dass alles gut, alles in Ordnung ist. Obwohl gar nichts in Ordnung ist, ist alles gut. Ein wirklich seltsamer Widerspruch. Aber tragischerweise kommen die meisten Leute gar nicht dazu, zu erkennen, dass tatsächlich alles gut ist, denn sie schlafen. Sie haben einen Alptraum.
Vor einiger Zeit hörte ich im Radio die Geschichte von einem Mann, der an die Zimmertür seines Sohnes klopft und ruft: »Jim, wach auf!«
Jim ruft zurück: »Ich mag nicht aufstehen, Papa.« Darauf der Vater noch lauter: »Steh auf, du musst in die Schule!«
»Ich will nicht zur Schule gehen.«
»Warum denn nicht?«, fragt der Vater.
»Aus drei Gründen«, sagt Jim. »Erstens ist es so langweilig, zweitens ärgern mich die Kinder, und drittens kann ich die Schule nicht ausstehen.«
Der Vater erwidert: »So, dann sag ich dir drei Gründe, wieso du in die Schule musst: Erstens ist es deine Pflicht, zweitens bist du 45 Jahre alt, und drittens bist du der Klassenlehrer.« Also aufwachen, aufwachen! Du bist erwachsen geworden, du bist zu groß, um zu schlafen. Wach auf! Hör auf, mit deinem Spielzeug zu spielen.
Die meisten Leute erzählen einem, dass sie aus dem Kindergarten herauswollen, aber glauben Sie ihnen nicht. Glauben Sie ihnen wirklich nicht! Alles, was sie wollen, ist, dass sie ihr kaputtes Spielzeug repariert bekommen: »Ich möchte meine Frau wiederhaben. Ich möchte meinen Arbeitsplatz wiederhaben. Ich möchte mein Geld wiederhaben, mein Ansehen, meinen Erfolg!« Nur das möchten sie: ihr Spielzeug zurück. Das ist alles. Sogar der beste Psychologe wird Ihnen sagen, dass die Leute eigentlich nicht geheilt werden wollen. Was sie wollen, ist Linderung und Trost, denn eine Heilung ist schmerzhaft.
Wach werden und aufstehen ist bekanntlich unangenehm, denn im Bett ist es warm und behaglich. Es ist wirklich lästig, aufgeweckt zu werden. Deshalb wird es der weise Guru auch nie darauf anlegen, die Leute aufzuwecken. Ich hoffe, dass ich selbst jetzt weise genug und keineswegs darauf erpicht bin, jemanden aufzuwecken, wenn ich auch manchmal sagen werde: »Wach auf!«
Ich werde nur das tun, was ich zu tun habe, werde mein eigenes Lied singen. Wenn Sie etwas davon haben, umso besser; wenn nicht, dann eben nicht! Wie die Araber sagen: »Der Regen ist immer derselbe, wenn er auch in der Steppe Gestrüpp und in den Gärten Blumen wachsen lässt.«
GLAUBEN SIE, ICH kann jedem helfen? Aber nein, was denken Sie denn! Erwarten Sie nicht, dass ich jedem helfen kann. Umgekehrt erwarte ich nicht, jemandem zu schaden. Sollte Ihnen das auf den folgenden Seiten Gesagte doch geschadet haben, dann lag es an Ihnen; und sollte es Ihnen geholfen haben, dann lag es ebenfalls an Ihnen. Ja wirklich, Sie selbst sind es! Sie meinen, die anderen helfen Ihnen? Sie tun’s nicht. Sie meinen, die anderen unterstützen Sie? Sie tun’s nicht.
