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Ein unheilvolles Missverständnis
Nach dem Aufbruch der Menschheit ins All verbünden sie sich mit den Ildiranern, einem hochentwickelten Volk unter der Herrschaft eines weisen Imperators. Sie nutzen die technischen Errungenschaften der Ildiraner, wie etwa den Überlichtantrieb, um sich über die gesamte Galaxis auszubreiten. Dabei stoßen sie auf die höchst aggressive Spezies der Hydroger, die in den Tiefen riesiger Gasplaneten leben und deren Lebensraum die Menschen, ohne es zu wissen, zerstört haben. Jetzt wollen die Hydroger Rache und stellen den Menschen ein Ultimatum. Zugleich erforschen Archäologen die Geheimnisse eines verschwundenen Volkes, das nicht einmal in der ildiranischen „Saga der Sieben Sonnen“ auftaucht: Die Klikiss. Die Forscher entdecken noch funktionstüchtige Roboter – die anscheinend etwas mit dem Verschwinden ihres Volkes zu tun haben …
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Seitenzahl: 908
KEVIN J. ANDERSON
DER STERNENWALD
Die Saga der Sieben Sonnen
Zweiter Roman
Für JAIME LEVINE,
die »Patin« dieser Serie.
Sie hat die Saga der Sieben Sonnen unter ihre
redaktionellen Fittiche genommen –
und liebt die Geschichten gleichzeitig
Ich möchte insbesondere Rob Teranishi und Igor Kordey danken, zwei visuellen Genies, deren Phantasie und Anregungen bei den Graphic-Novel-Teilen des Universums der Sieben Sonnen mir dabei geholfen haben, vielen meiner eigenen Ideen Gestalt zu geben; außerdem brachten sie mich auf ganz neue Gedanken. Jeff Mariotte und John Nee von Wildstorm gebührt mein Dank, weil sie mir gestatteten, dieses Epos in eine neue Richtung zu lenken. Ich danke auch meinen Cover Artists Stephen Youll und Chris Moore, die ausgezeichnete Arbeit geleistet und es geschafft haben, auf den ersten Blick etwas zu vermitteln, für dessen Beschreibung ich Seiten brauchte.
Meine Frau Rebecca Moesta hat mir sehr geholfen, nicht nur beim großen Ganzen, sondern auch Zeile für Zeile – sie sieht den Wald und die Bäume.
Catherine Sidor tippte diesen Roman fast ebenso schnell, wie ich ihn auf Band gesprochen habe, wobei sie nicht nur Kommentare und Vorschläge hinzufügte, sondern auch Widersprüche entdeckte. Diane Jones und Brian Herbert waren frühe Leser, steuerten gute Ideen bei und halfen mir, die Geschichte in ihre beste Form zu bringen.
Meine britischen Lektoren John Jarrold und Darren Nash halfen mir mit ausgezeichneten Kommentaren. Die überaus kompetente Melissa Weatherill sorgte eine halbe Welt entfernt dafür, dass alle Produktionsdinge reibungslos liefen, während sich bei Warner Aspect Devi Pillai und Penina Sacks um genug verrückt machende Details kümmerten, sodass wir anderen uns Momente geistiger Klarheit bewahren konnten.
In den Ruinen der uralten Klikiss-Zivilisation entdeckten die Archäologen Margaret und Louis Colicos eine exotische Technik, dazu imstande, Gasriesen zu zünden und in Sonnen zu verwandeln. Der erste Test der Klikiss-Fackel fand beim Gasriesen Oncier statt; zu den Beobachtern zählten Basil Wenzeslas, Vorsitzender der Terranischen Hanse, und Adar Kori'nh, militärischer Kommandeur des großen, aber stagnierenden Ildiranischen Reichs. Die humanoiden Ildiraner haben der Erde zwar dabei geholfen, den Spiralarm zu kolonisieren, aber sie sehen in den Menschen noch immer ehrgeizige Emporkömmlinge. Den Test der Klikiss-Fackel hielten sie für unnötige Überheblichkeit, denn es standen viele andere Planeten für die Kolonisierung zur Verfügung.
Die Zündung verwandelte Oncier in eine kompakte Sonne und Berichte über dieses Ereignis erreichten ohne Zeitverlust viele andere Welten in der Galaxis: Übermittelt wurden sie vom grünen Priester Beneto, einem Menschen vom Waldplaneten Theroc, der in spezieller Symbiose mit den halbintelligenten Weltbäumen lebt. Grüne Priester sind wie lebende Telegrafenstationen und können Gedanken mithilfe der untereinander verbundenen Weltbäume übertragen – es ist das einzige System der direkten, unmittelbaren Kommunikation über interstellare Distanzen hinweg.
Während des Oncier-Tests sahen die Beobachter, wie mehrere diamantartige Kugelschiffe den kollabierenden Gasriesen mit unglaublicher Geschwindigkeit verließen. Wissenschaftler klassifizierten das Geschehen als unbekanntes Phänomen der Klikiss-Fackel. Auf der Erde zelebrierte der alte König Frederick, glamouröse Galionsfigur ohne echte Macht, eine Feier aus Anlass des erfolgreichen Tests, während Adar Kori'nh zur Hauptstadt von Ildira zurückkehrte, um dem fast allmächtigen Oberhaupt der Ildiraner, dem Weisen Imperator, Bericht zu erstatten. Der Weise Imperator war sehr beunruhigt, als er von den seltsamen Kugelschiffen erfuhr.
Unterdessen machte der erstgeborene Sohn des Weisen Imperators, Erstdesignierter Jora'h, den Menschen Reynald, Erbe des Throns von Theroc, auf Ildira mit dem großen ildiranischen Epos Die Saga der Sieben Sonnen vertraut. Anschließend, als Zeichen der Freundschaft, bot Jora'h Reynald an, zwei grüne Priester von Theroc nach Ildira zu schicken, damit sie sich dort mit der Saga befassten. Der Weltwald sammelt Wissen durch seine menschlichen Mittler und ist immer bestrebt, mehr über die Geschichte zu erfahren.
Reynald verließ Ildira zu einem geheimen Treffen mit den Roamern, sehr auf ihre Unabhängigkeit bedachten Weltraumzigeunern, angeführt von der alten Sprecherin Jhy Okiah und ihrer schönen Nachfolgerin Cesca Peroni. Sie erörterten ein mögliches Bündnis, um ihre Freiheit vor der habgierigen, sich weiter ausdehnenden Hanse zu schützen. Reynald schlug sogar die Möglichkeit einer zukünftigen Ehe mit Cesca vor, aber sie war bereits mit dem Himmelsminenbetreiber Ross Tamblyn verlobt.
Auf seiner Blauen Himmelsmine in den Wolken des Gasriesen Golgen traf sich Ross Tamblyn mit seinem jüngeren Bruder Jess. Die Himmelsminen der Roamer sammeln Wasserstoff und verarbeiten ihn zu Ekti, Treibstoff für den Sternenantrieb. Jess brachte Mitteilungen und Geschenke von seiner Familie, darunter auch seiner jüngeren Schwester Tasia. Trotz der Freundschaft zwischen den beiden Brüdern war das Treffen problematisch, denn Jess und Cesca hatten sich ineinander verliebt (ohne dass Ross etwas davon ahnte). Jess verließ die Blaue Himmelsmine und machte sich auf den Weg zum verborgenen Roamer-Zentrum namens Rendezvous.
Die Roamer haben viel Geld verdient, indem sie gefährliche Nischen für ihre Geschäfte nutzen, aber wegen ihrer Geheimniskrämerei sind sie bei der Hanse nicht sonderlich beliebt. Als das Oberhaupt der Terranischen Verteidigungsflotte (TVF), General Kurt Lanyan, von einem rebellischen Roamer-Raumpiraten hörte, benutzte er die Händlerin Rlinda Kett und ihren Ex-Mann, den Piloten Branson Roberts, als Köder, um den Piraten gefangen zu nehmen und hinzurichten.
Lanyans brutale Maßnahmen erfüllten Rlinda mit Unbehagen, und sie flog nach Theroc, in der Hoffnung, mit exotischen Waren handeln zu können. Mutter Alexa und Vater Idriss (die Eltern von Reynald und Beneto) waren nicht interessiert, im Gegensatz zu ihrer ehrgeizigen ältesten Tochter Sarein, die sich auf ein Verhältnis mit dem Vorsitzenden Wenzeslas eingelassen hatte. Nachdem sie eine Vereinbarung mit Sarein getroffen hatte, erklärte sich Rlinda bereit, zwei theronische grüne Priester (die strenge alte Otema und ihre neugierige Assistentin Nira) nach Ildira zu bringen, wo sie sich mit der Saga der Sieben Sonnen beschäftigen wollten. Später, im Prismapalast des Weisen Imperators, verliebte sich der Erstdesignierte Jora'h in die junge Nira, obwohl der Weise Imperator in den beiden grünen Priestern nicht mehr sah als Objekte …
Auf der Erde sprachen der Vorsitzende Wenzeslas und andere hochrangige Repräsentanten der Hanse über die zunehmenden Fehler des alten Königs Frederick und begannen insgeheim mit der Suche nach einem Ersatz für ihn. Sie entführten einen cleveren Jungen, den sie für geeignet hielten, Raymond Aguerra, ließen dann Raymonds Wohnkomplex in Flammen aufgehen. Die Mutter und seine drei Brüder kamen ums Leben und es blieben keine Spuren zurück. Die Hanse veränderte das Aussehen des Jungen, verwandelte ihn in »Prinz Peter« und begann mit einer Gehirnwäsche, um ihn auf seine zukünftigen Aufgaben vorzubereiten. Der Lehrer-Kompi (ein Roboter, »kompetenter computerisierter Helfer« genannt) vermittelte ihm Wissen.
