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Angesichts einer immer verrückter werdenden Gegenwart ist es an der Zeit, uns wieder an unsere Würde, unsere Träume und unsere Verantwortung für unser eigenes und gemeinsames Leben zu erinnern. »Die psychotische Gesellschaft« ist eine hellsichtige Analyse unserer ökonomisierten Gesellschaft und zugleich ein leidenschaftliches Plädoyer für einen anderen Umgang mit Natur, Menschsein und Liebe. Selbstmordattentäter, Geflüchtete und populistische Präsidenten. Und dann spielt auch noch das Klima verrückt. Dieser krisenhafte Zustand hat viele Gründe. Die Ökonomisierung der Welt hat sich im 21. Jahrhundert fast vollendet. Sie betrifft schon lange nicht mehr nur das Sichtbare, sondern reicht tief in das Unsichtbare hinein: in das Soziale, in den Umgang mit uns selbst, den anderen und der Welt. Der Selbstwert ist zum Marktwert geworden, die Grenzen zwischen Ich und Welt verschwimmen. Das Resultat dieser kollektiven Identitätskrise ist eine psychotische Gesellschaft, deren Mitglieder weder wissen, wer sie sind, noch was sie sollen, und deshalb unfähig sind, mit sich und miteinander bewusst, wertschätzend und angemessen umzugehen. Doch jede Krise trägt in sich die Möglichkeit einer neuen Ordnung, sie ist eine Chance, unser Verhältnis zu uns, den Anderen und der Welt neu zu erzählen.
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Seitenzahl: 328
Ariadne von Schirach
Die psychotische Gesellschaft
Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden
Tropen Sachbuch
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Tropen
www.tropen.de
© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Zero Media GmbH, München,
unter Verwendung eines Fotos von © Wolfgang Tillmans,
Silver 69, Courtesy of Galerie Buchholz, Berlin / Cologne
Foto von Ariadne von Schirach (S. 1) © Rahel Täubert
Gesetzt in den Tropen Studios, Leipzig
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-50170-4
E-Book ISBN 978-3-608-11526-0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Einleitung
I Vom unbestimmten Tier
Das westliche Haus
Emma denkt nach
Der blinde Fleck
Das träumende Tier bestimmt sich selbst
Und es stürzt
Wie Ada verrückt wurde
II Die Unordnung der Dinge
Die Normalität der Krise
Ayn Rands
Jurassic
Park und der Geist der Überlegenheit
Jenseits von Raum und Zeit, hinein in die Unendlichkeit
Ohnmächtig am Abgrund
III Figuren des Übergangs
Formen der Verzweiflung
Das Mädchen mit den blauen Haaren
Von coolen Kuratoren und sehnsüchtigen Spirituellen
Dido lässt los
Die Fundamente des Fanatikers
Wie Andreas nach Hause kam
IV Die Welt neu erzählen
Ins Freie treten
Eine andere Liebe
Die Rückkehr zum Leben als poetische Praxis
Der Tränenkuchen
Träumen
Die unendliche Geschichte
Danksagung
Literatur
Für Iñaki
When I was young it seemed that life was so wonderful.
Supertramp, The Logical Song
Love is not a victory marchit’s a cold and it’s a broken Hallelujah.
Leonard Cohen, Hallelujah
Am 31. Dezember 2011 warteten wir darauf, dass die Welt untergeht, wie es eine alte Prophezeiung der Maya vorhergesagt hatte. Natürlich erwartete niemand, dass es wirklich passieren würde; einige von uns hatten auch schon den großen Computerabsturz vom 31. Dezember 1999 kommen und sang- und klanglos vorüberziehen sehen. Aber es lag so etwas in der Luft, und des Menschen Lust am Untergang vermischte sich mit dem Geruch der Böller und Raketen. Ich ging früh schlafen, und als ich am nächsten Morgen aufwachte, war die Welt noch da. In den Jahren, die seitdem vergangen sind, habe ich mich manchmal gefragt, ob das auch wirklich stimmt. Denn das, was vor unser aller Augen geschieht, hat wenig Ähnlichkeiten mit der Welt meiner Kindheit und Jugend im Süden Deutschlands und mehr mit den düsteren Science-Fiction-Büchern, die ich damals gerne gelesen habe.
