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Eine Einladung, mit der Rettung der Welt bei sich selbst anzufangen Wie komme ich mir selbst und damit auch meinem Glück ein wenig näher? Das neue Buch von Ariadne von Schirach ist ein Kompass für aktuelle und antike Glücksvorstellungen und zeigt Wege auf, die innere Stimme hörbar zu machen. Humor, Güte und Genuss spielen in ihren Glücksversuchen eine ebenso wichtige Rolle wie die griechischen Philosophen. Aber darf man in Zeiten wie diesen nach Glück streben? Darf man sich um das eigene Wohlbefinden kümmern, wenn gleichzeitig so viele Menschen überall auf der Welt um ihr Leben, ihre Rechte oder um Anerkennung kämpfen müssen? Ja, denn das Glück, um das es in diesem Buch geht, meint weder Selbstoptimierung noch Positive Psychologie. Es ist nicht selbstbezüglich, sondern kreist um Beziehungen und Teilhabe und steht in einer Tradition, die mit dem griechischen Philosophen Epikur begann. Dieser stellte die bewusste Freude am eigenen Leben und die Freundschaft mit anderen ins Zentrum seines Denkens. Und auch heute gilt es, gut für sich zu sorgen, damit man sich gut um andere und anderes sorgen kann – ob um das Klima, um eine Arbeit, die einem wichtig ist, oder um Menschen, die einem am Herzen liegen. Denn ein glückliches Leben ist immer auch ein sinnvolles Leben.
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Seitenzahl: 282
Ariadne von Schirach
Glücksversuche
Von der Kunst, mit seiner Seele zu sprechen
Tropen Sachbuch
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Tropen
www.tropen.de
© 2021, 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: FAVORITBUERO, München
unter Verwendung einer Abbildung von © Werner Forman/UIG/Bridgeman Images
ISBN 978-3-608-50188-9
E-Book ISBN 978-3-608-11702-8
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Vorwort
Glück ist erlernbar
So tun, als ob
Körperglück
Freund Hein
Der Kreis
Grundsätze
Gewohnheiten
Neid als Navigator
Spazierengehen
Pflanzen
Beziehungen
Liebesworte
Selbstliebe
Vergleichen
Glückstagebuch
Dankbarkeit
Rotation der Genüsse
Selbstbeobachtungen
Den Tag pflücken
Versuchungen
Augenblicke
Fotos
Lebensziele
Kränkungsprävention
Random Acts of Kindness
Verzicht
Besitz
Unglück
Umarmungen
Staunen
Lernen
Muße
Brachliegen
Vom Guten
Sich überraschen
Lebensportfolio
Selbstwert
Die innere Stimme
Wahrhaftigkeit
Erledigungen
Konsum
Vom Schenken
Weihnachten
Vom Wünschen
Von der Schwere
Vorsätze
Mach es gleich
Zufallsmaschinen
Die innere Mannigfaltigkeit
Bücher
Vom Schlaf
Abstand nehmen
Ein Moment der Ewigkeit
Scheitern
Selbstgespräch
Selbsterziehung
Einklang mit sich
Humor
Vergangenheit
Gegenwart
Zukunft
Ausgeglichenheit
Rückfälle
Kleine Reisen
Die anderen
Trauer
Unzufriedenheit
Trost
Güte
Glaube
Liebe
Hoffnung
Mäßigung
Tapferkeit
Gerechtigkeit
Weisheit
Lebenskunst
Abenteuer
Genügsamkeit
Erneuerung
Nachwort
Literaturverzeichnis
Dank
Für Aurora
Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen.
ESSAIS, Michel de Montaigne
Dürfen wir in Zeiten wie diesen nach Glück streben? Wie verträgt sich das gute Leben mit Environmental Grief, der Trauer über die Zerstörung der Natur? Ist es nicht unangemessen, sich um das eigene Wohlbefinden zu kümmern, während so viele Menschen überall auf der Welt um Leben, Recht und Anerkennung kämpfen müssen? Und ist diese ewige Suche nach dem Glück nicht ein First World Problem von Menschen, die sich weigern, die eigenen Privilegien zu reflektieren?
Vielleicht. Doch das Glück, um das es im Folgenden geht, meint weder Selbstoptimierung noch Positive Psychologie, sondern ein bewusst gelebtes Leben. Trotzdem ist es nicht selbstbezüglich, denn es kreist um Beziehungen und Teilhabe. Vor allem aber steht es in einer antiken Tradition der Lebenskunst, die unter anderem mit dem griechischen Philosophen Epikur begann, der 341 v. Chr. auf der Insel Samos geboren wurde. Als weltanschaulicher Gegenspieler Platons verweigerte sich Epikur jedem außerweltlichen Trost und stellte stattdessen die Freude am eigenen Leben und die Freundschaft mit anderen ins Zentrum seines Denkens. Sein Hedonismus steht dabei nicht für dumpfes Genießen und leibliche Exzesse. Ganz im Gegenteil, die epikureische Freude entspringt einem bewussten und maßvollen Leben, das anständig gelebt und anständig beendet wird.