Nach dem erfolgreichen Test der Klikiss-Fackel begannen Margaret und Louis Colicos mit Ausgrabungen auf dem Wüstenplaneten Rheindic Co, wo alte Städte der verschwundenen insektoiden Klikiss unberührt geblieben waren. Die einzigen noch funktionierenden Überbleibsel der Klikiss-Zivilisation – ihre großen, käferartigen Roboter – behaupteten, dass ihre Erinnerungen vor langer Zeit gelöscht worden waren. Drei dieser alten Roboter begleiteten das Ehepaar Colicos zur Ausgrabungsstätte und hofften, dort mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren. Zum Team der Archäologen gehörten auch der Kompi DD und der grüne Priester Arcas. In den Ruinen entdeckten Margaret und Louis ein seltsames leeres Steinfenster, verbunden mit inaktiven Apparaturen. Louis untersuchte die Anlagen, während Margaret versuchte, die Klikiss-Hieroglyphen zu entschlüsseln und dadurch Antworten auf ihre Fragen zu finden …
An Bord seiner Blauen Himmelsmine in der Atmosphäre von Golgen beobachtete Ross Tamblyn, wie seltsame Stürme und flackerndes Licht aus den unbekannten Tiefen des Gasriesen emporstiegen. Kurz darauf kamen riesige kristalline Schiffe aus den tiefen Wolken; sie ähnelten den Objekten, die nach dem Einsatz der Klikiss-Fackel Oncier verlassen hatten. Die gewaltigen Kugelschiffe eröffneten das Feuer auf die Blaue Himmelsmine und zerstörten sie. Ross stürzte in die Tiefen von Golgen, in den sicheren Tod …
Die Kugelschiffe erschienen auch bei Oncier und vernichteten eine Raumstation, von der aus Wissenschaftler die künstlich erzeugte Sonne beobachteten. Der fremde Gegner zerstörte weitere Himmelsminen der Roamer in der Atmosphäre mehrerer Gasriesen, forderte sie zur Kapitulation auf und zeigte keine Gnade. Die unerwarteten Angriffe verblüfften sowohl die Hanse als auch die Roamer. Basil Wenzeslas traf sich mit General Lanyan und besprach die Situation mit ihm. Der alte König Frederick bereitete das Volk auf den bevorstehenden Krieg vor und rekrutierte Freiwillige für die TVF.
Die draufgängerische Roamer Tasia Tamblyn schwor Rache für ihren Bruder Ross und ging zum Militär. Sie nahm ihren Kompi EA mit. Voller Kummer starb Jess' und Tasias Vater an einem Schlaganfall, was für Jess bedeutete, dass er sich nun um die Geschäfte der Familie kümmern musste. Der Tod seines Bruders bedeutete zwar, dass Cesca und er sich zu ihrer Liebe bekennen durften, aber sie lehnten es ab, die Tragödie zu ihrem persönlichen Vorteil zu nutzen.
Auf Ildira verbrachte die grüne Priesterin Nira viel Zeit mit dem Erstdesignierten Jora'h und wurde schließlich seine Geliebte. Zwar hatte Jora'h viele Partnerinnen und war dazu bestimmt, zum nächsten Oberhaupt des ildiranischen Volkes zu werden, aber er verliebte sich in Nira. Unterdessen entdeckte der ildiranische Historiker Dio'sh uralte verborgene Dokumente, aus denen hervorging, dass die gefährlichen Fremden aus den Gasriesen, Hydroger genannt, vor langer Zeit in einem Krieg aufgetaucht waren, doch eine Zensur hatte alle Hinweise auf diesen Konflikt aus der Saga der Sieben Sonnen entfernt. Dio'sh trug seine schockierende Entdeckung zum Weisen Imperator, der ihn tötete, weil er dies alles geheim halten wollte.
Auf der Erde baute die TVF neue Kriegsschiffe für den Kampf gegen die Fremden. Darüber hinaus requirierte die Terranische Verteidigungsflotte zivile Raumschiffe: Rlinda Kett musste den Aufrüstungsbestrebungen der Hanse ihre Handelsschiffe opfern, und ihr blieb nur die Unersättliche Neugier, ihr eigenes Schiff. Bei der militärischen Ausbildung tat sich Tasia Tamblyn hervor und übertraf die verzogenen und verwöhnten irdischen Rekruten. Ein anderer Rekrut namens Robb Brindle wurde zu ihrem besten Freund.
Nach den wiederholten Angriffen der Hydroger herrschte bei den Roamern großer Aufruhr. Viele Familien beschlossen, den Betrieb der Himmelsminen in den Atmosphären von Gasriesen einzustellen. Jess Tamblyn begegnete während einer Clanversammlung Cesca, was seinem Wunsch, mit ihr zusammen zu sein, verstärkte. Des Gezänks überdrüssig entschied er, auf eigene Faust einen Schlag gegen die Fremden zu führen. Mit einigen loyalen Arbeitern flog er nach Golgen, wo die Hydroger die Blaue Himmelsmine zerstört hatten. Dort veränderten sie die Umlaufbahnen einiger Kometen und ließen sie mit dem Vernichtungspotenzial von Atomsprengköpfen auf den Gasriesen hinabstürzen.
Auf der Erde lockte ein Wissenschaftler den Klikiss-Roboter Jorax in sein Laboratorium, in der Hoffnung, mehr über die Klikiss-Technik zu erfahren. Als er versuchte, den Roboter zu demontieren, tötete Jorax ihn. »Es gibt einige Dinge, die Sie nicht erfahren dürfen.« Anschließend behauptete der Roboter, der skrupellose Wissenschaftler hätte ein automatisch funktionierendes Selbsterhaltungssystem aktiviert. Jorax verlangte, alle Klikiss-Roboter wie eigenständige Lebensformen zu behandeln, und der alte König verbot weitere Demontageversuche.
Auf Beneto erging der Ruf, den alten grünen Priester Talbun auf der Kolonialwelt Corvus Landing abzulösen. Er freute sich darüber und war sofort einverstanden. Zwar handelte es sich nicht um den hohen Posten, den sich Mutter Alexa und Vater Idriss für ihren Sohn erhofft hatten, aber Beneto bestand auf seinem Beschluss. Seine ihn bewundernde jüngere Schwester Estarra – eine Range, die oft zusammen mit Beneto den Wald erforscht hatte – nahm traurig von ihm Abschied. Später, auf Corvus Landing, stellte Talbun zufrieden fest, dass Beneto gut vorbereitet war. Der alte grüne Priester zog sich in seinen Hain aus Weltbäumen zurück, gab sich dort dem Tod hin und ließ seinen Körper Teil des Weltbaum-Netzwerks werden.
Während einer Wanderung durch den Prismapalast begegnete Nira einem anderen Sohn des Weisen Imperators, dem ernsten, düsteren Dobro-Designierten Udru'h, der Nira nach ihrem telepathischen Potenzial als grüne Priesterin befragte. Anschließend berichtete er dem Weisen Imperator von seinen geheimen Zuchtexperimenten, die Ildiraner und Menschen betreffen und auf Dobro stattfinden. Der Weise Imperator forderte seinen Sohn zur Eile auf. Die Rückkehr des alten Feindes, der Hydroger, lässt den Ildiranern nur wenig Zeit, um ein Wesen zu schaffen, das die notwendigen Eigenschaften hat, das Reich zu retten. Udru'h deutete an, dass Nira vielleicht über die notwendige DNS verfügt.
Der Kommandeur der Solaren Marine, Adar Kori'nh, ließ seine Offiziere innovative terranische Manöver durchführen. Vielen konservativen Angehörigen des ildiranischen Militärs fiel es schwer, mit den neuen Methoden zurechtzukommen, aber Zan'nh, der erstgeborene Sohn des Erstdesignierten Jora'h, zeigte großes Talent. Kori'nh beförderte Zan'nh und degradierte den schwerfälligsten der alten Subcommander.
Nach dem Manöver flogen die Schiffe der Solaren Marine zum Gasriesen Qronha 3 – dort gab es die einzige noch von Ildiranern betriebene Himmelsmine. Als Kugelschiffe der Hydroger aus den Tiefen der Atmosphäre kamen und die Ekti-Fabrik angriffen, kam es zu einem wilden Kampf. Die Waffen der Hydroger erwiesen sich als weit überlegen, aber der degradierte ildiranische Subcommander entschloss sich zu einer selbstmörderischen Aktion und rammte mit seinem Schlachtschiff die nächste Kugel der Hydroger. Es gelang ihm, das Kugelschiff zu zerstören, und dadurch bekam die Solare Marine genug Zeit, um sich mit den von der Himmelsmine geretteten Ildiranern zurückzuziehen. Nicht ein einziges Mal während der vielen Jahrtausende der ildiranischen Geschichte, von denen die Saga der Sieben Sonnen berichtet, war es zu einer so schrecklichen, demütigenden Niederlage gekommen.
Auf der Erde ging Raymond Aguerras Ausbildung weiter, mit dem Ziel, ihn zum nächsten König zu machen. Der Kompi OX leistete ihm Gesellschaft. Zuerst konnte Raymond sein Glück kaum fassen – das Leben auf der Straße ließ sich kaum mit dem enormen Luxus des Palastes vergleichen –, aber nach einer Weile empfand er die strenge Kontrolle immer mehr als Last. Entsetzt stellte er fest, dass die Hanse den Tod seiner Familie verursacht hatte, und daraufhin begriff er, dass er sehr vorsichtig sein musste.
Als der Vorsitzende Wenzeslas erfuhr, dass die Hydroger auch die Ildiraner angegriffen hatten, besuchte er den Weisen Imperator und schlug ihm ein Bündnis vor. An die Fremden gerichtete Verhandlungsangebote blieben ohne Antwort.
Während sich Basil Wenzeslas auf Ildira befand, erschien ein Kugelschiff über der Erde, und ein Gesandter der Hydroger verlangte ein Gespräch mit König Frederick. Der nervöse und verunsicherte alte Monarch versuchte, dem Vorsitzenden mithilfe der grünen Priester eine Nachricht zu übermitteln. Der fremde Emissär traf mit einer speziellen Druckkapsel ein und teilte dem König mit, dass der Test der Klikiss-Fackel einen Planeten der Hydroger vernichtet und Millionen von Bewohnern getötet hatte. Der erschrockene Frederick entschuldigte sich für den unbeabsichtigten Völkermord, aber der Gesandte stellte ein Ultimatum und forderte die Stilllegung aller Himmelsminen. Doch das bedeutete: kein Ekti für den ildiranischen Sternenantrieb, die einzige Möglichkeit zur interstellaren Raumfahrt. Frederick versuchte, den Gesandten umzustimmen, doch der Hydroger ließ seine Druckkapsel explodieren, tötete den König und alle Beobachter im Thronsaal.
