Der Sturm vor der Stille - Tina Soliman - E-Book

Der Sturm vor der Stille E-Book

Tina Soliman

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Beschreibung

Es geht um die Zeit vor dem Kontaktabbruch, um die überhörten Signale vor der Funkstille, um den emotionalen Sturm vor der Stille, um den Kampf, der zwischen den Beteiligten getobt hat, oder um die stillen Konflikte, die schon lange geschwelt haben. Die hilf- und ratlosen Verlassenen suchen verzweifelt nach einem Auslöser, den es nicht gibt, denn der Bruch ist die Folge eines langen Prozesses, der aus vielen kleinen zerstörerischen Momenten besteht. Manche Worte verletzen so sehr, dass sie einen Sturm entfachen, der nicht mehr zu bändigen ist – außer mit Stille. Tina Soliman erzählt und analysiert einfühlsam die Leidensgeschichten der Abbrecher, denn diese haben leidenschaftlich, kämpferisch, tief verletzt und gar nicht so »kalt«, wie die Verlassenen immer wieder behauptet haben, inständig darum gebeten, ihre Sichtweise des Kontaktabbruchs näher zu beleuchten.

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Seitenzahl: 260

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Tina Soliman

Der Sturmvor der Stille

Warum Menschen denKontakt abbrechen

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

www.funkstille-buch.de

Die Rechte an dem Buchtitel »Sturm vor der Stille« hält die Aufbau Verlag GmbH & Co. KG mit dem im Jahr 2006 bei Aufbau erschienenen Lyrikband »Sturm vor der Stille« von Mario Wirz.

Wir bedanken uns für die großzügige Überlassung des Titels für das vorliegende Buch.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von Torsten Lapp

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94804-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10753-1

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2014 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gewidmet

meiner Mutter Gisela Soliman

und

V.S.

Inhalt

Vorwort und Dank

Einleitung

Erstes KapitelWas ist passiert?

»Irgendetwas ist immer passiert«

Der Abbrecher: ein »Schläfer«?

Warum werden Anzeichen übersehen, Signale überhört?

Das Grübeln über widersprüchliche Botschaften

Die fatale Wirkung des Nichtgesagten

Das Drama der Wahrnehmung: Was ist wahr?

Der unbewachte Augenblick: Gibt es den Auslöser?

Zweites KapitelAbbrecher berichten über die Beweggründe ihres Schweigens

Machtkämpfe: »Ich wollte auf Augenhöhe kommen«

Contenance – oder: Der Schein trügt

Die Angst, erkannt zu werden

Abbruch aus Notwehr: »Eine dauerhafte seelische Vergewaltigung«

Stonewalling: Eine Schutzmauer wird errichtet

Der Abbrecher: ein Wiederholungstäter?

Die Funkstille als Methode

Die Funkstille: eines Menschen Recht?

Drittes KapitelDie Sichtweise der Verlassenen

Auf der Suche nach Plausibilität: Kontakt muss Sinn machen, Kontaktverweigerung auch!

Reden heißt urteilen. Schweigen heißt, geurteilt haben

»Wie ein Wasserbecken in einer Wüstenoase«

»Es liegt über allem ein Schatten«: die Verunsicherung der Verlassenen

Rollenwechsel: Der Verlassene, oft selbst ein Abbrecher

Viertes KapitelHeimatlos in der eigenen Familie

Machtkämpfe, Abhängigkeit, Manipulation und die Folgen für spätere Beziehungen

Kriegskinder: Prägungen über Generationen hinweg

Pseudo-Identität: »Das Eigene ist unerwünscht«

»Ich fühlte und durfte nicht fühlen, wollte reden und hielt meinen Mund«

Die müde Entscheidung, es einfach sein zu lassen

Beziehungswaisen: narzisstische Eltern und Kinder

Prägende Ereignisse in der Biografie: wunde Punkte, unbekannte Auslöser

Fünftes KapitelDie Gewalt des Schweigens

Ein Sturm kommt auf

Psychische Unzuverlässigkeit

Sucht nach Anerkennung

»Ein Mord an der Seele«

Die trügerische Sicherheit unmittelbar vor dem Bruch

Sechstes KapitelDie Abbruch-Gesellschaft

Lost in Transition: ein Zeitalter der Abbrüche?

Von der Angst, Anker zu werfen

Vom Fluch der Selbstbestimmung und der Furcht, sich nicht nur virtuell einzulassen

Der Preis der Nähe

Kontrollillusion und Machtstreben

Die Performance, die man Leben nennt

Siebtes KapitelDie Funkstille: kein Abbruch aus heiterem Himmel

Weggehen als logische Konsequenz

Ist jede Wahrheit besser als Schweigen?

Gefühle verstehen: »Man kommt nur raus, indem man reingeht«

Die Funkstille: ein Transit, eine Katharsis?