Vierhundert Jahre später bringt der römische Philosoph Seneca 49 n. Chr. in seinem Buch Das Leben ist kurz diese Tradition einer »Sorge um sich« auf die berühmte Formel, die wichtigste Aufgabe des Menschen sei es, sich um seine Seele zu kümmern. Dieses Bemühen um das eigene Innenleben macht zwar nicht automatisch glücklich, aber es hilft, bewusst zu leben. Was die beste Voraussetzung dafür ist, sich auch in unserer unsicher gewordenen Gegenwart zurechtzufinden. Denn wir brauchen keine andere Welt, sondern ein anderes Bewusstsein dessen, was ist. Und dieses andere Bewusstsein beginnt bei jedem und jeder Einzelnen von uns. Es zeigt sich darin, wie ich mich selbst und die Welt sehe, was mir dabei wichtig ist und was ich deshalb tue und was ich lasse. Doch dafür muss ich mich erst einmal kennenlernen.
Und so sind die folgenden achtzig Glücksversuche auch Selbstversuche, in doppelter Hinsicht. Zum einen habe ich alles selbst ausprobiert und erzähle von meinen eigenen Erfahrungen mit guten Vorsätzen, mächtigen Versuchungen, unvermeidlichen Rückfällen und den Freuden des Nichtstuns. Zum anderen regen die Glücksversuche die Leserinnen und Leser dazu an, das Gelesene ebenfalls eigenhändig zu überprüfen: Listen wollen angefertigt, Spaziergänge gemacht und Liebesworte ausgesprochen werden. Dabei laden alle Glücksversuche – ob es um Beziehungen geht, um das Schenken oder um Humor – dazu ein, sich über seine Neigungen und Bedürfnisse klarzuwerden und dadurch eine eigene Haltung zu finden. Glück ist eine persönliche Angelegenheit, und nur, wer sich kennt, weiß, was ihm oder ihr Freude bereitet. Andererseits ist die Frage nach dem Glück etwas, das uns alle in unserem Menschsein betrifft. Unser aller Glück hat etwas damit zu tun, wie wir mit unserer Freiheit, unserer Unfreiheit und unserer Sterblichkeit umgehen.
Deshalb sind die Glücksversuche nicht nur eine Einladung zum Selbstgespräch, sondern auch ein Kompass für antike und zeitgenössische Glücksvorstellungen – ob antike Tugendlehre, Einsichten der Evolutionsbiologie oder psychologische Erkenntnisse zum Umgang mit Zeit, mit Genüssen oder mit Leid. Und obwohl man die Glücksversuche einzeln lesen kann, bauen sie doch in gewisser Weise aufeinander auf und bewegen sich dabei mäandernd vom Ich zum Wir.
Aufklärung ist, wenn man Kant folgt, die Befreiung aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Über sich und sein Leben nachzudenken, versorgt einen mit dem Handwerkszeug, über unser gemeinsames Leben und über unsere gemeinsame Zukunft nachzudenken. Denn alles, wirklich alles, könnte anders sein. Dazu schreibt die Schriftstellerin Ursula K. Le Guin: »Wir leben im Kapitalismus. Er erscheint unausweichlich. Doch so erschien auch das göttliche Recht der Könige. Jede Form menschlicher Macht kann von Menschen verändert werden.«
Obwohl wir angesichts der vielen aktuellen Probleme und Herausforderungen anerkennen müssen, dass es notwendig ist, anders miteinander und mit der Natur zusammenzuleben, gibt es Dinge, die seit 2000 Jahren gültig sind. Dass Genügsamkeit Freiheit schenkt, zum Beispiel. Je weniger wir brauchen, desto weniger Zeit müssen wir aufwenden, das Notwendige zu erwirtschaften. Und desto mehr Zeit haben wir für alles, was uns wirklich wichtig ist.
Epikur hat einen berühmten Brief geschrieben, in dem er einen Freund um ein kleines Stück ktyhnischen Käse bittet, »um einmal recht zu schwelgen«. Der Käse war sicher köstlich. Doch wichtiger war ihm der Kontakt mit dem Freund, ebenso wie die Freundschaft als solche. Das gilt heute noch. Wir brauchen einander, aber wir schulden uns auch einander. Nicht nur, weil wir uns das Leben schenken, sondern ebenso, weil wir kollektive Geschöpfe sind. Was dir geschehen kann, kann auch mir geschehen. Mein Glück ist nicht unabhängig von deinem Glück, so wie ich nicht unabhängig bin von dir.
Also Freundschaft immer, Glück in Maßen und ein Stück vom Käse, aber ein kleines. Dafür viel Zeit, um nachzudenken. Denn wie sagte Epikur: »Wir sind ein einziges Mal geboren; zweimal geboren zu werden, ist nicht möglich; eine ganze Ewigkeit hindurch werden wir nicht mehr sein dürfen. Und da schiebst Du das, was Freude macht, auf, obwohl Du nicht einmal Herr bist über das Morgen? Über dem Aufschieben schwindet das Leben dahin, und so mancher von uns stirbt, ohne sich jemals Muße gegönnt zu haben.«
Glück ist kein Geschenk der Götter, sondern die Frucht innerer Einstellung.
Erich Fromm
Innehalten, um sich die Sonne aufs Gesicht scheinen zu lassen. Ein Abend mit guten Gesprächen. Etwas abschließen, mit dem man sich lange beschäftigt hat. All diese unterschiedlichen Erfahrungen können glücklich machen. Aber was ist Glück eigentlich? Ist es ein Gefühl oder ein Zustand, ist es unerwartet, oder kann man es beeinflussen?