Basil Wenzeslas kehrte rasch zur Erde zurück und wies Raymond an, sofort als »König Peter« die Nachfolge von Frederick anzutreten. Bei der Krönungszeremonie verlas Peter eine sorgfältig vorbereitete Rede, lehnte das Ultimatum der Hydroger ab und erklärte, die Menschen hätten ein Recht auf den Treibstoff, den sie für ihr Überleben brauchten. Er schickte eine neue Kampfflotte zum Jupiter, begleitet von Ekti-Sammlern. An Bord der Schlachtschiffe befanden sich auch Tasia Tamblyn und Robb Brindle. In höchster Alarmbereitschaft wachte die Flotte über die Ekti-Fabriken, und einige Tage lang ging alles gut. Doch dann kamen Kugelschiffe aus den Tiefen von Jupiters Atmosphäre und verwickelten die TVF in einen heftigen Kampf. Tasia und Robb überlebten, doch die terranische Streitmacht musste eine bittere Niederlage hinnehmen.
Noch bevor das Debakel bekannt wurde, fand auf der Erde die Krönung des neuen Königs Peter statt, inszeniert als eine großartige Schau, die Hoffnung und Zuversicht wecken sollte. Peter bemühte sich, seinen Hass auf Basil Wenzeslas zu verbergen; mit einer Droge gewährleistete man seine Kooperation bei der Zeremonie. Basil heuchelte väterlichen Stolz und versprach dem neuen König: Wenn er sich gut benähme, würde er bald eine Königin bekommen …
Auf Ildira beschloss der Weise Imperator, die Ausführung seiner Pläne zu beschleunigen. Nira hatte festgestellt, dass sie das Kind des Erstdesignierten in sich trug, doch bevor sie Jora'h informieren konnte, beauftragt der Weise Imperator seinen Sohn mit einer diplomatischen Mission und schickte ihn nach Theroc. Während einer Schlafperiode nahmen brutale ildiranische Wächter Nira gefangen und erstachen Otema, weil sie zu alt für die Zuchtexperimente war. Nira wurde dem Dobro-Designierten übergeben, der beabsichtigte, ihr genetisches Potenzial für finstere Zwecke zu nutzen …
Der Menschheit standen schwere Zeiten bevor, wenn es ihr nicht gelang, andere Möglichkeiten zu finden, um Treibstoff für den Sternenantrieb zu produzieren. Sprecherin Jhy Okiah forderte die einfallsreichen Roamer auf, Alternativen für die Himmelsminen zu finden, legte dann ihr Amt zugunsten von Cesca Peroni nieder. Jess Tamblyn beobachtete, wie die Frau, die er liebte, zum starken, visionären neuen Oberhaupt der Roamer wurde, und er begriff, dass sie weiter voneinander entfernt waren als je zuvor.
Auf dem fernen Planeten Rheindic Co fanden die beiden Colicos-Archäologen heraus, dass es sich bei dem Steinfenster um ein Transportsystem handelte, ein dimensionales Tor, verbunden mit alten Klikiss-Maschinen. Zwar behaupteten die Klikiss-Roboter, sich an nichts Nützliches zu erinnern, aber Margaret gelang es, alte Aufzeichnungen zu übersetzen. Offenbar trugen die Klikiss-Roboter Mitverantwortung für das Verschwinden des Volkes, das sie geschaffen hatten, und außerdem waren sie vor langer Zeit in einen Krieg verwickelt gewesen, zusammen mit den Hydrogern und Ildiranern. Voller Aufregung über diese Entdeckung kehrten Margaret und Louis zum Lager zurück – und mussten dort feststellen, dass der grüne Priester Arcas ermordet worden war. Außerdem hatte jemand die jungen Weltbäume zerfetzt, was die Kommunikation über interstellare Distanzen hinweg unmöglich machte. Von den Klikiss-Robotern fehlte jede Spur.
Margaret und Louis verbarrikadierten sich zusammen mit ihrem treuen Kompi DD in der archäologischen Fundstätte, doch die Klikiss-Roboter brachen durch. DD versuchte zwar, seine menschlichen Herren zu verteidigen, aber die Klikiss-Roboter nahmen ihn gefangen und achteten darauf, ihn nicht zu beschädigen – sie sahen so etwas wie einen Artgenossen in ihm. Im letzten Moment gelang es Louis, das Steinfenster zu aktivieren und dadurch ein Tor zu einer unbekannten fernen Welt zu öffnen. Er drängte Margaret, das Tor zu passieren, aber bevor er ihr folgen konnte, schloss es sich wieder. Und dann waren die Roboter heran. Der alte Archäologe kannte zu vieler ihrer Geheimnisse. Als Louis die Klikiss-Roboter an ihre Behauptung erinnerte, sie könnten sich nicht an ihre Vergangenheit erinnern, erwiderten die Roboter schlicht: »Wir haben gelogen.«
Die Gasriesen im Spiralarm enthielten Geheimnisse, Gefahren und Schätze. Anderthalb Jahrhunderte lang war das Sammeln von Wasserstoff in den Wolkenmeeren der riesigen Planeten und seine Verarbeitung zum Treibstoff für den Sternenantrieb ein lukratives Geschäft für die Roamer gewesen.
Das hatte sich vor fünf Jahren geändert.
Die Hydroger hatten allen Himmelsminen verboten, sich den Gasriesen zu nähern, die sie als ihr Territorium beanspruchten. Das Embargo war ein schwerer Schlag für die Wirtschaft der Roamer, der Terranischen Hanse und des Ildiranischen Reichs. Viele tapfere oder dumme Unternehmer hatten dem Ultimatum der Hydroger getrotzt und mit dem Leben dafür bezahlt. Dutzende von Himmelsminen waren zerstört worden – die Fremden zeigten kein Erbarmen.
Doch wenn sich die Roamer mit verzweifelten Situationen konfrontiert sahen, so gaben sie nicht auf, sondern änderten ihre Taktik, überlebten – und gediehen – mithilfe von Innovation.
»Die alte Sprecherin weist immer wieder darauf hin, dass Herausforderungen die Parameter des Erfolgs neu definieren«, sagte Jess Tamblyn über die offene Kom-Verbindung und brachte sein Beobachtungsschiff über dem trügerisch friedlichen Gasriesen Welyr in Position.
»Verdammt, Jess«, ertönte Del Kellums ein wenig verärgert klingende Stimme aus dem Lautsprecher. »Wenn es mir darum ginge, verhätschelt zu werden, würde ich auf der Erde leben.«
Kellum, ein älteres Clan-Oberhaupt und ein Industrieller, der sich gern selbst um die Dinge kümmerte, übermittelte den schnellen Sammlern das vereinbarte Signal. Die Flotte aus modifizierten Himmelsminen, »Blitzminen« genannt, und unterschiedlich konfigurierten kleinen Beobachtungsschiffen hatte sich in vermeintlich sicherer Distanz von dem kupferfarbenen Gasriesen versammelt. Niemand wusste, aus welcher Entfernung die Hydroger Wasserstoffdiebe orten konnten, aber sie hatten es längst aufgegeben, auf Nummer Sicher zu gehen. Letztendlich war das Leben selbst ein Risiko, und ohne Treibstoff für den Sternenantrieb konnte die menschliche Zivilisation nicht überleben.
In den großen Sammlern erhöhte sich das energetische Niveau der Triebwerke und Tanks, als sie letzte Vorbereitungen trafen für den Sturz in die Atmosphäre des gewaltigen Planeten. Zuschlagen und weglaufen. Die Spannung wuchs, die Piloten schwitzten – es konnte losgehen.
Jess Tamblyn saß allein an Bord seines Beobachtungsschiffes und streckte die Hände nach den Kontrollen aus. »Nähern Sie sich von allen Seiten. Schneller Anflug, die Tanks füllen und dann Rückzug. Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns die verdammten Droger geben.«
Die großen Sammler bestätigten und fielen wie Falken, die Beute erspäht hatten. Aus dem früheren routinemäßigen Produktionsprozess war ein Kommandounternehmen in einem Kriegsgebiet geworden.
Angesichts der Bedrohung durch die Hydroger hatten wagemutige Techniker der Roamer die traditionellen Himmelsminen verändert. In nur fünf Jahren war viel erreicht worden. Die neuen Blitzminen verfügten über besonders große Triebwerke, supereffiziente Ekti-Reaktoren und abtrennbare Tanks, die zu einer Traube angeordnet waren. Jeder Tank konnte nach dem Füllen gestartet werden und flog dann zu einem vorher programmierten Abholpunkt. Auf diese Weise wurde das produzierte Ekti nach und nach in Sicherheit gebracht, ohne den Verlust einer vollen Ladung zu riskieren, wenn die Hydroger angriffen.
»Die Große Gans hält uns für unfähige Banditen«, sendete Kellum. »Sollen die Droger den gleichen Eindruck von uns gewinnen, verdammt.«
Die Hanse – die »Große Gans« – zahlte viel Geld für jeden Tropfen Treibstoff. Jedes Jahr schrumpften die Ekti-Vorräte, und dadurch stiegen die Preise rapide, bis die Roamer das Risiko für akzeptabel hielten.
Fünf modifizierte Himmelsminen flogen dem Planeten entgegen und tauchten an verschiedenen Stellen in Welyrs Wolkenmeere, in ein Durcheinander aus Stürmen, sanften Winden und Turbulenzen. Mit weit geöffneten Aufnahmetrichtern rasten die Blitzminen durch die Atmosphäre des Gasriesen. Sie sammelten Wasserstoff, und die Ekti-Reaktoren begannen sofort mit der Verarbeitung.
Jess kam sich wie im Krähennest eines alten Piratenschiffs vor, als er die Kontrollen seines Beobachtungsschiffs bediente und Sensoren in Welyrs Gasozeane sinken ließ. Sie sollten große Schiffe entdecken, die aus den tieferen Schichten der Atmosphäre aufstiegen. Nach einer von den Sensoren übermittelten Warnung blieben den Roamern nur wenige Minuten Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen.
