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"Spurensuche" ist der dritte Kriminalroman des Autorenduos Daniel Himmelberger und Saro Marretta. Wiederum ermitteln die Berner Kommissarin Katharina Tanner und ihr neapolitanischer Assistent Beppe Volpe in einem kniffligen Fall mit schweizerischer Gründlichkeit und südländischem Flair.
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Seitenzahl: 152
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Daniel Himmelberger& Saro Marretta
Spurensuche
Kriminalroman
Erstausgabe
© 2021 Daniel Himmelberger & Saro Marretta
Lektorat, Korrektorat: Margrit Dietschi
Foto: Daniel Himmelberger
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-22276-2
Hardcover:
978-3-347-22277-9
e-Book:
978-3-347-22278-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autoren unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
ÜBER DIE AUTOREN
Daniel Himmelberger lebt als Autor und Musiker in Bern. Er veröffentlichte u.a. die Kriminalromane «Der Straßenmörder» und zusammen mit Saro Marretta «Die letzte Reise nach Palermo». CDs als Musiker: Zuletzt «Blues and Ballads» und «Destiny of Time» mit der Band «Downtown».
www.daniel-himmelberger.com
Saro Marretta wurde in Sizilien geboren und lebt ebenfalls in Bern. Er schrieb den Bestseller «Das Spaghettibuch», Kurzkrimis und Romane. Weitere Veröffentlichungen: «Agli». «Pronto commissario?» «La commissaria». «Piccoli italiani in Svizzera» und zusammen mit Daniel Himmelberger «Der Tod kennt keine Grenzen».
www.saromarretta.com
Eine Nacht steht zwischen zwei Tagenund nicht ein Tag zwischen zwei Nächten.
Aus Lauras Tagebuch.
1
«Laura, wohin gehst du?», fragte die Mutter.
«Ins Training wie immer, das weißt du doch.»
Die beiden Zahnspangen dämpften den frechen Ton ein wenig.
Anna schaute ihre Tochter besorgt an. – Wie schnell die Zeit doch verging. Jetzt war Laura schon ein richtiger Teenager, mit all den Problemen, die dazu gehören.
«Aber pass bitte auf, es wird schon dunkel. Und zieh die wärmere Jacke an. Es ist doch schon November.»
Laura verdrehte die Augen. Immer diese Bevormundung.
«Jetzt muss ich aber los, sonst komme ich zu spät», schnauzte Laura, kontrollierte ihr Handy, verließ das Haus, schwang sich auf ihr Fahrrad und fuhr los.
Anna Rossi trat vor die Tür und schaute ihrer dreizehnjährigen Tochter nach. Sie sah ihre langen Haare im Winde wehen, also hatte sie bei dieser Kälte nicht einmal die Kapuze hochgezogen. Anna Rossi war verärgert und hilflos. Wo führte das noch hin? Laura ließ sich gar nichts mehr sagen.
Seit einem Jahr besuchte Laura zweimal pro Woche das Geräteturnen im Neufeld. Von ihrer Wohnung im Weyermannshaus Quartier im Westen von Bern fuhr sie zehn Minuten durch den Bremgartenwald ins Länggasse Quartier zu den Unisporthallen. Pünktlich um zwanzig Uhr begann dort das Training.
Laura machte zuerst ein paar Dehnübungen und einen Spagat. Diesen konnte sie recht gut. Flüchtig sah sie das schmale Gesicht und die Kraushaare eines Mannes, der ihr von der Tribüne aus zuschaute. Sie machte sich nichts daraus. Denn es war normal, dass die Zuschauer die jungen Turnerinnen während des Trainings beobachteten. Nach dem Einturnen ging sie ans Reck. Elegant und kraftvoll baute sie die Energie auf für einen Aufschwung mit anschließender Drehung und eine anspruchsvolle Pirouette zum Abschluss. Diese Übung lag ihr besonders gut, weil sie für ihr Alter eher klein war.
Nach dem Training verließ sie die Halle, duschte und machte sich etwa um einundzwanzig Uhr dreißig auf den Heimweg. Im Bremgartenwald war es wirklich unheimlich, so dunkel und einsam. Nur der Fahrweg wurde vom kalten Mondlicht erhellt. Hatte sich nicht dort hinter dem Busch etwas bewegt? Da war sicher ein Schatten!
