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Der Autor zeichnet die Lebensläufe von fünf mit ihm oder untereinander Verwandten auf, die zwischen 1933 und 1945 gegen den NS-Staat agierten bzw. ihr Leben aufopferten: Der Großvater des Autors, Dr. phil. Ernst Keßler, verweigerte als Leiter eines Duisburger Gymnasiums standhaft, NSDAP-Mitglied zu werden und musste 1938 mit 54 Jahren in Pension gehen. Dessen Schwiegertochter Gerda Kessler (geb. Kirchner) leistete in Wuppertal in einer kommunistischen Jugendorganisation erbittert Widerstand und wurde 1935 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Der Schwager Dr. jur. Ernst Viktor Kessler, Vater des Autors, verbarg 1943 ein jüdisches Paar bei sich, betätigte sich im Untergrund für den „Kreisauer Kreis“ und musste sich wegen Fahnenflucht verstecken. Die beiden Schwäger Harald Dohrn und Hans Quecke, Schwäger auch von Kessler, wurden im Zusammenhang mit der „Freiheitsaktion Bayern“ denunziert und Stunden vor Ende des Zweiten Weltkriegs in München von SS-Soldaten ermordet. – Neben allgemein zugänglichen Quellen konnte der Autor auf noch im Familienbesitz befindliche und schwer zugängliche Quellen zurückgreifen, die er in einem 330 Seiten starken Anhang erstmals im Zusammenhang der Öffentlichkeit zugänglich macht.
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Seitenzahl: 330
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Gedicht „Gefährten“ von Albrecht Haushofer
0 Persönliche Vorbemerkungen.
1 Einleitung
Kurze Zusammenfassung des Inhalts des Buches
1.1 Widerstand
1.1.1 Überleitung
1.1.2 Bestimmungen des Begriffs „Widerstand“
1.2 Diskussion von Widerstandsformen
1.2.1 Kirchlicher Widerstand
2 Leben und Widerstand des Dr. phil. Ernst Keßler.
2.1 Vorbemerkung
2.1.1 Begründung der Beschäftigung mit Dr. phil. Ernst Keßler
2.2 Jugend- und Studienzeit
2.2.1 Kindheit und Jugend
2.2.2 Studium
2.2.3 Promotion – Militärdienst – Staatsexamen – Eine Zwischenbilanz
2.3 Erziehung und Charakterentwicklung
2.3.1 Streng mit sich selbst
2.3.2 Herbe Erfahrungen: stets Wendepunkte im Leben
2.3.3 Wissensdrang: erste Wanderschaft
2.3.4 Reisefreudigkeit
2.3.5 Bekenntnis zur Disziplin
2.4 Die Entwicklung der religiösen Grundhaltung
2.4.1 Gottvertrauen von Jugend auf – Großmutter zum Vorbild
2.4.2 Traumatisches Erlebnis
2.4.3 Ministrantenzeit
2.4.4 Gelebte Frömmigkeit – Resümee
2.5 Im Schuldienst bzw. Ende des Schuldienstes
2.5.1 Beginn des Berufslebens – Verlobung
2.5.2 St. Wendel
2.5.3 Koblenz
2.5.4 Neuß
2.5.5 Köln – München-Andernach
2.6 Dr. phil. E. Keßlers Haltung zum NS-Staat
2.6.1 Angeleitet, der Heimat zu dienen, ohne Hybris Fremdem gegenüber – der Enthaltsamkeit in politischen Dingen verpflichtet
2.6.2 Würdigung der Standfestigkeit Keßlers – Brief aus Israel
2.7 Im Widerstand
2.7.1 Berufung nach Duisburg – Verworrene politische Lage
2.7.2 Direktor Keßlers Ohnmacht
2.7.3 Dr. Ernst Keßler quittiert den Schuldienst – Würdigung seiner Verdienste
2.8 Nach Ende des Schuldienstes.
2.8.1 Familie
2.8.2 Tod
3 Gerda Kessler (geb. Kirchner) – Leben und Widerstand gegen den Nationalsozialismus
3.1 Vorbemerkung.
3.1.1 Das Besondere an Gerda Kesslers Standpunkt zum Nationalsozialismus
3.2 Gerda Kesslers erste Lebensjahre
3.2.1 Ihre Herkunft und Kindheit
3.3 Entwicklung ihrer politischen Haltung
3.3.1 Unvoreingenommen und klug
3.3.2 Ewald Funkes Tod
3.3.3 Der KJVD Barmen
3.3.4 Gerda Kirchners Funktion in der KPD
3.4 Gerda Kirchner im Widerstand
3.4.1 Gerda: bereit zum Widerstand
3.4.2 Gerda Kirchners Gefängnisaufenthalt
3.4.3 Gerda Kirchners psychische Erfahrung des Gefängnisaufenthaltes
3.4.4 Gerdas Träume
3.4.5 Nach der Entlassung
3.5 Nach der Widerstandszeit von Gerda Kirchner – Aus nächster Nähe:
Die Münchner Studentenrevolte
3.5.1 Das zweite Gesicht
3.5.2 Beginn der Beziehung mit Wolfgang Kessler
3.5.3 Wolfgang Kesslers Freundeskreis
3.5.4 Wolfgang Kesslers Begegnung mit den Geschwistern Scholl und Alex Schmorell
3.5.5 Der Katastrophe entgegen –
die Münchner Studentenrevolte
3.5.6 Bombenangriff auf Kirchners Haus in Wuppertal
3.5.7 Gerda Kirchners Umzug nach Bad Aibling
3.5.8 Hochzeit und Geburt des ersten Kindes
3.5.9 Nachkriegszeit (Neuanfang)
4 Biographie Dr. Ernst Viktor Kesslers einschließlich seiner Tätigkeit im Widerstand
4.1 Vorbemerkung
4.1.1 Die Leistung des Ernst Viktor Kessler im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus
4.2 Ernst Viktor Kesslers Herkunft und Jugend
4.2.1 Ernst Viktor Kessler: die Jahre 1914 bis Oktober 1933
4.3 Ernst Viktor Kesslers Leben während der NS-Herrschaft (1933-45)
4.3.1 Studium und Zwangsmitgliedschaft bei SA und NSDAP
4.3.2 Examina, Heirat und Promotion von Ernst Viktor Kessler
4.3.3 Das Leben von Pater Dr. phil. Alfred Delp S.J. (Erweiterte Kurzbiographie) .
4.3.4 Die Freundschaft zwischen Ernst Viktor Kessler und Pater Alfred Delp
4.3.5 Kesslers Weg in den Kreisauer Kreis mit Hilfe von Pater Delp S. J.
4.3.6 Ernst Kessler und Pater Augustin Rösch S. J.
4.4 Die Verhaftung von Pater Delp
4.4.1
Plötzensee,
Gedicht von Renatus Deckert bzw. Delps Festnahme.
