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Die Körper sind explodiert und die Anteilnahme ist erkaltet. Nur die Erregung ist geblieben. Ariadne von Schirach beschreibt eine Welt, in der Jugend, Schönheit und Sexyness das Maß aller Dinge sind. Diese Diagnose betrifft uns auch heute: Gibt es noch echte Gefühle, Begehren, Liebe? Der Tanz um die Lust ist eine scharfsinnige Gesellschaftsanalyse der frühen Nullerjahre und zugleich ein ebenso unterhaltsamer wie schonungsloser Streifzugzug durch den erotischen Großstadtdschungel. Ein sexistisches Buch gegen Sexismus, ein zeitloser Bestseller – jetzt in überarbeiteter und aktualisierter Fassung. »Scharfzüngig und selbstironisch.« Falter
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Seitenzahl: 320
Ariadne von Schirach
Der Tanz um die Lust
Tropen Sachbuch
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Tropen
www.tropen.de
© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Der Titel ist erstmals 2007 im Goldmann Verlag erschienen und wurde für die vorliegende Ausgabe umfangreich überarbeitet.
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Zero-Media.net, Münchenunter Verwendung einer Abbildung von © FinePic®, München
Gesetzt in den Tropen Studios, Leipzig
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-50483-5
E-Book ISBN 978-3-608-11910-7
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Vorwort
Die pornographischen Strategien
Pimping Myself
Oversexed and Underfucked
Back to Baby
Pornos
Pornoindustrie und sexuelle Elite
Die Jagd
Teile und herrsche
Gemischte Jagdgruppen
Virtuelle Pirsch
Die erotischen Strategien
Verführung
Verfeinerungen
Grenzgänge
Obszönes
Sehnsucht und Solidarität
Liebe
Romantische Fragmente
Die Legende vom großen Gefühl
Gefühlssurfen
Die Macht der Nacht
Die postromantischen Flaneure
Die Ökonomie der Optionen
Résistance du cœur
Nachwort
Literaturliste
Dank
Der Tanz um die Lust ist ein sexistisches Buch gegen den Sexismus. Damit ist es ein Kind seiner Zeit, ebenso wie ich ein Kind meiner Zeit gewesen bin. Im Geist einer unbedarften Ironie, die in den Neunzigern ihren Anfang nahm, vermischten auch wir Kinder der Nullerjahre Kritik und Affirmation. Ich selbst dachte damals beispielsweise, man könne die sich ausbreitende Tendenz zur Sexyness nur dann kritisieren, wenn man diesen Kriterien zugleich selbst genügen würde. Aus diesem Grund sah ich damals ganz bewusst wie eine Art Porno-Barbie aus, klicken Sie einfach auf diesen Link https://www.listal.com/ariadne-von-schirach. Für mich war dieser Look eine künstlerische Performance, und doch ging es mir damit am Ende so wie uns allen, als wir entdeckten, dass es in Wahrheit keine Ironie gibt, nur peinliche Sonnenbrillen, dumme Überzeugungen und nutzloses Geschwätz.
Und auch ich selbst wirkte nicht wie eine Heroine der Kulturkritik, eine Beobachterin der »Selbstverständigung einer Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche«, wie Karl Marx einst formulierte, sondern erschien einfach nur als Blondine, die irgendetwas über Sex schrieb. Womit wir wieder beim Thema Sexismus wären. Auch hier lässt sich im Text eine seltsame Gleichzeitigkeit von Kritik und Affirmation beobachten, was die Überarbeitung zu einem schmerzhaften Vergnügen gemacht hat. Denn obwohl meine rechte Hand wortreich für die Vielfalt des Begehrens, die weibliche Selbstbestimmung und unser aller Gleichheit argumentiert hat, hielt die linke an frauenfeindlichen Witzen und einer vergnügten Selbst- und Fremdobjektivierung fest, getreu dem Motto: Wenn ihr mich schon zum Objekt machen wollt, komme ich euch zuvor und mache es besser. In diesem Elan spiegelt sich der von dem Philosophen Michel Foucault beobachtete Übergang von einem autoritären »Du musst« zu einem neoliberalen »Ich will«. Und am Beispiel der Sexyness lernen wir, wollen zu können.
Diese Entwicklung gipfelt in der heute vollkommen normalen und weit verbreiteten Fähigkeit, den eigenen Marktwert und den des Gegenübers in jedem Augenblick und in jedem Kontext vermeintlich präzise taxieren zu können. Vor allem online. In den sozialen Medien haben sich die Anfänge des emotionalen Kapitalismus, welche Der Tanz um die Lust nachgezeichnet hat, inzwischen vollendet. Während wir in den Nullerjahren noch selbst daran arbeiteten, möglichst gut auszusehen, machen das Dienste wie Instagram nun für uns. Ein cleaner, authentischer und sexy Look lässt sich mittlerweile mühelos herstellen. Und auch das wortlose und irrationale Begehren selbst wurde in eine verständliche und stets begründende Sprache gepresst, getragen von der Illusion, wir könnten uns ganz verstehen, immer korrekt einschätzen und in diesem Sinne stets »authentisch« verhalten. Als seien wir eindeutig. Als seien wir transparent.
Doch Transparenz wird nicht entdeckt. Sie wird hergestellt, sie ist das Resultat von Fragmentarisierung, Normierung und Rekonfigurierung – man denke dabei an den Unterschied zwischen einer komplexen inneren Erfahrung und einem gut geschnittenen Hollywoodfilm. In dem viele von uns mittlerweile zu leben versuchen, und sich, auch dank der sozialen Medien, der Illusion hingeben können, es wirklich zu tun.
Die dafür notwendige und uns in den letzten fünfzehn Jahren so geläufig gewordene Praxis der Selbsttransparenz, inklusive der Annahme, man könne und wolle alles über sich wissen, begann mit der Vermessung unserer Sexualität und unseres Begehrens. Und während wir uns daran gewöhnten, bei den ersten Plattformen für Online-Dating möglichst aufrichtig Auskunft über unsere Vorlieben, Hoffnungen und Wünsche zu geben, ist die halbironische Selbstanpreisung auf den neuen Dating-Apps das Resultat vollkommen verinnerlichter Selbstverdinglichung. Wir wollen uns gut verkaufen, und wir können es auch. Wir haben es gelernt.
