Der Sünder - J. R. Ward - E-Book

Der Sünder E-Book

J. R. Ward

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Beschreibung

Es ist noch nicht lange her, dass Vampirkrieger Syn Unterschlupf bei den BLACK DAGGER gefunden hat. Dass er nebenbei als Auftragskiller arbeitet, behält er lieber für sich, denn andere heimtückisch zu töten verstößt gegen den strengen Ehrenkodex der Bruderschaft. Als er eines Nachts heimlich zu seinem nächsten Job unterwegs ist, begegnet er der Halbvampirin Jo Early und verliebt sich vom ersten Augenblick an in sie. Die schöne junge Frau ahnt jedoch nichts von ihrem vampirischen Erbe, und bringt so nicht nur sich selbst, sondern die gesamte Bruderschaft in tödliche Gefahr ...

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Das Buch

Es ist noch nicht lange her, dass Vampirkrieger Syn Unterschlupf bei den BLACK DAGGER gefunden hat. Dass er nebenbei als Auftragskiller arbeitet, behält er lieber für sich, denn andere heimtückisch zu töten verstößt gegen den strengen Ehrenkodex der Bruderschaft. Als er eines Nachts heimlich zu seinem nächsten Job unterwegs ist, begegnet er der Halbvampirin Jo Early und verliebt sich vom ersten Augenblick an in sie. Die schöne junge Frau ahnt jedoch nichts von ihrem vampirischen Erbe, und bringt so nicht nur sich selbst, sondern die gesamte Bruderschaft in tödliche Gefahr …

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

Ein ausführliches Werkverzeichnis der von J. R. Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.

Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie auf:

www.jrward.com

J. R. Ward

DER SÜNDER

Ein Black dagger-Roman

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe: THE SINNER

Aus dem Amerikanischen von Bettina Spangler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 10/2021

Redaktion: Charlotte Gerk

Copyright © 2020 by Love Conquers All, Inc

Copyright © 2021 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld

Autorenfoto © by John Rott Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27348-4V001

www.heyne.de

Gewidmet: dir.

Du verdienst von allem nur das Beste …

Sorge gut für deine Frau.

Ich glaube fest an dich.

Danksagung

Vielen, vielen Dank an die Leser der BLACK DAGGER! Es ist eine lange, wunderbare, aufregende Reise mit euch und der Bruderschaft, und ich kann es kaum erwarten zu sehen, was in dieser Welt, die wir alle so lieben, als Nächstes passiert. Ich möchte Meg Ruley, Rebecca Scherer und dem Team bei JRA danken, außerdem Lauren McKenna, Jennifer Bergstrom und allen bei Gallery Books und Simon&Schuster.

Ans Team Waud: Ich liebe euch alle. Ehrlich. Und wie immer tue ich alles, was ich tue, aus Liebe und Bewunderung für meine Familie, sowohl die blutsverwandte als auch die frei gewählte.

Ach ja, und danke an Naamah, meinen WriterAssistant Nummer zwei. Sie arbeitet genauso hart an meinen Büchern wie ich! Und an Arch, der neuerdings ebenfalls eine wichtige Stellung einnimmt!

Glossar der Begriffe und Eigennamen

 Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

 Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. In der Vergangenheit waren sie eher spirituell als weltlich orientiert, doch das hat sich mit dem Aufstieg des letzten Primal geändert, der sie aus dem Heiligtum befreite. Nachdem sich die Jungfrau der Schrift aus ihrer Rolle zurückgezogen hat, sind sie völlig autonom und leben auf der Erde. Doch noch immer nähren sie alleinstehende Brüder und solche, die sich nicht von ihren Shellans nähren können, sowie verletzte Kämpfer mit ihrem Blut.

 Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

 Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge selektiver Züchtung innerhalb der Spezies besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

 Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

 Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

 Dhunhd – Hölle.

 Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

 Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

 Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

 Gesellschaft derLesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

 Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

 Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

 Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.

 Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

 Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

 Hyslop – Aussetzer im Urteilsvermögen, der klassischerweise zur Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder zum Abhandenkommen eines Fahrzeugs oder anderer motorisierter Transportmittel führt. Wenn zum Beispiel jemand den Zündschlüssel stecken lässt, während das Auto über Nacht vor dem Haus parkt, und besagtes Versehen in unerlaubten Spritztouren Dritter resultiert, so ist dies ein Hyslop.

 Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König bis in jüngste Zeit als Beraterin diente sowie die Vampirarchive hütete und Privilegien erteilte. Existierte in einer jenseitigen Sphäre und besaß umfangreiche Kräfte. Gab ihre Stellung zugunsten einer Nachfolge auf. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

 Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.

 Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

 Lewlhen – Geschenk.

 Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

 Lhenihan – Ein mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von übermäßiger Größe und Ausdauer.

 Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

 Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

 Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

 Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

 Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

 Novizin – Eine Jungfrau.

 Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

 Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

 Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

 Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

 Rahlman – Retter.

 Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Beleidiger entgegen.

 Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

 Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

 Symphath – Eigene Spezies innerhalb der Vampirrasse, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.

 Talhman – Die böse Seite eines Vampirs. Ein dunkler Fleck auf der Seele, der ans Licht drängt, wenn er nicht ganz ausgelöscht wird.

 Trahyner – Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

 Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

 Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

 Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen der weitverbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber ganz ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Ihre Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

 Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

 Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

 Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

 Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die um die Gunst einer Vampirin rivalisieren.

1

Route 149

Caldwell, New York

Jo Early saß hinter dem Steuer ihrer Schrottkarre, die schon zehn Jahre auf dem Buckel hatte, und biss gierig in ihre BiFi. Dann kaute sie darauf herum, als wäre es ihre Henkersmahlzeit. Eigentlich hasste sie den künstlichen Rauchgeschmack und die Textur, die sie an ein Stück Seil erinnerte. Doch kaum hatte sie den letzten Bissen hinuntergewürgt, kramte sie eine zweite BiFi aus ihrer Tasche. Mit den Zähnen riss sie die Verpackung auf, befreite die Wurst aus ihrem Plastikschlauch und warf den Müll auf die Beifahrerseite, wo die Fußmatte schon vollständig von einem ganzen Berg ähnlicher Verpackungen bedeckt war.

Unmittelbar vor ihr beschrieb die Straße eine Kurve. Im schwachen Scheinwerferlicht tauchten Kiefern auf, die lediglich im oberen Drittel Äste trugen. Die bauschigen Kronen ließen die Stämme dürr wie Zahnstocher wirken. Als Jo mit einem Reifen in ein Schlagloch geriet und das Fahrzeug rumpelte, verschluckte sie sich. Sie hustete immer noch heftig, als sie ihr Ziel erreichte.

Das völlig verlassen daliegende Adirondack Outlet Center war ein weiterer Beweis für die wachsende Vorherrschaft von Amazon Prime. Der einstöckige Gebäudekomplex bildete eine Hufeisenform, nur ohne Huf, die Ladenfronten entlang der beiden Längsseiten trugen noch die Überreste von Leuchtreklamen, ausgeblichenen Anzeigentafeln und schief hängenden Schildern mit Namen wie Van Heusen/Izod, Nike und Dansk, skelettartige Geister des Kommerzes, der früher hier floriert hatte. Hinter den staubbedeckten Scheiben wurde längst keine Ware mehr angepriesen, und seit mindestens einem Jahr hatte niemand mehr mit Kaufabsichten und einer Kreditkarte das Gelände betreten. Das Unkraut, das in den Pflasterritzen wuchs, und die Rauchschwalben, die unter den Dachvorsprüngen ihre Nester gebaut hatten, waren weit und breit die einzigen Lebewesen. Auch die ehemalige Fressmeile, die den östlichen und den westlichen Seitenarm des Gebäudes miteinander verband, bot schon lange kein Softeis und keine Speisen mehr an. Nicht einmal Starbucks hatte hier überlebt.

Ein heißer Blitz durchzuckte Jo und trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Sie öffnete das Fenster einen Spaltbreit und ließ es dann komplett herunter. Die Winter in Caldwell, New York, waren bis in den März hinein vergleichsweise kalt, typisch für die nördlicheren Breitengrade. Zum Glück. Hier war sie also, ganz allein um Mitternacht, auf der Jagd nach einer Knallerstory – aber nicht für das Caldwell Courier Journal, für das sie arbeitete. Jo atmete die kalte, feuchte Luft ein und versuchte, sich zum wiederholten Mal mit dem Gedanken zu beruhigen, dass sie mit dem, was sie hier vorhatte, keinen Fehler beging.