4.4.2 Ein „erschütternder“ Brief des P. Delp an sein Patenkind
4.5 „Die dritte Idee“
4.5.1 „Die dritte Idee“ – Hinführung
4.5.2 „Die dritte Idee“ – Zusammenfassung von Kesslers Aufsatz
4.3.7 Die Flucht von Dr. Ernst Viktor Kessler
4.3.8 Antrag des Dr. Ernst Viktor Kessler auf Rehabilitierung und Entlastung bei der Spruchkammer und seine Begründung
4.3.9 Dr. Ernst Viktor Kesslers Wiederzulassung als Anwalt und die Einstellung des Verfahrens der Spruchkammer
4.6 Dr. Ernst Kessler in der Nachkriegszeit
4.6.1 Dr. Ernst Viktor Kesslers weiteres Leben nach dem Kriege (nach 1945) und sein Tod
5 Harald Dohrn und Hans Quecke: Leben, Opposition zum NS-Staat und die Folgen
5.1 Vorbemerkung
5.1.1 Gründe für die Beschäftigung mit Dohrn u. Quecke
5.2 Harald Dohrns Lebenslauf
5.2.1 Harald Dohrns Eltern
5.2.2 Harald Dohrns beruflicher Werdegang
5.2.3 Harald Dohrns Ehen
5.3 Hans Queckes Lebenslauf
5.3.1 Hans Queckes Herkunft
5.3.2 Hans Queckes Geschwister
5.3.3 Hans Queckes eigene Familie
5.3.4 Hans Queckes Werdegang bis zum Verlassen Berlins 1945
5.3.5 Hans Quecke in Bad Wiessee
5.4 Der Lebenslauf des Christoph Probst
5.4.1 Der Werdegang des Chr. Probst bis zum Studium und seine Ehe mit Herta Dohrn
5.5 Harald Dohrns Anfänge oppositionellen Verhaltens zum NS-Staat
5.5.1 Harald Dohrns Verhältnis zu den Nationalsozialisten vor seiner Tätigkeit im Zusammenhang mit der
Weißen Rose
5.6 Die
Weiße Rose
5.6.1 Allgemeines über die
Weiße Rose
5.7 Christoph Probst und die
Weiße Rose
5.7.1 Christoph Probst in der
Weißen Rose
5.7.2 Harald Dohrn und die
Weiße Rose
5.7.3 Harald Dohrns Untersuchungshaft
5.7.4 Harald Dohrns Freilassung aus der Untersuchungshaft
5.8 Die Freiheitsaktion Bayern FAB
5.8.1 Allgemeines über die FAB
5.8.2 Hans Quecke leiht der FAB den Dienstwagen
5.8.3 Harald Dohrn hört Rundfunkaufruf der FAB
5.9 Harald Dohrns und Hans Queckes Schicksale nehmen ihren Lauf
5.9.1 Harald Dohrns Denunzierung
5.9.2 Ein Herr aus Berlin
5.10 Die Verfolgung Dohrns und Queckes
5.10.1 Verhaftung und Überstellung nach München
5.10.2 Ermordung
5.11 Beurteilung des Geschehens
5.11.1 Ernst Viktor Kesslers eigene Sicht
5.11.2 Waren Dohrn und Quecke Märtyrer?
5.12 Aufklärung der Ermordung
5.12.1 Kessler setzt sich für die Aufklärung ein
5.12.2 Die mutmaßlichen Denunzianten und deren Strafverfolgung
5.12.3 Die Strafverfolgung der mutmaßlichen Mörder
5.12.4 Die Urteile für die mutmaßlichen Mörder
Anschließend:
Quellenverzeichnis bzw. Endnoten aller Kapitel
Inhaltsverzeichnis des Anhangs
Anhang
Literaturverzeichnis
Erklärung der Umschlagcollage
Danksagung
Als ich in dumpfes Träumen heut versank,
sah ich die ganze Schar vorüberziehn:
Die Yorck und Moltke, Schulenburg, Schwerin,
die Hassell, Popitz, Helfferich und Planck –
nicht einer, der des eignen Vorteils dachte,
nicht einer, der gefühlter Pflichten bar,
in Glanz und Macht, in tödlicher Gefahr,
nicht um des Volkes Leben sorgend wachte.
Den Weggefährten gilt ein langer Blick:
Sie hatten alle Geist und Rang und Namen,
die gleichen Ziels in diese Zelle kamen –
und ihrer aller wartete der Strick.
Es gibt wohl Zeiten, die der Irrsinn lenkt.
Dann sind’s die besten Köpfe, die man henkt.
ALBRECHT HAUSHOFER (Aus den „Moabiter Sonetten“)1
Albrecht Haushofer wurde am 23.4.1945 zusammen mit dreizehn Mitgefangenen auf dem ULAP-Gelände in Berlin-Moabit von SS-Soldaten ermordet. Sein Bruder Heinz fand ihn erst am 12.5.1945 dort auf. In seiner Manteltasche befanden sich 80 Sonette, die er in der Haft im Gestapogefängnis an der Lehrter Straße in Berlin als „Moabiter Sonette“ verfasst hatte. Sie wurden 1946 veröffentlicht, gehören zur wichtigsten Lyrik des deutschen Widerstands und gingen mit der genannten Bezeichnung in die Literaturgeschichte ein. Die Originalgedichte fanden 2015 im neu errichteten NS-Dokumentationszentrum in München eine Heimat.
Meine Kindheit war, der ich knapp zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, insbesondere von der Rolle meines Vaters geprägt, die er zuvor während der NS-Zeit als Widerständler gegen den Nationalsozialismus eingenommen hatte. Zugleich wurde mir, solange ich zuhause wohnte, immer wieder seine besondere Beziehung zum Jesuitenorden vor Augen geführt, zumal ich schon damals innig christlich glaubte. Dort hatte er viele Freunde, die bei uns ein- und ausgingen. Vor allem kam ich mit den Namen der Jesuitenpatres Augustin Rösch, Alfred Delp, Rupert Mayer in Berührung, die im Widerstand gegen die Nationalsozialisten eine größere Rolle spielten und außer Pater Mayer meinem Vater nahestanden. Pater Augustin Rösch hatte mich getauft, und ich besuchte ihn als 14-Jähriger zusammen mit meinem Vater am Sterbebett. Auch erhielt ich sein Sterbekreuz. Mein Bruder Alfred Sebastian war das Patenkind von Pater Alfred Delp, der von den Nazis zum Tode verurteilt und erhängt wurde. Als ich mit acht Jahren einen schweren Unfall an den Füßen erlitt, wurde für mich zu Pater Rupert Mayer gebetet, der aufgrund einer Kriegsverletzung oberschenkelamputiert war und eine Beinprothese trug. Er hatte als Geistlicher und Prediger den Nationalsozialisten mutig die Stirn geboten, war eingesperrt worden; 1987 wurde er in München selig gesprochen. Das Beten half: Mein Fuß konnte gerettet werden.