In einer Therapiegruppe, die ich leitete, war einmal eine Frau, eine Nonne, die mir sagte: »Ich fühle mich von meiner Oberin nicht unterstützt.«
Ich fragte Sie: »Was wollen Sie damit sagen?«
»Wissen Sie«, erklärte die Schwester, »meine Oberin, ich meine die Provinzoberin, lässt sich nie bei mir im Noviziat sehen. Noch nie habe ich von ihr ein anerkennendes Wort gehört.«
Darauf sagte ich zu der Schwester: »Na gut, machen wir ein kleines Rollenspiel. Nehmen wir einmal an, ich kenne Ihre Provinzoberin, und nehmen wir weiter an, ich weiß genau, was sie über Sie denkt. Also sage ich zu Ihnen (indem ich die Rolle der Provinzoberin spiele): ›Wissen Sie, Schwester Maria, der Grund, weshalb ich nicht in das Noviziat komme, ist der: Es ist der einzige Ort in der ganzen Ordensprovinz, an dem es keine Unannehmlichkeiten und nichts zu beanstanden gibt. Ich weiß, dass Sie die Leitung haben und alles in Ordnung ist.‹ Wie fühlen Sie sich jetzt?«
Sie sagte: »Ich fühle mich bestens.«
Ich erwiderte ihr: »Gut, würden Sie mal bitte für ein, zwei Minuten hinausgehen. Es gehört mit zu unserem Spiel.«
Die Schwester tat, was ich sagte. Als sie den Raum verlassen hatte, sagte ich zu den übrigen Kursteilnehmern: »Ich bin immer noch die Provinzoberin, in Ordnung? Schwester Maria draußen auf dem Flur ist die schlimmste Novizenmeisterin der Ordensprovinz, mit der ich je zu tun hatte. Der Grund, weshalb ich nicht das Noviziat besuchte, ist tatsächlich der, dass ich es einfach nicht mit ansehen kann, wie sie sich anstellt. Es ist schrecklich. Sage ich ihr aber die Wahrheit, dann müssen es die Novizinnen büßen. Wir haben eine Schwester gefunden, die sie in ein, zwei Jahren ablösen wird. Wir bilden sie schon entsprechend aus. Ich dachte, ich sage ihr inzwischen etwas Nettes, um sie bei Laune zu halten. Was meinen Sie dazu?«
Darauf erwiderten die Kursteilnehmer: »Unter diesen Umständen war es das Einzige, was Sie tun konnten.«
Danach rief ich die Schwester Maria wieder herein und fragte sie, ob sie sich noch bestens fühle.
»O ja«, sagte sie froh.
Arme Schwester Maria. Sie dachte, sie würde unterstützt, obwohl es gar nicht der Fall war. Der springende Punkt hier ist, dass wir das meiste dessen, was wir denken und fühlen, selbst heraufbeschwören, einschließlich dieser Vorstellung, von Leuten geholfen zu bekommen.
Meinen Sie, Sie helfen Leuten, weil Sie in sie verliebt sind? Hören Sie, ich habe eine gute Nachricht für Sie. Sie sind nie in jemanden verliebt. Sie sind nur in Ihre von Vorurteilen und Hoffnungen bestimmte Vorstellung von einem bestimmten Menschen verliebt. Denken Sie einmal eine Minute darüber nach: Sie sind nie in jemanden verliebt; Sie sind in Ihre voreingenommene Vorstellung von einem Menschen verliebt. Wirkt das nicht wie eine kalte Dusche auf Sie? Kühlt sich Ihr Verliebtsein nicht gleich ab? Ihre Vorstellung kippt um, oder nicht? »Wie konntest du mich bloß im Stich lassen, als ich dir so sehr vertraut habe?«, haben Sie vielleicht schon einmal gesagt. Haben Sie der-/demjenigen wirklich vertraut? Sie vertrauen nie jemandem. Kommen Sie davon weg! Es ist ein Teil der gesellschaftlichen Gehirnwäsche. Sie vertrauen nie jemandem. Sie vertrauen nur Ihrem Urteil, das Sie sich über einen bestimmten Menschen gebildet haben. Worüber beklagen Sie sich also? In Wirklichkeit geben Sie nicht gern zu: »Mein Urteil war aus der Luft gegriffen.« Das ist nicht sehr schmeichelhaft für Sie, nicht wahr? Lieber sagen Sie: »Wie konntest du mich bloß im Stich lassen?«