Im Deutschen wird zwischen Glück und Zufriedenheit unterschieden. Das, was wir Glück nennen, ist oft zeitlich begrenzt; ein intensives Gefühl, das einen Moment oder eine bestimmte Lebensphase vergoldet. Im Gegensatz dazu beschreibt Zufriedenheit einen umfassenderen und länger andauernden Zustand, der dafür schwächer ist. Und während Glück etwas Unkontrollierbares und Zufälliges hat, verdankt sich Zufriedenheit bewusst getroffenen Lebensentscheidungen und gut gewählten Gewohnheiten. Fragt man jedoch, was denn das Ziel aller Ziele sei, fällt selten der Satz: »Ich wäre gern zufrieden.« Stattdessen hört man: »Ich möchte glücklich sein.«
Glücklich sein also. Gehen wir fortan davon aus, dass darin alles Weitere enthalten ist: die Zufriedenheit, die vorhandenen und genutzten Chancen, die günstigen Zufälle. Selbstverwirklichung, Daseinsgewissheit und Lebensfreude. Gesundheit, ein heiteres Gemüt und liebevolle Beziehungen. Doch so vielfältig diese Glücksaspekte auch sein mögen, eines haben sie alle gemeinsam: Wenn wir glücklich sind, befinden wir uns mit uns selbst und der Welt im Einklang.
Nur wie erreiche ich eine solche Harmonie? Dazu schreibt der jesuitische Schriftsteller Baltasar Gracián in seinem Handorakel: »Es gibt Regeln für das Glück: Denn für den Klugen ist nicht alles Zufall. Die Bemühung kann dem Glücke nachhelfen.« Glück, vor allem wenn wir es in diesem umfassenden Sinn verstehen, ist also etwas, worum ich mich bewusst bemühen kann – eine Übung, eine Praxis, eine Haltung. Die ebenso von dem Menschen abhängt, der ich bin, wie von dem Menschen, der ich werden möchte.
In ihrem Roman Labyrinth des Minotaurus notiert die Schriftstellerin Anaïs Nin: »Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen sie, wie wir sind.« Die Welt ist demnach, wie wir sind. Wir selbst sind es, die den Dingen Bedeutung verleihen. Durch die Kriterien, die wir anwenden, die Prioritäten, die wir deshalb setzen, und die Entscheidungen, die wir daraufhin treffen. Es ist von Bedeutung, ob ich mir angewöhnt habe, eher die guten oder die schlechten Aspekte einer Sache zu betrachten. Ob ich nachsichtig bin oder nachtragend. Und ob ich mich um Verständnis bemühe oder schnell werte. All dies liegt tatsächlich in meiner eigenen Hand. Auch wenn es leicht ist, dem ersten Impuls nachzugehen, nachlässig und gierig zu sein, andere zu beurteilen und auf sie herabzublicken, macht es die innere Welt klein und uns auf Dauer unglücklich.
Obwohl ich selbst all das schon lange weiß, handle ich oft nicht danach. Später schmerzt es mich oft, dass ich trotz aller Einsicht wieder einmal missgünstig, gefräßig oder selbstsüchtig gewesen bin. Daraufhin nehme ich mir vor, mich in Zukunft anders zu verhalten. Dann enttäusche ich mich wieder. Und beschließe: Diesmal aber wirklich!
Weil es so schwierig sein kann, den eigenen Werten und Überzeugungen gerecht zu werden, besteht das Streben nach Glück für mich immer aus einer doppelten Bewegung: Selbstannahme und Selbsterziehung: »Nicht so schlimm (schon schlimm, aber ich vergebe dir), morgen mache ich es besser (das will ich dir auch geraten haben).«
Ebenso wichtig wie das Bemühen, die eigene Kleingeistigkeit und Engherzigkeit immer wieder bewusst zu korrigieren, ist es zu wissen, was mir Freude macht, was mir Kraft gibt, was mir gefällt. Glück beginnt damit, auf sich selbst aufmerksam zu werden. Unser Glücksempfinden ist sehr persönlich, und nur, wer sich kennt, kann damit beginnen, sich ein Freund zu sein.
Aber Glück hat nicht nur viele Gesichter, es ist auch paradox – einerseits sieht es für jeden und jede anders aus, andererseits gibt es ein paar Regeln, die für uns alle gelten. Die meisten Menschen wünschen sich, gesehen und geliebt zu werden. Und, fast noch wichtiger, selbst zu lieben: andere ebenso wie sich selbst, die hellen wie die dunklen Seiten. Diese Liebe zu sich ist etwas ganz anderes als rücksichtsloser Egoismus. Sie entspringt einer verständnisvollen Großzügigkeit, die ebenso verzeiht wie aufrichtet. Und damit Platz schafft für alles, was wirklich zählt. Es macht uns alle glücklich, geben zu dürfen und für andere da zu sein. Unsere Freude wächst, wenn wir sie teilen, während unsere Sorgen weniger werden. Glück ist also auch ein soziales Gefühl.
Vor allem ist Glück aber etwas, das durch unsere Aufmerksamkeit gedeiht. Wenn wir uns ihm widmen, wird es größer. Dass dabei unser Bewusstsein für unser eigenes Leben wächst, gehört schon zu seinen ersten Früchten.
Ich bin, was ich zu sein behaupte.
Oscar Wilde
Ich habe einen wichtigen Termin und fühle mich erbärmlich. Ich schaue auf meine To-do-Liste und merke, dass ich nichts geschafft habe. Ich habe schlechte Laune und weiß nicht, wie ich mich für irgendetwas motivieren soll. All das passiert mir öfter, als ich zugeben möchte. Wir alle kennen diese Situationen, in denen das Glück ganz weit weg ist, weil man sich klein fühlt, traurig, unzulänglich. Angesichts des großen Leides in Gestalt von Verlust und Trauer gibt es natürlich Schlimmeres, und doch ist es manchmal kaum auszuhalten, das kleine Leid. Was tun?