Dessen ungeachtet verspürte ich viel später, also etwa seit dem Jahr 2000 immer stärker den Drang, etwas über die Zeit des Nationalsozialismus zu schreiben, ohne zu wissen, was es sein könnte. Wie ich jetzt, im Januar 2015, nachdem ich die Veröffentlichung „Der stille Befehl...“ beinahe fertiggestellt habe, zu wissen glaube, war ich in der Zwischenzeit darum bemüht, in obigem Zusammenhang meine Kindheit und Jugend schriftlich aufzuarbeiten, ohne mir dessen bis vor kurzem bewusst zu sein. Und so entstand der nun folgende Text.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Ich musste erst von außen angestoßen werden, über das zu schreiben, was mich in meiner Kindheit und Jugend besonders geprägt hat: Informationen über Widerstand gegen den Nationalsozialismus aus dem Umfeld meiner Familie. Was die Freundschaft meines Vaters zu Mitgliedern des Jesuitenordens angeht, verlor nach dessen Tod 1993 allmählich an Bedeutung, und dennoch ließ ich dies in meinem Buch nicht außer Acht.
Als ich begann, mich in meinem Umfeld nach weiteren Personen, die sich gegen den NS-Staat stellten, etwas weiter umzusehen, kamen mir außer meinem Vater weitere Verwandte in den Sinn, die mehr am Rande standen. Sie prägten mich zwar schwächer, gehörten vom Hörensagen jedoch auch zu meiner Kindheit und Jugend. Es waren die Namen zweier Onkel: Harald Dohrn und Hans Quecke. Sie wurden von den Nationalsozialisten unter tragischen Umständen getötet. Hinzu kam neben meinem Vater und dessen Vater auch meine Tante Gerda Kessler (geborene Kirchner), die Schwägerin meines Vaters.
Bei meinen Überlegungen, auf welche Art und Weise ich mich den und dem Genannten nähern könnte, kamen mir zwei Geschehnisse zu Hilfe, die mir den erwähnten Anstoß gaben.
Diese beiden Ereignisse waren ein Brief, den ich erhielt, und eine Reise, zu der ich eingeladen wurde.
Die erste Person, die auf Anfrage mein Interesse an der NS-Zeit aufgriff und mir einen handfesten Vorschlag für eine Arbeit unterbreitete, war eine gute Freundin meiner elterlichen Familie, zu der auch ich selbst einen guten Draht besaß: Baronin Dr. phil. Johanna von Herzogenberg (1921 – 2012), eine Kunsthistorikerin. Sie schrieb mir am 22. Februar 2004 – im Herbst desselben Jahres sollte mein Vorruhestand mit viel freier Zeit beginnen – einen Brief, worin sie zunächst hierauf Bezug nahm.
(Zufällig, sicherlich ungewollt, da sie es andernfalls erwähnt hätte, traf das Datum des Briefes exakt mit dem 61. Jahrestag des gewaltsamen Todes von Hans und Sophie Scholl bzw. Christoph Probst im Jahr 1943 zusammen, die dem studentischen Widerstand Weiße Rose gegen die Nationalsozialisten angehörten, von dem später ausführlich die Rede sein wird.)
Ferner sprach von Herzogenberg an, dass ich noch im Schatten der NS-Zeit geboren wurde und das Thema Widerstand gegen die Nazis und wie der Tyrann Adolf Hitler beseitigt werden könnte, seit meiner frühesten Kindheit groß im Raum stand bzw. ich damit immer verstrickt war. Sie teilte mir ihre Idee mit, wie ich „über bestimmte Personen etwas Neues oder aus einem neuen Blickwinkel erfahren“ könne, indem ich ganz einfach meine Erinnerungen an jene Zeit und das, was die Menschen erzählt hätten, aufschreiben sollte. Es gebe auch noch lebende Zeitzeugen, die ich befragen könnte, wie meine Tante Gerda Kessler, und sie erinnerte an Hans Quecke. Darüber hinaus nannte sie die „Probstkinder“ (also die Kinder des oben erwähnten Christoph Probst), die ich befragen könnte. Das ist im Kern die Botschaft des Briefes.
Ich verlasse den Brief hier und nehme Bezug auf die angesprochene Reise. Ihr ging die Einladung dazu von Frau Irmgard Heise, der Mutter meiner Frau Katharina, voraus, die sie in „2/2005“ brieflich an mich richtete. Sie forderte mich zur Mitfahrt im Wagen „zur Mai-Konferenz, die immer am Himmelfahrtstag beginnt und 2 – 3 Tage dauert,“ auf, mit sich und ihrem Mann, Dr.-Ing. Othmar Heise, nach Kreisau in Polen.
An dieser Stelle sei erklärt, welche Bedeutung das Dörfchen Kreisau (polnisch: Krzyżova) in Niederschlesien im heutigen Polen im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus hat.
Kreisau gab der von den Nationalsozialisten Kreisauer Kreis genannten Widerstandsorganisation den Namen. Dort betrieb 1940 Helmuth James Graf von Moltke ein Schlossgut, und zusammen mit Peter Graf Yorck von Wartenburg begründete er die genannte Organisation. Der engere Kreis bestand aus etwa zwanzig Personen, die bei drei großen Konferenzen 1942 und 1943 in Kreisau berieten, wie ein Deutschland nach dem Scheitern des Dritten Reiches bzw. einer Liquidierung Hitlers aus politischer, wirtschaftlicher, christlicher Sicht aussehen könnte bzw. es wurde ein Deutschland und dessen politische Führung nach dem Zusammenbruch vorbereitet. [Näheres zum Kreisauer Kreis siehe unten, Abschnitt (4.3.5).]
Mein Vater Dr. Ernst Viktor Kessler (1914 – 1993) hatte einen besonderen Bezug zum Kreisauer Kreis insofern, als er mit den schon erwähnten Jesuitenpatres Alfred Delp (1907 – 1945) und Augustin Rösch (1893 – 1961), beide Kreisauer, nicht nur gut befreundet war, sondern, nachdem er durch Delp in den – äußeren – Kreis gekommen war, insbesondere mit ihm im Untergrund gegen die Nazis zusammenarbeitete.
Und meine Schwiegereltern, Irmgard (* 1937) und Othmar Heise (* 1935), wiederum sind bis in die heutigen Tage hinein „Donatoren“ der Freya-von-Moltke-Stiftung für das neue Kreisau und unterstützen das neue Kreisau auf vielfache Weise.
Nach 1989 ging das Gut in eine Stiftung und in ein Internationales Jugendbegegnungszentrum über. Dort wurden zwischen 1989 und 2008 die so genannten Frühjahrskonferenzen abgehalten, wo man sich begegnete und an einem Europa der Zukunft arbeitete.