Das Auftauchen der Sexyness in den frühen Nullerjahren hat den Boden für die Selbstverständlichkeit der eigenen Warenform vorbereitet, indem sie uns, indem wir uns um ihretwillen vereindeutigt haben. Sie verwandelte die Arbeit am Anderen, an der stets ambivalenten Beziehung zum Anderen – Flirt, Verführung, Liebesringen – in die Arbeit am eigenen Ich. Und obwohl wir dadurch begonnen haben, an uns selbst zu vollenden, was der Wirtschaftssoziologe Karl Polyani als »große Transformation« bezeichnete, reichen die Wurzeln dieser Selbstverdinglichung bis zur Antike zurück. Und damit auch der Anlauf, den es zu nehmen gilt, um endlich anzuerkennen, dass wir alle werdende Wesen sind, die sich in jedem Augenblick ändern können und oft genug auch ändern müssen: ob durch innere Erfahrungen wie durch Krankheit, Alter, Leid oder durch Bedrohungen von außen, wie sie Erderwärmung, Artensterben oder globale Pandemien wie Corona bedeuten.
Vor mehr als 2000 Jahren formulierte der Philosoph Aristoteles in seiner Logik das Prinzip der Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit – etwas kann entweder A oder B sein, aber niemals sowohl A als auch B, geschweige denn mal A, mal B. Diese klare Trennung ist sinnvoll, wenn es um Zahlen geht, aber sie wird fatal, wenn wir damit Menschen zu bestimmen versuchen. Das Fatale meint an dieser Stelle weder Eindeutigkeit noch Widerspruchsfreiheit, obwohl beides unser Menschsein verfehlt. Denn dieses Menschsein besteht in einem ständigen Aushandeln unserer inneren Vielstimmigkeit, mit viel Platz für Dinge, die nicht zusammenpassen wie beispielsweise meine aufrichtige Liebe zu Tieren und meine ebenso aufrichtige Liebe zu einem guten Steak.
Vielmehr besteht das Fatale darin, dass wir Menschen dazu neigen, in alles, was uns vorgeblich eindeutig und widerspruchsfrei begegnet, eine Art innere Wahrheit, eine unverkennbare Essenz hineinzudeuten. Hier entspringen Klischees und Vorurteile; nicht zuletzt solche, die einem Menschen wegen seiner Herkunft, seiner Religion oder eben seinem Geschlecht bestimmte, oft negative Eigenschaften zusprechen.
Denn so, wie der pornographische Blick das Innere entäußert, verinnerlicht die Essentialisierung Äußerlichkeiten. Beides ist eine Form von Gewalt, beides verfehlt das Leben in seiner Ambivalenz, Bewegung und Tiefe.
Was uns schon wieder zum Seximus führt. Denn obwohl ich damals angetreten war, das Begehren vor seiner Kommerzialisierung in Schutz zu nehmen, bin ich von gewissen Grundannahmen ausgegangen; Grundannahmen, die ich in den Jahren, die seitdem vergangen sind, zu hinterfragen gelernt habe. Dazu gehören unter anderem Sätze der Kategorie: »Männer sind so, Frauen sind so.« Auch diese »natürlich« wirkenden Geschlechteridentitäten (gender) sind, ganz im Sinne der Philosophin Judith Butler, soziale Konstruktionen, die uns einzelne, einmalige und werdende Menschen vereindeutigen, indem sie uns bestimmte Eigenschaften zuschreiben, ob negativ oder positiv. Wir werden diskriminiert – also aufgrund willkürlich herausgegriffener Fragmente bestimmt, unterschieden und bewertet.
Im Fall des Sexuellen umfasst das, was dadurch verdrängt wird, auch die schlichte Tatsache, dass wir Menschen eine Spezies sind, die aus mehr als zwei Geschlechtern besteht. Selten zeigt sich die reale Gewalt der Vereindeutigung stärker als beim Schicksal intersexueller Menschen, die noch vor wenigen Jahren aus bürokratischen Gründen zwangsgegendert wurden. Aber auch Transpersonen, die ihr Geschlecht einmal oder auch mehrmals wechseln, fallen der binären Logik zum Opfer. Doch gibt es ein besseres Beispiel für die Tatsache, dass A und B sich auch vermischen, vertauschen und ineinander übergehen können, als diejenigen von uns, die etwas davon erzählen können, wie es ist, sowohl Mann als auch Frau zu sein?
Diskriminierung bedeutet, einem Anderen das Recht abzusprechen, auch ein denkendes, fühlendes und vor allem werdendes Wesen zu sein. Wertvoll, einzigartig und unersetzlich. Ich weiß nicht, wie man es nennt, wenn man sich selbst dieses Recht abspricht. Doch genau diese neue Art von Selbstunterdrückung, -verdummung und -ausbeutung begann ich mit dem Siegeszug der Sexyness Anfang der Nullerjahre zu beobachten – an den Anderen ebenso wie an mir, in meinem Umfeld ebenso wie in der Gesellschaft. Durch diese historisch neue Weise, uns selbst transparent, verfügbar und verwertbar zu machen, lernten wir, uns in Produkte zu verwandeln. Sexy Produkte. Attraktive, bereite, selbstironische Ware für einen Markt, dessen Regeln und vor allem Profiteure uns damals mindestens so unklar waren, wie mir selbst die Folgen meiner unreflektierten Performancekunst. All das ist heute Standard – die jugendliche Frische, die Selbstoptimierung, das Gefühl, man müsse sich Liebe und Anerkennung im Wortsinn verdienen. Der Tanz um die Lust beschreibt den Moment, in dem dieser Standard etabliert wurde. Was uns damals in die seltsame Rolle versetzte, ihn zugleich zu bedienen und zu kritisieren.
Für die vorliegende Überarbeitung habe ich bewahrt, was davon heute noch relevant ist. Julia Matthias hat mir geholfen, Ansammlungen popkultureller und technologischer Referenzen, die überraschend schlecht gealtert waren, zu kürzen. Ebenso wie Seiten voller Partygeschwätz. Wie viel Zeit wir damals hatten – und wie privilegiert wir waren, eine Gruppe weißer, heterosexueller Mittelschichtskids aus Berlin Mitte, die es sich leisten konnten, ihr Dasein zu ästhetisieren und die eigene Person durch die Hauptrolle in einer Art endlosen Soap-Opera zu überhöhen. Und wie jung wir waren, teils, wie ich, erst Mitte 20. Ich liebte meine Freunde mit jugendlicher Begeisterung, und diese Liebe hat alles vergoldet. Wobei die Charaktere im Buch natürlich fiktiv sind – wenn auch von echten Menschen inspiriert. In Wahrheit waren wir gewiss weder so schön, noch so ungebrochen, wie es bei der Lektüre scheinen mag, aber wir haben uns doch ein paar zeitlose Sommer lang so fühlen dürfen.