Garantiert nicht.

Auf gar keinen Fall.

Zu Hause in ihrer Wohnung wartete ohnehin niemand auf sie. Keine Menschenseele auf dem gesamten Planeten würde ihren übel zugerichteten Leichnam identifizieren und für sich beanspruchen, wenn man ihn in einer Woche in einem Straßengraben fand, entdeckt einzig und allein wegen des fürchterlichen Gestanks.

Jo ließ den Wagen langsam ausrollen, bis er zum Stehen kam, machte die Scheinwerfer aus und blieb ruhig sitzen. Am Himmel war weit und breit kein Mond zu sehen, sie hatte also die richtige Kleidung für diesen Abend ausgewählt. Schwarz. Doch ohne den geringsten Streifen natürlichen Lichts tat sie sich in der Dunkelheit schwer, etwas zu sehen. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen, und das nicht, weil sie Details an dem alten verfallenen Gebäude hätte ausmachen wollen.

Nein, das war nicht der Grund, warum sie so verbissen Ausschau hielt. Im Moment sorgte sie sich einzig und allein darum, sie könnte zum Thema der nächsten Folge von True Crime Garage werden, wenn sie nicht höllisch aufpasste. Plötzlich spürte sie ein unangenehmes Kribbeln im Nacken, als würde sie jemand auf sich aufmerksam machen wollen, indem er die scharfe Spitze eines Tranchiermessers sachte über ihre Haut wandern ließ.

Ihr knurrender Magen schreckte sie auf. Sofort verschwand ihre Hand wieder in ihrer Handtasche. Diesmal ignorierte sie die drei Packungen BiFi, die noch übrig waren, und schnappte sich gezielt den Hershey’s-Riegel. Die geübten Handgriffe, mit denen sie die billige Schokolade von ihrer Plastikhülle befreite, waren der traurige Beweis für ihre ungesunde Ernährungsweise. Als sie den letzten Happen vertilgt hatte, musste sie feststellen, dass sie noch immer hungrig war. Das lag natürlich nicht daran, dass sie nichts im Magen gehabt hätte. Ganz im Gegenteil. Es war immer dasselbe: Die einzigen Lebensmittel, die sie überhaupt zu sich nehmen konnte, ohne dass ihr übel davon wurde, schafften es nicht, ihren nagenden Hunger zu stillen. Von ihrem Energiebedarf einmal ganz zu schweigen.

Sie fuhr das Fenster wieder hoch, nahm ihren Rucksack vom Beifahrersitz und stieg aus. Das Knirschen unter den Sohlen ihrer Turnschuhe, als sie auf das Bankett der Straße trat, war laut wie ein Paukenschlag. Instinktiv hoffte sie, sie würde keine Erkältung ausbrüten. Bitte nicht. Ihr Geruchssinn konnte sich in dieser Sache nämlich noch als nützlich erweisen. Sonst brauchte sie ihn ja nur, um zu prüfen, ob die Milch sauer geworden war.

Oh Mann, sie musste wirklich mit dieser aussichtslosen Jagd aufhören.

Entschlossen schulterte sie den Rucksack, verriegelte das Auto und zog sich die Kapuze ihrer Windjacke über die roten Locken. Sie musste leise sein. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, möglichst flach und ohne abzurollen, um ihre Schritte zu dämpfen. Während ihre Augen sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, stellte sie fest, dass sie nach wie vor nicht viel mehr als die Schatten um sich herum wahrnahm. Die Ecken und Winkel der Eingänge zur Mall sowie die Sitznischen, in denen mögliche Angreifer sich bei einem Versteckspiel für Erwachsene bis zur geplanten Attacke auf die Lauer legen konnten, lagen im undurchdringlichen Dunkel.

Als sie den Zugang zur Promenade erreichte, der mit einer schweren Kette gesichert war, blickte sie sich um. Auf den außen liegenden Parkplätzen entlang der Gebäudeflanken war niemand zu sehen, genauso wenig innerhalb des zu einer Seite hin offenen rechteckigen Platzes im Zentralbereich. Keine Menschenseele auf der Straße, die sie zu dieser Anhöhe oberhalb der Route 149 geführt hatte.

Jo war mit ihrer Lagesondierung zufrieden. Sie konnte davon ausgehen, dass niemand sie bei ihrem Vorhaben überraschen würde.

Der Adrenalinschub, der mit einem Mal durch ihren Körper raste, informierte sie hingegen darüber, dass sie auch niemand hören würde, wenn sie um Hilfe schrie.

Sie riss sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf die Absperrung. Eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf sagte ihr, dass sie bei ihrer Rückkehr nicht mehr dieselbe sein würde, wenn sie jetzt über diese Kette stieg und weiterging.

»Halt die Klappe«, zischte sie und schwang trotzig erst ein Bein darüber, dann das andere. Ohne zu zögern, huschte sie im Schutz der Dunkelheit auf das Gebäude zu.

Sie hielt sich dicht an den Fronten der rechten Ladenzeile und war froh, dass der Architekt so umsichtig gewesen war, die Korridore zu überdachen, denn im selben Moment fing es an zu tröpfeln. Weniger Grips hingegen hatte derjenige bewiesen, der geglaubt hatte, ein Shoppingcenter ohne geschützte Gänge im Gebäudeinneren könnte in einem Postleitzahlenbereich so nahe an der kanadischen Grenze überleben. Keinem Menschen war es die zehn Dollar wert, die er sich beim Kauf von ein paar lausigen Kerzenständern oder einem reduzierten Badeanzug sparte, wenn er sich von Oktober bis April dabei die Finger abfror. Noch dazu in Zeiten, in denen man sich so gut wie alles mit einem einzigen Mausklick bis zum Folgetag frei Haus liefern lassen konnte.

Am Ende des überdachten Säulengangs blieb sie vor einer Ladenfront stehen. Sie nahm an, dass es sich dabei um eine ehemalige Eisdiele handelte, weil im Fenster noch die verblassten Umrisse einer Kuh zu erkennen waren, die eine Eiswaffel mit drei Kugeln zwischen den Hufen hielt. Jo zog ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer.

Schon beim ersten Klingeln wurde abgehoben.

»Alles okay bei dir?«, fragte Bill ohne Umschweife.

»Wohin muss ich?«, wisperte sie. »Ich sehe nichts.«

»Es ist auf der Rückseite. Du musst hintenrum gehen. Hab ich dir doch gesagt, schon vergessen?«

»Mist.« Vielleicht war das viele Nitrit, das in ihren Salamisnacks enthalten war, nicht gut für ihr Gehirn. »Warte, ich glaube, ich habe die Treppe gefunden.«

»Soll ich zu dir rauskommen?«

Jo setzte sich wieder in Bewegung und schüttelte den Kopf, was Bill durchs Telefon natürlich nicht sehen konnte. »Schon in Ordnung – ja, tatsächlich, da ist ein Durchgang zur Rückseite des Gebäudes. Ich ruf dich wieder an, wenn ich noch was brauche.«

»Du solltest das besser nicht alleine durchziehen!«

Ohne ein weiteres Wort trennte Jo die Verbindung und joggte die Betonstufen hinunter. Ihr Rucksack hopste mit jeder Bewegung auf ihrem Rücken auf und ab, als würde er Liegestütze machen. Als sie auf der anderen Seite auf der Ebene darunter wieder herauskam, ließ sie den Blick rasch über den leeren Parkplatz schweifen …

Der beißende Gestank, der ihr unversehens in die Nase drang, löste einen Würgereflex bei ihr aus. Es roch wie eine Mischung aus totem Tier und … Babypuder?

Sie sah sich nach der Quelle dieser üblen Ausdünstung um. Ihr Blick blieb an einem Gebäude mit Wellblechdach gleich bei der gegenüberliegenden Baumreihe hängen. Vermutlich eine Art Lager, das, mitten in der amerikanischen Tornado-Gasse gelegen, garantiert nicht mehr lange stehen würde. Es war etwa halb so lang wie ein Footballfeld, mit Garagentoren, die mit einem Vorhängeschloss am Boden gesichert waren. Jo stellte sich vor, dass darin von übrig gebliebenen Pflastersteinen bis hin zu Rasenmähern, Laubbläsern und einem Schneepflug alles Mögliche aufbewahrt worden war.