Das ist der springende Punkt: Die Leute wollen sich eigentlich nicht weiterentwickeln; die Leute wollen sich eigentlich nicht ändern; die Leute wollen eigentlich nicht glücklich sein. Wie mir jemand einmal sehr weise sagte: »Versuch nicht, sie glücklich zu machen! Du schaffst dir nur Probleme. Versuch nicht, einem Schwein das Singen beizubringen! Du verschwendest nur deine Zeit und irritierst das arme Schwein.«
Es ist wie in der kleinen Geschichte von dem Geschäftsmann, der nach einem anstrengenden Tag auf einen Sprung in eine Bar ging, wo er zwischen ein paar anderen Gästen Platz nahm und aufatmete. Plötzlich fiel ihm auf, dass im Ohr seines Nachbarn eine Banane steckte, ja, eine Banane! Verwundert fragte er sich: »Ob ich ihn darauf aufmerksam machen soll? Aber was geht’s mich an!«
Doch es bohrte in ihm weiter. Nach ein, zwei Drinks stieß er seinen Nachbarn freundlich an: »Entschuldigen Sie, hm. In Ihrem Ohr steckt eine Banane.«
Darauf der Nachbar: »Was?«
Der Geschäftsmann noch einmal: »Sie haben eine Banane im Ohr.«
Und wieder der Nachbar: »Was meinen Sie?«
»In Ihrem Ohr steckt eine Banane!«, brüllte nun der Geschäftsmann.
»Sprechen Sie doch etwas lauter«, antwortete der Nachbar, »ich habe eine Banane im Ohr.«
Sie sehen, es ist nutzlos. »Gib’s auf! Gib’s auf!«, schärfe ich mir ein. Sag, was du zu sagen hast, und lass es dann gut sein. Schön, wenn jemand davon profitiert, und wenn nicht, dann eben nicht.
WAS ICH IHNEN als Erstes begreiflich machen möchte, wenn Sie wirklich wach werden wollen, ist, dass Sie gar nicht wach werden möchten. Der erste Schritt zum Wachwerden besteht darin, ehrlich genug zu sein und zuzugeben, dass Sie es nicht möchten. Sie wollen gar nicht glücklich sein. Soll ich es Ihnen zeigen? Machen wir die Probe. Es braucht dafür kaum mehr als eine Minute.
Sie können dabei die Augen schließen oder offen lassen, wie es Ihnen lieber ist. Denken Sie an jemanden, den Sie sehr lieben, jemanden, dem Sie nahestehen, der Ihnen viel bedeutet, und sagen Sie in Gedanken zu ihm: »Ich würde lieber glücklich sein, als dich zu haben.«
Schauen Sie, was passiert: »Ich würde lieber glücklich sein, als dich zu haben. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich mich ohne Frage fürs Glücklichsein entscheiden.« Doch wer fühlte sich dabei nicht selbstsüchtig, als er sich das sagte? Sicherlich viele.
Sehen Sie, wie wir in unserer Meinung beeinflusst sind, wie unser Denken dahin gebracht wurde, dass wir uns sagten: »Wie kann ich nur so selbstsüchtig sein?«
Doch schauen Sie einmal, wer wirklich selbstsüchtig ist: Stellen Sie sich vor, jemand sagt zu Ihnen: »Wie kannst du nur so selbstsüchtig sein, dass du das Glücklichsein mir vorziehst?« Würden Sie dann nicht am liebsten antworten: »Entschuldige mal, aber wie kannst du nur so selbstsüchtig sein, dass du verlangst, ich sollte dich über mein Glücklichsein stellen?!«
Eine Frau erzählte mir einmal von ihrem Vetter, dem Jesuitenpater; sie war damals noch ein Kind, als er in der Jesuitenkirche in Milwaukee Einkehrtage hielt. Jeden Vortrag begann er mit den Worten: »Der Prüfstein der Liebe ist das Opfer, das Maß der Liebe ist die Selbstlosigkeit.« Ein großartiger Satz! Ich stellte der Frau die Frage: »Würden Sie wünschen, dass ich Sie liebe, auch wenn ich dann nicht mehr glücklich sein könnte?« »Ja«, erwiderte sie. –
Ist das nicht ganz entzückend? Sie würde mich lieben und könnte nicht mehr glücklich sein, und ich würde sie lieben und könnte auch nicht mehr glücklich sein. So hätten wir zwei unglückliche Menschen, doch – lang lebe die Liebe!