Und obwohl das Buch damit ein sehr spezifisches Milieu beschreibt, hatten die beschriebenen Veränderungen längerfristig auch eine gesamtgesellschaftliche Wirkung – laden uns die sozialen Medien doch mittlerweile alle dazu ein, unser Dasein zu ästhetisiseren und ebenso aufregend wie anschlussfähig zu erzählen. Was zugleich verdeckt, dass unser aller Leben in Wahrheit in den letzten fünfzehn Jahren immer prekärer geworden ist. Das liegt nicht nur an kollektiven Herausforderungen wie dem Klimawandel, sondern ebenso an der immer krasser werdenden globalen Einkommensungleichheit und dem Verschwinden der Mittelschicht. Freidrehende Existenzen wie die unseren würden heute wahrscheinlich schon an den massiv gestiegenen Berliner Mieten scheitern.
Es hat sich also wirklich viel verändert, und dieser Veränderung wollte ich bei der Überarbeitung Rechnung tragen. Laura Schaper verdanke ich die Idee, die Gegenwart, von der aus ich blicke, in den Fußnoten stattfinden zu lassen. Dort findet ein beständiger Dialog zwischen damals und heute statt, der Alltäglichkeiten hinterfragt, Entwicklungen nachzeichnet und Kontinuitäten ausweist. Sexyness beispielsweise ist heute eigentlich kein Thema mehr. Sexyness ist eine Selbstverständlichkeit, so natürlich und normal wie der Wunsch, für sich das Beste rauszuholen. Doch es war tatsächlich nicht immer so, und die Möglichkeit einer anderen Welt beginnt damit, die Brüche und Übergänge des Gegenwärtigen aus immer neuen Perspektiven in den Blick zu nehmen.
Erst kamen die Körper, die Attitude, die romantischen Gefühle. Und dann kam der ganze Rest. Während Der Tanz um die Lust beschreibt, wie wir unser Begehren kommerzialisieren, untersucht der zweite Band meiner Trilogie des modernen Lebens, Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst, was passiert, wenn wir auch alles andere zu Markte tragen. Wenn wir also alle Aspekte unserer selbst vereindeutigen, optimieren und verfügbar machen, damit sie auf den verschiedenen Märkten – ob Arbeitsmarkt, Heiratsmarkt oder in den sozialen Netzwerken – bestmöglich performen. Endgültig zur Ich-AG-geworden, gleicht ein solches Dasein einem Computerspiel, bei dem es immer nur weiter, immer nur nach oben geht. Das ganze Leben erscheint als lösbares Problem – wer scheitert, ist selbst schuld. Doch wir Menschen sind innen größer als außen, und das Leben ist kein lösbares Problem, sondern eine Beziehungserfahrung, die umso reicher und tiefer ist, je mehr Verbindungen wir zu anderen Menschen und den übrigen Formen des Lebendigen haben. Nur weil wir uns mittlerweile selbst verdinglichen, vergleichen und ausbeuten, ist die Logik der Diskriminierung nicht weniger schmerzhaft. Sie ist sogar noch schmerzhafter. Fast unerträglich.
Der dritte Band der Trilogie, Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden, beschreibt den Moment, an dem wir vor lauter Profitstreben, Konkurrenzdenken und Kontrollwahn so sehr von der Wahrheit des Lebens weggerückt sind, dass wir tatsächlich ver-rückt sind. Das Resultat ist eine große und umfassende Krise, die grob gesagt zwei Schauplätze hat: Zum einen geht es darum, wie die Mitglieder unserer Spezies miteinander umgehen. Hier treffen wir auf Sexismus, Rassismus und Queerfeindlichkeit ebenso wie auf die Lage derer, die keine Stimme haben, ihre Rechte zu vertreten: Geflüchtete, Ausgebeutete, Menschen im Krieg. Der andere Schauplatz betrifft unseren Umgang mit den anderen Spezies und dem planetaren Ökosystem. Zunächst dachte ich, nach Corona sei vor der Klimakrise. Aber inzwischen sehe ich die Pandemie schon als Teil von ihr. Beides sind kollektive Endlichkeitserfahrungen, die uns Menschen eindringlich einladen, über unsere Werte, Gründe und unsere Rolle hier auf der Erde nachzudenken. Denn nicht nur die Natur ist von unserer egoistischen und ignoranten Lebensweise bedroht, sondern vor allem wir selbst. Unser eigenes Überleben.
Alle drei Bücher verbindet aber nicht nur eine immer kritischer werdende Haltung unserem Umgang mit dem Leben gegenüber, sondern ebenso die Gewissheit, dass wir anders leben können – das haben wir ja auch während der Lockdowns konkret erfahren. Doch es geht um mehr: Jeder Mensch ist Anlass zu einer Hoffnung, die über alles Erwartbare hinausreicht. Jede:r von uns ist ein denkendes und fühlendes Wesen, fähig, zu urteilen, zu wählen und sich zu ändern und dadurch neue Beziehungserfahrungen mit sich, den Anderen und dem Leben zu machen. Ob im Tanz um die Lust als erotische Strategie und die résistance du cœur, den Widerstand des Herzens, ob bei Du sollst nicht funktionieren als Lebenskunst und inneres Wachstum oder bei der Psychotischen Gesellschaft als poetische Revolution, die es auf sich nimmt, andere, angemessenere und ja, schönere Geschichten von unserem Menschsein zu erzählen.
Doch eine Beziehungserfahrung hat immer zwei Seiten. Nicht nur wir haben eine Beziehung zum Leben, das Leben hat auch eine Beziehung zu uns. Diese Verbindung kann man nicht kaufen, nicht herstellen, nicht sichtbar machen. Aber man kann sie spüren, erfahren und vertiefen. Und so gilt es, mit der Rettung der Welt bei sich selbst anzufangen. Mein letztes Buch, Glücksversuche. Von der Kunst mit seiner Seele zu sprechen, verbindet die Anliegen der Trilogie des modernen Lebens – den Blick nach innen, die Lebenskunst, die poetische Praxis – mit einer Einladung zum Selbstgespräch. Denn das Leben ist eine persönliche Angelegenheit, und Glück beginnt damit, sich selbst ein Freund zu sein. Diese Freundschaft ist das Gegenteil von Selbstdiskriminierung. Sie nimmt uns ernst, aber nicht wichtig, sie richtet uns aus, aber nicht ab. Und sie erinnert uns daran, dass es schön ist, am Leben zu sein und dieses Leben miteinander zu teilen. Besonders unter der Bettdecke. Oder hinterm Schuppen. Oder auf dem Küchentisch.