Zu diesen Zusammenkünften war Frau Irmgard Heise jährlich gefahren.
Das Ehepaar Heise hatte bis zum Wegzug meines Vaters um 1992 vom Augustinum München-Hasenbergl nach Darmstadt großen Anteil an seinem Widerstand gegen die NS-Herrschaft genommen und ließ sich viel davon erzählen.
Am Himmelfahrtstag, 5. Mai 2005, kam es für mich zu einem denkwürdigen nachhaltigen Ereignis, das in Bezug auf meine schriftstellerische Tätigkeit im Zusammenhang mit der NS-Herrschaft richtungsweisend sein würde, wie sich jedoch erst später herausstellen sollte.
Am Abend dieses Tages wurde auf dem Gut Kreisau von jungen Polen ein Stück pantomimisch dargestellt, welches Leben und Sterben der Familie Moltke thematisierte. Die Akteure spielten derart authentisch, echt, überzeugend, dass sich zumindest jene Zuschauer, die durch eigene Erfahrung oder mittels Film, Fernsehen, Theater, Literatur die Nazizeit „erlebt“ hatten, in sie zurückversetzt fühlten.
Eben dies löste in mir einen so starken Impuls aus, dass ich mich seither unumstößlich und endgültig veranlasst sehe, berufen und beauftragt fühle, zur schriftlichen Aufarbeitung meiner Kindheit und Jugend eine wie eingangs bereits angesprochene, aber nicht zu Ende gedachte Arbeit im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus endlich zu beginnen, zu dem Thema: Widerstand gegen den Nazi-Staat in meiner Großfamilie.
Erst, nachdem ich mit meinem Lektor und literarischen Berater das Thema in allen Einzelheiten ausgeleuchtet und betrachtet hatte, kristallisierte sich der Begriff „Familiengeschichte“ heraus, präzisiert gesagt die Schicksale aller Personen meiner näheren Großfamilie, die in irgendeiner Form bei den Nationalsozialisten angeeckt sind.
Und so gelangten wir in der Folge auch zu einem das Thema genau abgrenzenden Titel. Dabei kam mir auch mein zwei Jahre älterer Bruder Alfred Sebastian, bekanntlich das Patenkind von Pater Alfred Delp, mit dem Ausspruch „der stille Befehl“ zu Hilfe. Diesen hatte Delp in einem der letzten Briefe bzw. Kassiber, die heimlich aus dem Gefängnis geschmuggelt wurden, vor seiner Hinrichtung Anfang Februar 1945 in Berlin-Plötzensee zu Papier gebracht. Dieses Wort bildet den Anfang des Titels, der also lautet:
„Der stille Befehl. Widerstand und Opfergang einer bürgerlich und christlich geprägten Familie im NS-Staat 1933 bis 1945“
„Christlich“ und nicht „katholisch“ wählte ich deshalb, weil die Protagonistin Gerda Kessler, geborene Kirchner, protestantische und nicht katholische Christin war. Dies war mir bis zu ihrem Tod verborgen geblieben und stellte sich erst anlässlich ihrer Trauerfeier heraus, die in einer evangelischen Kirche von einem protestantischen Pfarrer in ihrem Wohnort Bad Aibling, Lkr. Rosenheim, abgehalten wurde. Bis auf diese Ausnahme handelt es sich bei meiner Großfamilie ausschließlich um mehr oder weniger aktive, jedoch zum Teil sehr strenggläubige Katholiken, wie am Beispiel meines und seines Vaters sowie an Hans Quecke zu sehen war.
In dieser Veröffentlichung geht es um die Konfrontation mit den Nationalsozialisten von fünf Personen der Großfamilie des Autors, die mit ihm bzw. untereinander unmittelbar verwandt oder verschwägert waren, und deren Handeln sich in den Jahren 1933 bis 1945, also in der Zeit des deutschen Nationalsozialismus, gegen die NS-Diktatur richtete oder die ihr Leben aufopferten. (Siehe hierzu auch die Stammbäume im Anhang.)
Es sind dies: Der Oberstudiendirektor Dr. phil. Ernst Keßler, der zur Zeit seines Widerstandes (1932 bis 1938) in Duisburg lebte, sich hartnäckig und standhaft weigerte, Mitglied der NSDAP zu werden. Er musste schließlich entkräftet 1938 mit nur 54 Jahren den vorzeitigen Ruhestand antreten; (siehe hierzu Kapitel 2). Des Weiteren seine künftige Schwiegertochter, die Bürokraft bzw. Lageristin Gerda Kirchner (später verheiratete Kessler) aus Wuppertal-Barmen, die einer kommunistischen Jugendorganisation angehörte, in der sie sich im Widerstand sehr engagierte. Wegen eines viel weniger schweren Vergehens saß sie 1935 bis 1937 zwei Jahre in Krefeld-Anrath im Gefängnis; (siehe Kapitel 3). Dazu kommt ihr zukünftiger Schwager, der Rechtsanwalt Dr. jur. Ernst Viktor Kessler aus München, Sohn des Dr. phil. Ernst Keßler, opponierte in vielfacher Weise im Untergrund gegen das Regime, unterstützte und verbarg Juden und andere Verfolgte, half ihnen praktisch und juristisch, beging zuletzt Fahnenflucht und musste sich verstecken; (siehe Kapitel 4). Als letztes möchte ich seine Schwäger erwähnen, den Krankengymnasten Harald Dohrn aus Bad Wiessee am Tegernsee, und den Ministerialrat Hans Quecke aus Berlin-Schlachtensee, zuletzt Bad Wiessee. Beide waren selbst miteinander verschwägert, wurden auf tragische Weise Opfer der Nazis, da sie Stunden vor Ende des Zweiten Weltkriegs ihr Leben verloren. Harald Dohrn wurde denunziert, Hans Quecke höchstwahrscheinlich verwechselt; (siehe Kapitel 5).