Jess wusste, dass ein Kampf sinnlos war – die ildiranische Solare Marine und die TVF der Hanse hatten das oft genug gezeigt. Die Sammler waren angewiesen, Welyr beim ersten Anzeichen eines Angriffs zu verlassen, auch wenn sie nur wenig Ekti produziert hatten.
Die erste Blitzmine füllte einen Tank und stieg weit genug auf, um ihn abzuwerfen – er zog in der Atmosphäre des Gasriesen eine dünne Rauchfahne hinter sich her. Jubelnde Stimmen kamen aus dem Kom-Lautsprecher, und die Roamer forderten sich gegenseitig auf, noch mehr zu leisten. Der unbemannte Tank entfernte sich von Welyr und flog zum vorher bestimmten Sammelpunkt. Ihm drohte keine Gefahr mehr.
Früher waren die Himmelsminen der Roamer so durch die Wolkenmeere von Gasriesen geschwommen wie Wale, die sich von Plankton ernährten. Jess' Bruder Ross war Chief der Blauen Himmelsmine von Golgen gewesen. Er hatte viele Träume gehabt, einen guten Geschäftssinn und jede Menge Hoffnung. Doch dann war seine Himmelsmine ohne jede Vorwarnung von den Hydrogern angegriffen und zerstört worden. Niemand hatte den Angriff überlebt, auch Ross nicht …
Jess sah auf die Anzeigen. Die sinkenden Sensoren orteten nichts, das auf die Präsenz von Kugelschiffen hinwies, aber er blieb wachsam. Welyr erschien ihm zu ruhig und friedlich. Was geschah in den Tiefen des riesigen Gasplaneten?
Bei den Besatzungsmitgliedern der Sammler wuchs die Anspannung. Sie wussten, dass sie an diesem Ort nur eine Chance hatten und einige von ihnen sterben würden, wenn die Hydroger erschienen.
»Und hier ist der zweite Tank mit Ekti der besten Qualität!« Del Kellums Sammler startete einen vollen Frachttank und die anderen vier Blitzminen schickten ebenfalls Ekti-Ladungen auf den Weg. Seit weniger als drei Stunden befanden sie sich in der Atmosphäre von Welyr und sie hatten bereits einen guten Fang gemacht.
»Eine geeignete Methode, den Drogern eine lange Nase zu machen«, fuhr Kellum fort. Seine Unruhe fand in Geschwätzigkeit Ausdruck. »Allerdings wäre es mir lieber, ein paar Kometen auf sie hinabstürzen zu lassen. So wie Sie es bei Golgen gemacht haben, Jess.«
Jess Tamblyn lächelte grimmig. Das Kometenbombardement hatte ihn bei den Roamern zu einem Helden werden lassen, und er hoffte, dass alle Hydroger auf dem Planeten ums Leben gekommen waren. Ein wirkungsvoller Schlag gegen den Feind. »Ich bin nur meinem Leitstern gefolgt.«
Inzwischen erhofften sich viele Clans Vorschläge von Jess, wie sie die Vergeltungsmaßnahmen gegen den gnadenlosen Feind fortsetzen konnten.
»Wir haben viel gemeinsam, Sie und ich«, sagte Kellum. Er hatte auf eine private Frequenz umgeschaltet, und seine Stimme gewann einen verschwörerischen Klang. »Falls Sie jemals ein neues Bombardement planen, darf ich diesen Planeten als Ziel vorschlagen?«
»Was haben Sie gegen Welyr?«, fragte Jess. Dann erinnerte er sich. »Ah, Sie wollten Shareen vom Pasternak-Clan heiraten.«
»Ja, verdammt!« Shareen Pasternak war Chief einer Himmelsmine in der Atmosphäre von Welyr gewesen. Jess erinnerte sich an ihren ausgesprochen sarkastischen Humor und ihre scharfe Zunge, aber Kellum hatte jene Frau sehr gefallen. Für sie beide wäre es die zweite Ehe gewesen, doch Shareens Himmelsmine war zu Beginn der Feindseligkeiten von Hydrogern zerstört worden.
Drei weitere Ekti-Tanks stiegen von den Blitzminen auf.
Trish Ng, Pilotin des zweiten Beobachtungsschiffs, stellte eine Verbindung mit Jess her und unterbrach dessen privates Gespräch. »Die Sensoren! Überprüfen Sie die Anzeigen, Jess!«
Tamblyn sah eine gewöhnliche Trägerwelle mit einem kleinen Impuls im Hintergrund. »Das ist nur ein Blitz. Werden Sie nicht nervös, Ng.«
»Der gleiche Blitz wiederholt sich haargenau alle einundzwanzig Sekunden.« Trish zögerte kurz. »Es ist ein künstliches Signal, Jess, kopiert, durch eine Zeitschleife geleitet und zu uns reflektiert. Vermutlich haben die Hydroger unsere Sensoren bereits zerstört. Sie versuchen es mit einer List.«
Jess beobachtete die Darstellung auf dem Display und erkannte das Muster. »Eine bessere Warnung bekommen wir nicht. An alle: Sachen zusammenpacken und weg!«
Als ob sie begriffen hätten, dass sie entdeckt worden waren, stiegen sieben riesige Kugelschiffe wie zornige Ungetüme aus den Tiefen des Wolkenmeers von Welyr auf. Die Roamer reagierten sofort und traten unverzüglich den Rückzug an.
Ein dumpfes Brummen kam von den fremden Schiffen, und blaue Energie flackerte an pyramidenförmigen Erweiterungen der kristallinen Außenhülle. Die fliehenden Roamer hatten den Einsatz jener tödlichen Waffen schon einmal beobachtet.
Kellum trennte vier leere Ekti-Tanks ab und schickte sie wie Geschosse den Hydrogern entgegen. »Erstickt daran!«
»Warten Sie nicht!«, rief Jess über die Kom-Verbindung. »Setzen Sie sich ab.«
Kellums Ablenkungsmanöver funktionierte. Die Fremden zielten mit ihren blauen Blitzen auf die leeren Tanks, und dadurch bekamen die Sammler einige zusätzliche Sekunden Zeit für die Flucht. Die Roamer zündeten ihre großen Triebwerke, und vier der fünf modifizierten Himmelsminen verließen die Atmosphäre des Gasriesen.
Doch das fünfte Schiff blieb einen Moment zu lange zurück. Die destruktive Energie der Hydroger riss es auseinander, ließ nur geschmolzene Schlacke übrig. Schreie kamen über die Kom-Verbindung und brachen abrupt ab.
»Los! Los!«, rief Jess. »Verteilt euch und verschwindet hier!«
Die übrig gebliebenen Sammler stoben wie Fliegen davon. Die Tanks setzten ihren Flug zum Abholpunkt fort, wo sie später aufgenommen werden konnten, wenn keine Gefahr mehr drohte.
Die Kugelschiffe stiegen noch weiter auf, schickten blaue Blitze ins All und trafen ein zu langsames Beobachtungsschiff. Die anderen Roamer entkamen. Eine Zeit lang verharrten die Kugeln der Hydroger wie knurrende Wölfe über der Atmosphäre und sanken dann langsam in Welyrs kupferfarbenen Wolkenozean zurück, ohne die Roamer-Schiffe zu verfolgen.
Zwar bedauerten die Roamer den Verlust einer Blitzmine und eines Beobachters, aber sie überschlugen bereits die produzierte Ekti-Menge und berechneten, wie viel ihnen der Treibstoff auf dem freien Markt einbringen würde.
Im Cockpit seines Beobachtungsschiffs schüttelte Jess Tamblyn den Kopf. »Wie weit sind wir gekommen, wenn wir schon jubeln, weil wir ›keine zu hohen Verluste‹ erlitten haben?«
Eine weitere Dringlichkeitsbesprechung fand statt, diesmal aber an einem Ort, den König Peter bestimmt hatte: im sekundären Bankettraum des Flüsterpalastes. Diesem Raum kam keine besondere Bedeutung zu – es ging dem jungen König allein darum, seine Unabhängigkeit zu demonstrieren. Und außerdem wollte er Basil Wenzeslas ärgern.
»Sie weisen immer wieder darauf hin, wie wichtig der äußere Schein für meine Herrschaft ist, Basil.« In Peters künstlichen blauen Augen blitzte es, als er dem durchdringenden Blick des Vorsitzenden begegnete. »Ist es nicht angemessen, dass ich meinen Mitarbeiterstab im Flüsterpalast empfange, anstatt mich zu Ihnen ins Hauptquartier der Hanse zu begeben?«
Peter wusste: Basil Wenzeslas verabscheute es, wenn er seine eigene Taktik gegen ihn verwendete. Der frühere Raymond Aguerra spielte seine Rolle inzwischen besser, als es die Hanse von ihm erwartet hatte.
Basils gleichgültige Miene sollte Peter daran erinnern, dass er als Vorsitzender der Terranischen Hanse Krisen bewältigt hatte, die schlimmer waren als ein gereizter junger König. »Ihre Präsenz ist nur eine Formalität.« Er war inzwischen dazu übergegangen, den König zu siezen. »Eigentlich brauchen wir Sie gar nicht bei der Besprechung.«
Doch inzwischen konnte Peter einen Bluff als solchen erkennen. »Wenn Sie glauben, dass die Medien meine Abwesenheit bei einer Dringlichkeitsbesprechung nicht zur Kenntnis nehmen, gehe ich mit meinen Delphinen schwimmen.« Er kannte die eigene Bedeutung und nutzte seine Freiräume, soweit er konnte. Nur selten schätzte er die Grenzen, die ihm Basils Geduld setzte, falsch ein. Jeden kleinen Kampf führte er mit Finesse und subtilem Geschick. Und er wusste, wann es aufzuhören galt.
Schließlich gab Basil vor, dass es nicht weiter wichtig wäre. Seine primären Berater – der innere Kreis von ihm selbst ausgewählter Repräsentanten, Militärexperten und Hanse-Beamten – saßen hinter verschlossenen Türen an einem Tisch, auf den das Licht eines Kronleuchters fiel. Stille Bedienstete servierten ein leichtes Essen, brachten Buketts, Damastservietten und Silberbesteck. In drei Alkoven plätscherten Springbrunnen.
