Der Straßenmörder - Daniel Himmelberger - E-Book

Der Straßenmörder E-Book

Daniel Himmelberger

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

"Der Straßenmörder" spielt in Hamburg. Die Tatwaffe ist in dieser spannenden Geschichte weder Messer noch Pistole, sondern das Auto. Die beiden Kommissare Lerch und Christiansen tappen lange im Dunkeln, Gemeinsam kommen sie dem Straßenmörder zwar auf die Spur, es gelingt ihnen aber nicht, ihn zu fassen. Bis am Schluss eine unerwartete Wende eintrifft ...

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Seitenzahl: 181

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Daniel Himmelberger

Der Straßenmörder

Kriminalroman

© 2023 Daniel Himmelberger – Neuauflage

Originalausgabe: Hans Erpf Verlag, 1993

2. Auflage: Pendragon Verlag, 2009

Foto: David Torres Guzmán

Lektorat: Kathrin Ackermann, Berlin

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

www.tredition.de

ISBN

Softcover: 978-3-347-47174-0

Hardcover: 978-3-347-47177-1

E-Book: 978-3-347-47182-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Der Straßenmörder spielt in Hamburg. Die Tatwaffe ist in dieser spannenden Geschichte weder Messer noch Pistole, sondern stets das Auto. Die beiden Kommissare Lerch und Christiansen tappen lange im Dunkeln. Gemeinsam kommen sie dem Straßenmörder zwar auf die Spur, es gelingt ihnen aber nicht, ihn zu fassen. Bis zum Schluss eine unerwartete Wende eintrifft …

Daniel Himmelberger lebt als Autor und Musiker in Bern. Er veröffentlichte den Gesellschaftsroman „Kaspar – Café des Pyrénées“, den Kriminalroman „Der Straßenmörder“, den Gedichtband „Sprache Sprach Gespräch“ und zusammen mit Saro Marretta „Die letzte Reise nach Palermo“, „Der Tod kennt keine Grenzen“, „Spurensuche“ und „Die Leiche im Schnee – 46 Kurzgeschichten“.

Als Musiker: „Piano solo“, „ALPHA Latino Live“, „Blues and Ballads“ und „Destiny of Time“ mit der Band „Downtown“.

www.daniel-himmelberger.com

Für David

1

Kommissar Lerch saß an seinem von Akten überhäuften Schreibtisch in der siebten Etage des Kriminalkommissariats und versuchte nachzudenken. Es waren nun bereits fünf Jahre vergangen, seitdem er vom 1. Polizeiassistenten zum Kommissar befördert worden war, und er erinnerte sich noch deutlich, wie sehr er sich damals über die Beförderung gefreut hatte. Heute war er sich da nicht mehr so sicher. Die meisten Verbrechen verschwanden ungelöst in den Akten, es waren weniger als ein Drittel der schweren Fälle, die er und seine Mitarbeiter in den letzten Jahren aufklären konnten. Ganz zu schweigen von den unzähligen Verbrechen, von denen die Polizei nie etwas erfahren würde, weil es dafür keine Zeugen und keine Indizien gab. Das trübe Hamburger Wetter trug das Seine dazu bei, dass Lerch an diesem Morgen besonders mürrisch gelaunt war, ein Hundewetter, das nun bereits seit über zwei Monaten beharrlich anhielt und sich offenbar den ganzen Sommer über nicht mehr verziehen wollte. Heute gingen seine beiden Kinder zum letzten Mal vor der großen Sommerpause zur Schule, am Nachmittag fuhren viele Familien bereits los in den warmen Süden, um dort wenigstens zwei oder drei sonnensichere Urlaubswochen zu verbringen. Dass Hamburg zu den feuchtesten Pflastern Europas gehörte, wusste schließlich jeder, dass es aber hier auch im Sommer nicht mehr trocknen wollte, ging selbst einem waschechten Hamburger wie Kommissar Lerch nicht in den Kopf.

„Das wird ja von Jahr zu Jahr schlimmer!“, stöhnte er frustriert und dachte ernsthaft einen Augenblick daran auszuwandern. Solche schwachen Momente hatte er allerdings nur, wenn er nicht mehr über seine Akten- und Problemberge hinaussah und den ganzen Bürokram am liebsten hingeschmissen hätte.