WIE ICH SCHON sagte, wollen wir gar nicht glücklich sein. Wir wollen etwas anderes. Oder sagen wir es etwas genauer: Wir wollen nicht bedingungslos glücklich sein. Ich bin bereit, glücklich zu sein, vorausgesetzt, ich habe dieses und jenes und wer weiß was noch. Doch das ist dann so, als sagten wir zu unserem Freund oder zu unserer Freundin, zu Gott oder zu wem auch immer: »Du bist mein Glück. Wenn ich dich nicht bekomme, weigere ich mich, glücklich zu sein.«
Dies zu verstehen, ist sehr wichtig. Wir können uns gar nicht vorstellen, ohne solche Bedingungen glücklich zu sein. Das eben ist es. Es wurde uns beigebracht, unser Glück auf Bedingungen zu setzen.
Daher ist es das Erste, was zu tun ist, wenn wir wach werden wollen, was nichts anderes heißt als zu sagen: wenn wir lieben wollen, wenn wir Freiheit wollen, wenn wir Freude, Frieden und geistliches Leben wollen. In diesem Sinn ist Spiritualität die nützlichste Sache der Welt. Versuchen Sie doch einmal, sich etwas Nützlicheres vorzustellen als Spiritualität, wie ich sie beschrieben habe – nicht Frömmigkeit, nicht Gebet, nicht Religion, nicht Gottesdienst, sondern Spiritualität – Wachwerden, Wachwerden!
Wohin man blickt, überall Kummer, Einsamkeit, Angst, Verwirrung, Zwiespalt in den Herzen der Menschen – innerer und äußerer Zwiespalt. Angenommen, jemand würde Ihnen einen Weg zeigen, auf dem Sie all dem entrinnen könnten? Angenommen, jemand könnte Ihnen sagen, wie diesem gewaltigen Verlust an Energie, Gesundheit und Gefühlen, der von diesen Zwiespältigkeiten herrührt, ein Ende bereitet werden kann. Würden Sie dies wollen? Angenommen, jemand würde uns einen Weg zeigen, auf dem wir zu aufrichtiger gegenseitiger Liebe, zu Frieden und Freundlichkeit gelangen könnten. Können Sie sich etwas Nützlicheres als das vorstellen?
Doch stattdessen gibt es Leute, die meinen, das große Geschäft sei nützlicher, Politik und Wissenschaft seien nützlicher. Was hat die Erde davon, wenn ein Mensch auf den Mond geschossen wird, wenn wir auf der Erde nicht leben können?
IST PSYCHOLOGIE NÜTZLICHER als Spiritualität? Nichts hat einen größeren praktischen Nutzen als Spiritualität. Was kann denn ein armer Psychologe tun? Er kann nur vom Druck befreien. Ich bin selbst Psychologe und praktizierender Psychotherapeut und gerate in großen Konflikt, wenn ich manchmal zwischen Psychologie und Spiritualität wählen muss. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. Ich konnte es viele Jahre lang selbst nicht begreifen und will es näher erklären. Es war für mich lange Zeit unverständlich, bis ich plötzlich entdeckte, dass die Menschen unter einer Beziehung genug leiden müssen, um bei allen anderen Beziehungen von Illusionen befreit zu werden. Ist es nicht schrecklich, so zu denken? Sie müssen genug in einer Beziehung leiden, bevor sie wach werden und sagen: »Es stößt mich ab! Es muss eine bessere Art zu leben geben, als von einem anderen Menschen abhängig zu sein.« Und was habe ich als Psychotherapeut getan? Die Leute kamen mit ihren Beziehungsproblemen zu mir, mit ihren Kommunikationsschwierigkeiten und so weiter, und manchmal konnte ich ihnen helfen. Aber manchmal – es tut mir leid, das sagen zu müssen – auch nicht, weil es ihnen gerade nur zum Weiterschlafen verhalf. Vielleicht hätten sie noch etwas mehr leiden sollen. Vielleicht hätten sie ganz und gar an einen Endpunkt kommen sollen, um zu sagen: »Das alles macht mich krank.« Nur denjenigen, den sein Kranksein abstößt, kann man von seiner Krankheit befreien. Die meisten gehen zum Psychologen oder Psychiater, um Erleichterung zu erhalten. Ich sage es noch einmal: um Erleichterung zu bekommen; nicht, um ihre Krankheit loszuwerden.