Reden: eine Frage der Moral, ein Zeichen des Respekts

Wer ist Opfer, wer ist Täter? Und warum das nicht die entscheidende Frage ist

Klare Schnitte: Loslassen – ein Vorteil für beide Akteure

Leben mit der Funkstille

Nachwort

Literaturverzeichnis

Vorwort und Dank

»Dieses Buch ist unfertig, wie ein Abschied an einem Bahnhof, bei dem nicht alles gesagt wurde, obwohl es noch so viel zu sagen gegeben hätte«, schrieb ich im Nachwort meines ersten Buches Funkstille. Wenn Menschen den Kontakt abbrechen. Und tatsächlich hat dieses Buch eine intensive Resonanz erhalten. Seit der Veröffentlichung im Februar 2011 erreichen mich täglich Zuschriften von Betroffenen, vor allem von den sonst so schweigsamen Abbrechern. In ihren E-Mails und Briefen gibt es zahlreiche Wörter, die mit »Un-« und »Ent«- anfangen, Wörter, die sich von etwas lösen.

Auf der anderen Seite stehen die Äußerungen der Verlassenen. »Der Abbruch kam aus heiterem Himmel«, das schreiben die Verlassenen immer wieder. Je unerwarteter ein Ereignis uns trifft, desto stärker bewegt es uns. So wird offenbar, was die Wirkung der Funkstille ist: Zum einen schafft der Kontaktabbruch vollendete Tatsachen, zum anderen hält er die Dinge in der Schwebe. Die menschliche Vorstellungskraft lebt vom Unvollendeten, Unfertigen, Unbekannten und somit Möglichen. Unsere Erwartungen zehren von der Chance – der Hoffnung. Das Geheimnis der Funkstille basiert hauptsächlich auf Gewährung und Entzug von Hoffnung!

Und es basiert auf unterschiedlichen Wahrnehmungen: Die frisierte Erinnerung ist von einer echten kaum zu unterscheiden. Vielen wird erst auf Nachfrage klar, dass die Situation eigentlich ganz anders war. Wahrheit ist nicht gleich Wirklichkeit, und wir alle sehen immer nur Ausschnitte unserer Wahrnehmung. Das Leben ist nicht das, was wir leben, es ist eher die Vorstellung dessen. Und wer wäre nicht vom anderen verschieden?

Je rätselhafter und zufälliger der Kontaktabbruch erscheint, desto stärker regt er die Vorstellungskraft und die Emotionen an. Und je stärker die Emotionen, desto heftiger prägt sich das Geschehen ein.

Es sind vor allem die Schilderungen der Abbrecher, die Licht in das Dunkel bringen können. Sie beschreiben, dass dem endgültigen Bruch ein heftiger innerer Kampf vorausgegangen ist. Die Verlassenen wiederum suchen nach dem einen Auslöser dessen, was geschehen ist. Ihn gibt es aber häufig gar nicht. Die meisten Funkstillen geschehen im Affekt und sind dennoch seit Jahren vorbereitet.

Die Mehrzahl der Ereignisse unseres Lebens stößt uns nicht plötzlich zu. Die Dinge geschehen nach und nach. Der Kontaktabbruch ist Folge eines Prozesses, der aus vielen kleinen zerstörerischen Momenten besteht. Im Augenblick des Geschehens wissen wir oft gar nicht, welche Tragweite das hat, was wir sagen und tun. Nicht jeder kann Worte sanft setzen wie eine Wolke. Manche Worte – und auch nonverbale Verhaltensweisen – verletzen so sehr, dass ein Sturm entsteht, der nicht mehr zu bändigen ist – außer mit Stille. Viele Abbrecher erklären, dass sie selbst erst Jahre später verstanden haben, warum sie den Kontakt abgebrochen haben, und sie beschreiben ihre eigene Verwunderung und Verzweiflung angesichts ihres Verstummens.

Was die Verlassenen einfordern, ist Plausibilität, also der Sinn hinter dem für sie unerklärlichen Verhalten. Ohne Sinn können wir nicht leben, darum ist der Kontaktabbruch für die Verlassenen so quälend. Dem Sinn aber kann man sich nur mit den Mitteln der Interpretation nähern, durch Kommunikation und Argumentation. Eine Handlung, die nicht erklärt wird, wirkt meist wenig plausibel, kaum oder gar nicht nachvollziehbar. Kontakt muss Sinn machen, Kontaktverweigerung auch!

Im vorliegenden Buch soll die Suche nach den Ursachen vertieft werden. Wenn es gelingt herauszufinden, wie es zu dem vermeintlich plötzlichen Kontaktabbruch gekommen ist, dann wird es vielleicht möglich, ihn zu begreifen, in manchen Fällen sogar zu akzeptieren. Wer eine Bombe entschärft, kann sie auch bauen – und umgekehrt. Die Äußerungen der Abbrecher geben oft genug eine Vorstellung des »Sturms vor der Stille«, der dem Kontaktabbruch vorausging. Es ist ein innerer Sturm, oft überdeckt durch eine Ruhe im Äußeren. Doch bei den Abbrechern kommt in dieser Zeit vor dem Bruch nichts zur Ruhe. Alles ist in ständiger Bewegung. Die Gedanken schmerzen, die Verletzungen wollen nicht heilen. Der Sturm soll als reinigendes Gewitter wirken oder als Befreiungsschlag. Doch im Kontaktabbruch verlieren auch die Abbrecher Menschen, die ihnen bisher nahe waren. Jemanden vermissen, das ist eine Erfahrung, die Abbrecher und Verlassene miteinander teilen.