Der Gedanke an seine Familie brachte ihn rasch wieder zur Besinnung, denn er liebte seine Frau Ruth und die beiden Kinder David und Sarah über alles. Für sie würde er alles tun, und dank ihnen fand er immer wieder die nötige Kraft, im Beruf weiterzumachen, auch wenn es sicher einfachere Jobs gab als den seinen.

„Was soll’s!“, sagte sich der Kommissar zum hundertsten Mal in seiner nicht unbedingt ersprießlichen Polizeilaufbahn. Die Hoffnung auf eine friedfertige Welt hatte er ohnehin schon lange aufgegeben, spätestens, seit die Polizei ihr Hauptaugenmerk darauf lenkte, unzufriedene Demonstranten und Randalierer zu verfolgen und in Schach zu halten, anstatt ihre ganze Kraft und ihr ganzes Geschick für die Aufklärung wirklicher Verbrechen einzusetzen.

Am meisten gab dem Kommissar die beängstigende Zunahme aggressiver Polizeieinsätze zu denken. Es kam in letzter Zeit öfters vor, dass vor allem jüngere Polizisten in ihrem Pflichteifer übertrieben und unbescholtene Bürger aus den wirrsten Verdachtsmomenten heraus festnahmen und wie Verbrecher behandelten. Solche Vorkommnisse schadeten dem Ansehen der Polizei beträchtlich, die als Freund und Helfer dem Bürger nahestehen und ihn nicht verunsichern und beunruhigen sollte.

Vor allem bei den jungen Leuten gab es viele, die nichts mehr mit der Polizei im Sinn hatten, weil sie bei Demonstrationen oder Kontrollen schlechte Erfahrungen gemacht hatten.

Das wog bei der Aufklärung wirklicher Verbrechen besonders schwer. Er wusste, dass er auf die Hilfe vieler Menschen verzichten musste. Entweder war es ihnen egal, was geschah, oder es fehlte ihnen an der notwendigen Sympathie, um die Polizei anzurufen und dieser ihre Beobachtungen mitzuteilen.

– Ferien, dachte der Kommissar, schöne warme Ferien! Die hatte er jetzt dringend nötig, und es war ja bereits im Frühling so geplant gewesen, dass sie heute wie viele andere Familien in die Ferien fahren wollten.

Dann war vorletzte Woche unerwartet etwas Schlimmes passiert: Einer seiner älteren Kollegen, Kommissar Christiansen, hatte einen Herzinfarkt erlitten und musste notfallmäßig ins Krankenhaus eingeliefert werden. Er hatte es überlebt, aber niemand wusste, wann und ob Christiansen jemals wieder einsatzfähig sein würde.

Für Lerch bedeutete das ein jähes Ende seiner Urlaubsträume. Es war für alle in der Abteilung selbstverständlich, dass er einspringen musste. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich neben seinen Akten nun auch noch diejenigen von Christiansen in die Höhe.

Christiansen war ein guter Mann gewesen. Dank ihm konnten etliche schwierige Fälle erfolgreich abgeschlossen werden. Deshalb war er auch mit Aufträgen überschüttet worden, und all das sollte nun Kommissar Lerch weiterverfolgen. – Und wer würde ihm dabei helfen? Bei der Mordkommission gab es nur noch wenige tüchtige Leute. Die meisten arbeiteten für die Statistik, und oft war es ihnen mehr als recht, wenn sie einen Fall ad acta legen konnten, ohne ihn aufgeklärt zu haben. Viele Verbrechen blieben ohnehin unaufgeklärt, und jeder Fall, der vollständig und lückenlos aufgedeckt werden konnte, gehörte zu den Glücksfällen in der Polizeiarbeit. Um einen solchen Glückstreffer zu landen, benötigte man eine gewaltige Portion Energie, Geduld, Gespür und vor allem Glück.