Die Geschichte der fünf Protagonisten ist Bestandteil der Geschichte des Widerstands gegen den nationalsozialistischen Unrechtsstaat. Da der Begriff des Widerstands allzu häufig unpräzise und missbräuchlich verwendet wird, soll im Folgenden eine Begriffsbestimmung bzw. Eingrenzung versucht werden. Ich nehme hierbei in erster Linie Bezug auf eine Definition im Lexikon des Widerstands 1933 – 1945, das von Peter Steinbach und Johannes Tuchl herausgegeben wurde2. Dort ist über den Begriff Widerstand zu lesen:
„In der Regel bezeichnet das Wort W. Reaktionen eines Menschen oder von Gruppen auf Machtmißbrauch, Verfassungsbruch und Menschenrechtsverletzungen. Deshalb erscheint W. immer dann als geboten oder gerechtfertigt, wenn Grundsätze des modernen Naturrechts oder Grundprinzipien einer demokratischen, freiheitlichen, rechtsstaatlichen Ordnung gegen Übergriffe verteidigt werden sollen. Weil sich W. vor allem auf die Verteidigung einer menschenwürdigen Ordnung bezieht, hängt die innere Anerkennung des W.s von der Formulierung der Grenzen und Ziele des Staates ab, deren Gefährdung und Verletzung widerständiges Verhalten notwendig macht. In der Regel wird W. durch Attribute präzisiert. Dadurch soll deutlich gemacht werden, daß W. als eine Form abweichenden Verhaltens ein breites Verhaltensspektrum abdeckt – vom passiven W. und der Verweigerung über die innere Emigration, den ideologischen Gegensatz und die bewußte Nonkonformität zum Protest, zur offenen Ablehnung und schließlich zur Konspiration, die sich sowohl auf die gedankliche Vorbereitung der Neuordnung nach dem Ende des NS-Staates konzentrieren konnte als auch versuchen mußte, aktiv den Umsturz des Regimes vorzubereiten und durchzuführen...“ Das Lexikon begrenzt, ebenso wie ich, den Begriff ganz auf den Widerstand gegen die NS-Diktatur. Peter Steinbach schreibt: „Im Verständnis der Deutschen wird der Begriff W. vor allem durch die Erfahrungen des (!) NS-Zeit bestimmt. W. bezeichnet in diesem Zusammenhang jedes aktive und passive Verhalten, das sich gegen das NS-Regime oder einen erheblichen Teilbereich der NS-Ideologie richtete und mit hohen persönlichen Risiken verbunden war.“3
Kürzer definiert das Politiklexikon von Klaus Schubert und Martina Klein den Widerstandsbegriff: „Widerstand benennt ein politisches Vorgehen, das sich gegen eine als bedrohlich und nicht legitim empfundene Herrschaft wendet. Widerstand kann sich richten gegen Personen (einen Herrscher, Herrschende), eine Herrschaft (Diktatur) oder einzelne Maßnahmen.“4
Mir persönlich war eine Begriffsbestimmung wichtig, die Dr. Michael Probst (1940 – 2010), der älteste Sohn von Christoph Probst und Herta Probst-Siebler bzw. der Enkel von Harald und Johanna Dohrn in einem Gespräch vom 10. Mai 2009 zu Protokoll gab:
„Meine Definition von Widerstand wird nicht allein durch das, was die Leute selber von sich hielten oder von dem, was sie taten, her definiert, sondern das definierten vor allem auch die Nazis. Für die Nazis war alles Widerstand, was nicht in ihr System, in ihre Ideologie gepasst hat. Insofern kamen auch völlig unschuldige oder harmlose Leute plötzlich dazu, dass sie schwer bestraft wurden, mit all den möglichen Strafen, die die da zu vergeben hatten, bis hin zum Tode für Lappalien. Die Leute selbst hätten sich nicht als Widerstandskämpfer definiert, aber dadurch, dass die Nazis sie so definiert hatten, waren sie welche. Das ist meine Meinung.“5
Entsprechend der Haltung der Personen, um die es in erster Linie in diesem Buch geht, steht der kirchliche Widerstand im Mittelpunkt. Informationen darüber entnehme ich dem Buch Widerstand an Rhein und Ruhr 1933 – 1945 von Karl Schabrod.6 Schabrod (1900-1981) war ein westdeutscher kommunistischer Politiker, der von den Nationalsozialisten verfolgt worden war.
In Schabrods Buch kommt zunächst die Ausstellung auf dem ehemaligen KZ-Gelände in Dachau zur Sprache und es werden statistische Angaben gemacht in Bezug auf die vielen Geistlichen aller Konfessionen, die insbesondere in Dachau inhaftiert waren. Darauf wird jedoch nicht näher eingegangen, weil es vom eigentlichen Thema wegführt. Der letzte Absatz soll aber nicht unerwähnt bleiben.
Darin heißt es, dass der Widerstand gegen das System brutaler Herrschaft, das „den Krieg vorbereitet“7, nicht von der Kirche ausging. Er sei leider eine „private Angelegenheit der einzelnen Christen“8 geblieben, die die „Kirche nicht deckte, sondern manchmal sogar verpönte.“9
Zum christlichen (nicht unbedingt „kirchlichen“) Widerstand im weiteren Sinne können auch die Handlungen aus Nächstenliebe gezählt werden, etwa die Auflehnung gegen die Judenverschleppungen. So wird berichtet10, dass zwei betagtere Frauen jüdischen Glaubens im Heim der Diakonissen in Düsseldorf-Kaiserwerth versteckt wurden. Als man sie fand, blieb auch zwei Diakonissinnen die Fahrt nach Theresienstadt nicht erspart. „Nur eine Schwester“11 überlebte und konnte im Mai 1945 nach Kaiserwerth zurückgebracht werden.
So wurde beispielsweise aus Essen bekannt, wie „deutsche Familien“12 gefährdeten „jüdischen Mitbürgern“13 heimlich Unterschlupf gewährten, sie verköstigen und in Sicherheit bringen konnten. Beschützenden Beistand erfuhren „jüdische Mitbürger“14 in klösterlichen Gemeinschaften und christlich geprägten Seniorenunterkünften am „linken Niederrhein“15. Exakte Zahlen diesbezüglich verweigerten „kirchliche Kreise“16 und möchten keine Bekanntgabe, „da es stille Akte der Nächstenliebe“17 betroffen habe. Befürwortet dürfte aber werden, dass die Bewahrung von Menschen, die Gefahr liefen, von den Nationalsozialisten verschleppt und ermordet zu werden, wirkliche „Widerstandshandlungen unter eigener Gefahr“18 bedeuteten.
Bei Dr. phil. Ernst Keßler handelt es sich um den Großvater des Autors, einem königstreuen Oberstudiendirektor an einem bedeutenden Gymnasium Duisburgs. Er wurde nicht müde, in den Jahren 1932 bis 1938 seinen unpolitischen Standpunkt zu behaupten, sich mutig zu den christlichen Werten zu bekennen und gegen alles Nationalsozialistische einzutreten. Schließlich zwang ihn seine durch Anfeindungen geschwächte Gesundheit, sich mit nur 54 Jahren pensionieren zu lassen. Sein Handeln darf heutzutage als vorbildlich bezeichnet werden.
Ernst Keßler erblickte am 25.12.1884 in Wuppertal-Elberfeld das Licht der Welt. In seiner Jugend jedoch bot ihm der Selfkant die Heimat, genauer gesagt das Städtchen Niederheide an der Wurm, nördlich von Aachen.
Er wuchs im Elternhaus seiner Mutter Maria Theresia Basten (1850 – 1932) auf. Nach dem Tod des Großvaters Hermann Josef Basten (1813 – 1876) übernahm die Großmutter Anna Catharina Franck (1818 – 1898) mit ihrem Sohn Hermann (Lebensdaten unbekannt.) den Betrieb eines Kupferschlägers und Pumpenmachers mit einem eigenen Geschäft und dazugehörigem Verkaufsladen.