Manchmal sollten wir vielleicht auf unser demoliertes Selbst mit einem umgedrehten Fernglas blicken und dabei nicht nach dem Körnchen im Kleinen suchen, sondern das ganze Bild in den Blick nehmen. Möglicherweise wird es dann einfacher, einen Zusammenhang zwischen Ereignissen und Gefühlen herzustellen.

Zusammenhänge verdeutlichen – das ist es, was ich hier versuchen möchte. Auf der Basis der zahlreichen Zuschriften, mithilfe von Gesprächen – auch mit Fachleuten – lassen sich so die Lücken teilweise schließen, lässt sich das Ungesagte zumindest teilweise entschlüsseln. Wo es zur Sprache kommt, wird Unbewusstes ins Bewusstsein geholt. Reden statt Schweigen!

Danken möchte ich all denen, die mir seit der Veröffentlichung des ersten Buches bis heute schreiben und vertrauen. Ich höre ihnen zu und gebe ihre Erfahrungen und Beobachtungen weiter. Mit einigen der Menschen, die mir geschrieben haben, habe ich mehrfach telefoniert, andere für dieses Buch persönlich getroffen. Einige Funkstille-Begegnungen sind zu Kontakten geworden, die bereits seit meiner ersten Lesung in Frankfurt andauern. Es war die Idee meiner Leser, noch einmal genauer hinzuschauen, weitere Erfahrungen und Geschichten zu sammeln, um den Sturm vor der Stille zu ergründen.

Hunderte von Menschen hatten den Mut und das Vertrauen, diese wortlose Erfahrung in Worte zu fassen – zu viele, um sie namentlich zu nennen. Sie haben sich in E-Mails, Briefen oder Postings auf der Webseite www.funkstille-buch.demitgeteilt. Ihre Gedanken, Kommentare, Überlegungen haben zum vorliegenden Buch beigetragen, das sich wiederum, gemeinsam mit der Webseite, auch als Kontaktangebot versteht.

Für weiterführende Einblicke in die Funkstille-Problematik danke ich im Besonderen Tanja Bogs, Doris Dreyer und Rolf Schröder. Mein Dank gilt darüber hinaus den Fachleuten und Autoren, ohne die dieses Buch einiges an Erkenntnisgewinn eingebüßt hätte: Prof. Dr. Wolfgang Hantel-Quitmann, Prof. Dr. Hugo Grünwald, Dr. Birger Dulz, Prof. Dr. Hartmut Radebold, ebenso dem Philosophen Prof. Dr. Wilhelm Schmid, den Therapeutinnen Anja Jonassen und Angelika Grabow und den Autoren und Psychoanalytikern Wolfgang Schmidbauer und Marie-France Hirigoyen für ihre erhellenden Werke.

Ich danke natürlich meinem Lektor Dr. Heinz Beyer, Isabel Gunzenhauser, Judith Mark, Katharina Wilts, Mara Ebinger und Knut Amos vom Klett-Cotta Verlag und den Verlegern Michael Klett, Tom Kraushaar und Michael Zöllner dafür, dass ich Autorin in diesem wunderbaren Verlag sein kann.

Für ihre wertvollen Gedanken, ihre Worte und ihre Anregungen zur Genauigkeit der Formulierungen danke ich Gisela Soliman, Armin Peter und Volker Steinhoff.

Für die Kunst – das wunderbare Coverfoto – danke ich Torsten Lapp.

Bedanken möchte ich mich auch bei den folgenden Freunden und Kollegen für den befruchtenden Gedankenaustausch: Barbara Stützer, Markus Gerhardt, Inge Altemeyer, Brigit Wuthe, Matthias Gangkofner, Saam Schlamminger, Detlef Kinsler, Baldur Hellwinkel, Jens Peter Meier, Monique Wernbacher, Reinold Hartmann, Marina Fuhr, Meinhild Jach, Ulla Mikosch, Felix Lauscher, Michael Best, und natürlich bei meinen tollen Geschwistern Maria und Michael Soliman.

Einleitung

»Hallo Tina, danke für dieses tolle und sehr aufschlussreiche Buch! Endlich fühlt man sich als ›trauernde‹ Verlassene verstanden. Endlich wurde ein Tabu gebrochen«, schreibt Vera.

»Hallo, nach diesem Buch fühle ich mich als Abbrecher weniger schuldig und in Teilen richtig verstanden. Ja, auch ich leide, und, ja, ich habe nicht den Mut gehabt, meine Gefühle offen auszusprechen, war wie blockiert, wenn ich meiner Mutter gegenüberstand. Ich fühlte mich schlecht und unfähig, wollte sie auch nicht verletzen und habe sie doch durch den Abbruch noch mehr verletzt – und mich auch. Durch das Buch aber erkenne ich, dass hier zwei Sichtweisen aufeinanderprallen, beide Seiten Fehler machen und wir nur gemeinsam dieses Schweigen beenden können. Eine unfassbare Herausforderung«, schreibt Anja.

Zwei von vielen Stimmen, die deutlich machen, dass ein Kontaktabbruch Leid schafft und starke Gefühle hervorruft – auf beiden Seiten. In den folgenden Kapiteln soll der Versuch unternommen werden, besonders den Abbrechern näherzukommen. Denn wer nichts sagt und einfach geht, sagt dennoch etwas durch sein Schweigen. Auch wo kein Wort erklingt, kann also Antwort sein.