Die einzige Tür von normaler Größe hing lose in den Angeln, und als eine heftige Windbö sie erfasste, erklang ein unheimliches Knarzen wie aus einem George- A.-Romero-Film. Sekunden später fiel die Tür krachend ins Schloss, als hätte Mutter Natur genau wie Jo etwas gegen den widerlichen Gestank.

Wieder holte sie ihr Handy hervor und schrieb eine Nachricht an Bill: Hier mieft es ganz fürchterlich.

Sie überquerte den Parkplatz und wurde sich bewusst, dass sich ihre Herzfrequenz soeben verdreifacht hatte. In einem unregelmäßigen Stakkatorhythmus prasselte der Regen auf die Kapuze ihrer Windjacke. Sie ließ ihre Hand unter dem weiten Nylonstoff verschwinden, tastete nach der Waffe im Holster und schloss die Finger um den Griff.

Schnarrend ging die Tür wieder auf und schlug erneut zu, und wieder traf sie eine Wolke von dem Pestilenzhauch, der aus der tiefen Dunkelheit im Inneren des Gebäudes zu kommen schien. Jo schluckte gegen das trockene Würgen an und musste sich zwingen, weiterzugehen. Und es war nicht der starke Gegenwind, der ihr das Vorwärtskommen erschwerte.

Als sie die Tür erreichte, hatte das Auf- und Zuschwingen plötzlich ein Ende, als gäbe es jetzt, da sie jeden Moment eintreten würde, keinen Grund mehr, sie auf sich aufmerksam zu machen.

Gott stehe ihr bei, wenn Pennywise auf der anderen Seite auf sie wartete …

Mit einem letzten Blick über beide Schultern vergewisserte Jo sich, dass auf dem Gelände keine roten Luftballons zu sehen waren, dann streckte sie langsam die Hand nach der Türklinke aus.

Ich muss es wissen, dachte sie, als sie sie aufzog. Ich muss es … einfach wissen.

Vorsichtig spähte sie um den Türstock herum, konnte aber absolut nichts erkennen. Trotzdem war sie wie erstarrt angesichts dessen, was ihr aus dem Raum entgegenschlug. Es war etwas durch und durch Böses, dessen Gegenwart sie spürte, etwas, das Kinder entführte und ermordete, Unschuldige abschlachtete, sich am Leiden der Gerechten und Gütigen ergötzte. Es warf sich ihr entgegen und ergriff von ihrem Körper Besitz, eine todbringende Strahlung, die bis tief in ihre Knochen vordrang.

Hustend und würgend wich Jo zurück und verbarg Nase und Mund schützend in der Armbeuge. Panisch tastete sie nach ihrem Handy.

Ehe Bill etwas sagen konnte, stieß sie keuchend hervor: »Du musst sofort herkommen …«

»Bin schon unterwegs.«

»Gut.«

»Was ist los bei …«

Jo legte auf, ohne seine Frage abzuwarten, und knipste hastig die mitgebrachte Taschenlampe an. Todesmutig wagte sie sich wieder einen Schritt vor, stieß mit der Schulter die Tür auf und leuchtete ins Dunkel.

Das Licht wurde im selben Moment verschluckt.

Als würde man den Strahl der Taschenlampe ins Innere eines Stoffballens aus dichtem Gewebe richten, kam das schwache Leuchten nicht gegen das an, worauf sie sich zubewegte.

Die Schwelle, über die sie trat, war nichts weiter als ein Dichtungsband, und trotzdem kam ihr die anderthalb Zentimeter hohe Erhebung vor wie ein unüberwindbares Hindernis. Überrascht bemerkte sie, dass der Boden unter ihren Füßen klebrig war. Sie hob das rechte Bein und richtete die Taschenlampe auf ihren Turnschuh. Etwas, das an Motoröl erinnerte, tropfte von der Sohle. Als sie ihren Fuß wieder auf den Boden setzte, schien das schmatzende Geräusch überlaut durch den leeren Raum zu hallen.

Jo zwang sich weiterzugehen. Zu ihrer Linken stieß sie auf den ersten Eimer. Home Depot. Mit orange-weißem Logo, verschmiert mit einer rostfarbenen Substanz, bei deren Geruch sich ihr der Magen umdrehte.

Mit zitternder Hand richtete sie den Lichtstrahl in das Gefäß. Es war etwa zur Hälfte mit einer glänzenden, schimmernden … roten? … ja, roten Flüssigkeit gefüllt. Jo glaubte einen kupfrigen Geschmack am Gaumen zu spüren …

Von plötzlicher Panik erfasst, riss sie die Taschenlampe hoch und wirbelte herum.

Hinter ihr hatten zwei Männer das Lager betreten, ohne den geringsten Laut von sich zu geben. Drohend ragten sie vor Jo auf, als wären sie unvermittelt aus dem Boden gewachsen, zwei Spukgestalten aus ihren Albträumen, genährt vom kalten Frühlingsregen und gehüllt in den Schutz der Nacht. Einer der beiden hatte ein kleines Ziegenbärtchen, Tattoos an der rechten Schläfe, eine Zigarette zwischen den Lippen und einen durch und durch fiesen Ausdruck auf den harten Gesichtszügen. Der andere trug eine Baseball-Kappe der Boston Red Sox und einen langen kamelhaarfarbenen Wollmantel, dessen Schöße nur sachte hinter ihm emporwehten, obwohl der Wind noch einmal sehr stark aufgefrischt hatte. Jeder von ihnen hatte ein Holster um die Brust geschnallt, in dem mit den Griffen nach unten ein Paar schwarzer Dolche steckte, und Jo zweifelte keine Sekunde daran, dass sie noch weitere, gut verborgene Waffen am Leib trugen.

Sie waren gekommen, um sie zu töten. Was sonst. Sie waren ihr vom Wagen aus gefolgt und hatten sie beobachtet, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte.

Jo wich taumelnd zurück und versuchte, nach ihrer eigenen Waffe zu greifen, ließ aber wegen ihrer schweißnassen Hände das Handy fallen und hatte Mühe, die Taschenlampe zu halten …

Plötzlich war sie wie gelähmt. Sie war unfähig, sich zu rühren.

Obwohl ihr Gehirn ihren Füßen, ihren Beinen, jeder Faser ihres Körpers befahl, sich auf der Stelle in Bewegung zu setzen, wollte dieser ihren panischen Anweisungen nicht gehorchen. Ihre Muskeln zuckten hilflos im festen Griff einer unsichtbaren Gewalt, ihre Knochen schmerzten, ihr Atem ging stoßweise. Der Schmerz löste ein wahres Feuerwerk in ihrem Gehirn aus, brachte ihre Synapsen zum Knistern.

Langsam öffnete sie den Mund, und dann schrie sie ihre Todesangst hinaus …

2

Syn materialisierte sich mitten im eisigen Nieselregen. Mit geschmeidiger Leichtigkeit federten seine Muskeln das Gewicht seines von oben bis unten in Leder gehüllten Körpers ab, und eben noch eine hauchzarte Wolke aus Molekülen, nahm sein schwarzes Herz seine Arbeit wieder auf. Seine schweren Kampfstiefel versanken im Matsch. Die Reihe aus sündteuren Limousinen und SUVs auf dem Parkplatz des Zementwerks wirkten neben den aufgetürmten Betonbausteinen, den tonnenschweren Baufahrzeugen und den riesigen Betonmischern wie eine Gruppe dürrer Flittchen inmitten einer Horde Sumo-Ringer. Völlig fehl am Platz.

Während Syn sich auf sein Ziel zubewegte, strich er mit der Zunge über die Spitze seiner Fänge. Die so entstandene Wunde sorgte dafür, dass er Blut im Mund hatte. Genüsslich schluckte er den köstlichen Saft hinunter, ballte die Hände zu Fäusten und achtete nicht auf sein Gehirn, das einer Zündschnur gleich jeden Moment in Brand gesteckt werden würde.

Das Raubtier in ihm verlangte nach Beute.