Peter hatte auf einem verzierten Stuhl am oberen Ende des Tisches Platz genommen. Der junge König kannte seine Rolle und hörte in respektvollem Schweigen zu, während der Vorsitzende die zu besprechenden Punkte nannte.
Basils eisengraues Haar war perfekt geschnitten und gekämmt. Er trug einen teuren, bequemen Anzug und trotz seiner dreiundsiebzig Jahre bewegte er sich mit würdevoller Agilität. Bisher hatte er kaum etwas gegessen und nur wenig Eiswasser und Kardamomkaffee getrunken.
»Ich benötige eine genaue Einschätzung der Situation in den Hanse-Kolonien.« Der Blick des Vorsitzenden glitt über die Gesichter der Berater, Admiräle und Gesandten der Kolonialwelten. »Fünf Jahre sind vergangen, seit die Hydroger König Frederick töteten und den Betrieb von Himmelsminen in den Atmosphären ihrer Gasriesen verboten – Zeit genug für Schlussfolgerungen und realistische Projektionen.« Er wandte sich an den Kommandeur der Terranischen Verteidigungsflotte. Als Vorsitzende der Hanse führte er praktisch auch den Oberbefehl über die TVF. »Wie schätzen Sie die allgemeine Lage ein, General Lanyan?«
Der General schob ein Display mit statistischen Daten beiseite, das ihm ein Adjutant reichen wollte. »Die Antwort ist einfach, Vorsitzender. Wir sind in großen Schwierigkeiten, obgleich die TVF das Ekti seit Beginn der Krise streng rationiert hat. Ohne diese ausgesprochen unpopulären Maßnahmen …«
Peter unterbrach ihn. »Unruhen haben ebenso großen Schaden angerichtet wie der Mangel an Treibstoff, insbesondere in neuen Kolonien. Auf vier Kolonialwelten mussten wir bereits das Kriegsrecht ausrufen. Die Menschen leiden und hungern. Sie glauben, ich ließe sie im Stich.« Er betrachtete die Fleischscheiben und bunten Obststücke auf seinem Teller und hatte plötzlich keinen Appetit mehr, als er an die Not vieler Kolonisten dachte.
Lanyan sah den König an, ohne zu antworten, wandte sich dann an Basil. »Wie ich gerade sagen wollte, Vorsitzender: Sparmaßnahmen haben es uns gestattet, die wichtigsten Verbindungen aufrechtzuerhalten. Doch unsere Vorräte gehen immer mehr zur Neige.«
Tyra Laufendes Pferd, eine Gesandtin von den Kolonialwelten, schob ihren Teller zurück. Peter versuchte sich daran zu erinnern, welche Kolonie sie repräsentierte. Rhejak? »Wasserstoff ist das häufigste Element im Universum. Warum beschaffen wir uns ihn nicht aus einer anderen Quelle?«
»Konzentrierter Wasserstoff ist woanders nicht so leicht zugänglich«, sagte einer der Admiräle. »Gasriesen sind die besten Reservoirs.«
»Die Roamer produzieren noch immer ein wenig Ekti und setzen sich dabei erheblichen Gefahren aus«, sagte der Gesandte von Relleker. Mit seinem blassen Gesicht und den aristokratischen Zügen ähnelte er den klassischen Statuen an der Rückwand des kleinen Bankettraums. »Sollen sie weiterhin ihren Hals riskieren.«
»Und es gibt einfach keinen anderen Treibstoff für den Sternenantrieb«, ließ sich ein anderer Gesandter vernehmen. »Wir haben alles versucht und müssen uns mit dem zufrieden geben, was die Roamer liefern.«
Lanyan schnitt eine finstere Miene und schüttelte den Kopf. »Die derzeitigen Lieferungen der Roamer reichen nicht einmal für unseren dringendsten militärischen Bedarf, ganz zu schweigen vom zivilen Bereich. Vermutlich bleibt uns nichts anderes übrig, als weitere Sparmaßnahmen zu ergreifen.«
»Weitere Sparmaßnahmen?«, wiederholte der dunkelhäutige Gesandte von Ramah. »Es ist Monate her, seit meine Welt die letzte Lieferung an Versorgungsgütern erhalten hat. Wir haben keine Arzneien, keine Lebensmittel, keine Ausrüstung. Landwirtschaft und Bergbau sind inzwischen erweitert worden, aber uns fehlt die Infrastruktur für ein Überleben in der Isolation.«
»Die meisten von uns befinden sich in der gleichen Situation«, sagte der geisterhaft blasse Repräsentant von Dremen. »Auf meiner Kolonie hat der kalte Wetterzyklus begonnen: mehr Wolken, geringere Temperaturen. Normalerweise reduziert sich die Ernte während dieser Periode um dreißig Prozent, und das wird auch diesmal der Fall sein. Selbst in guten Jahren braucht Dremen Hilfe, um zu überleben. Unter den derzeitigen Bedingungen …«
Basil kam weiteren Beschwerden zuvor, indem er die Hände hob. »Darüber haben wir schon einmal gesprochen. Ergreifen Sie Maßnahmen zur Geburtenbeschränkung, wenn Ihr landwirtschaftliches Potenzial nicht genügt, um die ganze Bevölkerung zu ernähren. Die gegenwärtige Krise wird nicht über Nacht enden. Beginnen Sie damit, langfristig zu denken.«
»Natürlich«, sagte Peter mit kaum verhohlenem Sarkasmus. »Nehmen wir gesunden Männern und Frauen das Recht zu entscheiden, wie viele Kinder sie in einer Kolonie haben wollen, die von ihnen selbst aufgebaut wurde, unter Einsatz ihres Lebens. O ja, das ist eine Lösung, die den Leuten gefallen wird. Und vermutlich soll ich sie mit einem freundlichen Lächeln verkünden, wie?«
»Ja, verdammt«, erwiderte Basil. »Das ist Ihre Aufgabe.«
Die schlechten Neuigkeiten schienen allen den Appetit zu verderben. Die Bediensteten kehrten zurück, schenkten Eiswasser ein und boten mit silbernen Zangen kleine Limonen an. Basil schickte sie fort.
Er klopfte mit den Fingern auf den Tisch, zeigte damit für ihn untypische Ungeduld. »Wir müssen den Bürgern deutlicher zeigen, wie ernst die Lage ist. Wir haben nur wenig Treibstoff für den Sternenantrieb, und unsere interstellare Kommunikation ist sehr begrenzt, was wir dem andauernden Mangel an grünen Priestern verdanken – leider bleiben unsere Freunde auf Theroc kurzsichtig. Die Leistungsfähigkeit unserer schnellen Postdrohnen ist beschränkt. Heute könnten wir mehr als jemals zuvor weitere grüne Priester gebrauchen, um Kontakte zwischen isolierten Kolonialwelten zu ermöglichen. Auf vielen Planeten gibt es nicht einmal einen einzigen grünen Priester.«
Basil Wenzeslas sah zu Sarein, der dunkelhäutigen Botschafterin von Theroc. Sie war schlank und drahtig, hatte schmale Schultern, kleine Brüste, hohe Wangenknochen und ein spitzes Kinn.
»Ich gebe mir alle Mühe, Basil. Wie du weißt, neigen die Theronen dazu, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen.« Sie lächelte und wählte die nächsten Worte mit großer Sorgfalt. »Andererseits hat Theroc seit Beginn der Krise weder routinemäßiges Versorgungsmaterial noch Technik oder medizinische Unterstützung bekommen. Ich kann mein Volk kaum um mehr grüne Priester bitten, solange die Hanse unsere eigenen Bedürfnisse ignoriert.«
Peter beobachtete Basil und die schöne Theronin. Seit den ersten Tagen seiner Herrschaft wusste er, dass der Vorsitzende und die Botschafterin sich zueinander hingezogen fühlten. Bevor Basil eine Antwort geben konnte, straffte Peter die Schultern und schlug den Tonfall an, in dem er seine Ansprachen hielt. »Botschafterin, angesichts der Not, mit der es viele Kolonisten der Hanse zu tun haben, müssen wir unsere Ressourcen sorgfältig einteilen und dabei unseren eigenen Kolonien Priorität einräumen. Als unabhängige Welt ist Theroc schon so besser dran als viele andere Planeten.«
Diese verbale Ohrfeige weckte Zorn in Sarein, doch Basil nickte Peter anerkennend und erleichtert zu. »Der König hat Recht, Sarein. Bis sich die Situation ändert, muss Theroc allein zurechtkommen. Es sei denn natürlich, Theroc möchte sich der Hanse anschließen …?«
Sarein errötete und schüttelte andeutungsweise den Kopf.
General Lanyans Blick strich wie eine Sense durch den Raum. »Wir haben nur dann eine Chance, wenn wir extreme Maßnahmen ergreifen, Vorsitzender. Je länger wir warten, desto extremer werden die Maßnahmen sein.«
Basil seufzte und schien gewusst zu haben, dass er schließlich diese Entscheidung treffen musste. »Die Hanse erlaubt Ihnen, alles Notwendige in die Wege zu leiten, General.« Seine Augen schienen Peter zu durchbohren. »Natürlich im Namen des Königs.«
»Ich habe viele faszinierende Welten gesehen«, sagte Estarras ältester Bruder, als ihr Gleitfloß über den dicht bewaldeten Kontinent flog. »Ich bin im Flüsterpalast auf der Erde gewesen und habe unter den sieben Sonnen von Ildira gestanden.« Ein Lächeln erschien in Reynalds sonnengebräuntem Gesicht. »Aber Theroc ist meine Heimat, und ich bin lieber hier als woanders.«
Estarra schmunzelte und blickte auf die unbekannte und doch vertraute Landschaft aus Weltbäumen hinab. »Ich bin noch nie bei den Spiegelseen gewesen, Reynald. Es freut mich sehr, dass du mich mitgenommen hast.«
Als Kind war sie oft vor dem Sonnenaufgang zu Entdeckungsreisen durch den Wald aufgebrochen und hatte sich dabei von ihrer Neugier leiten lassen. Zum Glück gab es viele Dinge, die ihr Interesse weckten: Natur, Wissenschaft, Kultur, Geschichte. Sie hatte sich sogar mit den Aufzeichnungen des Generationenschiffs Caillié befasst, mit der Geschichte der Besiedlung von Theroc und dem Ursprung der grünen Priester. Nicht weil sie musste, sondern weil sie sich dafür interessierte.