Die Funkstille ist kein Blitz aus heiterem Himmel! Sie bahnt sich an, oft über lange Zeit, und ich möchte im Folgenden versuchen, dem Geschehen vor dem Bruch auf die Spur zu kommen. Was empfanden die Abbrecher, bevor sie sich entschlossen haben zu gehen? Ich versuche, die Empfindungen vor der Handlung, dem Bruch, in Worte zu fassen. Denn auch wer keine Gefühle zeigt, wird welche haben. Verschleiert, versteckt und tief vergraben sind sie – warum? Sind es gefährliche Gefühle, deren Wirkung brutal sein kann, wenn man sie offenlegt?

In ihren Zuschriften versuchen die Abbrecher, Gründe für ihr Verhalten zu benennen. Sie nehmen den Kontaktabbruch keineswegs auf die leichte Schulter. Im Gegenteil: Manche haben sich wesentlich mehr Gedanken über das Verhältnis zur Mutter, zum Vater, zu dem Partner, der Freundin oder dem Freund gemacht, als der Verlassene es je erwarten würde oder je selbst getan hat. In den Nebensätzen tauchen meist die emotionalen Brocken auf, die diese Beziehungen vergiftet haben. Ständig war irgendwer empört, in seinem Vertrauen verletzt, aufgeregte Schuldzuweisungen wechselten sich ab mit herrischen Statements und eitlen Verteidigungen. Eine emotionale Gemengelage, die offenbar irgendwann nicht mehr zu ertragen war. Zuvor haben die Abbrecher jedoch – auf ihre Art – immer wieder kommuniziert, dass die Beziehung auf diese Weise nicht weiter funktionieren kann. Manche Abbrecher haben sich wohl nicht getraut, dem anderen dies klar zu sagen. Manche hatten nicht den Mut mitzuteilen, dass der andere für sie nicht mehr wichtig war. Und andere wiederum wissen eigentlich selbst gar nicht genau, was sie bewegt, weil der Auslöser so weit zurückliegt, weil es unverarbeitete Verletzungen im Leben gibt, manchmal über Generationen hinweg, die völlig unerwartet hervorbrechen können. Es gibt also unterschiedliche Motivlagen für den Kontaktabbruch.

Wolfgang Hantel-Quitmann, Professor für Klinische und Familienpsychologie in Hamburg, unterscheidet zwischen drei Abbrecher-Typen, auf die im ersten Kapitel noch genauer eingegangen werden soll. Hier nur so viel: Es gibt Motivlagen für einen Kontaktabbruch, bei denen die Persönlichkeit und das Verhalten des Verlassenen kaum eine Rolle spielen. Für den Verlassenen kann das Wissen darum sehr entlastend sein.

In zahlreichen anderen Fällen jedoch ist der Kontaktabbruch die Folge eines unglücklich verlaufenen Miteinanders, eines Geflechts aus gegenseitigen Verletzungen, Missachtungen, möglicherweise Beschämungen, das einer der Beteiligten irgendwann nicht mehr aushalten konnte. Oder er ist zurückzuführen auf Traumata, die lang zurückliegen, ja unter Umständen sogar bei vorhergegangenen Generationen geschahen. Gerade im letztgenannten Fall wissen die Abbrecher oft selbst nicht, warum sie gegangen sind.

Nach über 1.000 Zuschriften in der Folge des Funkstille-Buches sehe ich viele Kontaktabbruch-Geschichten stärker als zuvor mit den Augen des Abbrechers, der am Ende eines schmerzhaften Prozesses erschöpft aufgibt. »Man tut einen solchen Schritt aus einer Verzweiflung heraus, weil man anders nicht mehr leben kann und sonst an der Situation kaputtgehen würde«, schreibt etwa Sybille.

Der Zeitpunkt der Funkstille ist nicht entscheidend, wie wir sehen werden, der Bruch scheint zwar im Affekt zu passieren, doch – wie bei einem Schläfer, der einen Terroranschlag vorbereitet – war das Ende seit Jahren oder Monaten vorbereitet. Der Auslöser ist nur der Moment der Entladung!

Die Not ist groß, wenn einer abbricht. »Das passiert nicht einfach so«, erzählen fast alle, die »plötzlich« gegangen sind. Viele von ihnen haben sich in der eigenen Familie heimatlos gefühlt und erleben nun, dass der Kontaktabbruch das Gefühl der Entwurzelung noch verstärkt. Manche stammen aus Familien, in denen kleinere und größere Kontaktabbrüche ein Muster der »Konfliktlösung« waren. Nie wollten sie dieses Muster wiederholen und haben es dann doch getan. Nun fragen sie sich, wer sie sind und warum sie so geworden sind. Ein Abbrecher schrieb – mit der Bitte, sich auch weiterhin um das Phänomen der Funkstille zu kümmern: »Ich erhoffe mir Hilfe und Erklärungen für mein Verhalten, das ich selber nicht verstehe und unter dem ich sehr leide.« »Man quält sich ein Leben lang. Redet gegen Wände. Das Eigene aber ist unerwünscht«, so Anja, die den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen hat. Den meisten Verlassenen reichen solche oder ähnliche Äußerungen als Erklärung nicht aus. Sie fragen nach, wollen mehr wissen. Oft stellen sie dem Abbrecher Fragen, die dieser sich selbst noch nie gestellt hat – weil er diese dunklen Impulse verdrängt hat. Er will sie nicht spüren, und er will sich den Fragen nicht stellen. Er will nicht, dass Worte sich einnisten als bösartige Bewohner seiner Gedankenwelt, die seine Angst, seine stille Wut und seine wunden Punkte aufdecken könnten. Er will sich nicht zu erkennen geben, vorausgesetzt, er erkennt sich selbst.