Ich kenne eine Geschichte von einem kleinen Jungen, der Johnny hieß und wie man sagte, geistig zurückgeblieben war. Aber offensichtlich war er es doch nicht, wie die folgende Geschichte zeigt. Johnny ging in eine Modelliergruppe einer Sonderschule. Dort bekam er ein Stück Knetmasse und fing an, es zu formen. Er nahm ein Stückchen, ging in eine Ecke des Zimmers und spielte dort damit. Die Lehrerin ging zu ihm und sagte: »Hallo Johnny.«
»Hallo.«
»Was hast du denn in deiner Hand?«
Darauf sagte Johnny: »Das ist ein Stück Kuhfladen.«
Die Lehrerin fragte weiter: »Was willst du denn damit machen?«
»Ich mache eine Lehrerin.«
Die Lehrerin dachte sich: »Mit dem kleinen Johnny ist es wieder schlimmer geworden.« Sie rief den Rektor, der gerade an der Tür vorbeiging, und sagte: »Mit Johnny ist es schlimmer geworden.«
So ging der Schulleiter zu Johnny und sagte: »Hallo, mein Junge.«
»Hallo!«
»Was hast du denn in der Hand?«
»Ein Stück Kuhfladen.«
»Was willst du denn damit machen?«
»Einen Rektor«, war die Antwort.
Der Rektor war überzeugt, dass es sich hier um einen Fall für den Schulpsychologen handelte und sagte zur Lehrerin: »Lassen Sie den Psychologen kommen!«
Der Psychologe war ein schlauer Bursche. Er ging zu dem Jungen und sagte: »Ich weiß, was du in deiner Hand hast.«
»Was denn?«
»Ein Stück Kuhfladen.«
»Richtig.«
»Und ich weiß auch, was du daraus machst.«
»Was denn?«
»Einen Psychologen.«
»Falsch! Dafür reicht er nicht!«
Und diesen Jungen hielt man für geistig zurückgeblieben!
Die armen Psychologen; sie leisten gute Arbeit, ja wirklich. Es gibt Zeiten, in denen die Psychotherapie eine riesengroße Hilfe ist, denn wenn Sie an der Grenze dazu sind, verrückt, wahnsinnig zu werden, werden Sie entweder Psychopath oder Mystiker. Denn das ist der Mystiker: das Gegenteil des Wahnsinnigen.
Wissen Sie, was ein Zeichen dafür ist, dass Sie wach geworden sind? Wenn Sie sich selbst fragen: »Bin ich verrückt, oder sind es alle anderen?« Es ist wirklich so, denn wir sind verrückt. Die ganze Welt ist es. Der einzige Grund, weshalb wir nicht in einer Anstalt sind, liegt darin, dass es so viele von uns sind. Wir leben mit verrückten Vorstellungen von Liebe, Beziehungen, Glück, Freude, von allem Möglichen. Ich bin inzwischen so weit zu glauben, wir sind dermaßen verrückt, dass, wenn alle sich in etwas einig sind, man sich sicher sein kann, dass es falsch ist! Jede neue Idee, jede große Idee, stand am Anfang gegen alle anderen. Dieser Mann, der Jesus genannt wurde, stand als Einzelner gegen die anderen. Alle sagten etwas anderes als er. So auch bei Buddha. Ich glaube, es war Bertrand Russell, der feststellte: »Jede große Idee tritt an als Blasphemie.« Das trifft den Nagel auf den Kopf.