Laura trat noch kräftiger in die Pedale.
«Ich bin kein kleines Kind mehr», sagte sie trotzig zu sich selbst. «Den bösen Wolf gibt es nur im Märchen und ich bin kein Rotkäppchen.»
2
Beppe Volpe saß im Büro des Polizeikommissariats am Waisenhausplatz in Bern und studierte eifrig einen Zeitungsartikel aus Neapel, den ihm seine Mutter geschickt hatte. Darin war die Anzahl der Verbrechen nach Sternzeichen aufgelistet. Laut der Studie gab es unter den vom einundzwanzigsten März bis zwanzigsten April Geborenen zweihundertdrei Kriminelle, die dem Sternzeichen Widder angehörten. Beppe suchte nun sein Sternzeichen. Er hatte am fünfundzwanzigsten November Geburtstag. Als er die Zahlen las, strahlte er und rief triumphierend: «Ich bin ein Schütze, in meinem Sternzeichen gibt es nur hundertvierzig Kriminelle.»
Vor zwei Jahren war er in Neapel nahe dran, den Chef der Banda del Buco auf frischer Tat zu verhaften. Bevor er ihn jedoch festnehmen konnte, wurde er von der italienischen Regierung im Rahmen eines EU-Förderprogrammes in die Schweiz nach Bern versetzt, wo er seine Kompetenzen erweitern sollte.
Die Tür ging auf und Katharina Tanner, seine Vorgesetzte, trat ein. «Was gibt es hier zu lachen», sagte sie forsch und schaute ihn streng an.
Beppe wurde ganz verlegen und antwortete kleinlaut: «Bei Ihnen sind es hundertsechsundsechzig.»
Sie schaute ihn verständnislos an. «Was meinst du damit? Spielst du neuerdings Lotto während der Arbeitszeit?»
«Nein, Frau Kommissarin, das ist die neuste Verbrecherstatistik aus Neapel, aufgeteilt nach Monaten und Sternzeichen. Und bei Ihrem Sternzeichen sind es immerhin hundertsechsundsechzig Verbrecher.»
«Das ist reine Zeitverschwendung. Die Schlauen erscheinen sowieso nicht in einer solchen Statistik. Die lassen sich nämlich gar nicht erwischen.»
Er schaute seine Chefin verdutzt an: «Keine Angst, Frau Kommissarin, Sie haben ganz bestimmt das beste Sternzeichen von allen.»
Beppe las ihr ein paar Zeilen aus ihrem Horoskop vor. Sie gehörte zu den Steinböcken. Ihr Geburtsdatum war der vierzehnte Januar.
«Steinböcke sind sehr ehrgeizig. Sie wollen nach oben, bis an die Spitze. Erfolg ist sehr wichtig für sie.»
3
Anna Rossi wurde ungeduldig, nachdem sie eine Viertelstunde vergebens auf Laura gewartet hatte. Gewöhnlich war sie um zweiundzwanzig Uhr zurück, ging zum Kühlschrank und trank zwei Gläser Milch.
Die Mutter nahm ihr Handy hervor und versuchte ihre Tochter anzurufen. Sie antwortete nicht. Nun schrieb sie ihr eine SMS. Wieder keine Antwort.
Jetzt wählte sie die Nummer von Alessia, einer Trainingskameradin. Gottlob, sie war da!
Alessia bestätigte, dass Laura an diesem Abend im Training gewesen sei und um neun Uhr dreißig die Unisporthallen wieder verlassen habe.
Dann wandte Anna Rossi sich an ihren Mann, der die Sportnachrichten im Fernsehen verfolgte: «Giuseppe, Laura ist noch nicht da. Sonst kommt sie doch immer pünktlich nach Hause. Ob ihr etwas zugestoßen ist?»
Der Vater erhob sich schwerfällig, setzte die Brille auf und schaute Anna beunruhigt an. «Komm, wir gehen sie suchen!»