Beide Beteiligten der Funkstille beanspruchen die Wahrheit für sich – doch wer wollte entscheiden, was wahr ist? Die Wahrheit ist eine Fiktion unseres Verstandes.

Ralf fühlt sich nach der Trennung von seiner großen Liebe Isa durchlässig, desorientiert, leer und gleichzeitig voller Sehnsucht nach dem Menschen, der all dies ausgelöst hat. »Das Positive, das ich mit ihr verbunden habe, fehlt mir schmerzlich. Dieser Mangel quält mich noch jeden Tag, und ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertragen soll«, schreibt er. Nicht alle Zuschriften sind derart verzweifelt liebevoll. Viele Verlassene sind stinksauer, wütend und ohne jedes Verständnis. »Die Funkstille ist ein Mord an der Seele. Der Abbrecher will emotional dauerhaft schädigen. Aber warum?«, fragt etwa Diana, die von ihrem Mann Johannes ohne ein Wort der Erklärung verlassen wurde.

Die französische Psychoanalytikerin Marie-France Hirigoyen, die sich mit seelischer Gewalt im Alltag und in Partnerschaften befasst, bezeichnet das Schweigen als »perverse Kommunikation«. Sie ziele darauf ab, den anderen grundsätzlich und tiefgehend am Denken zu hindern und damit auch am Verstehen und am möglichen Widerstehen. Wie soll der Verlassene sich um Versöhnung bemühen, wenn er nicht weiß, wie alles angefangen hat; wie kann er Einwände erheben, wenn die Vorwürfe nicht benannt werden? Wie Widerstand leisten, wenn es keine Diskussion gibt?

»Zu jeder Beziehung gehören zwei Menschen. Wenn einer aus Unzufriedenheit mit dem Gedanken spielt, sie zu beenden, gebietet es der zwischenmenschliche Respekt, dem anderen eine faire Chance zur Veränderung zu geben. Und dazu muss der eben verstanden haben, was das Problem ist – es muss Sinn machen«, fasst Ralf zusammen. Einen Warnschuss habe er sich gewünscht, die Funkstille jedoch sei ein »Todesurteil ohne vorhergehendes Verfahren«.

Doch das Leid ist nicht allein auf Seiten der Verlassenen. Nicht immer wird bei der Lektüre der zahlreichen Zuschriften unmittelbar deutlich, wer Abbrecher und wer Verlassener ist. Das Vokabular ist auf beiden Seiten dasselbe, die Gefühle ähnlich, das Leiden von ähnlicher Tragweite. So schreibt eine 21-Jährige: »Man hat das Gefühl, das Laufen verlernt zu haben, man kennt sich selbst auf einmal nicht mehr. Die Welt dreht sich weiter und man selbst steht dazwischen und kann sich nicht mitbewegen.« Sie ist eine Verlassene.

Eine andere schreibt: »Das ist ein Grund, warum Menschen etwas komplett aus ihrem Leben raushaben wollen: weil es nicht gut für sie ist. Weil etwas sehr wehtut. Weil das Verzeihen fast unmöglich erscheint. Weil das Vertrauen missbraucht wurde. Weil dort eine riesige Kluft aufgebrochen ist. Weil es einen blockiert. Weil es einen weinen lässt.« Sie ist eine Abbrecherin.

Beide Seiten leiden und können nicht abschließen; das wird aus den Zuschriften deutlich. Auch Fabio, ein Abbrecher, gesteht: »Dieses egoistische Nur-für-sich-Klären der emotionalen Situation hilft kurzfristig, aber langfristig ist nicht viel erreicht. Mich belastet der Kontaktabbruch, weil ich weiß, dass ich mir damit selbst schade und andere verstöre. Der Wunsch von Nähe ist da, aber ich bin nicht in der Lage aufzuzeigen, wie diese Nähe aussehen soll bzw. klar mitzuteilen, dass ich die bisherige Form der Nähe so nicht möchte.«

Natürlich gibt es auch einige Abbrecher, die Wert darauf legen zu betonen, dass sie sich nach dem Abbruch wie befreit fühlten und die Funkstille die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen sei. Man solle nicht versuchen, meinen sie, herauszufinden, ob es Möglichkeiten gibt, abrupte Kontaktabbrüche zu verhindern, sondern akzeptieren, dass Machtkämpfe, Grenzüberschreitungen und autoritäres Verhalten eben nicht akzeptabel seien. Irgendwann sei es eben wirklich genug. »Und wo steht geschrieben«, so ein Abbrecher, »dass ich Gründe für den Abbruch angeben muss?« Der Abbruch des Kontakts zur Familie ist aus seiner Sicht ein Ausdruck des freien Willens, ein Menschenrecht. Der Abbrecher: ein wütender Befreiter.