Heutzutage ist man mit dem Begriff ›Blasphemie‹ schnell bei der Hand. Immer wieder hört man sagen: »Das ist eine Blasphemie!« Denn die Leute sind verrückt, sie sind wahnsinnig, und je früher Sie das merken, desto besser ist es für Ihre geistige und geistliche Gesundheit. Vertrauen Sie ihnen nicht. Machen Sie sich auch keine Illusionen über Ihre besten Freunde, sie sind sehr schlau. Geradeso wie Sie es sind im Umgang mit irgendwem, wenn Sie es wohl auch nicht wissen. Ja, Sie sind sehr schlau – spitzfindig und listig. Sie spielen regelrecht Theater.
Ich verteile nicht gerade Komplimente, oder? Doch ich sage noch einmal: Sie möchten ja wach werden. Sie spielen Theater und wissen es nicht einmal. Sie glauben, dass Sie so voller Liebe und Hingabe sind. Doch wen lieben Sie denn? Selbst wenn Sie sich aufopfern, bereitet es Ihnen ein gutes Gefühl, oder nicht? »Ich opfere mich auf! Ich handele meinem Ideal entsprechend.« Aber Sie haben doch etwas davon, oder? Sie haben von allem, was Sie tun, etwas, bis Sie wach werden.
Damit wäre der erste Schritt getan: Machen Sie sich klar, dass Sie nicht wach werden wollen. Es ist recht schwierig, wach zu werden, wenn man wie in einer Hypnose einen Fetzen alten Papiers für einen Scheck über eine Million Dollar hält. Ja, es ist schwierig, sich von diesem Fetzen loszureißen.
IMMER WENN SIE Entsagung üben, machen Sie sich etwas vor. Was meinen Sie dazu? Ja, Sie machen sich etwas vor. Worauf verzichten Sie denn? Immer, wenn Sie auf etwas verzichten, werden Sie daran gebunden. Ein indischer Guru hat einmal gesagt: »Immer, wenn eine Prostituierte zu mir kommt, spricht sie nur von Gott. Sie sagt, ich habe mein Leben satt, es stößt mich ab. Ich suche Gott. Aber immer, wenn ein Priester zu mir kommt, spricht er nur von Sex.«
So ist es: Wenn man etwas entsagt, ist man ihm für immer verhaftet. Wenn man gegen etwas ankämpft, ist man mit ihm für immer verbunden. Solange man gegen etwas ankämpft, gibt man ihm Macht. Man gibt ihm so viel Kraft, wie man dafür aufwendet, es zu bekämpfen.
Das gilt ebenso für eine politische Richtung wie für alles sonst. Deshalb heißt es, die eigenen bösen Geister »anzunehmen«, denn kämpfen Sie gegen sie an, geben Sie ihnen Macht. Hat Ihnen das noch niemand gesagt? Wenn Sie etwas entsagen, hält Sie das, dem Sie entsagen, fest. Die einzige Möglichkeit, dies zu durchbrechen, liegt darin, es zu durchschauen. Entsagen Sie etwas nicht, sondern durchschauen Sie es. Versuchen Sie, seinen wahren Stellenwert zu verstehen, und Sie werden ihm nicht mehr zu entsagen brauchen; Sie werden sich aus eigener Kraft davon lösen. Wenn Sie das nicht so sehen, wenn Sie der Gedanke gefangen hält, dass Sie ohne dieses oder jenes nicht glücklich sein können, kommen Sie natürlich nicht weiter. Was wir für Sie tun müssen, ist nicht, was die sogenannte Spiritualität zu tun versucht, nämlich Sie Opfer bringen zu lassen: Dingen zu entsagen. Das bringt nichts. Sie schlafen weiter. Was wir tun müssen, ist, Ihnen helfen zu verstehen, zu verstehen und nochmals zu verstehen. Wenn Sie verstehen würden, würden Sie nicht erst versuchen, auf etwas zu verzichten, sondern einfach aufhören, danach zu verlangen. Genauso gut kann man sagen: Wenn Sie aufwachen würden, würden Sie einfach das Verlangen danach fallen lassen.