Manchmal musste man sich nähren, auch wenn der Magen gut gefüllt war.

Als er sich dem flachen Vordach des Firmengebäudes näherte, blickte der stämmige Mensch, der auf einem Plastikstuhl neben dem Eingang saß und Wache hielt, von seiner Daily Racing Form auf. Die nackte Glühbirne über seinem Kopf warf dunkle Schatten auf seine Gesichtszüge, sodass Augenhöhlen und Nasenöffnungen wie schwarze Löcher wirkten. Syn stellte sich den kahlen Schädel vor, der zurückbleiben würde, sobald der Tod Haut, Muskeln und Sehnen vom Skelett entfernt hätte.

Der Mann runzelte die Stirn, hob zur Begrüßung die Hand mit der Pistole und legte sie gut sichtbar auf seine Zeitschrift.

»Ich habe eine Verabredung«, sagte Syn grußlos. Er war einige Schritte vor dem Mann stehen geblieben.

»Hier erwartet dich niemand.«

Als Syn keine Anstalten traf, sich vom Acker zu machen, beugte der Mann sich drohend vor. »Hörst du schlecht? Ich sagte, hier erwartet dich niemand …«

Syn dematerialisierte sich unmittelbar vor dem Menschen, packte ihn an der Kehle, hob ihn hoch in die Luft und rammte ihn gegen die Hauswand. Der Campingstuhl kippte zur Seite, als hätte er nicht die leiseste Absicht, sich in Probleme einzumischen, die ihn nichts angingen.

Während Syn sein Opfer flink entwaffnete, gruben sich dessen fleischige Finger in die Hand, die seine Kehle mit eisernem Griff umklammerte. Wild trat er mit beiden Beinen um sich und schlug mit den Absätzen seiner Schuhe gegen die Gebäudewand. Sein eben noch so loses Mundwerk war nun weit aufgerissen, in dem vergeblichen Versuch, Luft in seine offensichtlich bereits höllisch brennende Lunge zu saugen.

Andererseits rang die nackte Panik dem Erstickenden ein Tänzchen ab, unabhängig davon, dass der Sauerstoffmangel unter normalen Umständen ein echtes Mauerblümchen war. Für Syn eine erfreuliche Showeinlage.

»Ich bin mit jemandem verabredet«, wiederholte Syn mit sanfter Stimme. »Und wenn du Glück hast, bist es nicht du.«

Syn ließ den widerspenstigen Kerl so weit sinken, dass seine Füße wieder Bodenhaftung fanden, ehe er seinen Griff etwas lockerte. Der andere sollte schließlich wenigstens dazu in der Lage sein, sich stimmlich zu äußern. Wobei Syn nicht auf eine Wortmeldung aus war. Oh nein. Eine Reaktion dieser Art wäre für ihn ein allzu karges Mahl.

Wenn schon, dann wollte er einen ordentlichen Schrei hören, der ihm noch lange in den Ohren schrillen würde.

Bedächtig zog er einen seiner stählernen Dolche. Als er die Klinge hob, verlagerte der Mann seine hilflosen Hände von den eisigen Fingern, die seinen Hals umklammerten, hin zu dem Handgelenk und dem Unterarm, die die Waffe führten. Die Protestlaute, die er dabei ausstieß, klangen erbärmlich und schwach wie von einem Kind und hatten keinerlei Wirkung auf Syn.

Unerbittlich drang die Spitze der Klinge in das linke Ohr des Mannes ein, und als sie die erste Kerbe in die Haut des Gehörgangs ritzte, atmete Syn genüsslich ein.

Blut. Schweiß. Angst.

Er presste seinen Unterleib gegen den des Mannes. Seine Erektion hatte nichts mit Sex zu tun, auch wenn der Mann, nach den vor Entsetzen weit aufgerissenen, feucht glänzenden braunen Augen zu urteilen, die Situation völlig anders interpretierte.

Der Vampir senkte die Lider und spürte, wie ihn, ausgelöst durch die Pein des anderen, ein Gefühl grenzenloser Macht durchströmte, wie ihn lustvolle Dominanz, Aggression, Mordgier übermannten. Eine leise Stimme in seinem Hinterkopf ermahnte ihn, sofort damit aufzuhören. Das war nicht der Plan gewesen, aber was noch schwerer wog: Viel zu bald wäre es wieder vorüber, und dann ginge es an den unangenehmen Teil, nämlich das Großreinemachen – und damit meinte er nicht das viele Blut, das fließen und alles durchtränken würde.

»Wehr dich«, flüsterte er. »Los, trau dich. Setz dich gegen mich zur Wehr – gib mir einen Vorwand, damit ich dir ein Loch in den Schädel rammen und dein verdammtes Hirn rauslaufen lassen kann.«

»Ich … habe … Kinder«, stammelte der Mann gepresst. »Bitte … meine Kinder …«

Syn lockerte seinen Griff kaum merklich. »Ach, was du nicht sagst.«

Der Mann nickte eifrig, als würde sein Leben von der Anzahl seiner Nachkommen abhängen. »Ja. Einen Jungen und ein Mädchen, und ich …«

»Bist du mit dem Auto zur Arbeit gekommen?«

Der Mann blinzelte, als hätte er Schwierigkeiten, Syns stark von der Alten Sprache geprägten Akzent zu verstehen. »Äh, ja, wieso?«

»Du hast also deinen Führerschein bei dir, nehme ich an. Weil du doch bestimmt ein ganz gesetzestreuer kleiner Gauner bist.«

»I… ich, äh, ja, klar, hab meine Brieftasche einstecken. Nimm dir ruhig die Kohle …«

»Gut.« Syn beugte sich ein Stück runter, sodass er dem Kerl direkt ins Gesicht schauen konnte. Er schob sich so dicht vor dessen rechtes Auge, dass seine Wimpern mit jedem Blinzeln die von Syn berührten. »Sobald ich mit dir fertig bin, verschaffe ich mir Zutritt zu deinem Haus und töte deine Kinder in ihren Betten. Und deine Frau? Ihre verzweifelten Schreie werden dich bis ins Grab verfolgen, das schwöre ich dir.«

Blankes Entsetzen drang aus jeder einzelnen Pore des Menschen, begleitet von dem typischen beißenden, würzigen Aroma, das auf Syn dieselbe Wirkung hatte wie Kokain. Herzrasen, beschleunigte Atmung, das Blut in Wallung, pures Glück, das durch seine Adern rauschte …

Plötzlich schwang eine Tür auf, die ihm bislang verborgen geblieben war.

Der korpulente ältere Kerl, der sie aufgestoßen hatte, hatte eine runde Knubbelnase und hässliche Aknenarben im Gesicht, die an die zerfurchte Kraterlandschaft des Mondes erinnerten. Sein Blick aber war flink und hellwach.

»Jesus Christus, schätze, du bist der Typ, auf den ich warte. Komm rein – und bring ihn bitte nicht um, ja? Er ist mit der Cousine meiner Frau verheiratet. Nicht, dass Ostern dieses Jahr zum verdammten Albtraum wird.«

Für einen Sekundenbruchteil verweigerte Syns Körper sich der Anordnung, von dem Mann abzulassen. Einer Anordnung, die übrigens nicht von dem Menschen kam. Sein eigenes Gehirn war normalerweise der einzige Befehlshaber, dem Syn gehorchte, und trotzdem blieben seine Hände stur um den Hals des Mannes gelegt. Andererseits, wenn er sich die Befriedigung jetzt versagte, konnte er vielleicht später den anderen töten, der eine noch viel prächtigere Beute darstellte. Das hier war nicht das Ende. Es war erst der Anfang.

Wie ein Raubtier, das durch die überraschende Aussicht auf Frischfleisch von dem bereits erlegten Kadaver abgelenkt wurde, fuhr er die Krallen ein und zog sich von seinem Beinahe-Opfer zurück. Der Mann bekam einen heftigen Hustenanfall und krümmte sich, als wollte er den Boden der Veranda mit seinen Haaren fegen.