In vielen Glücksratgebern steht ein einfacher Ratschlag: So tun, als ob. Sich einfach so verhalten, als sei man schon jemand, der sich liebenswert findet oder um den Wert seiner Arbeit weiß. Um dorthin zu kommen, reicht eine kleine geistige Bewegung: Ich lenke meine Aufmerksamkeit weg von dem, was ist, hin zu dem, was sein soll. Diese Fokusverschiebung ist kein Verrat an meinem Ich, sondern seine bewusste Gestaltung. Viele der Impulse, die wir in uns spüren, sind weder brauchbar noch liebenswert; ich bin nicht authentischer ich selbst, wenn ich zweifelnd zu Hause sitze, und diffuse Gefühle sind auch nicht wahrer als ein fester Entschluss, der ihnen entgegensteht.
Natürlich gibt es auch Gefühle, die sich zum Ausdruck bringen müssen und emotionale Erfahrungen jenseits aller Einflussnahme, beispielsweise in einer Depression. Doch in der Mittellage haben wir Menschen ziemlich viel Gestaltungsfreiheit. Wir sind geistige Wesen, die das, was in uns und um uns ist, auswählen und gewichten und ihm dadurch Gestalt und Bedeutung verleihen können. Und wir können uns entscheiden: für Großmut oder Kleinlichkeit, Entschlossenheit oder Zaghaftigkeit, fürs Loslassen oder fürs Beharren. Dabei gibt es keine richtigen Entscheidungen – nur angemessene. Und sie sind nicht endgültig. Mensch zu sein heißt, jeden Tag aufs Neue darüber nachdenken zu können, wer ich bin und wer ich sein möchte.
Wobei vor allem der Mensch, der wir sein wollen, unserem Leben eine Richtung gibt. Unsere Hoffnungen und Erwartungen in Bezug auf uns selbst sind eine große Antriebskraft. Schon Sokrates sagte: »Sei, was du scheinen willst.« Heute sagen wir: Fake it till you make it, täusche es so lange vor, bis du es erreicht hast. Aber geht das wirklich? Können wir uns selbst ins Glück hineintäuschen?
Die Antwort ist ja. Bis zu einem gewissen Grad ist der Wille zur Form stärker als die Schwerkraft der Elemente. Wir können uns nicht glücklich lügen, aber bei kleinem Leid kann es tatsächlich helfen, von dem, was wir glauben zu empfinden, abzusehen. Und von dem, was wir deshalb konkret veranstalten. Denn meist besteht ein Teil dieses Leides darin, dass wir niedergedrückt irgendwo sitzen oder liegen und uns schlecht fühlen.
In solch einer Situation nützt es, sich zu fragen, was man tun würde, wenn heute ein guter Tag wäre. Und es dann einfach tun: frisches Essen zubereiten, sich mit lieben Menschen austauschen, rausgehen. Ich bin fast gekränkt davon, wie gut mir diese einfachen Dinge immer wieder bekommen – gerade wenn alles sehr kompliziert erscheint. Aber nein, auch bei größtem Unbehagen geht es mir nach einem kleinen Gespräch oder einem schnellen Spaziergang deutlich besser. Als sei ich ein dummer Putzroboter, der aus Versehen in eine Ecke gefahren ist und nur jemanden gebraucht hat, der ihn in eine andere Richtung dreht.
Bewegung hilft wirklich jedes Mal. Und eine aufrechte Haltung. Unglückliche Menschen sind gekrümmt, den Blick auf den Boden gerichtet. Die Haltung ist Ausdruck unserer inneren Befindlichkeit. Aber dieses Verhältnis funktioniert ebenso von außen nach innen. Es ist biologisch fast unmöglich, niedergeschlagen zu sein, wenn wir ganz geradestehen, mit lockeren Schultern und erhobenen Kopf. Und es hilft den meisten Menschen, zu lächeln. Einfach die Mundwinkel nach oben ziehen, vielleicht sogar bis zu den Augen, eine Weile so bleiben. Ich habe es ausprobiert, bei mir funktioniert es. Wobei ich mich auch hier darüber geärgert habe, dass ich so leicht zu beeinflussen bin.
Man kann außerdem so tun, als sei man fleißig, tüchtig, selbstbewusst. Sich anziehen für den Job, den man gerne hätte. Platz schaffen für die Liebe, nach der man sich sehnt. Denn unser Leben ist nicht nur das, was wir vorfinden. Sondern ebenso das, was wir Tag für Tag daraus machen.
Luft und Bewegung sind die eigentlichen geheimen Sanitätsräte.
Theodor Fontane
Glück hat viele Gesichter, und wir nähern uns ihm auf widersprüchlichen Wegen: indem wir unser Befinden und unsere Gefühle ansehen, aber auch, indem wir von ihnen absehen. Doch ganz egal, welcher Umgang mit uns selbst gerade angemessen ist, das Glück wohnt stets am gleichen Ort: in unserem Körper. Dort werden die Stoffe ausgeschüttet, die unsere Wahrnehmung zu Gefühlen werden lassen: Oxytocin verwandelt sich zu einem Empfinden tiefer Verbundenheit, ein hoher Serotonin-Spiegel erzeugt Behaglichkeit, während Dopamin uns beschwingt und wach zurücklässt. Glücksgefühle sind Körpergefühle. Doch was will der Körper? Er will Bewegung. Und tatsächlich haben Befragungen überdurchschnittlich glücklicher Menschen ergeben, dass für die meisten sportliche Betätigung zu ihrer wöchentlichen oder sogar täglichen Routine gehört.