In Bezug auf Paarbeziehungen und Freundschaften gibt es solche Äußerungen nicht. Dort dominiert eher Ratlosigkeit, die zermürbende Frage zum Beispiel, warum denn nicht alles gut war, als es noch die Möglichkeit dazu gab. Und warum man nicht weiter gemeinsam daran arbeiten konnte, das, was an der Beziehung nicht gut war, besser zu machen.

Anhand neuer Begegnungen mit Abbrechern wie Verlassenen soll im Folgenden den Ursachen der Funkstille noch einmal tiefer nachgegangen, sollen Irritationen, Verletzungen und Brüche vor dem eigentlichen Kontaktabbruch aufgespürt werden.

Im Gespräch mit den Betroffenen und mit Fachleuten aus den unterschiedlichsten Forschungsbereichen möchte ich die Funkstille entmystifizieren, den emotionalen Sturm – der meist sehr leise ist – vor der Stille ergründen und so die Ursachen für den Abbruch entschlüsseln.

Ralf etwa erkennt im Rückblick: »Es gab die Funkstille offenbar schon vor dem plötzlichen Bruch. Zwar haben wir, nach meinem Eindruck, völlig normal kommuniziert, tatsächlich aber spielte Isa offenbar schon länger mit dem Gedanken der Trennung, ohne jedoch irgendwelche Warnzeichen abzugeben. Oder gab es die doch? Was habe ich übersehen? Warum habe ich den Sturm nicht aufkommen sehen?«

Neben der Frage nach den individuellen Gründen der Betroffenen soll auch diejenige nach möglichen gesellschaftlichen Ursachen des Kontaktabbruchs stehen. Liegt es auch an der Zeit, in der wir leben, dass manche Menschen nicht die Lust, Zeit und Kraft haben, mit Konflikten umzugehen? Was steckt dahinter? Könnte es die Angst sein, irgendwo Anker zu werfen und damit »angebunden« zu sein? Der Wunsch, sich sämtliche Optionen im Leben offenzuhalten? Das Leben voll und ganz auszukosten ist stets das Bestreben des modernen Menschen – eine Sehnsucht, die Kontaktabbrüche fördert?

»Vielen Dank für dieses Gemeinschaft stiftende Buch und Ihrem Fragen stellenden Zugang. Ich fühle mich von Ihnen in dieser Not ernst genommen«, schrieb Susanne. Ich danke für dieses Vertrauen und werde versuchen, die Wahrnehmung beider Seiten ernst zu nehmen, wissend, dass ein und dieselbe Geschichte für zwei Menschen eine völlig unterschiedliche Bedeutung haben kann.

Jeder konstruiert aus unterschiedlichen Erfahrungen und Prägungen seine eigene Wirklichkeit. Wir alle sehen immer nur unsere Version einer Geschichte. Wir haben keine Möglichkeit zu erkennen, was »wirklich« ist. Ein Überblick über das Ganze ist also gar nicht möglich, wer sollte den auch haben?

Erstes KapitelWas ist passiert?

»Irgendetwas ist immer passiert«

»Tickende Zeitbomben« seien sie vor der Funkstille gewesen, berichten viele Abbrecher. Zur Explosion kam es meist dann, wenn man es nicht – oder nicht mehr – erwartete. Die Funkstille entwickelt sich also eher leise.

In ihrer eigenen Wahrnehmung haben die Abbrecher kommuniziert, Widerstand geleistet und deutlich gemacht, dass sie so nicht mehr weitermachen wollen. Umso unerklärlicher ist ihnen die immer wieder geäußerte Fassungslosigkeit der Verlassenen. Doch schaut man genauer hin, haben sich viele Abbrecher tatsächlich nicht mit Worten erklärt. Ihre Botschaften waren verschlüsselt, oft vorab schon in eine Folie des Schweigens gepackt.

Sehr häufig bekomme ich Zuschriften von Müttern, die nicht verstehen, warum die Tochter den Kontakt abgebrochen hat. In den Briefen wird viel über die eigenen verletzten Gefühle und deren psychosomatische Folgen gesprochen. Einige Mütter vermuten, dass die »undankbare« Tochter sie willentlich krank machen wolle. Mitunter wird die Tochter im Brief nicht einmal mit Namen genannt, keine Altersangabe, nichts zum Familienstand. Über die Ursachen des Kontaktabbruchs können die Mütter sich kein Bild machen. Fragt man die Töchter, tun sich Abgründe auf.