»Komm rein«, sagte der Alte. »Besser, dich sieht niemand.«

Syn musste den Kopf einziehen, um durch die gut getarnte Tür zu passen. In dem dahinterliegenden schmalen Flur streifte er mit seinen muskelbepackten Oberarmen die Mauern zu beiden Seiten, und auch der fette Kerl passte nur mit Mühe hindurch. Hinter der Wand zu seiner Linken hörte man eine Gruppe von Männern beim Kartenspiel lautstark durcheinanderrufen, und Syn roch den Rauch von Zigarren, von Gras und von Zigaretten. Alkohol. Rasierwasser.

Am Ende des Flurs war eine Schiebetür zu sehen, und hinter dieser dünnen Abtrennung befand sich ein winziges Büro. Unter einem Haufen Unterlagen war ein Schreibtisch zu erahnen. Ein Aschenbecher mit einem glühenden Zigarrenstummel. Ein durchgewetzter Drehstuhl, auf dessen Sitzfläche sich der Abdruck eines breiten Hinterns abzeichnete. Auf einem kleinen Schwarz-Weiß-Monitor konnte man mitverfolgen, wie der Mann mit der Autozeitschrift seinen Plastikthron wieder aufstellte und erneut Position am Eingang bezog.

»Setz dich«, forderte der Alte ihn auf und deutete auf den harten Holzstuhl vor dem Schreibtisch. »Dauert nicht lang.«

Syn registrierte aus dem Augenwinkel, wie sich der Zugang zum Flur wieder schloss und mit der Wand zu verschmelzen schien. Ihm gegenüber entdeckte er eine weitere Tür, diesmal eine ganz normale, mit gewöhnlichen Angeln und einem klassischen Griff. Er setzte sich mit dem Rücken zur Ecke daneben, sodass er den alten Mann, den Zugang zur verborgenen Passage und die eigentliche Tür zum Büro im Blick behalten konnte.

»Nun, du kommst mit den besten Empfehlungen«, grunzte der Alte, während er sein beachtliches Gewicht in den Sessel senkte. Es war nicht zu übersehen, dass seine Knie ihm bereits vorzeitig den Dienst zu versagen drohten. »Normalerweise kümmere ich mich selbst um solche Angelegenheiten, aber das geht in diesem Fall nicht.«

Es entstand eine Pause. Dann brachte der Mensch einen Laptop zum Vorschein und stellte ihn auf dem Papierberg ab. Er setzte das Gerät in Gang und wartete. Dann zuckte sein trüber Blick hoch. »Wir müssen die Straßen von diesem Dreck säubern.«

Mit diesen Worten drehte er den Laptop mit dem Monitor zu Syn. Darauf war eine körnige Schwarz-Weiß-Aufnahme zu sehen. Wie ein Bild, das man mit dem Handy aus der Zeitung abfotografiert hatte.

»Johnny Pappalardo. Dieser Mistkerl hat gegen einige Regeln verstoßen, die in meinem Territorium absolut heilig sind.«

Als Syn nicht reagierte, runzelte der Alte die Stirn. »Gibt es ein Problem?«

Seine pummelige Hand verschwand unter dem Schreibtisch, doch Syn bewegte sich schneller, als ein menschliches Auge es hätte registrieren können. Ohne seinen Blick von dem Alten abzuwenden, hatte er zwei identische Glocks mit Schalldämpfern gezückt und hielt sie auf den Mann beziehungsweise auf die Eingangstür gerichtet.

Gerade noch rechtzeitig, wie sich herausstellte, denn im selben Moment kam auch schon ein Bodyguard ins Büro gestürmt.

Die beiden Menschen waren wie zu Salzsäulen erstarrt, als Syn mit leiser Stimme zu sprechen begann: »Es gibt kein Problem. Und wenn das so bleiben soll, dann tu das nie wieder.«

Der Alte kämpfte sich mühsam hoch und beugte sich über den Schreibtisch. »Du stammst nicht von hier, mein Sohn, nicht wahr? Hat dein Freund dir nicht gesagt, wer ich bin …«

Syn betätigte gleichzeitig die Abzüge beider Waffen. Die Kugeln sausten jeweils knapp an den Köpfen der Männer vorbei und landeten in der Wand. Erschrocken fuhren sie zusammen und rissen schützend die Arme hoch.

»Mich interessiert nur der Job«, sagte er. »Zwingt mich nicht dazu, dass ich mich auch noch um euch beide kümmern muss.«

Es folgte ein längeres, angespanntes Schweigen. Dann plumpste der Alte stöhnend zurück auf seinen Schreibtischstuhl.

»Lass uns allein«, sagte er zu seinem Bodyguard. Als der andere keine Anstalten machte, sich zu verziehen, fuhr er ihn an: »Herrgott, Junior, bist du taub?«

»Junior« sah zu Syn, der ihm einen direkten Blick seinerseits ersparte. Dieselbe fahle Hautfarbe. Dieselbe Gesichtsform. Die gleiche Art, die Augen zusammenzukneifen. Das Einzige, was ihn von seinem Vater unterschied, waren schätzungsweise fünfundzwanzig Jahre und fünfundsiebzig Pfund, die zwischen ihnen lagen.

»Mach die Tür hinter dir zu, Junior«, knurrte Syn. »Dann bist du wenigstens in Sicherheit, falls ich doch noch mal rumballern muss.«

Junior warf einen letzten Blick zu seinem Vater, um sich sein Okay zu holen, ehe er den Rückzug antrat.

Der Alte stieß ein trockenes Lachen aus. »Du hast wohl keine Skrupel, wie?« Während er eine Hand in seiner Strickjacke verschwinden ließ, fügte er nüchtern hinzu: »Willst du deine Knarren nicht wieder runternehmen?«

Als Syn nicht reagierte, schüttelte der Alte nur grinsend den Kopf. »Ihr jungen Leute. Habt immer Überdruck im Tank. Wenn du die Kohle willst, musst du mich sie schon rausholen lassen …«

»Ich will dein Geld nicht. Nur den Job.«

Misstrauisch kniff der Mann die Augen zusammen. »Was soll das heißen?«

Syn bewegte sich blitzschnell auf die Schiebetür zu. Als er die Vertäfelung kraft seines Willens öffnete, wich der Alte unwillkürlich zurück, schien sich aber schnell wieder zu berappeln. Offenbar ging er davon aus, dass sie sich vorhin nicht richtig geschlossen hatte.

»Du willst kein Geld?«, fragte er ungläubig. »Wer zum Henker macht heutzutage noch einen Finger krumm, ohne sich dafür bezahlen zu lassen?«

Syn senkte das Kinn und sah den Alten unter den dichten Wimpern hervor an. Während sein Blick die ganze bedrohliche Kraft seines Talhman aussandte, schob der Mensch sich furchtsam auf seinem Drehsessel zurück. Der Gedanke, dass er sich genau mit der Waffe auf engstem Raum befand, die er eigentlich für seine Zwecke hatte einsetzen wollen, schien ihm nicht mehr zu behagen.

»Jemand, der Freude am Töten hat«, knurrte Syn.

3

Als Butch O’Neal vor dem zu der stillgelegten Mall gehörigen Lager stand und in das vor Angst erstarrte Gesicht der jungen Frau blickte, schoss ihm ein verdammt seltsamer Gedanke durch den Kopf. Brian. Aus unerfindlichem Grund erinnerte er sich plötzlich an seinen Taufnamen. Warum der in dieser Situation eine Rolle spielen sollte, war ihm schleierhaft, deshalb schrieb er diese flüchtige Eingebung der Tatsache zu, dass die Frau ihn entfernt an seine Cousine mütterlicherseits erinnerte. Aber auch das war eigentlich nichts Besonderes, denn in Southie, wo er geboren und aufgewachsen war, gab es bestimmt Tausende Rothaarige wie sie.

Tja, außerdem hatte er schon seit – wie lang? – mindestens drei Jahren niemanden mehr aus seiner Familie gesehen, weder aus dem engsten Kreis noch die entferntere Verwandtschaft. Er hatte aufgehört zu zählen, wie viel Zeit seither vergangen war, aber nicht, weil es ihn nicht interessiert hätte.

Wobei, das war gelogen. Es kratzte ihn tatsächlich nicht die Bohne.

Was ihn hingegen im Augenblick viel mehr interessieren sollte, war die Tatsachte, dass die Frau ein Mischling kurz vor der Transition war.

Er war einmal genau an dem Punkt gewesen, an dem sie jetzt stand.