Doch das Glück ließ oft auf sich warten, oder man bekam es gar nie zu Gesicht. Deshalb schoben die meisten Kriminalbeamten eine ruhige Kugel und verbrachten ihre Arbeitszeit mit Vorliebe am Schreibtisch oder beim Kaffeeautomaten.

Mit Christiansen hatte Kommissar Lerch den einzigen Kollegen verloren, mit dem er zuverlässig zusammenarbeiten konnte. Christiansen besaß ein Gedächtnis wie ein Computer und konnte sich an fast alle wesentlichen Daten erinnern. Das war für Lerch von unschätzbarem Wert gewesen, zumal er selbst eine fast unschlagbare Kombinationsfähigkeit aufwies, dank der er bereits mehrmals eine wichtige Spur gefunden hatte. Doch ohne Christiansen schien ihm ein erfolgreiches Weiterarbeiten beinahe unmöglich. Wo sollte er die nötigen Fakten und Hinweise hernehmen? Die Daten aus dem Computer konnte er von vornherein vergessen, weil die Fachidioten, die ihn pflegten, keine Polizisten waren, sondern zu einem Software-Laden gehörten. Die speisten nur das ein, was die Kommissare ihnen schriftlich reinreichten, und das brauchten sie dann weiß Gott nicht wieder auf den Bildschirm zu holen, wenn sie es bereits in ihren Akten hatten.

Missmutig schaute Kommissar Lerch zum Fenster hinaus. Er mochte an diesem Morgen gar nicht mit der monotonen Schreibarbeit beginnen und griff deshalb gedankenverloren nach der Zeitung.

2

Holms saß in seinem Wagen, einem alten, mächtigen Ford-Mustang, und beobachtete die Straße. Sein Gesicht war angespannt, hastig rauchte er eine Zigarette nach der anderen, die Lichter des Wagens hatte er ausgeschaltet, damit niemand auf ihn aufmerksam wurde.

Jetzt drückte Holms die letzte Zigarette in dem Aschenbecher aus und kontrollierte anschließend, ob alle Fenster und Türen fest verschlossen waren. Dann nahm er vom Rücksitz zwei Lederhandschuhe und streifte sie sorgfältig über die Hände. Übers Gesicht zog er eine Strumpfmaske, die nur noch seine blauen Augen und die spitze Nase freiließ.

Holms war sicher, dass ihn so niemand erkennen konnte. Das einzige Risiko, das er einging, war der Moment, in dem er hier im Dunkeln wartete und sich vermummte. Deshalb schaute er sich noch einmal gründlich um, ob ihn jemand beobachtete. Er sah niemanden, alles war still, an der Straße entlang standen die geparkten Autos, nichts regte sich.

Holms wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Seine kalten Augen beobachteten angespannt die Kreuzung, die vollkommen im Dunkeln lag, weil eine der Straßenlampen in der Nähe defekt war.

Auf einmal sah Holms die Silhouette eines alten Mannes bei der Kreuzung auftauchen. Blitzschnell startete er den Wagen und fuhr die Straße hinab.

Der Weg bis zur Kreuzung war nicht weit, höchstens 80 Meter. Holms benötigte dafür bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 45 km/h nicht länger als 6,4 Sekunden.

Er wusste, dass der alte Mann, der soeben in die Straße einbog, mindestens doppelt so lange brauchte, um sie zu überqueren.

Holms hatte vorher alles bis ins Detail geplant und berechnet. Er war überzeugt, dass es funktionieren würde, sogar dann, wenn er nicht ganz so schnell reagieren sollte. Er hatte diese Situation hundertfach durchgespielt. Der einzige Risikofaktor schien beim Wagen zu liegen. Der alte Ford war bisher zwar immer zuverlässig gewesen, doch bald würde er ihn gegen ein neueres Modell eintauschen müssen, das noch keine Mängel aufwies.

Trotz der Sicherheit und der Gewissheit, dass alles perfekt laufen würde, drückte Holms kräftiger aufs Gaspedal, als er sich vorgenommen hatte.

Der alte Mann hatte gerade die Straßenmitte erreicht, als Holms ihn mit über 70 km/h erfasste und überrollte. Ein Blick in den Rückspiegel genügte Holms, um sich zu vergewissern, dass der Mann tot war.