Die andere Seite der Anspannung ist die Entspannung. Wie so ein Körper doch herumliegen kann, faulenzen, dösen, wie er es sich bequem macht, sich einkuschelt oder an einen geliebten anderen schmiegt. Wie er einfach nur da ist, ein atmender, lebendiger und selbstverständlicher Teil der Welt, und wir mit ihm. Vielleicht weiß er etwas, das wir noch nicht wissen. Der Philosoph Friedrich Nietzsche spricht im Zarathustra von der großen Vernunft des Leibes, er sei »eine Vielheit mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt«. Wir, unser Geist, unser Wille, unsere Entschlossenheit, sind nur die »kleine Vernunft«, sein »Werk- und Spielzeug«. Und so lächerlich das auf den ersten Blick klingen mag, so wahr wird es, wenn wir krank werden oder einfach nur müde sind oder allzu aufgedreht. Der Körper spricht – und wir können ihm zuhören. Mein eigener Körper äußert sich mit einer Deutlichkeit, die meinen komplexitätshungrigen Geist mindestens ebenso beleidigt wie die Tatsache, dass es mir tatsächlich besser geht, wenn ich so tue, als ginge es mir gut. Meine Haut wird schlecht, wenn ich mich nicht in ihr wohlfühle, die Schulter schmerzt, wenn ich etwas nicht mehr schultern kann, und die Augen brennen, wenn ich denke, ich seh wohl nicht recht.
Die dahinterliegende Frage nach dem Verhältnis von Körper und Geist beginnt bei uns im Westen zumeist mit dem antiken Philosophen Platon, der im Phaidon die Idee einer unsterblichen Seele verteidigt, die als vom materiellen, sterblichen Körper getrennt gedacht wird. Diese dualistische Anschauung zementierte Anfang der Neuzeit der französische Denker René Descartes. Mit seinem Ausspruch »Ich denke, also bin ich« hat er erneut unser Inneres von unserem Äußeren geschieden, und die materielle Seite unseres Daseins zugleich mechanistisch abgewertet. Obwohl es angesichts dessen Sinn machen würde, den missachteten Körper wieder als »große Vernunft« aufzuwerten, wie Nietzsche es macht, ist es vielleicht sinnvoller, die Trennung an sich zu hinterfragen; eine Trennung, die anderen Weltanschauungen völlig fremd ist. In vielen anderen Kulturen sind Inneres und Äußeres einfach zwei Seiten einer Medaille, und Fragen des geistigen und des leiblichen Wohls gehen bruchlos ineinander über.
Auch in unserer Kultur gibt es mittlerweile viele ganzheitliche Ansätze, beispielsweise in der psychosomatischen Medizin. Und wir können uns selbst fragen, ob unser Körper eine Art Maschine ist, die wir gut in Schuss halten sollten, damit sie funktioniert. Oder ob er nicht eher die materielle Seite unseres Daseins darstellt, die wir achten und ehren sollten wie unsere geistige. Denn die Sorge um unseren Körper ist so vielfältig wie die Sorge um unser Innenleben und umfasst nicht nur Bewegung und Ruhe, sondern ebenso das, was wir sehen, die Luft, die wir atmen, die Kleidung, die wir tragen.
Und natürlich hängt unser körperliches Wohlbefinden davon ab, was wir essen. Scharfes löst gute Gefühle aus, Vitamin C sorgt für seelische Ausgeglichenheit. Das Gleiche gilt für Vitamin B. Nüsse enthalten genau wie Schokolade viel Tryptophan, was die Serotonin-Produktion anregt. Auch nachgekochte Kindheitsessen können glücklich machen, ebenso wie Gerichte und Geschmäcker, mit denen man schöne Zeiten verbindet.
Sich bewusst mit dem Streben nach Glück auseinanderzusetzen, beginnt bei unserer Leiblichkeit. So, wie wir Menschen darüber nachdenken, den Interessen der Natur eine eigene Stimme in unseren menschlichen Angelegenheiten zu geben, sollte auch der Körper in unserem Leben ein Mitspracherecht bekommen. Wir könnten ihn bei der Tagesplanung berücksichtigen, bei Entscheidungen, die unsere Zukunft betreffen und wenn wir uns daran machen, etwas zu essen.
Unser Körper wartet nur darauf, mit uns zusammenzuarbeiten. Wenn wir ihn gut behandeln, flutet er uns nach einem langen Spaziergang mit Glückshormonen, verbreitet Wohligkeit bei einem guten Abendessen und ist ganz ergriffen, wenn wir für längere Strecken aufs Fahrrad steigen. Und nicht zuletzt: Ist der Körper beschäftigt, schweigen die Gedanken. Und das ist oft das größte Glück.
What thou lovest well remains, the rest is dross.
William Shakespeare
Wer das Glück sucht, braucht Verbündete: unseren Geist, der uns befähigt, von uns Abstand zu nehmen und uns und die anderen neu zu sehen. Unseren Körper, der uns die Wahrheit über unseren Zustand fühlen lässt und für Wohlbefinden sorgt, wenn wir ihn berücksichtigen. Doch wenn wir uns dem Menschen nähern wollen, der wir sein könnten, brauchen wir noch einen weiteren Verbündeten: den Tod. Das eigene Leben von seinem Ende aus zu denken, ist ein alter philosophischer Trick und zugleich eine der lohnendsten Perspektiven, die wir einnehmen können. Die Frage ist nur, wie wir dorthin gelangen.