»Habe ich hier den richtigen Riecher?«, fragte er an seinen Mitbewohner gewandt. Der zugleich sein bester Freund war. Sein wahrer Bruder, im Vergleich zu den biologischen, die er in der Menschenwelt zurückgelassen hatte. »Oder spinne ich?«

»Nope.« Vishous, Sohn des Bloodletter und der heiligen Jungfrau der Schrift, stieß eine Wolke türkischen Tabaks aus. Für einen kurzen Moment verschwanden seine harten Gesichtszüge mit dem Ziegenbärtchen dahinter. »Du täuschst dich nicht, Bulle. Ihre Hormone müssen schon völlig verrücktspielen. Und ich habe die Schnauze verdammt voll davon, immer wieder ihre Erinnerungen zu löschen.«

»Du hast doch von fast allem die Schnauze voll.«

»Sei nicht so fies.« V winkte der Frau zu. »Bye-bye, Baby …«

»Warte, sie hat ihr Handy fallen lassen.«

Butch machte ein paar Schritte in den Raum und würgte. Diese verfickten Lesser. Da ließ er sich ja lieber stinkende Socken unter die Nase halten. Zum Glück war das Telefon mit dem Display nach oben in der öligen Masse gelandet. Er zog ein Taschentuch heraus und gab sein Bestes, das Ding sauber zu wischen, ehe er es der Frau in die Jackentasche steckte und einen Schritt zurücktrat.

»Ich bin mir sicher, dass wir uns bald wiedersehen«, meinte V trocken.

Als sie wie ferngesteuert in den Regen hinaustrat, blickte Butch ihr nach und beobachtete, wie sie die asphaltierte Fläche überquerte und die Betonstufen erklomm, bis sie außer Sicht war. »Sie überwachst du also die ganze Zeit?«

»Sie gibt verdammt noch mal einfach keine Ruhe.«

»Die Website über Vampire?«

»Damn Stoker. Wie verdammt originell. Erinnere mich dran, dass ich mich an sie wende, wenn mir wieder mal kein geistreiches Wortspiel einfällt.«

»Sie ist auf der Suche nach sich selbst, auch wenn sie noch keinen blassen Schimmer davon hat. So was lässt sich nicht so leicht abstellen.«

»Tja, ich hab aber echt Besseres zu tun, als mich um ihren verfluchten Hormonhaushalt zu kümmern. Mir kommt es vor, als würde ich darauf warten, dass das Ei endlich hart gekocht ist.«

»Du bist ein wahrer Wortakrobat.«

»Jetzt erst recht, wo ich meinen Wortschatz um ›Vampir-Verschwörungstheoretiker‹ ergänzen kann.« V ließ den Stummel seiner Selbstgedrehten fallen und trat ihn mit seinem Springerstiefel aus. »Du solltest den Scheiß, den die posten, mal lesen. Es gibt eine ganze Community von diesen Spinnern.«

Butch hob mahnend den Zeigefinger. »Entschuldigen Sie bitte, Professor Xavier, aber da wir tatsächlich existieren, wie können Sie diese Leute als Spinner abtun? Und wenn diese Frau auch nur eine von diesen Spinnern ist, wie kann es dann sein, dass sie diese Initiationsstätte fast zeitgleich mit uns entdeckt hat?«

»Hast du was dagegen, wenn ich mich jetzt um Omegas Sauerei kümmere? Oder willst du weiter über Offensichtliches schwadronieren, während es uns die Nasenschleimhäute wegätzt und der Regen den ganzen Kaschmir, den du am Leib trägst, aufweicht.«

Butch stieß einen leisen Fluch aus und wischte hektisch über die Schultern seines Tom-Ford-Mantels. »Ich hasse es, dass du immer weißt, wo meine Schwachstellen liegen.«

»Du hättest auch einfach Leder anziehen können.«

»Ich habe eben Stil.«

»Und ich hätte die Sache hier genauso gut auch allein regeln können. Du weißt, dass ich meine ganz eigene Verstärkung dabeihabe.«

Damit hob V seinen mit Blei gefütterten Handschuh an den Mund und schnappte mit seinen scharfen weißen Zähnen nach der Spitze seines Mittelfingers. Er zog die schützende Hülle herunter und brachte die leuchtende Hand zum Vorschein, die auf beiden Seiten mit Warnungen in der Alten Sprache tätowiert war.

Er hielt seinen Fluch hoch und tauchte den Lagerraum in ein Licht, so hell, als wäre es mitten am Tag. Das Blut auf dem Boden war schwarz, das in den sechs Eimern rot. Butchs Füße hinterließen kurzzeitig Spuren in der öligen, stinkenden Masse, die aber innerhalb kürzester Zeit wieder unter dem Zeug verschwanden.

Butch ging in die Hocke, zog den Zeigefinger durch das klebrige Zeug und zerrieb es zwischen den Fingerkuppen. »Nope.«

Vs Blick aus seinen diamantenen Augen schoss zu ihm. »Was meinst du?«

»Hier ist was faul.« Butch angelte sich ein Taschentuch, um sich zu säubern. »Das Zeug ist zu dünnflüssig. Nicht mehr wie früher.«

»Meinst du …« V, der seine Gedanken normalerweise immer zu Ende führte, geriet verunsichert ins Stocken. »Ist es bald so weit? Was denkst du?«

Butch richtete sich wieder auf und trat dicht an einen der Eimer heran. Fertigspachtelmasse. Der Markenname war noch zu erkennen. Das Blut, das aus der Vene eines Menschen stammte, war zu einer zähen Pampe geronnen. Und zur Abwechslung war sogar ein wenig Fleischeinlage in der Suppe.

»Ich glaube, da drinnen schwimmt ein Herz«, stellte er nüchtern fest.

»Unmöglich.«

Seit Jahrhunderten nahmen die neuen Rekruten in der Gesellschaft der Lesser dieses Organ in einem verschlossenen Gefäß mit nach Hause. Wenn sie es verloren, nachdem ihr Meister es ihnen herausgerissen hatte, bekamen sie mächtig Ärger mit Omega – und deshalb nahmen die Brüder diese Herz-Gefäße nach Möglichkeit mit, wenn sie einen von ihnen erledigt hatten.

Die Jäger verloren ihre Menschlichkeit. Ihre Seele. Ihren freien Willen. Aber niemals dieses Organ, das sie für ihre Existenz eigentlich nicht mehr benötigten.

»Doch, ganz sicher, es ist ein Herz«, bestätigte Butch, während er auf den nächsten Eimer zuging. »In diesem hier liegt auch eins.«

»Ich schätze mal, Omega wird nachlässig. Oder er ist nicht mehr so in Form wie früher.«

Butch sah sich nach seinem Mitbewohner um. Der besorgte Ausdruck auf dem Gesicht des Bruders gefiel ihm ganz und gar nicht. »Glotz mich nicht so an.«

»Wie denn?«

»Als wäre ich die Lösung des Problems.«

Einen Augenblick schwiegen sie beide, dann sagte V leise: »Aber das bist du, Bulle. Und das weißt du ganz genau.«

Butch kam auf ihn zu und schob seine Brust dicht an die des Bruders heran. »Und was, wenn wir uns irren?«

»Die Prophezeiung haben nicht wir uns ausgedacht. Sie ist Teil der Überlieferung. So wurde es vorhergesagt, und so wird es sein. Erst ist sie die Zukunft und dann, wenn die Zeit reif ist, die Gegenwart. Und in der Nachwelt wird sie zur geheiligten Vergangenheit. Dann werden Aufzeichnungen von der Rettung der Spezies berichten, vom glorreichen Ende des Krieges.«

Butch musste unwillkürlich an seine Träume denken. Wegen denen er in letzter Zeit immer öfter mitten am Tag aus dem Schlaf hochschreckte. Über die er nicht mal mit Marissa sprach. »Was, wenn ich nicht mehr an diesen ganzen Blödsinn glaube?«

Was, wenn ich nicht mehr daran glauben kann, verbesserte er sich im Stillen.