So oder so wusste Holms, dass er nicht anhalten durfte. Ruhig bog er bei der nächsten Kreuzung ab und fuhr in die andere Richtung davon.

Erst jetzt streifte sich Holms während der Fahrt Maske und Handschuhe ab. Dann schaute er auf die Digitaluhr am linken Handgelenk. Es war genau 23: 47 Uhr. Um Mitternacht würde er bereits zu Hause sein und schlafen gehen.

3

In der Hamburger Morgenpost stand wie gewöhnlich nichts Besonderes.

Ein weiterer Chemieunfall, einige Tote bei einem Putschversuch in Südamerika, ein groß aufgemachter Bericht über den deutschen Flieger, der in Moskau auf dem Roten Platz gelandet war und deshalb von den Medien wie ein Nationalheld gefeiert wurde, und eine lange Liste von Verbrechen und Unfällen, die sich gestern oder vorgestern in Hamburg ereignet hatten.

Beim Wetterbericht zuckte Kommissar Lerch zusammen: „Neues Azorentief löst Zwischenhoch über Norddeutschland ab“, las er und fragte sich wieder einmal, ob er nicht doch auswandern sollte, zumal die graue Soße, die er auf der anderen Seite der Fensterscheibe sah, in der Zeitung auch noch als Zwischenhoch bezeichnet wurde.

Plötzlich fiel ihm auf der drittletzten Seite der Zeitung ein unscheinbarer Artikel mit folgendem Inhalt auf:

Betagter Fußgänger tödlich verletzt

pid. Ein 67-jähriger Fußgänger ist im Stadtteil St. Pauli den schweren Verletzungen erlegen, die er bei einer Kollision mit einem Personenwagen erlitten hatte. Der Unfall ereignete sich am Freitagabend zwischen 23: 30 und 23: 50 Uhr an der Kreuzung Balduinstraße-Friedrichstraße. Der alte Mann bog von der Balduinstraße in die Friedrichstraße ein, als er von einem Auto erfasst und dabei tödlich verletzt wurde. Der Autofahrer beging Fahrerflucht. Die Polizei bittet Zeugen, die den Unfall gesehen haben, sich mit ihr in Verbindung zu setzen.

Telefon: 0049/681141113

Das war doch die Nummer von Christiansen, dachte Kommissar Lerch. Eine Nummer, die er von seinen täglichen Gesprächen mit ihm auswendig wusste, im Gegensatz zu all den vielen Notrufnummern bei der Polizei, die er noch heute – nach über 20-jährigem Dienst – im Verzeichnis nachschlagen musste.

Es war typisch für den überdimensionierten Polizeiapparat, dass keiner merkte, dass Christiansen bereits seit über zwei Wochen fehlte. Das konnte nur geschehen, weil ein Schwachkopf von einem Beamten diese Mitteilung veröffentlicht hatte, ohne vorher bei der Abteilung nachzufragen.

Und es war erschreckend, wie anonym und gleichgültig der Polizeiapparat funktionierte und dabei immer dümmere Fehler unterliefen. Die Arbeitsteilung hatte ihre Tücken, und wenn dann keiner mehr mit dem anderen zusammenarbeiten wollte, musste es früher oder später zu größeren Pannen kommen. Dass Kommissar Lerch erst durch die Zeitung von diesem Fall erfahren musste, empörte ihn schon ein wenig.

Zumindest hätten die von der Spurensicherung nachfragen müssen und nicht automatisch damit rechnen dürfen, dass Christiansen den Fall übernehmen würde. Aber es gab halt immer solche Idioten, die blind ihre Arbeit ausführten und nicht bemerkten, dass der wichtigste Mann fehlte.

„So ’n Mist …“, seufzte Kommissar Lerch deprimiert und sein Gesicht verdüsterte sich sichtbar bei dem Gedanken, dass es ihm genauso ergehen könnte wie Christiansen.

– Bei mir würde es wohl auch keiner merken, dachte er bitter und überlegte, wer jetzt wohl auf den Platz von Christiansen in die Abteilung befördert werden könnte.