Wo waren denn seine Autoschlüssel? In der Garderobe fand er sie nicht und auch nicht in seiner Jackentasche. Schließlich rief Anna Rossi: «Ich habe sie gefunden! Sie lagen auf dem Küchentisch.»
Hastig stiegen sie in ihren Alfa Romeo und fuhren durch die Dunkelheit die gleiche Strecke, die Laura mit dem Fahrrad jeweils zurücklegte. Der Mond warf seinen Schatten gespenstisch über den Weg. Anna und Giuseppe Rossi konzentrierten sich stumm vor Angst auf den Lichtkegel und versuchten etwas Auffälliges zu erkennen. Vom Mädchen fehlte jede Spur.
Um halb elf erreichten sie die Unisporthallen. Alles war dunkel und die Türe bereits verschlossen. Anna und Giuseppe hielten sich verzweifelt an der Hand. Sie konnten sich das Verschwinden ihrer Tochter nicht erklären und wussten nicht mehr weiter. Jetzt mussten sie Lauras Verschwinden der Polizei melden.
4
Beppe Volpe hatte Nachtdienst. Er war gerade dabei ein schwieriges Kreuzworträtsel zu lösen und rief aufgeregt: «Wie heißt denn die Hauptstadt von Peru? – Vier Buchstaben.»
Es war dreiundzwanzig Uhr fünfunddreißig, als das Telefon im Polizeihauptquartier klingelte.
«Wieder einmal keine ruhige Nachtschicht», flüsterte er enttäuscht, als er den Hörer abnahm.
«Lima!», rief er, «wie kann ich Ihnen behilflich sein?»
«Guten Abend Herr Lima», antwortete Anna Rossi. «Wir haben ein Problem. Unsere Tochter Laura, dreizehn Jahre alt, ist heute Abend zum Kunstturnen gegangen und nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Was sollen wir tun?»
«Bitte geben Sie mir Ihre Personalien.»
«Anna und Giuseppe Rossi, Weyermannshaus Straße 23.»
«Wo sind Sie jetzt?»
«Vor den Unisporthallen im Neufeld. Wir sind vorhin den Waldweg entlanggefahren, den Laura immer benutzt, und haben sie nicht gefunden.»
«Bitte warten Sie dort. In zehn Minuten sind wir bei Ihnen. Mein Name ist übrigens Beppe Volpe.»
Es war bereits Mitternacht, als die Polizisten bei den Unisporthallen ankamen. Mit seinem Kollegen Markus Aebersold fühlte sich Beppe sicher, weil dieser als zünftiger Schwinger den Hosenlupf beherrschte und mit seiner mächtigen Statur Eindruck machte. Markus liebte den Schweizer Nationalsport, machte aber nur ab und zu an einem Schwinget mit. Er war mit seiner Größe von einem Meter neunzig und einem Gewicht von hundert zwanzig Kilogramm geradezu prädestiniert dafür und hatte auch schon ein paar Kränze gewonnen.
Anna und Giuseppe erwarteten sie ungeduldig. Beppe stellte sich vor.
«Wir müssen Ihnen nun ein paar Fragen stellen. Beschreiben Sie uns bitte ihre Tochter.»
«Sie ist ein Meter fünfundfünfzig groß, hat braune Augen und trägt Zahnspangen.»
«Hat sie einen Freund?»
Anna verneinte. «Sie hat viele Freundinnen im Training, zum Beispiel Alessia, die ich vor einer Stunde angerufen habe und die bestätigte, dass Laura wie immer durch den Bremgartenwald nach Hause gefahren war.»
Markus sprach mit leiser Stimme, um die Eltern zu beruhigen: «Hatten Sie Streit mit ihr?»
«Nein, die üblichen Probleme mit Teenagern.»
«Wie sind ihre Schulleistungen?»
«Ausgezeichnet, vor allem in Sprachen und Mathematik. Im Sportunterricht ist sie immer Klassenbeste. Sie nahm auch an den schweizerischen Turntagen teil, wo sie eine Silbermedaille im Bodenturnen gewann.»
Beppe nickte anerkennend. «Diese Medaille möchte ich einmal sehen», sagte er beeindruckt. «Ich hätte gerne in einem Velorennen eine Medaille gewonnen. Dass es nicht klappte, muss wohl an meinem Fahrrad gelegen haben.»