Ariadne von Schirach
29.11.2021
»Schlampe«. »Pornostar«. »Sexy«. Vor einigen Jahren tauchten auf einmal diese T-Shirts auf. Ich war amüsiert und stark befremdet. »Schlampe«? Hatten die einen geistigen Totalausfall, oder wollten sie nur endlich wieder vögeln?
Doch die Frauen, die diese Art von Mode tragen, wollen damit meist niemanden auffordern. Es soll nur trendy sein, modisch und ein bisschen frech. Wie »Hexe«. Sie sind Mittäterinnen einer massiven Marketing-Offensive, die an der »Ver-Bunnysierung« der Welt arbeitet. Seit Langem schon lässt sich beobachten, wie die Marke Playboy sich in einer bestimmten Art von Geschäften ausbreitet, die meist in Einkaufszentren zu finden sind. Es gibt Bunny-Unterwäsche, Hausschuhe mit Puschel, Schmuck. Und stolze junge Frauen, die viel Geld dafür zahlen, das Logo einer Softporno-Zeitschrift zu tragen.1
Vielleicht ist das ja auch nur eine Reaktion auf die fortschreitende Pornographisierung unserer Gesellschaft. Wenn alles Porno ist, dann muss ich doch zur Schlampe oder zum Toyboy werden, um den Zug nicht zu verpassen. Neulich habe ich ein Video von den Pussycat Dolls gesehen, Don’t Cha. Also die Girls, die sind echt scharf. Schlank, rank, tolle Brüste, Beine, Bäuche. Knapp bekleidet tanzen sie sich durch das Video, dessen Aussage in dem Refrain gipfelt: Don’t cha wish your girlfriend was hot like me? (»Wünschtest du nicht, deine Freundin wäre so scharf wie ich?«) Ja, und wenn dann Thorstens Blick auf die schwabblige Angelika neben ihm auf dem Sofa fällt, dann wird er im Stillen nicken und beim nächsten Mal vor dem Computer vielleicht nach einigen scharfen Fotos suchen, von den Miezekatzenpüppchen.2 Fündig wird er werden, denn die heißen Ladys waren, bevor sie ihre Künstlerinnenkarriere starteten, Stripperinnen im Viper Room, dort, wo man River Phoenix einst tot vor der Tür fand.
Vom Stripper zum Star. Dieses Phänomen häuft sich in unserer Zeit, es scheint, als würden sich die kulturelle und die pornographische Sphäre mehr und mehr durchmischen. Hardcore-Pornodarstellerin Gina Wild wird wiedergeboren als Michaela Schaffrath. Der italienische Pornostar Rocco Siffredi dreht mittlerweile ernsthafte Filme. Celebrities wie Pamela Anderson und Paris Hilton vergessen irgendwo ein selbstgedrehtes Pornovideo, das daraufhin millionenfach verbreitet wird. Jenna Jameson wird Bestsellerautorin mit ihrer Biographie »Pornostar«. Cicciolina saß zwei Jahre im italienischen Parlament. Die FDP-Politikerin Dr. Silvana Koch-Mehrin ließ sich, im achten Monat schwanger, nacktbäuchig im Stern ablichten. Sportlerinnen, Moderatorinnen und Künstlerinnen posieren nackt im Playboy oder für irgendwelche Kalender.
Zuerst war jedoch das Marketing. Ein Bekannter, studierter Kommunikationsexperte, sagte einmal zu mir: »Also wenn dir gar nichts mehr einfällt, stellst du einfach eine nackte Frau neben das Produkt, das funktioniert immer.« Oder einfacher: »Sex sells.«
Irgendwo in Berlin warben einmal zwei riesige kurvige Frauen im Bikini für ein Bürogebäude, mit einem Slogan à la »Jeder Stock ein Treffer«. Die Einkaufspassage »Quartier 205« hatte eine besonders widerwärtige Strategie, nur andeutungsweise auf das Gemeinte Bezug zu nehmen:
»ICH NEHME JEDEN
Tag einen kleinen Umweg, um alles auf einmal zu kriegen.«
Eine kurzhaarige Blondine, jugendlich, kokettiert dazu mit herausgespitzter Zunge.
»ICH HABE DEN KÜRZESTEN
Weg zum Schwimmbad.«
Dieser würdevoll präsentierte Satz wird begleitet von einem sympathischen Mann mit Glatze. Oder auch:
»ICH KANN IMMER
meinen Tee trinken und entspannt auf Rosa warten.«
Ein reizendes Seniorenpärchen lächelt dazu von der Plakatwand.
Oder eine Werbung für irgendeine Jeansmarke, bei der ein wirklich extrem gutaussehender Typ mit Hand in der Hose mich einmal fast vom Fahrrad fallen ließ.
Ich war mit meinem Freund Vince, dem DJ, beim Frühstücken. Auf dem Heimweg bekam ich eine Nachricht von ihm: »Ich warte gerade auf meine Tram, und vor mir sehe ich eine wunderschöne, fast nackte Frau, die für einen 15-Euro-BH wirbt. Glaubst du, Models tragen 15-Euro-BHs?« Manchmal grenzen solche Plakate an sexuelle Belästigung. Ich habe schon Männer darüber klagen hören, wie zudringlich diese H & M-Models im Bikini wären, man könne den Blick nicht abwenden. Aber genau darum geht es. Die scharfe Lady für die Jungs und der Bikini für 14,95 € für die Mädels, die hoffen, dass sie dann auch so angestarrt werden. Der Typ mit der Hand in der Hose hat mich auch ein bisschen belästigt. Aber ich fand es auch schade, als ein neues Plakat an dieser Stelle hing. Er hatte sicher einen guten Charakter.
Der Unterschied zwischen Pornographie und einer pornographischen Strategie besteht darin, dass ein Porno ein visuelles Produkt ist, das entweder gefällt oder nicht. Doch sobald die Menschenbilder und Rollenverteilungen diesen Bereich verlassen und angewendet werden, um Produkte, Konzepte oder Persönlichkeit zu verkaufen, werden sie zum Teil einer pornographischen Strategie.