MANCHE WERDEN VON den harten Realitäten des Lebens aufgeweckt. Sie leiden so sehr unter ihnen, dass sie hellwach sind. Doch andere stoßen sich ein ums andere Mal im Leben den Kopf an und schlafen weiter. Sie werden nie wach. Das Tragische dabei ist, dass diese Menschen nicht im Entferntesten auf den Gedanken kommen, es könnte auch anders gehen. Sie kommen nie auf die Idee, dass es einen besseren Weg geben könnte. Wenn Ihnen das Leben nicht genug zugesetzt hat, wenn Sie nicht so viel erleiden mussten, gibt es einen anderen Weg: zuhören. Ich möchte damit nicht sagen, dass Sie dem, was ich sage, zustimmen müssen. Das wäre kein Zuhören. Glauben Sie mir: Es spielt gar keine Rolle, ob Sie mir zustimmen oder nicht, denn Zustimmung und Ablehnung haben mit Worten, Begriffen und Theorien, nichts mit der Wahrheit zu tun.
Wahrheit lässt sich nicht mit Worten ausdrücken. Sie wird plötzlich erkannt, als das Ergebnis einer bestimmten Einstellung. Somit könnten Sie mir durchaus nicht zustimmen und doch die Wahrheit erkennen. Vielmehr muss eine Einstellung der Offenheit bestehen, geprägt vom Willen, etwas Neues zu entdecken. Darauf kommt es an und nicht auf Ihre Zustimmung oder Ablehnung. Letzten Endes ist das meiste, was ich Ihnen sage, doch wieder Theorie. Keine Theorie deckt die Wirklichkeit angemessen ab. Deshalb kann ich Ihnen nichts von der Wahrheit sagen, sondern nur etwas von den Hindernissen auf dem Weg zur Wahrheit. Diese kann ich beschreiben, jedoch nicht die Wahrheit. Niemand kann das. Alles, was ich tun kann, ist, Ihnen eine Beschreibung Ihrer Falschheiten zu geben, damit Sie von ihnen ablassen können. Alles, was ich für Sie tun kann, ist, Ihre Anschauungen und die Denkschemata, die Sie unglücklich machen, infrage zu stellen. Alles was ich für Sie tun kann, ist, Ihnen zu helfen umzulernen. Darum geht es, wenn Sie Spiritualität interessiert: umzulernen – in fast allem, was Sie bisher gelernt haben, umzulernen. Die Bereitschaft umzulernen und zuzuhören.
Hören Sie nur zu, wie es die meisten tun, um bestätigt zu bekommen, was Sie sowieso schon denken? Achten Sie einmal darauf, wie Sie reagieren, während ich spreche. Oft werden Sie bestürzt, geschockt, empört, irritiert, verärgert oder frustriert sein. Oder Sie werden sagen: »Genauso ist es!«
Hören Sie nur zu, um bestätigt zu bekommen, wovon Sie ohnehin überzeugt sind, oder hören Sie zu, um etwas Neues zu entdecken? – ein wichtiger, aber für Schlafende schwieriger Unterschied. Jesus verkündete die gute Nachricht und wurde doch zurückgewiesen; nicht, weil sie gut war, sondern weil sie neu war. Wir verabscheuen das Neue. Wir lehnen es ab! Und je eher wir uns dieser Tatsache stellen, umso besser. Wir wollen keine Neuerungen, besonders dann nicht, wenn sie unsere Ruhe stören, wenn sie Veränderungen nach sich ziehen. Und noch weniger, wenn man sich sagen muss: »Ich habe einen Fehler gemacht.«
Vor einiger Zeit traf ich in Spanien einen siebenundachtzigjährigen Jesuitenpater, der vor dreißig oder vierzig Jahren mein Rektor und einer meiner Lehrer in Indien gewesen war. Er nahm an einem geistlichen Kurs teil wie diesem. »Ich hätte dich sechzig Jahre früher hören sollen«, sagte er. »Du hast etwas zu sagen. Ich habe mich mein ganzes Leben lang geirrt.«
Mein Gott, so etwas zu hören! Es ist wie eines der sieben Weltwunder zu sehen.