Der Vater von Ernst, Oskar Karl Julius Keßler (1854 – 1891) wurde als uneheliches Kind von Alwine Luise Keßler (1833 – 1884) zur Welt gebracht. Er und sein Bruder Karl (1880 – 1951) verloren schon früh den Vater, der im Alter von nur 37 Jahren durch eine Choleraepidemie auf einer Kaufmannsreise in Hamburg dahingerafft wurde. Die Mutter von Ernst und Karl heiratete im Jahre 1894 erneut und zwar den Buchdrucker Johann Schmitz.
Nach fünf Jahren Volksschule wechselte Ernst Ostern 1895 auf die Höhere Schule. Anfang 1896 wurde seine Halbschwester Mimi geboren. Im selben Jahr erstanden seine Eltern aufgrund eines Lotteriegewinns in Zell/Mosel eine Buchdruckerei mit einem kleinen Zeitungsverlag. Ernst eignete sich im elterlichen Betrieb nach und nach Fähigkeiten an, die im Buchdruckwesen benötigt werden, was ihm später als Geisteswissenschaftler und freilich auch als Bücherfreund zugutekommen sollte. In seinen Erinnerungen 1884 – 1968 schreibt Ernst Keßler diesbezüglich:
„Der väterliche Betrieb war bescheiden. Wenn ich meine Schulaufgaben erledigt hatte, stand ich mit am Kasten. Es dauerte nicht lange, so war ich in die Geheimnisse der schwarzen Kunst eingeweiht. […] Allemal wenn ich in den Ferien zur Mosel kam, habe ich die meiste Zeit in der Druckerei verbracht.“19
In dieser Zeit ereignete sich ein Fährunfall, den Keßler als prägend einstufte, er entkam nur knapp dem Tode: „Ich weiß nicht, ob ich schon damals an der Mosel anfing, über Vorsehung und Schicksal nachzudenken. Jedenfalls hat es zu meiner Überzeugung beigetragen, daß Ungemach nicht von ungefähr kommt. Cosi l’ha voluto il fato.“20 (So hat es das Schicksal gewollt.)
Mit 15 Jahren kam Ernst Keßler 1899 auf das Humanistische Gymnasium in Trier und als Landkind das erste Mal in die Stadt, wodurch er fernab von zu Hause zur Selbstständigkeit gezwungen war, zumal er in einer Pension war.
Er erinnert sich: „Bevor ich in die neue Klassengemeinschaft hineinwuchs, mußte ich eine frühere Erfahrung erneuern. Die Mitschüler sahen auf mich wie einen Eindringling herab, der bloß von einer sogenannten ‚Klippschule’ herkam, und wollten mich nicht anders behandeln, wie bei den Soldaten die Altgedienten einen Rekruten. Das abfällige Urteil über meine Heimatschule wurmte mich.“21
Doch Keßler vermag sich bald Anerkennung zu verschaffen: „Kaum war ein Monat vorüber, als die ersten altsprachlichen Klassenarbeiten fällig waren, nach deren Ergebnis der Ordinarius die Sitzplätze neu verteilte.“22 Da gelang es Keßler, mit einem Schlage von einer der hintersten Bänke, die alle Neuen belegen mussten, auf einen der vordersten Plätze zu kommen. So war er als gleichwertig anerkannt.
Keßler weiter: „Was mir obendrein vollends zu Ansehen verhalf, war eine mehr unbedachte, zornige Äußerung des Klassenlehrers. Auf mich zeigend schrie er eines Tages seinen ‚Alten’ ins Gesicht: ‚Da kommt so ein kleiner Junge von einer – was weiß ich – geringen Winkelschule her und beschämt euch allesamt durch seine sicheren Kenntnisse, ihr Jämmerlinge!’“23
Sein neuer Banknachbar zeichnete sich als bester Lateinschüler der Klasse aus, während er, Keßler, sofort als Primus in Griechisch anerkannt war. Auf diese Weise, erinnert sich Keßler, habe sich bei den späteren Klassenarbeiten eine Art von „erfreulichem, stillem Kompagnongeschäft“24 ergeben.
Auf seine Gymnasialzeit zurück blickend resümiert Keßler: „Das Lob war selten, der Tadel sachlich. Jedenfalls war das, was wir unserer Schulbildung zu verdanken haben, zweifellos viel mehr als heute eine höhere Schule leistet.“25
Keßler schreibt weiter: „Auch ließ uns die Schule erkennen, die wahre Kultur besteht nicht nur aus Errungenschaften des Wissens und Könnens in der Technik, sondern wesentlich in der ethischen Einstellung und in den aus dem Denken kommenden Idealen. Viel und streng wurde in der Schule verlangt.“26
Nach dem Abitur Ostern 1904 begann Ernst Keßler in Münster zu studieren. Sein Berufsziel war das philologische Lehrfach.
Ernst Keßler erklärt in seinen Erinnerungen, was ihn zum Lehrerberuf bewegt hat: „Wenn ich selbst mich dem Lehrfach zugewandt habe, so ist es einzig aus einem inneren Trieb, aus Neigung geschehen.“ – „Mein Elternhaus“, fährt Keßler fort, „hätte mich lieber in der Richterrobe oder in der höheren Verwaltungsbeamtenlaufbahn gesehen.“27
Man habe ihm vorgehalten, schreibt er, was für Aussichten denn das höhere Lehramt biete. „Etwa Ansehen, Anerkennung?“28 […] Trotz alledem sei er bei der getroffenen Wahl geblieben, habe sich der Philologie verschrieben, der Sprachwissenschaft und der Geschichte.
Wörtlich sagt Keßler: „Ein Ereignis auf seine Wahrheit prüfen, einen sprachlichen Text klar begreifen, verlangt jene Rechtschaffenheit der Selbstkritik, die unter den akademischen Fakultäten wohl keine in solchem Maße wie die Philologie vermittelt: die Unbestechlichkeit des philologischen Sinnes war für mich das Anziehendste zum (sic!) Studium. […] Es stand für mich fest, als Erzieher leben zu wollen, diejenigen zu beeinflussen, welche, einmal erwachsen, der Welt etwas bedeuten werden, zu wirken in den edelsten Bestrebungen meines Volkes.“29
Keßlers Studienzeit (1904 – 1910) dauerte mit zwölf Semestern länger als üblich. Er studierte in Münster (ein Semester), Berlin (drei) und Straßburg (acht Semester).
Seinen kurzen Aufenthalt in Münster nennt er „ein Prodrom, eine Art von Präludium.“30 Die Berliner Semester hätten der „Klärung und Festigung im Hinblick auf die genauen Studienziele“31 gegolten. Die Straßburger Zeit habe ihn „das erstrebte Ziel mit Promotion und Staatsexamen“32 erreichen lassen.