»Wen sollte ich sonst mitnehmen?« Mit den Fingerknöcheln strich Reynald verspielt über die Haarknäuel seiner Schwester. Er hatte breite Schultern, muskulöse Arme und langes Haar, zu Zöpfen geflochten. Zwar zeigte sich ein dünner Schweißfilm auf seiner Haut, aber er schien sich in der Wärme des Waldes recht wohl zu fühlen. »Sarein weilt als Botschafterin auf der Erde. Beneto ist als grüner Priester auf Corvus Landing, und Celli …«
»Selbst mit sechzehn ist sie noch ein Kind«, sagte Estarra.
Vor Jahren war Reynald durch den Spiralarm gereist, um andere Kulturen kennen zu lernen – das gehörte zu seinen Vorbereitungen darauf, der nächste Vater von Theroc zu werden. Bei jener Gelegenheit hatte sich zum ersten Mal ein theronisches Oberhaupt eingehend mit anderen Gesellschaften beschäftigt. Inzwischen war es durch die Verknappung des Treibstoffs für den Sternenantrieb zu Reisebeschränkungen und interplanetaren Spannungen gekommen, und Reynald nahm die neue Situation zum Anlass, die wichtigsten Städte seiner Heimatwelt zu besuchen. Seine Eltern hatten ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihm noch in diesem Jahr den Thron überlassen wollten. Er musste bereit sein.
Das Gleitfloß flog über die Baumwipfel hinweg, von einer Siedlung zur nächsten. Lachende Theronen folgten ihm und gaben vor, Teil der Prozession zu sein: Mit Flüglern sausten sie hin und her, kleinen Vehikeln aus umgebauten Triebwerken und den Flügeln einheimischer Kondorfliegen. Ausgelassene junge Männer kreisten über und hinter dem Gleitfloß, zeigten gewagte Flugmanöver. Einige flirteten mit Estarra, die inzwischen das heiratsfähige Alter erreicht hatte.
Weiter vorn bemerkte sie eine Lücke im dichten Blätterdach und das Glitzern von blauem Wasser.
»Das sind die Spiegelseen, alle tief und vollkommen rund«, sagte Reynald und deutete in die entsprechende Richtung. »Wir übernachten im Dorf.«
Am ersten wunderschönen See trugen die Weltbäume fünf Wurmkokons, die leeren Nester großer wirbelloser Tiere. Als Reynald das Gleitfloß am Ufer des Sees landete, seilten sich Menschen ab, sprangen, kletterten nach unten und schwangen an Ästen hin und her, um die Besucher zu begrüßen. Vier grüne Priester erschienen voller Anmut – photosynthetische Algen gaben ihrer Haut einen smaragdfarbenen Ton.
Die Priester waren zu einer Kommunikation fähig, die weit über das hinausging, was die modernste Technik der Hanse und der Ildiraner zu leisten vermochte. Über Generationen hinweg hatten Wissenschaftler an diesem Problem gearbeitet, ohne dass ihnen die grünen Priester helfen konnten. Es ging ihnen nicht etwa darum, irgendwelche Geheimnisse zu hüten – die Priester konnten keine Hilfe leisten, weil sie selbst nicht wussten, wie ihre besondere Kommunikation funktionierte. Andere Welten versuchten immer wieder, grüne Priester wegen des Telkontakts in ihre Dienste zu nehmen, aber die unabhängigen Theronen interessierten sich kaum für die Angebote der Hanse. Der Weltwald selbst schien Zurückhaltung zu üben.
Aber die Repräsentanten der Hanse konnten auch sehr beharrlich und überzeugend sein.
Es war die schwere Aufgabe eines jeden Oberhaupts, diese Dinge gegeneinander abzuwägen. Als Estarra beobachtete, wie sich ihr Bruder den grünen Priestern und fröhlichen Kokonbewohnern gegenüber verhielt, sah sie deutlich, dass er ein guter Nachfolger von Vater Idriss sein würde.
Nach dem aus frischem Fisch, Flusskraut und dicken, in ihren Schalen gebackenen Wasserkäfern bestehenden Abendessen stiegen sie zu Plattformen weit oben in den Bäumen am See empor. Reynald und Estarra sahen sich die Vorstellung einiger geschickter Baumtänzer an: Die geschmeidigen Akrobaten liefen, tanzten und sprangen über die flexiblen Äste, benutzten gewölbte Zweige und Blattwedel wie Sprungbretter und flogen durch die Luft. Sie drehten sich um die eigene Achse und machten Saltos, streckten die Hände nach dünnen Ästen aus und schwangen dort in einer gut einstudierten Choreographie hin und her. Ein gleichzeitiger Sprung aller Tänzer beendete die Darbietung. In einem weiten Bogen fielen sie dem Spiegelsee entgegen und tauchten kopfüber hinein.
Nach dem Tanz führte Reynald Gespräche mit den Kokonbewohnern, und Estarra nahm die Einladung an, zusammen mit einigen Mädchen im See zu planschen. Sie schwamm sehr gern – leider bekam sie nur wenige Male im Jahr Gelegenheit dazu.
Während Estarra im Spiegelsee Wasser trat und das Gefühl des Schwebens genoss, blickte sie zum offenen Himmel hoch. Im Bereich ihrer eigenen Siedlung war das Blätterdach dicht und lückenlos; man musste zu den Wipfeln hinaufklettern, um des Nachts die Sterne zu sehen. Als sie nun schwamm, empfand sie den Anblick des Himmels als überwältigend. Zahllose Lichter zeigten sich dort in der Unendlichkeit des Alls, Welten voller Menschen und Möglichkeiten.
Als sie nass und erfrischt zu den hell erleuchteten Wurmkokons zurückkehrte, sah sie ihren Bruder dort im Gespräch mit einer jungen Priesterin namens Almari. Ihre Augen zeigten Intelligenz und Neugier. Als Akolyth hatte Almari Jahre damit verbracht, den Bäumen vorzusingen und der Datenbank des Weltwaldes weiteres musikalisches Wissen hinzuzufügen. Wie alle grünen Priester war sie haarlos und die Tätowierungen in ihrem Gesicht wiesen auf ihre Leistungen hin.
Reynald war freundlich und liebenswürdig, hielt sich alle Möglichkeiten offen. »Du bist schön und klug, Almari. Das kann niemand bestreiten. Zweifellos wärst du eine gute Ehefrau.«
Estarra kannte das Gespräch – sie hatte es während dieser Rundreise schon mehrmals gehört.
Almari unterbrach Reynald und sprach schnell, bevor er ihr Angebot zurückweisen konnte. »Wäre es in Anbetracht dieser schweren Zeiten nicht angemessen, dass eine grüne Priesterin zur nächsten Mutter von Theroc wird?«
Reynald berührte die weiche grüne Haut an Almaris Handgelenk. »Dem kann ich kaum widersprechen, aber ich möchte nichts übereilen.«
Almari bemerkte Estarra, stand auf und ging davon, wirkte dabei ein wenig verlegen.
Estarra lächelte schelmisch und versetzte ihrem Bruder einen spielerischen Schlag an die Schulter. »Sie ist hübsch.«
»Und sie war die dritte junge Frau heute Abend.«
»Besser eine zu große Auswahl als gar keine«, sagte Estarra.
Reynald stöhnte. »Vielleicht sollte ich bald eine Entscheidung treffen – dann habe ich es wenigstens hinter mir.«
»Armer, armer Reynald.«
Er gab seiner Schwester seinerseits einen spielerischen Klaps. »Zum Glück bin ich nicht der ildiranische Erstdesignierte. Er muss tausende von Frauen lieben und so viele Kinder wie möglich zeugen.«
»Oh, die schreckliche Verantwortung, die man als Oberhaupt eines Volkes tragen muss.« Estarra schüttelte das nasse Haar, um ihren Bruder zu bespritzen. »Ich bin nur das vierte Kind, deshalb besteht meine einzige Sorge darin, wann ich wieder schwimmen kann. Wie wär's mit jetzt?«
Sie lachte und lief fort. Reynald sah ihr neidisch nach.
Als ältester adliger Sohn des Weisen Imperators verbrachte der Erstdesignierte Jora'h seine Tage damit, der Pflicht zu genügen. Fruchtbare Frauen aus allen ildiranischen Geschlechtern bewarben sich um das Paarungsprivileg, so viele, dass Jora'h sie unmöglich alle empfangen konnte.
Die nächste Partnerin des Erstdesignierten hieß Sai'f. Die gertenschlanke und aufgeweckte Ildiranerin stammte aus dem Wissenschaftler-Geschlecht, galt als Expertin für Biologie und Genetik. Sie interessierte sich für Botanik und entwickelte neue Getreidearten für mehrere Splitter-Kolonien.
Sie besuchte Jora'h in seiner Kontemplationskammer im Prismapalast, wo permanentes Tageslicht durch bunte Kristallflächen fiel. Ihre Stirn war hoch, der Kopf groß, der Blick ihrer Augen aufmerksam – sie schien sich jedes Detail für eine spätere Untersuchung einzuprägen.