Anna Rossi schaute Beppe erstaunt an. «Haben Sie noch Fragen?»
«Erwähnte Ihre Tochter jemanden, der sie belästigte oder verfolgte?»
«Einmal berichtete sie von einem Mann, der sie beim Turnen beobachtete.»
«Hat sie den Mann näher beschrieben?»
Anna dachte nach. «Laura sagte nur, er hätte krauses Haar und ein schmales Gesicht gehabt.»
«Das hilft uns schon weiter.»
«Woher stammen Sie denn?», fragte Giuseppe.
«Erkennen Sie meinen neapolitanischen Dialekt nicht?», erwiderte Beppe und begann leise zu singen: «O’ sole mio … sta 'nfronte a te … O’ sole mio …»
5
In ihrem Büro wartete Beppe ungeduldig auf seine Chefin. Endlich hatte er ihr etwas Spannendes zu berichten. Er nutzte die Zeit, um am Computer den Bericht über die Vermisstmeldung der letzten Nacht zu verfassen. Die Sudoku Spiele mussten diesmal warten.
Punkt acht Uhr betrat Katharina Tanner das Büro. Lächelnd begrüßte sie Beppe. Wie immer war er hingerissen, wenn ihn die Chefin anstrahlte. Roch sie heute nicht nach Parfum Bright Crystal von Versace, welches er ihr zum fünfunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte? Er hatte dafür tief in die Tasche greifen müssen.
«Sie warf ihre blonden, langen Haare schwungvoll nach hinten und fragte: «Gibt es etwas Neues?»
«Ja, Frau Kommissarin, gestern Abend um dreiundzwanzig Uhr fünfunddreißig klingelte bei uns das Telefon. Frau Anna Rossi und ihr Mann Giuseppe meldeten das Verschwinden ihrer dreizehnjährigen Tochter, die am Abend vom Turnunterricht in den Unisporthallen Neufeld nicht nach Hause zurückkam. Um Mitternacht fuhr ich mit Markus Aebersold ins Neufeld Quartier, wo wir Herrn und Frau Rossi trafen. Markus fertigte das Protokoll an, weil mein Deutsch noch nicht perfekt ist. Hier ist es.»
Beppe streckte der Chefin das Blatt entgegen.
«Gut», sagte sie, «setzen wir einen Spürhund ein. Er soll die Strecke im Wald absuchen.»
«Das will ich auch einmal erleben. Da gehe ich mit.»
«Auf keinen Fall, Beppe. Der Spürhund arbeitet nur mit seinem Trainer.»
6
Am frühen Samstagmorgen, dem vierten November, lief die Marrakesch mit zweihundert Passagieren und einer Crew von fünfundvierzig Angestellten an Bord aus dem Hafen von Genua. Achtundvierzig Stunden später sollte das Schiff in Tanger sein.
Es schien eine angenehme Fahrt zu werden, das Wetter war gut, es gab kaum Wind und die See war ruhig. Die meisten Passagiere befanden sich in ihren Kajüten im Unterdeck. Zwischen zwölf Uhr dreißig und fünfzehn Uhr wurde im Speisesaal das Mittagessen serviert. Aber viele Passagiere waren schon dort anzutreffen, weil die Liegestühle auf dem Deck noch nicht aufgestellt waren. Majestätisch glitt das Schiff durch das ruhige Wasser.
Um siebzehn Uhr kam per Funk eine Polizeimeldung aus Genua herein. Der Kapitän der Marrakesch wurde angewiesen, unverzüglich den Kurs zu ändern und San Remo, den nächsten Hafen, anzulaufen. Mit einem Passagierschiff eine Kursänderung vorzunehmen war aber ein schwerwiegender Entscheid. Das brachte nämlich den ganzen Fahrplan durcheinander und konnte für die Reederei einen großen Verlust von Einnahmen und rechtliche Schwierigkeiten bedeuten. Deshalb verlangte der Kapitän sofort die Bestätigung und eine Begründung dieser Meldung. Man teilte ihm mit, ein international gesuchter Verbrecher sei an Bord, der unverzüglich verhaftet werden müsse. Sein Name sei Mohammed Naser. Doch niemand dürfe von der Kursänderung etwas erfahren. Der Kapitän ließ jetzt das Schiff einen weiten Bogen fahren, bis sie Kurs auf San Remo nehmen konnten. Das Manöver blieb unbemerkt.