Ernst Keßler berichtet über seine Studienzeit in der Hauptstadt: „Mit Eifer stürzte ich mich auf die Arbeit und suchte aus der verwirrenden Vielfalt Schritt für Schritt vordringend den ‚kleinsten Punkt’, in welchem ich ‚die größte Kraft’ entfalten wollte.“ – „Angeregt“, so schreibt er, „durch die Seminare von Eduard Meyer und Otto Hirschfeld wandte ich mich vornehmlich der alten Geschichte zu, neben den alten Sprachen.“33
Auch habe er, wie vorher in Münster und nachher in Straßburg, ausgiebig philosophische, deutschliterarische, rechtskundliche und allgemeinbildende Vorlesungen gehört.
Keßler wörtlich zu seiner Studienzeit in der Residenzstadt:
„Die Berliner Semester waren für mich eine entscheidende, prägende Zeit. Ich erkannte den Wert der Wissenschaft klarer und glühte von dem Wunsche, auch meinerseits gemäß meinen Kräften zu ihr beizusteuern.“34 – „Auch wenn diese nicht so stark“35 seien, so Keßler weiter, „dass sie jenes Streben nach dem höchsten Fluge leiten“36 könnten, „so sollten sie wenigstens versuchen, einen höheren Gang zu nehmen.“37
Nach Straßburg zog ihn in erster Linie der gute Ruf der Reichs-Universität. Es war eine „Arbeitsuniversität“ mit hohen Anforderungen.
Um dies zu unterstreichen, schreibt Keßler: „Man bedenke beispielsweise: Für das ein Fach Geschichte hatte sie allein vier ordentliche Professoren.“ – „Da Geschichte eines meiner Hauptfächer war“, erinnert sich Keßler, „ja sogar das Fach, in dem ich promovieren wollte, so mußte ich diese Professoren aus Vorlesungen und Seminarübungen ausgiebig kennen lernen: drum habe ich nicht weniger als zwanzig Seminare in diesem einen Fache mitgemacht.“38
Aber auch in Bezug auf die Straßburger Gegend fehlt eine Liebeserklärung Keßlers nicht: „Im Verlaufe meiner vielen Semester (von Ostern 1906 bis 1910) ist mir die Stadt und das liebliche Elsaß recht ans Herz gewachsen.[…]“39
Ende Februar 1908 wurde Ernst Keßler an der Straßburger Universität mit einer Schrift über Plutarchs Biographie des spartanischen Gesetzgebers Lykurgos „mit einigen Ehren“ promoviert. Dr. Ernst Keßler, wie er sich nun bezeichnen konnte, erinnert sich an die Einzelheiten: „Das Thema war schwieriger als regelrecht, ziemlich umfangreich, und ließ sich nur in einer mehrsemestrigen, eindringlichen Arbeit bewältigen.“40 – „Mir wurde, so der Promovierte weiter, „examinibus superatis [nach bestandenen Prüfungen, d. Verf.] die Frage nahegelegt, ob ich mich nicht zu habilitieren gedächte.“41
Er müsse gestehen, schreibt Keßler, am liebsten wäre er in der Tat Universitätslehrer geworden. Er habe auch, erinnert er sich später, einen Anlauf dazu genommen, indem er zur Vertiefung seiner geschichtlichen Studien gleichmäßig rechtliche und staatswissenschaftliche Vorlesungen besucht, und sich regelrecht in der juristischen Fakultät eingeschrieben habe. Er begründete diese freiwillige Mehrarbeit mit den Worten: „Mir stand das Beispiel Mommsen vor Augen, der ohne Jurisprudenz, von der er ja herkam, nicht der Historiker geworden wäre, der er geworden ist.“42 – Dann aber entschließt er sich: „Nach reiflicher Überlegung habe ich hier den Gedanken an eine Habilitierung aufgegeben.“43
Schon eine gewisse Zeit vorher, begründete er diesen Entschluss, habe sich die Lage für Katholiken so verschlechtert, dass es nicht so ausgesehen habe, als böten sich für ihn Perspektiven in der Dozentenlaufbahn als Historiker. Die Zeit, in der er den Einjährigen – Freiwilligen Militärdienst absolvierte, nutzte er, das Pro und Contra abzuwägen. Währenddessen reifte sein Entschluss. Dies kommentiert Ernst Keßler mit den Worten: „Wie oft unterhöhlen Widerstände des Geschicks allzu leicht des Menschen Erwartungen und Hoffnungen! Niemand hat sich selbst die Grenzen gesteckt, die ihm gesetzt sind in den Zeitdingen und Verhältnissen, unter denen er aufwächst, so wenig sich jemand seinen Verstand und Mutterwitz selbst gezimmert hat.“44
Zehn Jahre später, im Laufe des Jahres 1918, beschäftigt sich der Katholik Dr. Keßler in St. Wendel – nun wohl abschließend – mit der Frage einer Habilitierung als Historiker an der Straßburger Universität und der Unmöglichkeit einer dortigen Stelle als Dozent. Er schreibt: „Infolge der veränderten Zeitlage fielen die früheren Hemmnisse fort, die mich veranlasst (sic)45 hatten, von der Universitätslaufbahn abzusehen. Jetzt hätte ich dafür große Aussichten gehabt, aber die für mich zuständige Straßburger Universität war uns verloren gegangen. Inzwischen hatten sich meine Weichen anders gestellt, ich wollte im höheren Schuldienst bleiben.“46
Nach seiner Promotion im Jahre 1908/09 leistete Dr. Keßler den Einjährigen Freiwilligen Militärdienst in Straßburg beim Niedersächsischen Fußartillerie-Regiment Nr. 10 ab, blieb dabei aber immatrikuliert.
Er beschreibt in seinen Erinnerungen die Situation in Europa um 1909 so: „Die politische Lage war schwül geworden, seitdem sich Frankreich und England im Jahre 1904 durch die Entente cordiale, ein gegen Deutschland gerichtetes Bündnis, zusammengefunden hatten.“47
Auch wenn Russland diesem Bund erst 1912 beitrat, wodurch der Weltkrieg nicht mehr abzuwenden gewesen sei, wie Keßler meint, so sah es bereits zum Zeitpunkt seines Militärjahres bedrohlich aus. Danach meldete er sich zum Staatsexamen für das Lehramt an Höheren Schulen an. Die Prüfung schloss er in der ersten Februarhälfte 1910 ab. Die Studienzeit war vorüber, ein neuer Lebensabschnitt begann.