»Du denkst, das Schicksal braucht dein Einverständnis, um sich zu erfüllen?«

Ein ungutes Gefühl machte sich in Butchs Adern breit, wie Ratten, die sich ihren Weg durch die Abwasserrohre suchten. Und während seine Angst sich ungehindert ausbreitete, fühlte er selbst sich wie gefangen. »Was, wenn ich nicht gut genug bin?«

»Das bist du. Du musst es sein.«

»Ohne dich schaffe ich das nicht.«

Die diamantenen Augen seines besten Freundes mit ihrer tiefblauen Umrandung wurden weich, der beste Beweis dafür, dass selbst die härteste Substanz der Welt nachgeben konnte, wenn sie es nur wollte. »Ich bin für dich da, jetzt und für alle Ewigkeit. Ich glaube fest an dich.«

»Ich habe nie darum gebeten.«

»Keiner bittet je um solche Dinge«, gab V in rauem Ton zurück. »Und selbst wenn, was spielt es für eine Rolle? Es ist Schicksal.«

V schüttelte langsam den Kopf, als würde er sich nach und nach an einzelne Szenen und Episoden aus seinem eigenen Leben erinnern. Wege, die er gezwungen gewesen war zu gehen, zweifelhafte Geschenke, die man ihm aufgedrängt und die er nicht gewollt hatte, Lasten, die man ihm aufgebürdet hatte, jede von ihnen ein Produkt der Manipulationen und der Wünsche anderer. Wenn man bedachte, dass Butch über die Vergangenheit seines Mitbewohners genauso gut Bescheid wusste wie über seine eigene, fragte er sich, wie diese Schicksalstheorie, von der Vishous sprach, wohl aussah.

Vielleicht war dieses intellektuelle Konstrukt, das man Vorsehung oder Fügung nennt, nur eine Möglichkeit, all den Scheiß zu erklären, der den Leuten tagaus, tagein passierte. Vielleicht hatte dieses ganze sprichwörtliche Pech, das über den Köpfen von herzensguten Geschöpfen ausgekippt wurde, dieses ganze Gequatsche von Murphys Law und so weiter, in Wirklichkeit gar nichts mit dem Schicksal zu tun, sondern war nur eine Manifestation der unpersönlichen Natur des vorherrschenden Chaos. Vielleicht waren all die Enttäuschungen und Verletzungen, all die Verluste und Entfremdungen, die Blessuren an Herz und Seele im Dasein eines jeden Sterblichen, der unweigerlich zu Staub und Asche zerfallen musste, aus denen er geschaffen war, schlicht unvermeidlich und hatten rein gar nichts mit einer Form von Bestimmung oder mit etwas Persönlichem zu tun.

Vielleicht hatte das Universum am Ende keine Bedeutung, und nach dem Tod wartete nur das ewige Nichts auf einen. Vielleicht gab es keine Macht, die die Geschicke von oben lenkte.

Butch tastete unter dem feuchten Kaschmir nach dem schweren Goldkreuz, das er um den Hals trug. Sein katholischer Glaube hatte ihn etwas anderes gelehrt, aber was zur Hölle wusste er schon.

Und in einer Nacht wie dieser konnte er nicht mal sagen, was schlimmer war: die Vorstellung, dass er allein für das Ende des Krieges verantwortlich war …

… oder die Möglichkeit, dass er es nicht war.

Butch legte V die Hand auf die Schulter und strich an dessen muskulösem Arm abwärts, bis er das kräftige Handgelenk oberhalb des leuchtenden Fluchs mit den Fingern umschloss. Dann trat er neben seinen Bruder und hob die tödliche Hand. Das Leder von Vs Jacke knarzte leise.

»Höchste Zeit, dass wir loslegen«, meinte Butch mit belegter Stimme.

»Jep«, pflichtete V ihm bei. »Allerhöchste Zeit.«

Als Butch Vs Arm hochhielt, leuchtete ein greller Blitz auf, und ein Energiestrahl ging von der Hand aus. Er war geblendet, seine Augen brannten, doch er weigerte sich, den Blick von dieser Urgewalt abzuwenden, dem anmutigen Schrecken, dem Mysterium des Universums, das sich unerklärlicherweise in der ansonsten unauffälligen fleischlichen Hülle seines besten Freundes verbarg.

Unter dem Einfluss dieser geballten Energie verschwanden sämtliche Spuren von Omegas finsterem Werk, während die Lagerhalle, ihre wackeligen Wände und Dachsparren davon gänzlich unberührt blieben. Diesem bescheidenen Raum, den Omega für seine teuflischen Machenschaften missbraucht hatte, konnte dieser Furcht einflößende und doch so glorreiche Strahl nichts anhaben.

Was, wenn die Prophezeiung an sich nicht genug ist?, dachte Butch im Stillen.

Schließlich waren die Sterblichen nicht die Einzigen, die ein Verfallsdatum hatten. Auch die Geschichte verblasste mit der Zeit und geriet in Vergessenheit. Lektionen verschwanden im Dunkel der Vergangenheit … Regeln wurden aufgehoben … Helden segneten das Zeitliche …

Und ebenso wurden Prophezeiungen verworfen, sobald eine neue Zukunft die Gegenwart als Geisel nahm und es sich abzeichnete, dass das, was man als absolut unumstößlich betrachtet hatte, in Wirklichkeit nur die halbe Wahrheit war.

Alle sprachen vom Ende des Krieges, aber konnte das Böse überhaupt jemals enden? Selbst wenn er Erfolg haben würde, selbst wenn er wahrhaftig der Dhestroyer war, was dann? Ewige Glückseligkeit? Friede, Freude, Eierkuchen und der ganze Scheiß?

Nein, lautete sein entschiedenes Urteil. Mit einem Mal war er davon überzeugt, und diese Erkenntnis jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Es würde einen neuen Feind geben.

Und der würde genauso sein wie der, den sie besiegt hatten.

Nur schlimmer.

4

Die Frau – sie sah sich selbst gern als solche, musste sich als solche sehen, ungeachtet ihrer wahren Identität – stand inmitten einer wogenden Menge aus menschlichen Körpern, die eine für sie einst so verlockende Geruchsmelange aus Schweiß und Blut und Sterblichkeit ausströmten. Sie alle hatten dieselbe Musik im Ohr, deren Beats sie in einem kollektiven auditiven Orgasmus einte, ein Meer aus wogenden Hüften, sich wölbenden Rücken und Armen, die sich in einem langsamen, sinnlichen Rhythmus dazu bewegten.

Reglos und unberührt saugte sie an dem metallenen Strohhalm, ohne die Süße oder die anregende Wirkung des Fruchtcocktails zu registrieren.

Sie schloss die Augen, in der Hoffnung, den Takt der Musik, das durchdringende Wummern des Basses, das Kitzeln der tiefen Töne ebenfalls zu spüren. Sie sehnte sich nach der Berührung eines fremden Körpers. Nach Händen, die über ihre Taille abwärts zu ihren Hüften strichen, nach Fingern, die sich um ihre Pobacken schlossen, nach einem steifen Schwanz, der sich gegen ihren kurzen Rock presste. Sie sehnte sich nach Lippen, die diese kleine Vertiefung an ihrer Kehle erforschten. Einer Zunge, die sie zwischen den Beinen liebkoste und forschend in sie eindrang.

Sie wollte Sex.

Hart, schmutzig und verdorben.

Sie wollte …

Die Frau war sich nicht bewusst, dass sie wieder einmal aufgab. Doch als sie sich bückte und ihr nur zur Hälfte geleertes Glas auf dem Boden abstellte, wurde ihr klar, dass sie nun gehen würde. Anmutig bewegte sie sich durch das Gewühl, wich nach links und nach rechts aus, während sie zwischen den Männern und Frauen hindurchsteuerte, die atmeten und Pläne schmiedeten, lebten und starben, Entscheidungen trafen. Sie beneidete sie um ihren freien Willen, um die chaotischen Konsequenzen, die damit einhergingen, die guten wie die schlechten, um all ihre Illusionen, all die Ziele, die sie nie erreichen würden, all die fernen Horizonte, die sie nie aus der Nähe sehen würden, die ihnen aber nicht zuletzt wegen all der nie eingeholten Sonnenuntergänge umso kostbarer erschienen.