Vor vielen Jahren habe ich einen Werbespot gesehen; ich glaube, es ging um ein Getränk. Ein junger Mann sitzt auf einer Parkbank und hinter ihm lauert der alte Schnitter – bereit, ihn zu holen. Im Angesicht des Todes geht der junge Mann auf die imaginäre Reise, die uns wohl allen bevorsteht, und sein Leben zieht im Schnelldurchlauf vor seinen Augen vorbei. Aber was für ein Leben! Die ganze Vielfalt der Welt, die ausgefallensten Sportarten, die aufregendsten Beziehungen, die üppigsten Speisen. Nach einem endlosen Bilderwirbel setzt sich Freund Hein ermattet auf die Parkbank, aber es geht noch weiter, noch mehr Leben, noch mehr Bilder. Als auch diese bunte Flut vorbeigezogen ist, schwenkt die Kamera auf den Sensenmann, dessen knochiger Schädel ihm auf die Brust gesunken ist; er schläft. Und der junge Mann steht auf und geht davon.
Der Werbespot hat gewisse Ähnlichkeiten mit Büchern, die alle möglichen Dinge aufzählen, die man vor seinem Tod gemacht haben soll. In ihm steckt aber nicht nur eine Art von Erlebnisdruck, sondern auch die Einladung, darüber nachzudenken, was man sich selbst mit Gevatter Tod ansehen möchte. Welche Bilder, welche Erlebnisse, welche Begegnungen sollen eines fernen, fernen Tages gezeigt werden? Woran sollen sich meine Kinder und Enkel oder die Nachwelt im Allgemeinen erinnern? Und vor allem – woran will ich mich erinnern?
Nach dem Philosophen Martin Heidegger führt dieses »Vorlaufen in den Tod« zu einem Gefühl der Entschlossenheit, der Bereitschaft, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Denn das Kostbarste, was wir besitzen, ist unsere Lebenszeit. Anzuerkennen, dass sie begrenzt ist, hilft uns dabei, herauszufinden, womit wir sie verbringen und wofür wir uns engagieren wollen. Wobei wir uns zugleich fragen können, auf welche Weise sich das, was uns am Herzen liegt, in unserem eigenen Leben konkretisiert. Bei mir stoße ich immer wieder auf einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Für jemanden, der Tiere liebt, esse ich ganz schön viel Fleisch und für jemanden, dem die Natur so wichtig ist, gehe ich ziemlich selten wandern. Über meine eigenen Werte nachzudenken heißt, unangenehme Selbstgespräche zu führen und mich zugleich immer wieder einzuladen, das, womit es mir ernst ist, auch ernst zu nehmen. Wie gestaltet sich beispielsweise mein Verhältnis zur Natur? Wie begegne ich ihr, welche Mühe mache ich mir, Gelegenheiten dafür zu schaffen? Und wie kann ich ihr etwas geben – Müll sammeln, Bäume gießen, stille und ehrfürchtige Freude über eine Landschaft empfinden?
Jeder Wert, den man in sich findet, kann ein Schwerkraftzentrum werden und eine Entscheidungshilfe dafür sein, welchen Dingen man seine Lebenszeit widmen möchte. Auch ich habe irgendwann eine Liste mit allem, was ich noch unbedingt erleben will, angefertigt. Doch ich habe schnell festgestellt, dass mich diese Seiten voller Reisewünsche und Selbstverwirklichungsfantasien eher bedrücken als anspornen. »Das Medium ist die Botschaft«, sagt der Soziologe Marshall McLuhan, und mit Listen ist dem Leben nicht beizukommen. Eher mit Werten. Mit Natur. Mit Austausch. Mit Büchern. Mit Zuhören. Mit Engagement.
Mich zu engagieren bedeutet, dem unablässigen Verrinnen der Zeit etwas entgegenzuhalten: meine Taten, meine Kraft, meine Liebe. Denn das Gewahrsein der Endlichkeit betrifft nicht nur mein eigenes Dasein. Alles, was existiert, ist vergänglich, und alles, was mir am Herzen liegt, muss von mir selbst unterhalten und gepflegt werden. Hier geht es nicht nur um Beziehungen oder Dinge, die uns persönlich wichtig sind, sondern auch um das große Ganze: Institutionen, demokratische Errungenschaften oder universelle Werte wie die Würde des Menschen und seine Gleichheit. Weil alles im Wandel ist und alles vergeht, müssen wir das, was nicht im Strudel der Zeit verschwinden darf, festhalten und durch diese Treue zugleich immer wieder neu hervorbringen.
Der Tod mahnt uns zur Sorge um unser Leben und um alles, was bleiben soll. Viele alte Menschen, die kurz vor ihrem Tod befragt wurden, wünschen sich, dass sie ehrlicher gewesen wären, mutiger, großzügiger. Dass sie mehr Zeit mit denen verbracht hätten, die sie liebten, und weniger Zeit im Büro. Am Ende, da sind sich alle einig, geht es um immaterielle Dinge. Um die Liebe in unserem Leben. Um das, was wir gegeben haben, das, worauf wir stolz sein können.