Pornos zeigen meist klassisches Rollenverhalten, mit dominanten Männern und devoten Frauen, denen bevorzugt ins Gesicht gespritzt wird. Die Frauen sind immer willig, und die Männer können und wollen penetrieren. Frauen sind Huren, Männer omnipotente Stecher. Das Wort »Pornographie« kommt aus dem Griechischen und ist zusammengesetzt aus »Porne« / »Porner«, was Hure / Hurer bedeutet, und »graphein«, was zeichnen heißt. Huren zeichnen. Wer macht da wen?
Pornos lassen mich kalt und machen mich geil. Es ist fast unmöglich, einen Porno anzusehen und davon nicht erregt zu werden. Das ist wohl so etwas Biologisches, der Nachahmungstrieb – wenn ein menschliches Wesen andere menschliche Wesen beim Geschlechtsverkehr beobachtet, wird es meistens angetörnt. Doch diese Erregung hat etwas Kaltes, Unpersönliches. Als würden die primären Geschlechtsmerkmale miteinander kommunizieren, unter völliger Umgehung der Persönlichkeit. Pornos zeigen Sexobjekte und machen den Betrachter oder die Betrachterin zum Sexobjekt. Die dabei auftretende Erregung ist eine sichere Sache, ein biologischer Volltreffer. Und genau dieses verlässliche Reiz-Reaktions-Schema wird auch bedient, wenn diese Bilder die Hinterzimmer verlassen und ihren Siegeszug antreten in die glitzernde Welt des totalen Konsums.
An dieser Schwelle steht nur ein Wort: »Sexy«. Das ist die kleine Schwester des Pornos, die hübsche. Die frauenaffine. Wir wollen Porno, aber wir wollen nicht wissen, dass wir es wollen. Weil wir sonst entdecken könnten, dass wir frustriert sind.
Die pornographischen Strategien spielen mit dieser unterschiedlichen Bedeutung von Sex und sexy. Sex ist erst mal ein Akt. Ganz biologisch. Körperlichkeit, manchmal Fortpflanzung. Sex hat man oder nicht. Es geht um eine reale Beziehung. Aber sexy? Das Wort hat sich selbst geschaffen, erscheint noch in den Fünfzigern als Attribut pin-up-artiger Leinwandgötter, macht eine lange Reise ins neue Millennium, und siehe da: Es ist geschlüpft und endlich angekommen.
Alles ist sexy. Ich bin sexy, du bist sexy. Das neue Auto, der neue Drink, der After-Baby-Body dieser Schauspielerin. Sexy ist das Wort, das man gebraucht, wenn einem die Sprache ausgeht. Aber es ist auch irgendwie flauschig, zuckrig, glitzernd. Es ist nicht bedrohlich, aber es bedroht. Denn dahinter steht der Sex, steht die Erregung, die uns blind und geil werden lässt, was ja an sich nichts Schlechtes ist, aber morgens auf dem Weg zur Arbeit im Straßenverkehr?
Sexy sorgt für totale Aufmerksamkeit, das scheinen auch die Frauen zu hoffen, die es sich extra aufs T-Shirt schreiben. Oder die Marketing-Experten, welche die Betreiber der Berliner Einkaufspassage beraten haben. Und weil das so gut funktioniert mit der Aufmerksamkeit, sind wir mittlerweile umgeben von Titten, Ärschen, Waschbrettbäuchen. Die Körper sind explodiert, und die Anteilnahme ist erkaltet. Nur die Erregung ist geblieben.3
Wir sind also pausenlos angetörnt, Triebabfuhr ist das Gebot der Stunde. Gleichzeitig lastet dadurch ein immer größer werdender Druck auf dem und der Einzelnen, denn, wahrlich, diese Körper sind begehrenswert. Wie gut die aussehen, wie schlank, geschmeidig und wie glänzend das Haar!
Eine Reaktion auf die fortschreitende Pornographisierung besteht also in unablässiger Selbstoptimierung; ein Unterfangen, das tatkräftig und mit großem Gewinn von Ratgebern, Magazinen und der allgegenwärtigen Produktanpreisung unterstützt wird.
Gleichzeitig führt dieser konstante Zwang zum Sexappeal nicht selten zu Frustration und Überforderung, und die große Depression ist oft nur einen Seufzer weit entfernt. Immer mehr Männer flüchten auch in die gutsortieren Weiten des Netzes, denn die schönen devoten Frauen mit den perfekt lackierten Fingernägeln lassen sich bereitwillig anschauen, aber sie blicken nicht zurück. Da kommt es auf eine Pizza mehr oder weniger nicht mehr an.
Die pornographischen Strategien sind das, was das »Sex-Sells«-Marketing aus den klassischen pornographischen Bildwelten gemacht hat. Da sexualisierte Körper, Blicke und Gesten durch große Werbekampagnen aller Art gesellschaftsfähig wurden, ist mittlerweile unsere gesamte Lebenswirklichkeit davon verseucht. Dabei steht die Omnipräsenz nackter Leiber immer in einem Konsumzusammenhang. Denn sie schafft ein Begehren, das sich, so hofft man, automatisch auf die angepriesenen Produkte überträgt.
Pornographische Strategien sprechen uns dabei eher als Gattungswesen denn als Individuum an. Egal wie scheußlich ein Cumshot oder die Nahaufnahme einer Penetration im Porno sein mag, sie erwecken unser aller Aufmerksamkeit und lassen uns erregt zurück. Denn Pornos und pornographische Bilder erwischen uns dort, wo es beliebig wird, dort, wo wir am wenigsten menschlich sind. Oder, wie Martin Amis es in einem Essay in Pornoland nennt, sie bedienen das polymorph Perverse in uns. Ich glaube, auch Affen würden von einem Affenporno angeturnt. Deshalb sind die pornographischen Strategien auch frei von Individualität.
Was ist sexy? Eine schlanke, wohlgeformte Figur. Ein geiler Hintern. Lange glänzende Haare sollen auch nicht ganz verkehrt sein. Ausdrucksstarke, aber stets ebenmäßige Gesichtszüge. Muskulöse, aber schlanke Beine, die in einem kurzen Röckchen oder Höschen stecken. Ein bauchfreies Oberteil, aus dem voluminöse Brüste quellen. Stiefel? Ein sinnlicher Mund, kann bis zum Schlauchbootartigen gehen. Die großzügige Verwendung von Glitzerpuder.