Nun kontrollierte der Kapitän die Passagierliste und fand den Namen Mohammed Naser. Zusammen mit zwei Schiffsoffizieren ging er zur Kabine fünfundzwanzig und klopfte dreimal an die Tür. Es kam keine Antwort, man hörte nur das Brummen des Schiffsmotors. Mit dem Passepartout öffnete der Kapitän schließlich die Türe und betrat die Kabine.
«Herr Naser?», fragte er. Niemand antwortete. Auf dem Bett lagen ein paar Kleidungsstücke. In einer Orange auf dem kleinen Tisch vor dem Bullauge steckte ein spitzes Küchenmesser.
«Wie sieht denn das hier aus!», rief einer der Offiziere aus.
«Ziemlich verdächtig», bemerkte der andere und schaute bedeutungsvoll auf das Messer.
«Gehen wir ihn suchen, weit kann er ja nicht sein», sagte der Kapitän und schloss die Kabinentür hinter sich zu.
Sie fanden ihn an der Bar des Speisesaals, wo er einen Orangensaft trank.
Mohammed Naser war eine unauffällige Erscheinung, mittelgroß, mit Kraushaar und einem kurzen Bart, volle Lippen.
Die beiden Offiziere näherten sich dem Mann und fragten ihn nach seinem Namen.
«Ich heiße Mohammed Naser.» Verunsichert schaute er von einem zum andern. Diese nickten und bedeuteten ihm, ruhig sitzen zu bleiben. «Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?», fragten sie höflich.
Verwirrt antwortete er: «Weshalb kommen Sie zu mir?» Der Kapitän antwortete knapp: «Das erklären wir Ihnen später. Sie dürfen essen und trinken, was Sie wollen, auf unsere Rechnung.»
Nach drei Stunden legte das Schiff im Hafen von San Remo an. Während der ganzen Zeit waren die Offiziere nicht von Nasers Seite gewichen.
Mohammed Naser war nun sichtlich nervös, weil er merkte, dass etwas nicht stimmte. Auch wenn die Offiziere und der Kapitän sich sehr korrekt verhielten, wuchs seine Unruhe. Kaum hatte die Marrakesch angedockt, stürmte eine Gruppe uniformierter Carabinieri aufs Schiff, besetzte die Ausgänge und drang bis zur Schiffsbar vor.
«Herr Naser wartet auf euch», sagte der Kapitän ruhig.
«Mitkommen!»
«Was geht hier vor?»
«Keine Fragen, folgen Sie uns!»
Naser gehorchte schweigend.
7
Mohammed Naser saß zwei lange Tage in San Remo in Untersuchungshaft, bevor er endlich dem Richter vorgeführt wurde.
«Warum wollten Sie nach Tanger?», fragte dieser, nachdem er sich vorgestellt hatte.
«Meine Familie besuchen, wie jedes Jahr.»
«Wo wohnen Sie?»
«In der Schweiz, in Bern.»
«Was tun Sie dort?»
«Ich arbeite in der Firma Carrutti als Plattenleger.»
«Weshalb sind Sie in die Schweiz gegangen?»
«Ich erhalte dort einen guten Lohn und überweise jeden Monat einen Teil davon meiner Familie in Tanger. Wir sind sieben Geschwister»
«Ich verstehe», antwortete der Untersuchungsrichter.
«Mit wem verkehren Sie in der Schweiz?»
«Nur mit ein paar Arbeitskollegen.»
«Mit Einheimischen?»
«Nein, ich spreche kein Schweizer Deutsch. Aber wo ist mein Handy?», fragte Mohammed Naser.
«Das werden Sie später zurückerhalten. Vorläufig bleibt es zur Überprüfung bei uns.»
«Weshalb habt ihr mich verhaftet?»
«Es gibt einen internationalen Haftbefehl. Deshalb übergeben wir Sie morgen an der Grenze in Chiasso der Schweizer Polizei.»