Jora'h stand vor ihr, hoch gewachsen und attraktiv, sein Gesicht das ildiranische Ideal der Schönheit. Goldenes Haar formte eine Art Halo um sein Haupt und war zu zehntausend dünnen Zöpfen geflochten. »Danke dafür, dass du darum gebeten hast, meine Partnerin zu sein, Sai'f«, sagte er und meinte es ernst, wie immer. »Möge unser heutiges gemeinsames Geschenk ein Geschenk für das ganze Ildiranische Reich hervorbringen.«
In ihren Händen hielt Sai'f einen Keramiktopf mit einer wie verdreht wirkenden Pflanze, die einen hölzernen Stängel aufwies. Die dornenbesetzten Zweige krümmten sich nach innen und bildeten in ihrer Gesamtheit eine ungewöhnliche Form. Scheu hob sie den Topf. »Für dich, Erstdesignierter.«
»Wie ergreifend und faszinierend.« Jora'h nahm den Topf entgegen und betrachtete das labyrinthene Durcheinander aus Zweigen und Blättern. »Du scheinst Webarbeiten an einer lebenden Pflanze vorgenommen zu haben.«
»Ich erforsche das Potenzial unserer Spindelbäume, Erstdesignierter. Es ist eine bei den Menschen gebräuchliche Technik namens Bonsai. Man bringt die Pflanze dazu, ihre biologischen Anstrengungen nach innen zu richten, und gleichzeitig verstärkt man ihre Schönheit. Ich habe vor einem Jahr damit begonnen, diesen Bonsai wachsen zu lassen, als ich mich um die Partnerschaft bewarb. Es war viel Arbeit nötig, aber ich bin mit dem Ergebnis zufrieden.«
Jora'hs Freude war echt. »Ich besitze nichts dergleichen und werde diese Pflanze an einem besonderen Ort aufbewahren. Aber du musst mir erklären, was es bei der Pflege zu beachten gilt.«
Sai'f lächelte und nahm die Freude des Erstdesignierten mit Erleichterung zur Kenntnis. Jora'h stellte den Spindelbaum-Bonsai auf ein durchsichtiges Regal an der Wand, trat dann vor, öffnete den Umhang und zeigte seine breite Brust. »Bitte erlaub mir, auch dir ein Geschenk zu geben, Sai'f.«
Sie war untersucht worden, bevor sie den Prismapalast betreten hatte. Alle Frauen, die den Erstdesignierten besuchten, waren fruchtbar und empfängnisbereit. Solche Untersuchungen garantierten nicht, dass er jede von ihnen schwängern konnte, aber die Chancen standen gut.
Langsam streifte Sai'f ihre Kleidung ab, und Jora'h bewunderte sie. Jedes ildiranische Geschlecht zeichnete sich durch eine andere Körperstruktur aus. Manche waren schlank und ätherisch, andere gedrungen und muskulös, hager und sehnig, oder mollig und weich. Doch der Erstdesignierte sah Schönheit in allen Geschlechtern. Einige fand er hübscher als andere, aber er zeigte nie Vorlieben und vermied in jedem Fall, seine Partnerinnen zu kränken oder Enttäuschung zu zeigen.
Sai'f reagierte so auf seine Zärtlichkeiten, als folgte sie einem Programm oder einer empfohlenen Prozedur. Vermutlich hatte sie alle Sex-Variationen wissenschaftlich studiert, mit der Absicht, zu einer Expertin auf diesem Gebiet zu werden und sich bei der Begegnung mit ihm hervorzutun. Derzeit hatte Jora'h das Gefühl, sich ihr gegenüber ebenso zu verhalten und einem Programm zu folgen, eine vertraute Aufgabe wahrzunehmen.
Als er an den faszinierenden Bonsai dachte, den Sai'f mitgebracht hatte, fiel ihm Nira ein. Alte Trauer um die schöne grüne Priesterin regte sich in ihm. Vor fünf Jahren hatte er sie zum letzten Mal gesehen.
Niras Unschuld und ihre exotische Schönheit hatten einen größeren Reiz auf ihn ausgeübt als alle bisherigen ildiranischen Frauen. Ihr Staunen in Mijistra, über Architektur und Fontänen, in den Museen, hatte es Jora'h ermöglicht, seine eigene Stadt mit neuen Augen zu sehen. Ihre unschuldige Erregung angesichts der ildiranischen Leistungen hatte ihn mit mehr Stolz auf sein Erbe erfüllt als die bewegendsten Passagen der Saga der Sieben Sonnen.
Im Lauf der Monate waren sie sich immer näher gekommen, und schließlich hatten sie sich zum ersten Mal geliebt – eine ganz und gar natürliche Entwicklung. Die warme Vertrautheit, die zu einem festen Band zwischen Nira und dem Erstdesignierten wurde, stellte für Jora'h etwas dar, das er noch nie zuvor erlebt hatte. Seine Beziehung zur grünen Priestern unterschied sich völlig von den kurzen, dem Schwängern dienenden Partnerschaften, die seine Assistenten für ihn arrangierten. Jora'h und Nira hatten viele angenehme Nachmittage miteinander verbracht und jeden von ihnen genossen, obwohl ihnen beiden klar gewesen war, dass ihre Beziehung irgendwann enden musste. Und der Erstdesignierte hatte sie immer wieder zu sich gerufen.
Doch zu Beginn der Hydroger-Krise, als sich Jora'h auf den Weg gemacht hatte, um Prinz Reynald auf Theroc zu besuchen, waren Nira und die alte grüne Priesterin Otema bei einem Feuer im Gewächshaus mit den theronischen Weltbäumen ums Leben gekommen. Nach dem Bericht des Weisen Imperators hatten die beiden grünen Priesterinnen versucht, die jungen Weltbäume zu retten, und dabei waren sie auf tragische Weise den Flammen zum Opfer gefallen.
Vor langer Zeit war Nira mit Schösslingen zum Prismapalast gekommen. Jetzt, Jahre nach ihrem Tod, hatte Sai'f Jora'h einen Bonsai mitgebracht und dadurch erwachten die Erinnerungen.
Der Erstdesignierte konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Wissenschaftlerin. Er wollte ihr seine Unruhe nicht zeigen und sie zufrieden stellen, liebte sie mit einer Intensität, die zumindest für eine Weile den Schmerz der Erinnerungen zurückhielt.
Jora'h bat um eine Audienz bei seinem Vater. Die hellen Augen des Weisen Imperators verschwanden fast zwischen Fettwülsten und die dicken Lippen formten ein Lächeln, als er seinen Sohn sah. Bron'n, der finster wirkende persönliche Leibwächter, stand neben der Tür des privaten Zimmers. Das Oberhaupt des ildiranischen Volkes und sein Sohn konnten ungestört miteinander sprechen.
»Ich möchte eine weitere Mitteilung nach Theroc schicken, Vater.«
Der Weise Imperator Cyroc'h runzelte die Stirn und lehnte sich so im Chrysalissessel zurück, als entspannte er sich in der telepathischen Verbindung des Thism. »Ich spüre, dass du wieder an die menschliche Frau denkst. Du solltest ihr nicht gestatten, ein solches Feuer der Besessenheit in dir zu entfachen, denn es stört dich bei der Wahrnehmung deiner wichtigeren Pflichten. Sie ist seit langer Zeit tot.«
Jora'h wusste, dass sein Vater Recht hatte, aber er konnte Niras Lächeln und die Freude, die sie ihm geschenkt hatte, einfach nicht vergessen. Bevor er hierher gekommen war, hatte er das Arboretum der Himmelssphäre aufgesucht – in einem jener Räume waren die jungen Weltbäume von Theron untergebracht gewesen. Inzwischen wuchsen dort rosarote Comptor-Lilien und bunte Blumen von verschiedenen Splitter-Kolonien. Ein herrlicher Duft ging von ihnen aus. Vor fünf Jahren, nach seiner Rückkehr von Theroc, hatte Jora'h voller Entsetzen auf die Narben des unerklärlichen Feuers gestarrt.
Es waren keine Leichen übrig geblieben, die nach Theroc geschickt werden konnten. Die Weltbäume hatten bereits gebrannt, als Nira und Otema eintrafen; sie waren also nicht imstande gewesen, per Telkontakt eine letzte Nachricht zu übermitteln. In einem speziellen Kommuniqué, überbracht von einem Schiff der Solaren Marine, hatte der kummervolle Jora'h seinem Freund Reynald von der Tragödie berichtet.
Die Asche und Rußflecken existierten längst nicht mehr, aber die traurigen Erinnerungen blieben. Tief in seinem Herzen hatte sich Jora'h nie mit Niras Tod abgefunden. Wenn er doch nur zur Stelle gewesen wäre … Er hätte nicht zugelassen, dass ihr irgendetwas zustieß.
Durch das Netz des Thism fühlte Cyroc'h die Trauer seines Sohns. Er nickte ernst. »Du wirst viele Bürden tragen, wenn du meinen Platz einnimmst. Mein Sohn, es ist dein Schicksal, den Schmerz des ganzen ildiranischen Volkes zu spüren.«
Jora'hs dünne goldene Zöpfe bewegten sich wie Rauchfäden. »Trotzdem möchte ich Reynald eine Nachricht übermitteln, in Gedenken an die beiden grünen Priesterinnen. Wir haben weder Asche noch Gebeine zurückgeschickt.« Er breitete die Arme aus. »Es ist nur eine kleine Sache.«
Der Weise Imperator lächelte nachsichtig. »Du weißt, dass ich dir nichts abschlagen kann.« Der vom Kopf ausgehende seilartige Zopf glitt über den vorgewölbten Bauch und zuckte so, als ärgerte sich Cyroc'h über etwas.
Erleichtert hob Jora'h eine geätzte Diamantfilm-Plakette. »Ich habe Reynald einen weiteren Brief geschrieben, auf dass er bei den grünen Priestern auf Theroc verlesen wird. Ich möchte ihn einem unserer Handelsschiffe mitgeben.«
Der Weise Imperator streckte die Hand aus und nahm die Plakette entgegen. »Es könnte eine Weile dauern. Theroc ist keine häufig besuchte Welt.«
»Ich weiß, Vater, aber ich möchte nicht völlig tatenlos bleiben. Auf diese Weise kann ich mit Theroc in Kontakt bleiben.«
Cyroc'h hielt die schimmernde Plakette in der Hand. »Hör auf, an die menschliche Frau zu denken.«
»Ich danke dir dafür, dass du mir diesen Gefallen erweist.« Jora'h wich zurück, verließ den Raum und ging beschwingt fort.
Als sein Sohn gegangen war, winkte der Weise Imperator den Leibwächter heran. »Nehmen Sie dies und zerstören Sie es. Stellen Sie sicher, dass Jora'h keine Nachricht nach Theroc schicken kann.«
Bron'n griff mit einer Klauenhand nach der Diamantfilm-Plakette und bewies seine Kraft, indem er sie zerbrach. Die Bruchstücke wollte er im Feuer eines Reaktors beseitigen. »Ja, Herr. Ich verstehe.«
Nira stand im Zuchtlager von Dobro, in dem hunderte von anderen menschlichen Testobjekten untergebracht waren, und blickte durch den dünnen Zaun. Eigentlich dienten die Zäune nur dazu, Grenzen zu markieren. Sie waren kaum mehr als eine Annehmlichkeit für die Wächter, denn eine Flucht kam für die Gefangenen ohnehin nicht infrage. Wohin hätten sie auch fliehen sollen?