Wie verletzend die Abwertungen durch die Eltern sein können, beschreiben Leser in Zuschriften, die oft fassungslos machen und verstehen lassen, warum jemand mit der Familie bricht. Eine Abbrecherin beschreibt, wie ihre Mutter sie immer wieder kleinmachte: »Vor Weihnachten eröffnete sie mir, dass sie mir einen Friseurgutschein schenken werde, da meine Haare absolut langweilig, unvorteilhaft, genaugenommen scheiße aussähen. Nach dem gemeinsamen Friseurbesuch äußerte sie, dass ich nun unheimlich meiner Cousine ähnlich sehe – darüber könne ich froh sein, die sei nämlich hübsch.« Nach jahrzehntelangen Abwertungen dieser Art brach die Tochter den Kontakt zu ihrer Mutter ab. Sie benennt das auslösende Ereignis: »Ich erzählte meiner Mutter, dass ich mich aufgrund chronischer Depressionen in therapeutische Behandlung begeben werde, woraufhin sie sich entschuldigte, mich auf die Welt gebracht zu haben. Wenn sie alles rückblickend betrachte, bereue sie es, mich nicht abgetrieben zu haben, wir wären beide besser dran gewesen. Es tue ihr leid, dass sie mir ein so grausames Leben geschenkt habe. Als ich einwendete, dass es doch auch schöne Zeiten gegeben habe, betonte sie nochmals, wie sehr sie es bereute, mich nicht abgetrieben zu haben.« Die Tochter weiter: »Ich habe etliche Male das Gespräch mit meiner Mutter gesucht, doch es war und ist leider nicht möglich. Sie fühlt sich bei allem sofort gekränkt und verteidigt sich. Man bekommt nicht die kleinste Chance, seine Gefühle auszudrücken. Sobald ich bestimmte Situationen anspreche, wird augenblicklich alles abgetan: Das siehst du völlig falsch, du bist viel zu empfindlich. Meine Mutter konnte meine Gefühle und meine Wahrnehmung nicht annehmen. Sie hatte schlicht zu wenig Empathie. Für mich ist es bis heute nicht einfach – sie ist immerhin meine Mutter. Es fühlt sich an wie Liebeskummer, nur um ein Vielfaches schlimmer. Dennoch: Seitdem ich keinen Kontakt mehr habe, kann ich einen Selbstwert aufbauen, ich kann anfangen, mich selbst zu lieben. Letztlich war der Kontaktabbruch eine Maßnahme des Selbstschutzes – hätte ich weiterhin immerzu diese massiven Abwertungen zu hören bekommen, wäre ich nicht mehr am Leben!« Der Bruch mit der Mutter erschien als einziger Ausweg, und er erfolgte ganz und gar nicht abrupt. Eine andere Tochter berichtet, dass sie sich aus einer symbiotischen Beziehung zu ihrer Mutter befreien musste, »weil ich sonst erstickt wäre«. Zwei gegensätzlich erscheinende Mutter-Tochter-Konstellationen, die beide im Abbruch endeten.

»Ein Abbrecher geht wahrscheinlich dann abrupt weg, wenn er eine ambivalente, überfürsorgliche Bindung hat, diese nicht offen kommunizieren konnte, und wenn er ein zu wenig entwickeltes Selbstwertgefühl hat. Dadurch wird der oder die Verlassene mitverantwortlich gemacht«, erklärt Hugo Grünwald, Professor für Angewandte Psychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Ist die Beziehung zu einem oder beiden Elternteilen eher abwertender Natur, erfolgt der Abbruch eher zeitversetzt, weil der Abbrecher, um sich zu schützen, die verletzenden Aussagen des Vaters oder der Mutter erst einmal verdrängt. Die Sprache ist ein Minenfeld, so die Philosophin und Schriftstellerin Connie Palmen: »Es ist nicht vorherzusehen, welches Wort oder Objekt eine Explosion auslösen und mich in umherfliegende Bild- und Satzscherben katapultieren wird, winzige Filmfragmente, achtlos mit der Gedächtniskamera aufgenommen.« Gäbe es solche Gedächtniskameras, könnte man diese oder jene Situation noch einmal abspulen, wie sie tatsächlich geschah. In unserer Erinnerung verändern sich die Situationen, während wir sie immer und immer wieder durchspielen, um sie zu begreifen. Irgendwann sind sie nicht mehr das, was sie waren, sondern das, was wir glauben, was sie waren. »Objektivieren« lassen sie sich nur im Gespräch mit dem anderen. »Was soll ich tun, wenn ich seit Jahren gegen eine Schweigemauer renne?«, fragt eine Abbrecherin, die über Jahrzehnte versucht hat, mit ihren Eltern zu sprechen. Und sie stellt berechtigte Fragen: »Wieso ist es nicht möglich zuzuhören? Warum ist es so schwierig, sich in den anderen hineinzuversetzen?«

»Einfühlung setzt ein entspanntes Erlebnisfeld voraus. Wo Angst oder Wut dominieren, hat die Empathie keinen Platz mehr, so wünschenswert und hilfreich sie wäre. Konflikte in Familien oder am Arbeitsplatz entstehen immer dann, wenn die Gegner sich nicht mehr verstehen, das heißt, sich nicht in den jeweils anderen versetzen können«, so der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer in seinem erhellenden Werk Das kalte Herz.