Das, meine Damen und Herren, ist Glaube! Offen sein für die Wahrheit, was auch immer sich daraus ergeben mag, wohin auch immer sie einen führen wird. Das ist Vertrauen. Nicht Überzeugung, sondern Glaube. Ihre Überzeugungen mögen Ihnen viel Sicherheit geben, aber Glaube ist Unsicherheit. Sie wissen nicht. Sie sind bereit zu folgen und sind offen, ganz offen! Sie sind bereit zuzuhören. Und offen zu sein heißt nicht, leichtgläubig zu sein, heißt nicht, alles zu schlucken, was einem gerade gesagt wird. Durchaus nicht. Sie müssen alles, was ich sage, infrage stellen, doch aus einer offenen und keiner verbohrten Einstellung heraus. Denken Sie an das großartige Wort von Buddha: »Mönche und Gelehrte dürfen meine Worte nicht aus Respekt annehmen, sie müssen sie aufgliedern und bearbeiten, wie der Goldschmied Gold bearbeitet – durch Sägen, Gravieren, Löten und Schmelzen.«
Wenn Sie dies tun, hören Sie zu und haben damit einen weiteren wichtigen Schritt zum Wachwerden getan. Der erste Schritt bestand, wie gesagt, in der Bereitschaft zuzugeben, dass Sie nicht wach werden wollen und dass Sie nicht glücklich sein wollen. Alle möglichen Widerstände in Ihnen müssen dabei überwunden werden. Der zweite Schritt ist die Bereitschaft, zuzuhören und Ihr ganzes Denksystem infrage zu stellen; nicht nur Ihre religiösen, gesellschaftlichen, psychologischen Überzeugungen, sondern alles: die Bereitschaft, das alles neu zu bewerten, wie in der Metapher des Buddha. Dazu will ich Ihnen im Folgenden reichlich Gelegenheit geben.
NÄCHSTENLIEBE IST EIGENNUTZ unter dem Deckmäntelchen des Altruismus. Sie finden es sehr schwierig zu akzeptieren, dass Sie zuzeiten nicht wirklich aufrichtig versuchen, Liebe zu üben und Vertrauen zu schenken. Lassen Sie es mich einfacher sagen, so einfach wie möglich. Ja, verdeutlichen wir es so plump und extrem wie möglich, zumindest am Anfang. Es gibt zwei Arten von Egoismus. Bei der ersten habe ich Freude daran, mir selbst zu gefallen. Das nennt man im Allgemeinen Selbstbezogenheit. Bei der zweiten Art habe ich Freude daran, anderen zu gefallen. Das wäre eine raffiniertere Form des Egoismus.
Die erste Art ist leicht zu erkennen, die zweite jedoch ist verdeckt, sehr verdeckt, und deswegen gefährlicher, denn wir finden uns dabei wirklich großartig. Aber vielleicht ist es mit uns gar nicht so weit her? Sie protestieren?
Sie, meine Dame, sagen zum Beispiel, dass Sie allein leben, regelmäßig ins Gemeindezentrum gehen und viele Stunden Ihrer Zeit opfern. Aber Sie geben auch zu, dass Sie es eigentlich aus einem eigennützigen Grund tun – Sie müssen irgendwo gebraucht werden –, und Sie wissen auch, dass Sie dort gebraucht werden wollen, wo Sie glauben, ein klein wenig zum Wohl der Allgemeinheit beitragen zu können. Aber Sie nehmen zugleich für sich in Anspruch, dass man Sie braucht, und schon ist es keine Einbahnstraße mehr.
Sie sind fast aufgeklärt! Wir müssen von Ihnen lernen. Sie sagt: »Ich gebe etwas und bekomme etwas.« Sie hat recht. Ich möchte jemandem helfen. Ich gebe etwas und ich nehme etwas. Das ist gut und schön und in Ordnung. Aber es ist keine Nächstenliebe, sondern aufgeklärter Eigennutz.