– Entweder Stoltenberg oder Hansen, dachte er spontan, und ein leichtes Grinsen überzog sein Gesicht. Die beiden arbeiteten seit Kurzem als 1. Polizeiassistenten und erwiesen sich bei der Arbeit als völlig unfähig. Kommissar Lerch konnte sich gut vorstellen, dass dem Chef nichts anderes übrigblieb, als die beiden möglichst bald zu versetzen – oder aber bei einer günstigen Gelegenheit in den Bürodienst zu befördern. Im Büro konnte der Schaden, den die beiden mit ihrem blödsinnigen Verhalten anrichteten, bei Weitem nicht so gravierend ausfallen wie draußen bei der Fahndung.

Kommissar Lerch verwarf den Gedanken mit einem Schauder. Nein, auf keinen Fall, er konnte sich nicht im Traum vorstellen, mit den beiden Polizeibeamten zusammenzuarbeiten. Hansen arbeitete schon katastrophal genug, er erschien dem Kommissar aber noch als das kleinere Übel, Stoltenberg jedoch in der Abteilung zu haben, das überstieg Lerchs Vorstellungskraft bei Weitem. Das war nicht auszudenken, dann konnte man den Laden gleich schließen! Kürzlich, als ihn Stoltenberg wieder einmal rasend gemacht hatte, schleppte dieser gerade genüsslich einen völlig harmlosen Junkie von der Straße ab, anstatt, wie beauftragt, Karsten, den lange gesuchten Heroinprinzen zu überwachen, den sie nun endlich schnappen wollten.

Als Stoltenberg eine Erklärung abgeben musste, wusste dieser nichts Besseres zu berichten, als dass er um 9: 30 Uhr schon immer seine Pause gehabt hätte und deshalb in die Bäckerei gegenüber gegangen sei, um einen Plunder zu kaufen. Als er den Laden zwei Minuten später verlassen habe, sei der Mann, den er beschatten sollte, auf einmal weg gewesen.

Die Erklärung Stoltenbergs verschlug allen die Sprache.

Dass Stoltenberg einer Bäckerei nicht widerstehen konnte und beim Naschen den berüchtigten Prinzen aus den Augen verlor, besagte einiges über den Ausbildungsstand der Kriminalpolizisten. Dafür brachte Stoltenberg freudestrahlend den kaputten Junkie ins Präsidium, der kopfschüttelnd und verängstigt auf seinem Stuhl verharrte, bis man ihn wieder wegschickte.

Kommissar Lerch war stinkwütend und schlug vor, Stoltenberg zu entlassen. Doch der Chef wollte nichts davon wissen, denn die Polizei hatte nach wie vor zu wenig Leute, und außerdem wies Stoltenberg einen tadellosen Ruf auf, auch wenn sein IQ zu wünschen übrigließ. Doch das schien nicht so wichtig zu sein, denn Stoltenbergs IQ genügte immer noch vollauf, um bei der Polizei weiterzukommen.

Kommissar Lerch fürchtete sich am meisten vor dem Tag, an dem Stoltenberg oder Hansen, wer weiß, vielleicht sogar beide zusammen, ihre faulen Ärsche hier oben im siebten Stock des Präsidiums niederlassen würden, ein Albtraum, der ihn von Zeit zu Zeit verfolgte, ohne dass er wirklich Grund dazu hatte. – Oder etwa doch? – Wenn Hansen oder Stoltenberg hier einziehen sollten, wäre es endgültig mit dem letzten Rest Berufsethos vorbei, dessen sich die Kriminalpolizei immer noch rühmte, obwohl die meisten Verbrechen unaufgeklärt blieben. Kommissar Lerch konnte sich nicht vorstellen, dass die beiden einen Fall logisch aufrollen, geschweige denn lösen konnten.

Gegenwärtig blieb der Stuhl von Christiansen noch unbesetzt, und vielleicht erholte er sich unerwartet gut von seinem Herzinfarkt, so dass er bald wieder ins Präsidium zurückkehren konnte.

– Oder seine Stelle würde einfach wegrationalisiert!