Andererseits gibt es die vielen Fälle, in denen sich die Abbrecher tatsächlich nicht vorwagen und in denen kein Wort des Widerspruchs ihre Lippen verlässt. Anja, eine gutaussehende Mittvierzigerin, hat sich jahrzehntelang zurückgehalten, ihrer Mutter nie gesagt, dass sie sich von ihr ungeliebt und abgelehnt fühlte. Von einem Tag auf den anderen brach sie den Kontakt zu ihrer Mutter ab, auch wenn sie selbst darunter unendlich litt: »Meine Mutter ist die wichtigste Person in meinem Leben. Sie ist aber auch die Frau, die eigentlich bedingungslos zu mir stehen sollte! Aber das tut sie einfach nicht«, sagt Anja mir weinend in einem der vielen persönlichen Gespräche, die wir über Jahre hinweg miteinander führten. Ich habe Anja in Frankfurt bei einer Lesung aus meinem ersten Buch Funkstille kennengelernt. Nach einer lebhaften Diskussion, an der sie sich nicht beteiligt hatte, stand sie vor mir und hielt mir ein Exemplar des Buches für eine Unterschrift hin, schweigend, zitternd, mit Tränen im Gesicht. Sie schrieb ihre Telefonnummer auf einen Zettel und verschwand, ohne ein Wort gesagt zu haben. Also rief ich sie einige Tage später an, wir trafen uns, und sie erzählte mir ihre traurige Geschichte.

So schweigsam und schüchtern, wie sie sich bei unserem Kennenlernen zeigte, ist Anja nicht. Im Gegenteil: Sie erzählt gerne und gut und könnte mit ihrer lebhaften, gewinnenden Art eine ganze Gesellschaft aus dem Stand unterhalten. Gleichzeitig wirkt sie ängstlich, unsicher und zurückhaltend. Zu ihrer Mutter, die 400 Kilometer entfernt lebt, hat sie seit einigen Jahren keinen Kontakt mehr. »Ja, natürlich ist es schwer, wenn ich ihr das nicht mitteile, wahrscheinlich ist sie noch enttäuschter von mir. Sie wird sich durch mein Verhalten bestätigt fühlen. Was immer ich falsch gemacht habe, unterstreiche ich dadurch ja noch mehr. Aber ich habe es nicht anders geschafft. Sie konnte mich nicht so lieben, wie ich es wollte. Sie konnte mich nicht so nehmen, wie ich bin. Vielleicht habe ich ihr sogar einen Gefallen getan. Endlich ist sie mich los!«, überlegt Anja. Sie weiß, dass das nicht der Fall ist, doch sie neigt dazu, sich selbst herabzusetzen. Ob sie ihre Mutter mit dem Schweigen bestrafen wolle, frage ich. Anja verneint: »Mit Bestrafung hat das aus meiner Sicht wenig zu tun, höchstens unterbewusst. Ich hatte einfach keine Kraft mehr, mit ihr zu reden. Ich musste mich immer komplett verstellen. Ich passe nicht in diese Familie. Besser, wenn ich aus dem Leben dieser Personen einfach verschwinde, deswegen auch dieser abrupte Kontaktabbruch. Mein Schweigen sagt ihr: Ich will nicht mehr!«

Anschaulich und als sei es gestern geschehen beschreibt sie eine Szene, die sie Jahrzehnte zuvor tief verletzt hat: »Ich ging als Aupair nach Amerika, war gerade 18 Jahre alt geworden und verließ zum ersten Mal meine Heimatstadt. Meine Mutter brachte mich zum Bahnhof. Dort warteten Schulkameraden, um mich zu verabschieden. Als meine Mutter sie sah, drückte sie mir den Koffer in die Hand und sagte: Du hast ja genügend, die dich verabschieden. Sie drehte sich um und ging. Das tut heute noch unsagbar weh!«

Ihre Mutter erinnert sich nicht mehr an diese Situation. Sie verstehe ihre Tochter zudem nicht im geringsten, erklärt sie mir bei einem Besuch. Fast hat man den Eindruck, dass sie den Abbruch der Tochter gar nicht richtig wahrnimmt. Anja sei eben anders als sie. »Ich habe keine Ahnung, welche Laus ihr über die Leber gelaufen ist«, meint sie lapidar.

Was will Anja ihrer Mutter durch ihr Schweigen mitteilen? »Liebe mich, wie ich bin! Akzeptiere mich, wie ich bin! Nimm mich wahr! Sieh mich!«, erklärt Anja die nicht gesagten Worte. Diese Botschaft kommt nicht an. Ihre Mutter macht sich, wie es scheint, keinerlei Gedanken darüber, wie die Situation vor dem Kontaktabbruch war. Anscheinend fehlt ihr das Gefühl dafür, wie sehr ihr Verhalten die Tochter verletzt hat, etwa bei der vermeintlich banalen Szene am Bahnhof. Diese Kränkung war zusammen mit vielen anderen verletzenden Situationen und dem Grundgefühl des Sich-nicht-verstanden-Fühlens eine Zeitbombe, die 20 Jahre verzögert zündete. Selbst Anja verstand in dem Moment, als die Mutter sie vor dem Bahnhof stehenließ, nicht, dass diese einen weiteren Stein auf die Mauer zwischen ihnen gesetzt hatte. Lebensbestimmende Erfahrungen sind eben oft von leiser Art. Erst nach und nach entfalten sie ihre grundstürzende Wirkung.

Deshalb macht es Sinn zu schauen, wo die Funkstille begann, wann der Riss in die Beziehung kam. Die Funkstille entsteht eher leise, beiläufig, ja lautlos und ohne Vorwarnung. Aus diesem Grund ist es für beide Seiten so schwierig, rechtzeitig einzulenken, etwas zu tun, um das Dilemma abzuwenden und die Beziehung zu retten. Die wichtigsten Dinge erschließen sich leider erst retrospektiv.