Freund Hein ist wirklich ein Freund. Wenn wir seine Gegenwart von Zeit zu Zeit ertragen können, ist er ein guter und unbestechlicher Berater, der uns hilft, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Denn lang sind die Tage und kurz ist das Leben, und alles, was wir nicht selbst tun, bleibt für immer ungetan.
Freundschaft ist die Verbindung der Seelen.
Voltaire
Was macht uns glücklich? Oft nicht das, von dem wir es uns erhoffen. Nicht, dass Geld, Erfolg und Besitz nicht erstrebenswert wären. Aber in ihnen liegt kein dauerhaftes Glück. Und kein tiefes. Alte Menschen sagen, dass es um immaterielle Dinge geht, um Liebe und Verbundenheit. Auch Corona hat uns alle daran erinnert, dass das Wichtigste im Leben unsere sozialen Beziehungen sind. Wir brauchen einander, und wir haben Freude aneinander. Unsere Beziehungen geben unserem Leben einen Sinn, den materielle Güter nicht herzustellen vermögen. Und je mehr Liebe und Zuneigung in unserem Leben zirkuliert, desto glücklicher sind wir.
Neben unserem Geist und unserem Körper sind also andere Menschen die wichtigste Quelle unseres Glücks. Doch so wie wir unseren Geist mit falschen und schädlichen Vorstellungen füttern oder unseren Körper missachten und vergiften können, können uns auch unsere Beziehungen mehr Ärger als Freude bereiten. Irgendwo habe ich gelesen, dass einen an den Mitmenschen nichts mehr stört, sobald man selbst ganz mit sich im Reinen ist. Ich habe den Verdacht, dass das stimmt. Ihm folgt die Gewissheit, dass ich selbst diesen friedlichen Zustand nie erreichen werde. Stattdessen tut es mir gut, immer wieder darüber nachzudenken, wessen Unvollkommenheiten mit den meinen kompatibel sind und mit wem ich meine Lebenszeit verbringen möchte.
Zu entscheiden, an wen wir uns binden, ist ein Privileg, das nicht allen Menschen offensteht. Viele Formen von Rassismus und Sexismus beschreiben negative Beziehungserfahrungen, denen sich die Betroffenen nicht entziehen können. Und Menschen, die unter würdelosen Bedingungen leben und arbeiten müssen, haben weder Kontrolle über ihr Leben noch über ihre Beziehungen. Sich nach Belieben an Menschen zu binden oder sich von ihnen zu lösen, ist Ausdruck geistiger und körperlicher Freiheit, und dass diese Freiheit nicht allen von uns gegeben ist, ist Anlass zu unablässigem Engagement.
Es gilt also immer wieder, sich bewusst zu machen, welche sozialen Freiheiten wir genießen und was für ein Glück allein das schon ist. Doch gerade weil wir so frei sind, kann es passieren, dass wir einander vor lauter Arbeit, Welt und Leben einfach aus den Augen verlieren. Deshalb müssen wir uns immer wieder daran erinnern, wer uns tatsächlich etwas bedeutet. An wen denke ich oft? Mit wem verbinde ich besondere Erinnerungen? In wessen Gegenwart fühle ich mich wohl und ganz bei mir?
Das Internet hat die Zahl der Menschen, mit denen eine Art von Kontakt zu uns besteht, vervielfältigt. Manchmal wird der Radius aber auch kleiner, weil man eine Familie gründet, ins Ausland geht oder eine zurückgezogene Phase durchlebt. Und Corona hat uns zwar unseren Liebsten nähergebracht, dafür aber die netten, interessanten Bekannten umso ferner werden lassen. Aber auch wenn nicht gerade Pandemie herrscht, kann es schwierig sein, herauszufinden, an wem einem gerade wirklich etwas liegt oder wen man gerne näher kennenlernen möchte. Dabei hilft die Sache mit dem Kreis.
Dafür nehmen wir ein Blatt Papier, in dessen Mitte wir »Ich« schreiben. Darum platzieren wir, möglichst rasch und intuitiv, alle Menschen, die uns in unserem Leben wichtig scheinen. Dann schauen wir an, was wir da gemacht haben. Meine erste Zeichnung war ziemlich ungeordnet. Familienmitglieder, Freundinnen, Freunde und Fremde, alle durcheinander. Und die meisten am falschen Platz.
Der Trick ist die zweite Zeichnung. Mit der ersten stellen wir sozusagen das Personal fest. Zugleich bilden sich Kategorien heraus, die könnten heißen: Familie, enge Freunde, Freunde, mögliche Freunde, Fremde. Mit der zweiten Zeichnung bringen wir Ordnung in unsere Beziehungen. Je näher ein Mensch am »Ich« steht, desto näher steht er uns auch in Wirklichkeit. Jeder und jede hat eigene Ordnungsfelder, die sich ganz spielerisch ergeben. Oft ist es überraschend, wer sich tatsächlich in unserer nächsten Nähe befindet. Faktoren wie häufiger Kontakt, räumliche Nähe oder familiäre Beziehung sind nicht zwangsläufig ausschlaggebend – eher eine Art tieferer Verbundenheit.
Es ist merkwürdig, wie gut die zweite Zeichnung tut. Vielmehr, die Übersicht tut gut. Plötzlich scheint es wieder Platz in meinem Leben zu geben. Und Gewissheit. Manchmal tauchen in diesen Zeichnungen Menschen auf, die man noch gar nicht so gut kennt. Oder Menschen, von denen man lange nichts gehört hat. Und das kann sich ändern. Ich fand auf meiner Zeichnung eine alte Schulfreundin. Von ihr hatte ich noch die E-Mail-Adresse. Hingeschrieben. Antwort bekommen. Lange telefoniert.