Gesäumt von Bergen im Osten und grasbewachsenen Hügeln im Westen befand sich das Lager in einem zentralen Tal mit ausgetrockneten Seen und ödem Terrain. Erosionsrinnen durchzogen den Boden, vom Regen ausgewaschen. Sie erweckten den Eindruck, als wäre die Haut der Welt zu sehr gedehnt worden und dadurch gerissen.
Seit fünf Jahren war Nira Gefangene des Ildiranischen Reiches, und während dieser Zeit hatte sie es geschafft, an ihrem inneren Selbst festzuhalten und am Leben zu bleiben, trotz der schrecklichen Dinge, die sie über sich ergehen lassen musste. Weder die Wächter im Lager noch die ildiranischen Aufseher antworteten ihr auf die Frage, warum man ihr dies alles antat.
Ihr Geliebter Jora'h wusste vermutlich nichts von ihrer Situation. Mit einem einzigen Befehl hätte er Nira und alle anderen Gefangenen befreien können. An einer so horrenden Sache konnte er unmöglich teilhaben – dazu war er zu sanft und mitfühlend. Daran glaubte Nira ganz fest. Wusste Jora'h überhaupt, dass sie noch lebte?
Sie bezweifelt es. Der ahnungslose Erstdesignierte war nach Theroc geschickt worden – damit er meine Entführung nicht verhindern konnte. Bestimmt hatte der Weise Imperator alles vor seinem Sohn geheim gehalten, obgleich Nira von Jora'h schwanger gewesen war.
Der Dobro-Designierte, zweiter Sohn des Weisen Imperators, benutzte die gefangenen Menschen für genetische Experimente. Aus irgendeinem Grund hielt der Designierte Udru'h Nira für besonders viel versprechend und deshalb musste sie noch mehr leiden als die anderen.
Nach der Geburt einer gesunden, wunderschönen Mischlingstochter namens Osira'h – meine kleine Prinzessin – hatte der Dobro-Designierte Nira im Lager festgehalten und ließ sie immer wieder schwängern, wie eine Zuchtstute …
Sie kniete nun am Rand des Lagers und lockerte mit einem einfachen Werkzeug den Boden bei einigen von ihr angepflanzten wilden Sträuchern und Blumen. Wenn sie Gelegenheit dazu fand, kümmerte sie sich um alle Pflanzen, die sie finden konnte, bewässerte sie und half ihnen, in der kargen Umgebung zu gedeihen. Selbst die kleinsten grünen Flecken erinnerten sie an den üppigen Wald von Theroc. Zwar war Nira von den Weltbäumen und dem intelligenten Wald getrennt, aber sie blieb eine grüne Priesterin und vergaß nie ihre Pflichten.
Ihre grüne Haut absorbierte das Sonnenlicht und verwandelte es in Energie, doch das Licht von Dobros Sonne fühlte sich schwach an, wie kontaminiert von der dunklen Geschichte dieses Ortes. Nira sah auf und versuchte abzuschätzen, wie viel Zeit ihr noch blieb, bis die nächste Arbeitsschicht in den Gräben begann.
Das Zuchtlager bestand aus Baracken, auf Geburten spezialisierten Hospitälern, Laboratorien und Wohnkomplexen. Die meisten Gefangenen kannten gar kein anderes Leben. Nira bemerkte einen hageren Mann im Gespräch mit einem anderen – er lachte, schien sich seiner Situation überhaupt nicht bewusst zu sein. Menschliche Kinder – Nachkommen der für die Zucht verwendeten Gefangenen – spielten selbst an diesem trostlosen Ort. Der Dobro-Designierte bestand auf einer permanenten Erneuerung der reinblütigen Nachkommen, um die genetische Vielfalt des »Zuchtmaterials« zu erhalten. Aber Nira gewann den Eindruck, dass diese Menschen im Lauf von weniger als zweihundert Jahren ihren Willen verloren hatten.
Sie behandelten Nira noch immer wie etwas Neues, obwohl sie schon seit fünf Jahren bei ihnen weilte. Man sah etwas Exzentrisches und Sonderbares in ihr, so etwas wie einen Unruhestifter. Wenigsten starrten die Leute jetzt nicht mehr auf ihre grüne Haut – so etwas hatten sie nie zuvor gesehen. Niras Haltung blieb ihnen unverständlich. Sie begriffen einfach nicht, warum sie sich weigerte, ihre Situation zu akzeptieren und sich mit ihrem neuen Leben abzufinden.
Diese armen Menschen wussten es nicht besser.
Nira hob den Kopf, als die Aufseher eine neue Arbeitsgruppe zusammenstellten. Sie versuchte, möglichst klein und unauffällig zu bleiben, in der Hoffnung, dass die Ildiraner aus dem Beamten-Geschlecht nicht sie wählten, nicht heute. Ihr Körper war kräftig, aber der Geist geschwächt von jahrelangen schwierigen Aufgaben: dem Zuschneiden von Opalknochen, dem Pflücken von Früchten aus dornigen Büschen, dem Ausheben von Gräben.
Die Ildiraner würden ihr schließlich eine Arbeit zuweisen – früher oder später war das immer der Fall –, aber Nira lebte jeweils für den Moment. Wenn sie die Anweisungen nicht befolgte, rissen die ildiranischen Wächter ihre Pflanzen aus dem Boden. Das war schon mehrmals geschehen. Nira musste andere Möglichkeiten finden, Widerstand zu leisten. Falls es überhaupt welche gab …
Unmittelbar nach der Gefangennahme, als der Dobro-Designierte noch nichts von ihrer Schwangerschaft wusste, hatte man sie in einer dunklen Zelle untergebracht – die schlimmste Strafe für einen an ständiges Tageslicht gewöhnten Ildiraner. Die Finsternis sollte Niras Willen brechen, sie vielleicht sogar in den Wahnsinn treiben. Der Designierte brauchte nur ihre Fortpflanzungsorgane, nicht aber ihren Verstand.
Wochenlang saß sie in nasskalter Dunkelheit und das Fehlen von Sonnenlicht bescherte ihr mehr Leid, als es bei einem anderen Menschen der Fall gewesen wäre. Im kontinuierlichen Schein von Ildiras sieben Sonnen hatte ihre photosynthetische Haut ständig Energie geliefert. Die andauernde Finsternis zwang Metabolismus und Verdauungssystem zur Umstellung. Nira musste lernen, wieder zu essen und gewöhnliche Nahrung zu verdauen. Sie wurde krank und schwach, gab aber trotzdem nicht auf und bewahrte sich die Kraft des Herzens.
Schließlich entließ der Designierte sie aus der Dunkelheit, um Untersuchungen und Analysen vorzunehmen. Sein schmales, attraktives Gesicht ähnelte dem Jora'hs, aber es fehlte jede Anteilnahme darin. Ein heißes Funkeln zeigte sich in Udru'hs Augen, und sein Interesse galt allein Niras Biologie. Die Ergebnisse der Untersuchungen veranlassten ihn, sie erst vorwurfsvoll und dann erfreut anzusehen. »Sie sind schwanger! Von Jora'h?«
Der Designierte brachte Nira nicht wie die anderen menschlichen Gefangenen in den Zuchtbaracken unter und verzichtete auch darauf, sie den Laborgruppen zuzuweisen. Stattdessen behandelten er und die ildiranischen Ärzte sie mit besonderer Hingabe, nahmen regelmäßig Blutproben und führten einen schmerzhaften Scan nach dem anderen durch. Sie überwachten Nira die ganze Zeit über und vergewisserten sich, dass sie gesund blieb, doch dabei hatten sie nur ihre eigenen Interessen im Sinn.
Nira versuchte, um ihrer selbst willen bei Kräften zu bleiben und nicht zu verzweifeln.
Die Geburt ihrer ersten Tochter verlief normal. Im Entbindungslabor beobachtete Nira mit müden Augen, wie der Dobro-Designierte einen begierigen Blick auf das schreiende kleine Mädchen warf – er schien bereit zu sein, das Kind seines Bruders zu sezieren. Es vereinte die Gene einer telepathischen grünen Priesterin mit denen des adligen Erstdesignierten. Den phonetischen Traditionen der ildiranischen Geschlechter gemäß nannte Udru'h das Kind Osira'h, aber für Nira war es ihre Prinzessin, eine geheime Hoffnung, genährt von all den Geschichten, die sie den neugierigen Weltbäumen laut vorgelesen hatte.
Wie bei den Gefangenen des Zuchtlagers üblich, durfte Nira ihr Kind sechs Monate lang bei sich behalten. Sie stillte es und achtete darauf, dass es stark blieb. Im Lauf der Zeit lernte sie ihre Tochter immer mehr lieben, doch dann nahm der Designierte sie ihr weg. Alle gesunden Mischlinge wurden nach sechs Monaten von ihren Müttern getrennt.
Mit Osira'h hatte der Designierte Udru'h etwas Besonderes vor. Meine Prinzessin.
Anschließend begann für Nira der eigentliche Albtraum.
Wie sehr sie sich auch zu widersetzen versuchte und betete: Der Dobro-Designierte sorgte dafür, dass sie praktisch ständig schwanger war, und er experimentierte dabei mit verschiedenen Vätern. Jede neue Schwangerschaft bedeutete eine Niederlage für Nira, aber sie weigerte sich, den Mut zu verlieren und zu sterben. Sie kam sich wie ein Grashalm im Wald vor: Füße drückten ihn zu Boden, und Regentropfen hämmerten auf ihn ein, aber er richtete sich immer wieder auf. Sie hatte sich nie vorgestellt, jemals solche Qualen ertragen zu müssen, doch sie wurde damit fertig, indem sie ihr Selbst zu einem freundlicheren Ort schickte und es erst dann zurückkehren ließ, wenn das Schlimmste überstanden war.
Die fremden Samenspender hassten sie nicht, befolgten nur die Anweisungen des Designierten. Sie gehörten zu einem übergeordneten Plan, dessen Details ihnen allen verborgen blieben.