Eine sportliche Figur, ein offenes Hemd, Muskel-Shirt. Groß gewachsen, breite Schultern, Brustbehaarung nach Gusto. Die Armmuskeln müssen aber schon stimmen. Ein Waschbrettbauch, ein knackiger Hintern, eine ordentliche Beule in der Hose! Zerwuschelte Haare, fransig oder militärische Kürze. Ein markantes Kinn, sinnliche Lippen, wir sind ja nicht zum Spaß hier. Dreitagebart?
Die pornographischen Strategien produzieren Klone, denn es werden »objektive« Kriterien zugrunde gelegt, wenn es um Sexyness geht. Und das zieht sich durch alle Bereiche unserer Lebenswirklichkeit. Vom verführerischen Bewerbungsfoto bis hin zum Aufstylen für den Clubbesuch.
Neulich war ich was trinken, mit König Gunter und anderen Freunden. König Gunter, Journalist und Barkeeper, ist ein ganz alter Freund von mir, ein schöner Mann. Groß, schlank, mit hellbraunen Haaren, die ihm lässig ins Gesicht fallen, und strahlenden grünen Augen. Die Ladys stehen auf König Gunter, er ist ein Held der Frauen, kein Frauenheld. Trotzdem wird es auch für ihn langsam Zeit, an die Familienplanung zu denken, und so beobachten wir die jungen Rehe und die hotten Elsen, und König Gunter hofft, die Eine zu finden. Gestern jedenfalls standen wir an der Bar, Vince, SusiPop und Flexter waren auch dabei, und König Gunter verkündete stolz:
»Diesen Sommer hab ich ein Sixpack. Ich hab’s der schönen Sonja versprochen!«
Wir stöhnten alle ein bisschen, denn die Geschichten von der schönen Sonja hingen uns schon zum Hals raus. Flexter blickte an sich herab, strich über die frittengefüllte Wampe und sagte: »Ich bin dabei!«
Ich wollte meinen Freunden eigentlich gerade erzählen, dass dieser eine Mistkerl immer noch nicht angerufen hatte, schaute aber auch an mir herab und sah etwas scheußliches Weißes, unvorteilhaft geschmückt mit kleinem Piercing-Ring, aus meinem Unterhemd quellen. Erschrocken sagte ich: »Ja!«
Vince hörte nicht zu, weil er versuchte, eine kleine Dunkelhaarige an der Bar anzubaggern. Sie schien nicht interessiert, was ihn aber nicht weiter störte.
Ich sagte: »Ich hab mir ja schon überlegt, mich wieder fürs Fitnessstudio anzumelden. Aber irgendwie hab ich da schlechte Erfahrungen gemacht … so mit dem Hingehen.«
Ich sah Flexter an, der diese Erfahrung im vergangenen Jahr schon zum zweiten Mal gemacht hatte. Flexter blickte jedoch unbeirrt an mir vorbei, man konnte sehen, wie er an seinen Traumkörper dachte, den er im Sommer haben würde, ganz bestimmt.
»Ich mach das alles zu Hause!«, krähte König Gunter stolz.
SusiPop lächelte liebevoll, ihre schlanke Gestalt eine einzige Überlegenheit. Sie hatte irgendwann die Geheimnisse der französischen Ernährung entdeckt; ab und zu knabberte sie ein paar Erdnüsse, ungesalzen. Ich sah wieder meinen Bauch an. So konnte es nicht weitergehen. Kein Wunder, dass er nicht anrief!
Schlankheit ist eine der Grundvoraussetzungen, um sexy zu sein. Schlank, langbeinig, langmähnig und bitte nahtlos zart gebräunt.4 Das Individuum wird darauf reduziert, inwieweit es diesen expliziten Anforderungen gerecht wird. Und danach richtet sich dann der Marktwert. Welcome to the Pursuit of Sexiness: Viel Vergnügen beim Streben danach, sexy zu sein. In diesem medial und kulturell erzeugten Raster findet jede und jeder Einzelne mit Leichtigkeit seine Position.
Ich war gerade mal wieder ein bisschen nach unten gerutscht, aber hundertsiebenundfünfzig Einheiten am Abflex / Low-Waist-Trimmer würden das sicher wieder in Ordnung bringen. Mir schauderte. Das war das Problem mit der Sexyness: Zum einen war es eine Scheißarbeit. Zum anderen würden wir irgendwann alle gleich aussehen, mit fasziniertem Entsetzen sah ich im Fernsehen immer diese Reportagen aus Kalifornien, und es fiel mir schwer, die einzelnen Protagonisten zu unterscheiden. Sexyness wird immer als der Gipfel der Individualität verkauft, als »das Beste aus sich herausholen«, dabei arbeiten sich alle an den gleichen Vorgaben ab. Auch in der ironischen Ablehnung, die ja nur einen gebrochenen Flirt mit dem Thema darstellt, nimmt man auf diese Muster Bezug.
Herzlich gelacht habe ich über meinen Bauch, im tiefinnerlichen Wissen, dass diese Dinge nicht wirklich zählen, und trotzdem voller Vorsätze, im Sommer nicht mehr so auszusehen. Es gibt eigentlich kein Außerhalb dieses Referenzsystems, nur Stufen der Ironie. König Gunter ist auch kein oberflächlicher Mensch, aber es war ihm ernst mit dem Sixpack. Vielleicht gibt es immer diese Ambivalenz gegenüber den pornographischen Strategien, neben einer lethargischen Ermüdung angesichts zu viel nackten Fleisches.
Es gehört zum guten Ton, sich zu beschweren, man hat auch allen Grund dazu, verdammt noch mal, die Würde des Menschen ist antastbar, wenn er sich im Fernsehen unters Messer legt, um endlich dünne Oberschenkel zu haben oder größere Brüste oder einen längeren Penis. Das macht uns, die Protagonisten, die Zuschauerinnen, die ganze Industrie zu Objekten; Menschlichkeit, Stil und guter Geschmack werden einfach zu Hause gelassen.
Aber The Pursuit of Sexiness, diese konsumistische Verheißung, das riecht eben nach Erfolg, Glamour und Top-Reproduktionsmöglichkeiten. Dem kann man sich nicht einfach entziehen, nicht, wenn man lebendig bleiben, mitmachen, seinen Spaß haben will.
Wie wird man sexy, wie stellt man das an? Eine schwierige, lebenswichtige Frage. Früher sagte man, Erfolg macht sexy, doch jetzt muss man schon sexy sein, um Erfolg zu haben. Aber es geht um mehr, um viel mehr. Sexyness scheint mittlerweile eine der Voraussetzungen zur Reproduktionszulassung zu werden. Der Marktwert, dem Houellebecq mit der Ausweitung der Kampfzone ein frühes Denkmal setzte, bestimmt die Erfolgsaussichten.