Zuletzt könnten wir einen dritten Kreis ziehen um die Menschen, die uns tatsächlich am allernächsten stehen: die liebsten Familienmitglieder, die engsten Freundinnen und Freunde, die interessantesten Bekannten. Das sind wenige, ganz wenige. Zwei, drei, vier vielleicht.
Und da sind sie dann, die Unersetzlichen, die Kostbaren. Ihnen sollten wir uns bewusst und liebevoll widmen, weil sie es sind, die unser Leben stützen und bereichern. Dadurch, dass unser Glück tatsächlich zu einem großen Anteil von unseren Beziehungen abhängt, wirft die dafür aufgewendete Zeit reichliche Zinsen ab. Ein ganzes Leben lang.
Geh nicht gelassen in die gute Nacht.
Dylan Thomas
Zähne geputzt, das Bett gemacht, die Küche aufgeräumt. Wie gestern. Und vorgestern. Und vorvorgestern. Mensch zu sein heißt, jeden Tag aufs Neue Zeit für den Selbsterhalt aufzuwenden. Ebenso wie für alles, was uns am Herzen liegt. Diese Erhaltungsarbeit verbindet uns Menschen miteinander. Wir alle müssen ein Leben lang unsere Nägel schneiden, Essen besorgen, unsere Dinge aufräumen. Und weil alles vergeht, müssen wir uns beständig um das kümmern, was wir unser Eigen nennen wollen, ganz egal, wo wir leben und welche Mittel uns dafür zur Verfügung stehen.
Zu begreifen, dass diese Erhaltungsarbeit notwendig ist, hat mich glücklicher gemacht. Ich habe mich von allen Fantasien verabschiedet, die letztlich darauf hinauslaufen, dass ich nicht mehr Betten machen oder aufräumen muss, weil ich Personal habe oder weil es Roboter gibt oder weil ich selbst mich auf ungeahnte Weise verwandelt habe. Nein, nein, ich bleibe dieselbe, und der Dreck will beseitigt werden, Tag für Tag, bis ich sterbe. Seitdem ich mich mit dieser Notwendigkeit angefreundet habe, bin ich sensibler für die andere Zeit geworden.
Denn auch wenn es manchmal viel zu tun gibt, vor allem mit Kindern, bleibt jeden Tag etwas Zeit übrig, freie Zeit, Besinnungszeit. In der wir uns nicht nur fragen können, was wir tun wollen, sondern ebenso, was wir tun sollten und von welchen Grundsätzen wir uns dabei leiten lassen. Was halte ich für wesentlich, fundamental, bestimmend? Wie begründe ich meine Überzeugungen? Welche Kriterien wende ich an? Und woher weiß ich, dass diese Kriterien richtig sind? Und vor allem: Mag ich das, was ich für wichtig halte, überhaupt und bringt es das, was mir am Herzen liegt, angemessen zum Ausdruck?
Jeder von uns hat Werte: die Gleichheit aller Menschen, den Schutz der Natur oder das etwas abstraktere Gute. Jeder von uns hat Gründe, die diese Werte legitimieren, und Überzeugungen, die uns helfen, ihnen gemäß zu handeln. Unsere Grundsätze bestimmen, worum wir uns kümmern, welchen Dingen, Menschen und Tätigkeiten wir unsere Zeit, unsere Energie, unser Leben schenken. Zugleich verrät jeder und jede von uns immer wieder die eigenen Grundsätze. So eint uns Menschen nicht nur die Fähigkeit zur normativen Selbstausrichtung, sondern ebenso die Fähigkeit, alle Werte und Gründe völlig zu vergessen.
Die Frage nach den Grundsätzen hat also immer zwei Seiten. Zum einen sind wir eingeladen, nach innen zu blicken und die eigenen Grundsätze zur Kenntnis zu nehmen. Und sie anschließend daraufhin zu befragen, ob sie angemessen, wahrhaftig und brauchbar sind. Sich dieser Selbstbefragung zu stellen, braucht Mut. Die eigenen Gründe und Überzeugungen zu beleuchten, ist eine geistige Arbeit, ein Ringen mit sich, den eigenen Gewohnheiten, Trägheit und trügerischen Vorstellungen. Zu Letzteren gehören wohlfeile Illusionen wie der Gedanke an eine selbstreinigende Küche, aber auch kollektive Fiktionen wie ein Zusammenleben ohne Konflikte. Nein, nein, wir müssen putzen bis zum Tode, und wo zwei zusammensitzen, kommt es immer mal wieder zum Streit. Das gilt erst recht für sieben Milliarden.
Zum anderen geht es um die Frage, ob wir unseren Werten, Gründen und Überzeugungen in unserem eigenen Leben gerecht werden. Und dadurch dem Menschen, der wir sein wollen und sein sollten, aufrecht ins Gesicht blicken können. Wofür engagiere ich mich? Wie äußern sich meine Werte in meinem Handeln? Wann habe ich das letzte Mal etwas für die Natur getan? Für die Demokratie? Für meine Nachbarschaft? Die Frage nach der Umsetzung ist die sokratische Frage, und sie ist lästig, unbequem, mitunter schmerzhaft. In ihr liegen Scham und Schuld und Unzulänglichkeit, aber auch Wut, Verdrängung und Bitterkeit.