Keßler bilanziert: „Nun war ich 25 Jahre alt. Noch immer steckte viel Illusion in mir. Auf dem Berufsleben, das mich erwartete, lag in meinen Augen noch der schöne blaue Dunst ferner Berge. Wohl war mir der Zwang zu einer Wegeswendung allmählich in-s (sic!) Bewußtsein getreten, der Zwang, von dem eigenen Denken der frohen Jünglingsjahre in eine mißmutige Welt einzubiegen. Aber von dieser Welt machte ich mir noch kein klares Bild.“48
Auf dem Truppenübungsplatz habe er, erinnert er sich, hinter den schweren Geschützen liegend an einem klaren Tage das aus dem Rohr geschnellte Geschoß beobachtet, wie es sich „im aufsteigenden Ast“49 als dunkler Punkt durch die Lüfte empor gewunden habe, dann plötzlich gleichsam stille gestanden habe und im Nu verschwunden sei für das Auge.
„Wohin seine Bahn weiterführt und wie es ans Ziel gelangt“, so Keßler, „bleibt dem Schauenden verborgen. So ähnlich ist dem jungen Manne, der nach Beendigung seiner Studien in die Welt hinaus strebt, der Endablauf der Bahn verhüllt.“50
Etwa im Jahre 1923 gab Dr. Ernst Keßler bei seinen Kollegen Müller-Ewald die Radierung eines Exlibris in Auftrag, das seiner Berufsauffassung entspricht und zugleich seinen Wahlspruch von Horaz beinhaltet: Mentes asperioribus formandae studiis – zu Deutsch: Es gilt, den Geist durch härtere Studien zu formen.
Dies spiegelt eine wichtige Charaktereigenschaft Dr. Keßlers wider, die beweist, dass er im Leben dazu neigte, es sich eher schwerer als leichte zu machen.
Auch in der Einleitung seiner Erinnerungen 1884 – 1968 weist Ernst Keßler auf ihm wichtige Einstellungen und Eigenschaften hin:
„Niemand kann vorausberechnen, worauf es im Leben am meisten ankommt. Unangenehme Erfahrungen muß jeder in Kauf nehmen, nur sollte er die Kunst lernen, es verständig zu benutzen und zu überwinden. Angeborene Fähigkeiten und glückliche Gelegenheiten reichen allein nicht hin. Ohne Energie, mit Ausdauer fortgesetzt, und ohne die Gewohnheiten des Fleißes und der Ordnung hoffe nicht, ein Ziel zu erreichen. In allem, dem du dich widmest, in großen wie in kleinen Dingen, sei bemüht, es mit ganzem Herzen zu tun! Nur beiläufig wollte ich solcher Gedanken erwähnen, und nur deshalb, weil sie als gewichtige Teile meines Fortschrittes im Leben anzusehen sind.“51
Diese Lebenseinstellung zeugt davon, wie streng sich Dr. Keßler selbst in die Pflicht nahm und wie ernst er seine Verantwortung für sich und sein Vorwärtskommen in persönlichen wie beruflichen Dingen ansah. Aus diesen Gründen darf das genannte Zitat hier nicht fehlen.
Aber nicht nur eigenes Bemühen und Anstrengen aus sich heraus, sondern auch Ererbtes sind zum Leben vonnöten. In seinen Erinnerungen 1884 – 1968 räsoniert Ernst Keßler dann auch darüber, welche Erbanlagen er wohl wem verdankt. Er schreibt:
„Es ist nicht leicht, wohl meist unmöglich, in dem viel verzweigten Schichtenbau der menschlichen Persönlichkeit die einzelnen Wesenszüge einem bestimmten Ahnen als dem Erblasser zuzuweisen. In meinem Falle haben – wie ich glaube – die erbmäßigen Kräfte des mütterlichen Blutes einen stärkeren Einschlag in mir zurückgelassen als die des väterlichen. Schon äußerlich in dem unrobusten Gliederbau, dem eine gewisse Leichtigkeit der Bewegungen entspricht, noch mehr wohl in den seelischen Anlagen.“52
Auch habe das großmütterliche Beispiel einer harmonischen Persönlichkeit mit ihrer reifen Geschlossenheit und ihrem kraftvollen Denken und Tun auf ihn nachhaltig gewirkt, was er dankbaren Herzens anerkenne, schreibt Ernst Keßler.
Ernst Keßler bringt auch die eine oder andere ihm selbst weniger liebe Eigenschaft zur Sprache, zu der er sich aber freimütig bekennt. So schreibt er am 25.12.1960, als er 76 Jahre alt wird, in dem Abschnitt Aus dem Tagebuch, es habe ihn lange, über Kindheit und Jugendzeit hinaus, eine tiefe Schüchternheit gehemmt. Er fährt fort:
„Bei meiner ernsten Veranlagung fiel es mir schwer, witzig zu sein, ganz anders als mein einziger Bruder Karl. Meine Bücher, mein Studium gaben mir eine gewisse Geborgenheit. Doch litt ich lange unter dem Angstgefühl durch die Frage: Was werden andere von mir halten, wenn ich etwa nicht so gut gekleidet wäre wie sie; wenn ich weniger leiste?“53
Schließlich habe ihn, wie er glaube, die Aussicht auf seinen Beruf geheilt, nach bestandenem Examen im Lehramt am Wohl und Wehe seiner Mitmenschen mit ganzem Herzen teilzunehmen.
Wurden zuletzt Ernst Keßlers Veranlagungen, Körperbau und seine Persönlichkeit erwähnt, so geht es nun darum, dass er eine einschneidende Erfahrung (jenes im Abschnitt „(2.4.2) Traumatisches Erlebnis“ ausführlich besprochene „Glockenseil“-Erlebnis) auf den Punkt bringt, indem er über Demütigung und Enttäuschung und deren Notwendigkeit für eine innere Entwicklung nachdenkt:
„Alle Wendepunkte meines Lebens knüpfen sich, wenn ich zurückschaue, an eine herbe Erfahrung. Jedesmal habe ich anfänglich über sie gemurrt, jedoch hinterher eingesehen, wie unangebracht diese Auflehnung war.“ Er fährt fort: „Der Mensch bedarf zur inneren Entwicklung, will er im Guten fortschreiten, der Demütigung und Enttäuschung, der Prüfungen und Anfechtungen.“54
Es sei wie bei einer Gebirgstour: man stoße sich das Schienbein blutig wider kantige Zacken, oder Hände und Arme schmerzhaft an wilden Schroffen und Schrunden, arbeite sich durch, bis die reine Höhe mit der ersehnten Aussicht erklommen sei.
Den Dingen auf den Grund zu gehen, die Welt zu erforschen, das trieb Ernst Keßler schon recht frühzeitig ins Weite. So gibt er von einem Erlebnis aus früher Kindheit folgende Anekdote zum Besten:
„Unser Städtchen (Niederheide, Anm. d. Verf.) hatte noch keine Kanalisation. Vor der Häuserzeile lief das Wasser über den Rinnstein in sanfter Neigung die Straße hinab. Schon früh wollte ich durchaus wissen, wohin das Geriesel fortwandere.“