Vor mir liegt eine Frauenzeitschrift, auf deren Titel steht: »Single? So hoch ist Ihr Marktwert. Wie Sie Ihren Weg zum Glück berechnen.« Dort finden sich Sätze wie: »Auf dem Singlemarkt herrscht, wie auf jedem Markt, das Gesetz von Angebot und Nachfrage.« Und am Schluss werden wir, wie tröstlich, mit zwei goldenen Tipps entlassen. »Einerseits kann man neue Marktsegmente erschließen«, heißt es da, »oder das Produkt optimieren.« Also entweder auswandern oder endlich sexy werden.
Nur wie?
Der erste Schritt zur Selbstoptimierung führt über Äußerlichkeiten, kurz gesagt, Verschlankung. Bin aber schon wieder nicht zu meinem Pilates-Kurs gegangen, eine Schande ist das. Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Styling. Und die richtige Einstellung. Eine ganze Industrie lebt davon, Lösungen und Anregungen anzubieten. Frauenzeitschriften und Männermagazine präsentieren regelmäßig die neuesten Produktempfehlungen, um gestresste Haut wieder zart und geschmeidig zu machen. Subtil wird hier die Angst geschürt. Anzeigen mit wunderschönen retuschierten Gesichtern und Körpern, Geschichten über glamouröse Stars und Promis bilden den unsicherheitserzeugenden Rahmen, in dem neue Kosmetika und die Top-Fashion-Trends der Saison vorgestellt werden. Und entweder gibt es eine Sektion à la »Bauch weg in siebzehn Stunden« oder »Die zehn Diätgeheimnisse der Stars«.
Der sich ausweitende Zwang zum Sexappeal hat auch die Männer erfasst. Männermagazine ködern mit »In sieben Tagen zum Waschbrettbauch«, »Endlich aussehen wie Brad Pitt – mit allen Bezugsadressen seiner Kleidung« oder auch: »Haare färben leicht gemacht«. Doch nicht nur im Print-Sektor, auch im Fernsehen und im Kino ist die unablässige Selbstverbesserung ständiges Thema. Mit »Pimp My Ride« hat MTV schon früh einen großartigen Wortbeitrag zu dieser Tendenz geliefert: »Pimpen« kommt von pimp, amerikanisch für Zuhälter. So impliziert dieses Wort einen sexuellen Hintergrund. Zuerst wurden bei MTV die Autos gepimpt, dann im deutschen Spin-off die Fahrräder. Mittlerweile pimpen wir alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Vor allem uns selbst.
In der oben erwähnten Frauenzeitschrift stand auch, dass die Zahl der Manager, die in London Schönheitschirurgie in Anspruch nahmen, 2005 um vierzig Prozent gestiegen sei. Tatsächlich steigt auch in Deutschland die Anzahl der Männer, die bereit sind, sich zwecks Selbstoptimierung der plastischen Chirurgie anzuvertrauen. Der häufigste Eingriff ist das Fettabsaugen, gefolgt von Gesichtskorrekturen und Brustoperation. Der Autor, Rudi Raschke, verwies darauf, dass sich laut einer Studie von Medical One mehr hetero- als homosexuelle Männer diesen Operationen unterzögen. Er schloss mit dem Hinweis, dass es schon Botox für die Achseln gäbe, um das Schwitzen zu unterbinden. Ich konnte sein geschlechtsgenossisches Grausen noch spüren, nachdem ich die Zeitschrift weggelegt hatte.5
Mein Freund Thomas Vinzmann, genannt Vince, ist ein attraktiver Mann. Dunkle Haare, dunkle Augen, ein irgendwie südländischer Look. Ein Hetero-Mann, dem gestreifte Segelpullover stehen. Vince ist DJ, arbeitet als Freelance-Videoproduzent und geht gern aus, aber was ihn auszeichnet, ist sein unfassbares kosmetisches Wissen. Als ich zum ersten Mal davon hörte, dass man sich auch entwachsen kann, hatte Vince schon keine Rückenhaare mehr. Als ich Alka Seltzer entdeckte, justierte Vince schon seinen persönlichen Vitamincocktail. Bei dem Wort »Einlauf« funkeln seine Augen, und er fängt an, eine lange Geschichte über richtiges Entschlacken zu erzählen. Seine dunkle Seite ist eine neurotische Jämmerlichkeit, eine perverse Sorge um sich.
Vince hat sehr schöne Hände mit schmalen, geschmeidigen Fingern. Er hat vor langer Zeit damit angefangen, seine Rede gestisch zu unterstreichen, und seine Finger sind dabei irgendwie immer in seinem Gesicht. Wir stehen an der Bar, er streicht sich langsam über seine rechte Wange und sagt:
»Ich glaub, jetzt fängt es an mit dem Haarausfall. Kannst du mal nachsehen, die ›Stelle‹ ist größer geworden, glaub ich.«
Er hebt sein Cap, ich sehe nach. Dichtes, leicht gelocktes dunkelbraunes Haar. Keine Kopfhaut, nur sozusagen natürlich, dort, wo er einen kleinen Wirbel am Hinterkopf hat.
»Da ist nichts. Gar nichts.«
Die Hand fährt immer noch im Gesicht herum, skeptisch streichen die Finger übers Kinn.
»Näää. Ich weiß nicht. Kannst du noch mal schaun, mir ist so …«
»Da ist wirklich nichts.«
»Hmm.«
Er schweigt eine Weile, sieht sich um, ein Männerblick, der über die anwesenden Frauen streift. Ich überlege, ob ich nach Hause gehen soll. Dann dreht er sich wieder mir zu und sagt: »Ich hab ja auch immer so Magenprobleme gerade. Sodbrennen. Ich sollte wirklich weniger ausgehen.«
»Wir sollten alle weniger ausgehen.« Was für ein blöder Satz, denke ich mir, aber Vince ist dabei, in Fahrt zu kommen. »Und ich bin so fett geworden.« Das Anfassen des Kinns hat etwas Hektisches bekommen. Der Blick flackert über die Anwesenden. Ich denke an das Weiße, Böse6 und sage:
»Also hör mal, du siehst gut aus. Ich bin fett geworden.«
Er schweigt. Und lächelt, ein kleines ironisches Lächeln, seine Hand hängt wieder lässig an ihm herab. Du kleines Miststück, denke ich.