Davon hörte man in letzter Zeit immer häufiger, dass freie Stellen gar nicht mehr besetzt wurden. Die Stelle wurde einfach gestrichen. Aus. Weg damit! Kommissar Lerch hatte Mühe mit der Vorstellung, vielleicht selbst eine Arbeit zu verrichten, die eines Tages wegrationalisiert werden konnte. Eine Arbeit, die es jetzt zwar noch gab und sogar einen gewissen Stellenwert besaß, unter Umständen aber genauso gut aufgegeben und weggelassen werden konnte. Eine sinnlose Beschäftigung, an die sich später niemand mehr zurückerinnern mochte.

Lerchs Blick streifte erneut die kurze Mitteilung über den Verkehrsunfall. Solche Unfälle häuften sich in letzter Zeit besorgniserregend, und die Tatsache, dass die Autofahrer in vielen Fällen auch noch Fahrerflucht begingen, schien zu einem fast unlösbaren Problem heranzuwachsen. Früher meldete sich beinahe jeder, der einen Unfall verursachte. Es gab dafür meistens auch genügend Zeugen. Aber das Verhalten der Autofahrer hatte sich mehr und mehr verändert, so dass viele Unfälle unaufgeklärt blieben und die Polizei ratlos im Dunkeln tappte.

Dazu gehörte auch dieser Fall. Niemand wollte etwas gehört oder gesehen haben, es gab keine Zeugen und keine Passanten, die während der fraglichen Zeit an der Kreuzung vorbeigegangen waren.

Die Anrufe, die bei der Polizei eingingen, waren alle unbrauchbar und ergaben keinen Sinn.

Eine Frau berichtete, sie sei um 23: 30 Uhr von der Balduinstraße in die Friedrichstraße eingebogen und hätte nichts Auffälliges bemerkt. Eine Gruppe von Billardspielern wollte ebenfalls um 23: 30 Uhr in die Straße eingebogen sein. Diese Männer hatten auch nichts gehört und gesehen. Wie sollte man da zu einer Spur kommen!

Der Kommissar seufzte leise und legte die Zeitung beiseite. Wenn nicht ein Wunder geschah, musste er auch diesen Fall wie viele andere zu den Akten legen, wo er im Archiv bald verstaubt und vergessen sein durfte.

4

Um 6 Uhr morgens erwachte Holms, stand auf und begab sich ins Bad. Dort verrichtete er seine Morgentoilette und rasierte sich sehr sorgfältig, bevor er in die Küche ging, um Wasser aufzusetzen. Der Kaffee schmeckte bitter wie jeden Morgen, aber Holms machte sich nichts daraus.

Es war genau 6: 30 Uhr, als er die Wohnung verließ und draußen in den Wagen stieg. Der Weg zur Fabrik dauerte 20 Minuten.

Punkt 7 Uhr begann er seine Schicht in der Stahlfabrik.

Holms war Vorarbeiter und hatte 15 Männer unter sich. Die Schicht dauerte acht Stunden, dazwischen machten sie 45 Minuten Mittagspause. Die meisten Männer aßen wie Holms in der Kantine. In kleinen Gruppen an langen Tischen verzehrten sie still ihr Essen. Neben Holms setzte sich kaum einer. Holms galt als eigensinnig und verschlossen. Dass er trotzdem zum Vorarbeiter befördert worden war, verdankte er seiner Zuverlässigkeit und seiner Tüchtigkeit. Außerdem fehlte er nie und arbeitete seit über zehn Jahren im Werk.

Es gab nur ein paar wenige Arbeiter, die hier länger blieben. Viele kamen nur für eine Saison, weil sie nichts Besseres fanden und unbedingt Geld brauchten. Auf die Dauer wurde die schwere Arbeit in der Stahlfabrik den Männern aber zu hart, und sie suchten sich eine leichtere. Holms kannte nur wenige Männer, die bereits hier gearbeitet hatten, als er in der Fabrik begonnen hatte, und bis heute geblieben waren. Zuerst dachte auch er, dass er nur für kurze Zeit hier sein würde. Doch dann geschah etwas, das sein Leben von Grund auf veränderte. Seit damals waren gut elf Jahre vergangen, und Holms war zu einem unauffälligen, stillen und eigenartigen Menschen geworden, den man viel allein sah und der mit der Zeit fast keine Freunde mehr hatte. Er mied sogar oberflächliche Bekanntschaften und nahm weder an Betriebsfesten noch an Ausflügen der Belegschaft teil.