Sie mochte noch so viel über die Verdammnis wissen, und in diesem Punkt hatte sie wirklich jede Menge Erfahrung, trotzdem stellte sie nun eines fest: Nämlich dass eine Welt des Überflusses eine neue Art von Hölle war, und sie wurde das Gefühl nicht los, dass es bei dem hartnäckigen unterschwelligen Unwohlsein, unter dem sie litt, allein darum ging. Wenn man alles haben konnte, war nichts mehr von Bedeutung; das, was allzu leicht erlangt wurde, glich einem bereits verschlungenen Mahl, der Appetit war einem für immer vergangen, sodass nichts weiter zurückblieb als ein unangenehmes Völlegefühl, das einem die Lust auf jede weitere Nahrungsaufnahme ein für alle Mal verdarb.

Während die Frau sich an all diesen Schultern und Oberkörpern vorbeischob, wurde sie von zahlreichen Augenpaaren angestarrt, von denen manche ungläubig stutzten, kurz wegsahen und dann ein zweites Mal hinschauten, während andere sich nicht von ihrem Anblick lösen konnten. Manche zogen die Augenbrauen hoch, andere öffneten staunend den Mund. Ihre Anwesenheit setzte in den teils durch chemische Substanzen beeinträchtigten Gehirnen eine Art Kurzschluss in Gang und führte zu einer Reaktion, die alles andere ausblendete.

Bei ihrer Rückkehr nach Caldwell hatte sie die Blicke zunächst erwidert, jeden einzelnen, nicht nur die der Menschen in diesem Club, sondern von jedem, der ihr auf den Gehsteigen der Stadt begegnete, der mit seinem Auto im Verkehrsstau feststeckte oder in den Geschäften, den Häusern, den Bürogebäuden ein und aus ging. Mit glühender Vorfreude hatte sie in sich hineingehorcht, hatte gehofft, eine Reaktion auf eine der wortlosen Einladungen zu spüren, ein entschiedenes Ja, den Wunsch nach der harmonischen Vervollständigung eines Akkords, einen Ziegel, den sie der gemeinsam errichteten Mauer hinzufügen konnte, einen Penny, den sie beitragen konnte, um den Dollar komplett zu machen.

Doch es war nichts geschehen.

In letzter Zeit wurden ihre nächtlichen Ausflüge immer kürzer. Und tagsüber ging sie überhaupt nicht mehr vor die Tür.

Der Hinterausgang des Clubs war mit Warnungen in großen roten Buchstaben versehen: Tür nur im Notfall öffnen. Die Frau drückte den Bügel nach unten und trat ins Freie. Während im Hintergrund der Alarm losschrillte, entfernte sie sich mit zügigen Schritten durch die schmale Gasse und hob ihr Gesicht den dunklen Sturmwolken und dem Frühlingsregen entgegen.

Ist es kalt?, fragte sie sich. Es musste so sein, nachdem sie diesem von Menschenleibern erhitzten Backofen entkommen war.

Ihre hohen Absätze klackerten über den verdreckten Asphalt, traten in Pfützen und fanden auf dem unebenen Untergrund gelegentlich keinen rechten Halt. Als sie den Kopf zum Schutz vor dem Wind senkte, wurde ihre Mähne nach hinten geweht, als wollte die Nacht einen unverstellten Blick auf ihr Gesicht erhaschen, als wollte sie in ihr trauriges Antlitz sehen, so wie es eine gute Freundin tun würde, voller Mitgefühl, voller Sorge.

Der hämmernde Bass, der aus dem Club drang, wurde leiser und schließlich von sanfteren Geräuschen abgelöst: Regen, der von Feuerleitern tropfte, auf Fensterbänke und die Kotflügel geparkter Autos trommelte. Eine herumstreunende Katze stieß ein klägliches Miauen aus, ohne eine Antwort zu erhalten. Ein Streifenwagen brauste vorbei, auf der Jagd nach Verbrechern oder unterwegs, um jemanden vor ebensolchen zu retten.

Ziellos ging die Frau weiter, als sie wie aus heiterem Himmel zu spüren glaubte, dass ihr jemand folgte. Verunsichert sah sie sich über die Schulter um, überzeugt, dass sie sich irrte, doch dann … ja. Da war jemand. Eine Gestalt mit langen Beinen und breiten Schultern. Ein Mann trat aus den Schatten in den schwachen Schein der nächtlichen Straßenbeleuchtung.

Die Frau behielt ihr Tempo bei, aber nicht, weil sie sich erwischen lassen wollte.

Bald hatte er sie dennoch eingeholt. Der Mann schloss zu ihr auf und trat neben sie. Die Erektion in seiner Hose und das Testosteron, das durch seine Adern rauschte, ließen keinen Zweifel an seinen Absichten.

Abrupt blieb sie stehen und hob das Gesicht zu den schwarzen Sturmwolken. Der Regen stahl sich leise und behutsam auf ihre Wangen und ihre Stirn, ein rücksichtsvoller Gast, der seiner Gastgeberin nicht sehr zur Last fallen wollte.

»Wo willst du denn hin, Kleine?«, fragte der Mann.

Sie senkte den Kopf und richtete den Blick unverwandt auf ihn.

Sein Gesicht wäre beinahe attraktiv gewesen, wären da nicht diese ein wenig zu eng beieinanderstehenden dunklen Augen und die leicht verkniffenen schmalen Lippen gewesen. Vermutlich lag es an Letzterem, dass er sich dieses Tattoo am Hals hatte stechen lassen, und vermutlich trug er deshalb sein schwarzes Haar verwegen nach hinten gestrichen. Offensichtlich versuchte er, so den leicht blasierten Ausdruck auf seinen Zügen etwas abzumildern. Vermutlich hatte er aus demselben Grund einen Joint zwischen den schiefen Zähnen stecken, als wäre er eine Verlängerung seiner Erektion.

»Warum bist du denn so unfreundlich.« Er nahm den Joint aus dem Mund. Spuckte auf den nassen Boden aus. Steckte sich das Teil wieder in den Mund. »Was hast du für ein Problem.«

Keiner seiner Sätze klang nach einer Frage, und deshalb blieb sie ihm die ohnehin nicht erwartete Antwort schuldig. Trotzig starrte sie in seine gierig glänzenden braunen Augen und spürte jeden Schlag seines Herzens, auch wenn er selbst davon nichts merkte.

Noch einmal zog er an dem Joint und blies ihr den Rauch mitten ins Gesicht. Sie hustete ein paarmal, und er musterte sie von oben bis unten, als wäre sie ein Gegenstand, den man jederzeit aus dem Regal holen konnte. Als hätte er ein Anrecht auf sie und hoffte gleichzeitig, sie würde sich gegen ihn wehren. Als ob er ihr wehtun wollte und sich auf die Schmerzen freute, die er ihr bereiten würde.

»Sie haben genau eine Chance«, sagte sie leise. »Hauen Sie ab! Sofort!«

»Ich denk nicht mal dran.« Er schnippte den Joint weg, der sich mit glühender Spitze ein paarmal überschlug, ehe er in einem Rinnsal landete, das ihn wer weiß wohin trug. »Ich bin ein netter Kerl. Es wird dir gefallen …«

Sie wusste genau, wann er angreifen würde und aus welcher Richtung. Und wie vorhergesehen, packte er blitzschnell ihre langen dunklen Haaren wie ein Seil und riss sie von den Füßen, was angesichts ihrer schwindelerregend hohen Absätze ein Kinderspiel war. Während sie sich den Rücken verrenkte und mit einem Fuß umknickte, ärgerte sie sich selbst über die unelegante Art und Weise, in der sie fiel.

Das würde sie ihm heimzahlen.

Angesichts der Leichtigkeit, mit der er sie auffing, seinen starken Arm um ihre Brust schlang und ihr das Messer an die Kehle setzte, vermutete sie, dass er seine Vorgehensweise bereits mehrfach erprobt hatte, und zwar mit Erfolg. Deshalb war er auch gewieft genug, sie unverzüglich aus dem spärlichen Licht der Straßenlaterne hinein in die tiefe Dunkelheit am Rand der Gasse zu bugsieren.

Unsanft riss er sie rücklings an sich und knurrte: »Wenn du schreist, schneid ich dir die Kehle durch. Wenn du mir gibst, was ich will, lass ich dich laufen. Und jetzt nick, du Schlampe.«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie lassen mich besser los …«