»Lass uns noch was trinken«, sagt er dann.
»Ich will ’nen doppelten Grasovka auf Eis«, sage ich.
Die starken Wachstumsraten im Bereich der plastischen Chirurgie und das umfassende kosmetische Angebot zur geschlechterübergreifenden Faltenreduzierung verweisen auf ein zentrales Kriterium der Sexyness: Jugend. Ewige goldene Jugend, fünfundvierzig ist doch noch kein Alter. Und eigentlich wollen wir alle fünfunddreißig sein7, sagt Claudius Seidl, der das in seinem Buch Schöne junge Welt analysiert. Darin beschreibt er eine ideelle Alterslosigkeit, eine Verbindung von Jugendlichkeit und Reife. Aber die milchfrische Knackigkeit einer / eines adoleszenten Sechzehnjährigen ist auch nicht schlecht, da muss man realistisch bleiben.
Schlank sollen wir also sein, geschmeidig, jugendlich und verdammt gut drauf. Sexyness ist kein Spaß, obwohl sie natürlich Spaß machen soll, sondern ein existenzielles Großprojekt. Sie ist ein komplexes Lifestyle-Paket aus Körper, Kleidung, Geschmack.8 Das will erst mal verinnerlicht werden. Aber wir haben ja Zeit. Zumindest, seit die Adoleszenz bis fünfundvierzig dauert.
Was die Äußerlichkeiten angeht, sind wir wirklich gut beraten, gepampert mit Produktvorschlägen und Leitbildern. Aber die Attitude? Wie kriegt man die hin? Also, da geht es wohl um flirtbereite Leichtigkeit, um »gut drauf sein«, um »sich nicht so haben«. Bereitwilligkeit, Anzüglichkeit, Zurschaustellung der Reize. Für Frauen kristallisiert sich ein Rollenmodell heraus, das eine Hybridform zwischen Kumpel und Sexbombe darstellt, während die Männer nur gepflegt und frech / charmant / durchsetzungsstark / verständnisvoll / gerne shoppend / hilfsbereit sein müssen. Aber wehe, einer vergisst die Armmuskeln! Oder das Parfum! Das Deeeeoooo!
Zur richtigen Einstellung gehört auch die ständige Bewertung der anderen Wettkampfteilnehmer. Dabei fällt auf, dass Frauen immer noch viel mehr über Frauen reden. König Gunter nennt das immer »Frauen beobachten Frauen«. Dieser typische Blick, wenn manchmal die Figur und immer das Styling gecheckt wird. Da scheinen wir wohl eine natürliche Neigung zu haben, so als Frauen. Oder ist das schon die Weiterführung patriarchaler Machtstrategien im Sinne von »teile und herrsche«?
Zu meiner Verteidigung kann ich vorbringen, dass diese Blicke in meinem Fall allein das Resultat meiner großen Verehrung für die vielen Facetten der weiblichen Schönheit sind, welche ich bei anderen Frauen meist neidlos anerkenne.9 Die jungen Rehlein. Raffinierte Göttinnen. Sportliche Androgyne. Exquisite Accessoires. Mein Auge, auch das meiner Freundinnen, bleibt meist an etwas hängen, das die andere auszeichnet, etwas ganz Eigenes. Doch gibt es auch hier einen Trend zur Chauvinisierung. Immer noch stimmt es, dass auch in gemischten Gruppen viel mehr über attraktive Frauen geredet wird als über appetitliche Kerle. Wenn ich mich über die formschöne Figur einer jungen Dame auslasse, hören auch meine Freunde gerne zu, will ich jedoch die Bartstruktur des unfassbar gutaussehenden Mannes schräg vor mir tiefenanalysieren, stoße ich auf zwar vorhandenes, doch begrenztes Interesse. Und auf eine fehlende Sprachtradition. Als ich über diesen Punkt mit Martin, einem Bekannten diskutierte, sagte er:
»Ich finde, dass Männer auch viel über Männer sprechen.«
»Du sitzt also neben einem Kumpel in einer Bar, und dann sagt einer: ›Wow, hast du den hübschen Typen da drüben gesehen. Der sieht ja aus wie Jude Law.‹«
»Na ja, so nicht gerade!«
»Wie dann?«, fragte ich.
»Na, das sind eher so beiläufige Bemerkungen. Wenn jemand was Cooles anhat oder mit einer tollen Frau da ist oder so. Da kann man dann aber schon drüber reden.«
»Das widerspricht meiner Erfahrung. Besonders über Anwesende scheinen Männer nicht gerne zu sprechen. Sportler, Helden, Modedesigner, das geht alles noch. Aber im Allgemeinen reden beide Geschlechter tendenziell mehr über Frauen.«
»Nein, ich hab schon oft über andere Männer geredet.« Er rückte seine Brille zurecht. »Aber, wenn ich’s mir so überlege, viele meiner Freunde sind schwul …«
»Hm …«
Er hatte mich nicht überzeugt.
Wahr ist dagegen, dass sich viele Frauen eines pseudo-lässigen Männersprechs und Männerverhaltens bedienen. Ich bin davon nicht ausgenommen. Hatte ich nicht in Prag mit der Eisprinzessin einen Stripclub besucht, mich über die Brüste / Figuren / Hintern der Tänzerinnen ausgelassen und am laufenden Band dreckige Witze erzählt?
Ariel Levy analysiert in ihrem post-feministischen Buch Female Chauvinist Pigs – Women and the Rise of Raunch Culture die zwei Tendenzen, die dazu führen, dass sich Frauen in chauvinistische Säue verwandeln. Zum einen geht es um Macht, um den Wunsch, so zu sein wie »one of the guys«. Und wenn man dafür einen Stripclub besuchen muss, andere Frauen als Sexobjekte diskriminiert und dreckig über diese Demütigungen lacht, dann ist das wohl nur ein geringer Preis fürs Dabeisein. Dieses zutiefst unschwesterliche Verhalten ist auf dem Vormarsch, es scheint einfach so verdammt cool zu sein. Aber es ist auch eine Tatsache, dass in den höheren Rängen der allgegenwärtigen Hierarchien immer noch hauptsächlich Männer das Sagen haben, und es gibt die lachenden Jungs, die vor einem Bildschirm über Titten und Ärsche diskutieren, die widerwärtige Witze erzählen und unglaubliche Dinge über Frauen sagen.
Ich habe eine Zeitlang in Barcelona gelebt. Eines Tages ging ich in die Boqueria