Sein Gesicht wurde immer stumpfer und leerer, und er stand oft regungslos daneben, wenn seine Arbeiter eine Besprechung abhielten. Nur die stechenden, blauen, klaren Augen verrieten, dass es in Holms arbeitete und dass er mit seinem Leben noch nicht abgeschlossen hatte.

Es war noch keine 16 Uhr, als Holms und seine Männer Feierabend hatten. Einige der Arbeiter gingen noch zusammen in die Kneipe, Holms stieg in seinen Ford-Mustang und fuhr zielstrebig Richtung Altona. Am Bahnhofsplatz stellte er seinen Wagen unauffällig in eine Parklücke und wartete. Holms schaute auf die Uhr. Sie zeigte 16: 40 Uhr an. Äußerst konzentriert beobachtete er jetzt den Hauptausgang des Bahnhofs. Nichts geschah. Holms blieb ganz ruhig. Auf einmal zuckte er zusammen, denn er erblickte den Mann, auf den er gewartet hatte. Es war ein gut gekleideter Herr in den Fünfzigern, mit Aktentasche und Hut, der in großer Eile zu sein schien. Holms notierte rasch auf einen Zettel die Zeit und die Straße, in die der Mann einbog. Dann sah er ihn mit einem neuen Mercedes in Richtung Elbchaussee fahren. Holms konnte sich gerade noch die Autonummer notieren, bevor er den Wagen aus dem Sichtfeld verlor. Zufrieden fuhr er nach Hause. Er war überzeugt, dass er den richtigen Mann verfolgte. Seine Fäden begannen sich zu einem gefährlichen Netz zu verdichten, in dem sich das Opfer bald verfangen sollte.

5

Das Telefon klingelte. Es war ein Anruf für Christiansen, der zu Kommissar Lerch durchgestellt wurde.

„Ist da Kommissar Christiansen?“

„Nein, hier ist Kommissar Lerch.“

„Ach so, ich dachte, das sei die Nummer von Christiansen.“

„Ist sie auch, sagen Sie mir, was es gibt?“

Kommissar Lerch wurde allmählich ungehalten. Die Idioten von der Streife wussten aber auch gar nichts. Außerdem musste man ihnen dauernd alles erklären.

„Nun machen Sie schon!“, forderte er den Polizisten auf. „Ich bin für Christiansens Anrufe zuständig.“

„Ach so, wenn das so ist, dann kann ich Ihnen ja alles erzählen: Heute Morgen, um 6: 45 Uhr, wurde am Rulantweg in der Nähe der Elbchaussee ein Jurist überfahren, 51-jährig, Name: Ernst Glaus, verheiratet, zwei Kinder. Das Opfer wollte gerade die Straße überqueren, um in seinen Wagen einzusteigen, als ein unbekannter Autofahrer es mit hoher Geschwindigkeit frontal erfasste und überrollte. Das sagen die von der Spurensicherung.“

„Was ist mit dem Täter?“

„Ach ja, das hätte ich fast vergessen, der hat Fahrerflucht begangen. Bisher haben wir keine Zeugen gefunden, es fehlt jede Spur.“

„Vielen Dank, halten Sie mich auf dem Laufenden“, sagte Kommissar Lerch verärgert und legte den Hörer auf.

Das war nun innerhalb von fünf Tagen der zweite Verkehrsunfall, der tödlich geendet war. Das konnte zwar reiner Zufall sein, eine Anhäufung unglücklicher Umstände, die dazu geführt hatten. Aber der Kommissar hatte trotzdem ein mulmiges Gefühl: die Fahrerflucht, die überhöhte Geschwindigkeit, das Fehlen jeglicher Spur – Da stimmt doch etwas nicht, dachte er. Oder war dabei etwa Absicht im Spiel? Oder noch schlimmer: Mord?