«Was wirft man mir vor?»
«Näheres werden Sie von der Schweizer Polizei erfahren.»
Nach der Anhörung wurde Mohammed Naser von zwei Carabinieri in seine Zelle zurückgeführt. Dort erhielt er eine einfache Mahlzeit, Penne all‘arrabbiata, dazu eine Scheibe Brot und einen Krug Wasser. Er legte sich auf die Pritsche und zündete eine Zigarette an. Seine Gedanken kreisten ruhelos. Er versuchte, sich an jedes Detail während der letzten Tage vor seiner Abreise aus Bern zu erinnern.
Beim Verhör hatte er dem Richter einige Dinge verschwiegen. Beispielsweise, dass er dort eine Freundin hatte, Fatima. Oder dass er Kontakte zu einer Gruppe von Marokkanern pflegte, die in der Schweiz lebten. Aber was ging das den Richter an? – Das war doch seine private Angelegenheit. Einen Aufenthalt in San Remo hatte er sich allerdings anders vorgestellt. Das Festival della Canzone Italiana gibt es seit 1951 und es ist das größte Schlagerfestival Europas. Unzählige Lieder und Interpreten wurden durch diesen Wettbewerb bekannt.
Spontan summte Mohammed Naser das Lied ‘Volare oh, oh’ von Domenico Modugno vor sich hin. Das war Fatimas Lieblingslied. Wie oft hatte sie ihm das vorgesungen. Dann erinnerte er sich auch an die Melodie von ‘Azzurro’ von Paolo Conte, gesungen von Adriano Celentano. Ausgerechnet hier, in der Stadt San Remo, musste er nun in einer Gefängniszelle sitzen, wo er doch so gerne einmal im Leben mit seiner Freundin Fatima am Schlagerfestival im Teatro Ariston hatte teilnehmen wollen. Fatima kleidete sich gerne modisch wie ihre Vorbilder. Sie war musikalisch und sang alle bekannten Schlager. Ab und zu wagte sie sich auch an neapolitanische Volkslieder wie ‘Funiculì Funiculà’, ‘O sole mio’ oder ‘Santa Lucia’. Diese sang sie sogar vor Publikum, wenn sie zu einem Fest eingeladen wurde.
8
Der Zug fuhr am Dienstag, dem zweiundzwanzigsten Oktober, um neun Uhr vierzehn in San Remo ab. Um zwölf Uhr fünfzehn kam er im Bahnhof Milano Centrale an. Mohammed Naser saß im engen Gefängnisabteil des Gepäckwagens, streng bewacht von zwei Carabinieri. Um dreizehn Uhr fünfzehn erreichte der Zug die Grenze in Chiasso, wo Mohammed Naser in Handschellen der Schweizer Polizei übergeben wurde.
Katharina Tanner, Beppe Volpe und der Polizist Markus Aebersold erwarteten ihn. Es wehte ein rauer Wind. Beppe hüpfte auf und ab und Markus Aebersold studierte die meteorologischen Daten auf seinem Handy.
«Ich wusste gar nicht, dass die Temperaturen hier an der Südgrenze noch viel tiefer sind als in Bern», bemerkte er zähneklappernd.
Als Mohammed Naser in Begleitung der beiden Carabinieri ausstieg, pfiff Beppe leise – und dieser unscheinbare Mann sollte der gefährliche Unbekannte sein?
Die Kommissarin begrüßte die beiden Carabinieri und bedeutete dem Gefangenen mitzukommen. Die italienischen Polizisten salutierten und verabschiedeten sich von ihren Schweizer Kollegen. Sie waren froh, dass die Auslieferung beendet war und sie nun zwei Tage Urlaub hatten.
Vor dem Bahnhof wartete ein Gefängniswagen, in den die Schweizer Polizisten mit Mohammed Naser einstiegen. Dieser saß angekettet hinten im Wagen und wimmerte vor sich hin. «Kann ich endlich mit Fatima telefonieren?»
«Das ist leider nicht möglich», antwortete Katharina Tanner. «Ihr Handy wurde beschlagnahmt.»
«Wer ist Fatima?», fragte Beppe.