Man weiß ja kaum, wo man anfangen soll. Beim Klimawandel, dem seltsamen Gefühl, dass das Wetter nicht mehr in die Landschaft passt? Bei den Geflüchteten, die zu uns kommen, bei denen, die irgendwo auf der Welt in Lagern festsitzen, bei all denen, die verfolgt werden wegen ihrer Religion, ihrer Sexualität oder ihrer Lebensweise? Oder bei Selbstmordattentätern, Amokläufern und Gotteskriegern, denen die ganze irdische Welt nur Durchgangsstation ist für ein ungewisses Paradies? Bei irren Präsidenten, schamlosen Konzernen, ungerechten Gesetzen zugunsten der Reichen? Beim Hochfrequenzhandel, Big Data, der allgegenwärtigen Überwachung?
Oder sollen wir doch bei den Tieren anfangen, ihrer fortgesetzten Mästung, Schlachtung und Verwertung? Oder bei den Wäldern und Bergen und Meeren, die verschmutzt und vernichtet werden für Konsum und Profit? Bei den Frauen, die plötzlich wieder für das Recht auf Abtreibung kämpfen müssen, wenn sie nicht schon müde geworden sind vom Kampf um Kinderbetreuung, gleiche Löhne und soziale Anerkennung? Bei den Homosexuellen, die bei uns zwar endlich heiraten dürfen, aber ein paar Länder weiter wieder in Umerziehungslager gesteckt und mit dem Tode bedroht werden?
Oder wir beginnen mit dem, was man nicht sieht, aber spürt: Unbehagen, Angst und Ohnmacht, begleitet von einem Gefühl der Dringlichkeit, Sorge und Verzweiflung. Manches zeigt sich aber auch schon ganz deutlich: das Erstarken nationalistischer Kräfte, die Verachtung für alle, die angeblich nicht dazugehören, die Suche nach Abgrenzung und eigener Identität. Wobei uns vor allem Letzteres daran erinnert, dass Menschen, die nicht mehr wissen, wer sie sind und wie sie zusammenleben können, dazu neigen, irgendwann nicht nur die Würde der Anderen, sondern auch ihre eigene aus den zu Augen verlieren.
Diese Welt verschlägt mir den Atem. Man kommt gar nicht mehr hinterher mit dem Mitdenken und Mitfühlen, und doch beginnt jede Veränderung mit dem Annehmen und Beschreiben dessen, was ist. Wir leben in einer Zeit innerer und äußerer Umbrüche. Der Verlust von alten Gewissheiten und sozialem Zusammenhalt trifft auf das immer lauter werdende Sprechen des Anderen, von unserer westlichen Kultur lange Verdrängten. Es melden sich die geplünderte Natur, entfremdete Gefühle und unsere erschöpften Körper, ebenso wie reale andere Menschen, die bei uns in Deutschland, in Europa oder – weiter gefasst – im Westen ein neues Leben anfangen wollen.
Auf vielen zunächst ganz unterschiedlich scheinenden Ebenen stellen sich dadurch Fragen danach, wer wir sind, wer wir sein wollen und wie wir gut miteinander und mit allem, was ebenfalls ist, zusammenleben können. Doch bis wir sie beantworten können, erinnert diese allgemeine Auflösung, die zugleich eine Auflösung des Allgemeinen ist, stark an das Krankheitsbild einer Psychose.
Eine Psychose ist eine Erkrankung des Geistes, ein innerer Ausnahmezustand, während dessen Dauer der Betroffene den Kontakt zur Realität verliert. Die Grenzen zwischen Ich und Welt verschwimmen und die eigene Identität wird dadurch ebenso instabil wie total. Ungefähr ein Prozent der Weltbevölkerung wird ein Mal im Leben psychotisch. Das sind allein in Deutschland rund 800 000 Menschen. Die Veranlagung zum psychotischen Erleben nennt man »Vulnerabilität«, also Verletzlichkeit. Viele Psychotiker sind sehr feinfühlig und empfindlich, einige sind kreativ begabt, originell, künstlerisch. Sonst hätte sich diese Verletzlichkeit evolutionär wohl nicht gehalten.
Häufen sich psychotische Episoden, spricht man in den meisten Fällen von Schizophrenie. Obwohl diese Störung oft diskontinuierlich verläuft, mit Verbesserungen und Verschlimmerungen, Momenten der Klarheit und völligem Selbstverlust, kann man sich eine diagnostizierte Schizophrenie in vielen Fällen wie die dauerhafte Anwesenheit einer sinnlosen anderen Welt vorstellen. Darin funken ständig falsche Sinneseindrücke, also Halluzinationen, falsche Verbindungen und Bezugnahmen, also Denkstörungen, und falsche Überzeugungen, also Wahnideen wie Verfolgungswahn, Kontakt mit Außerirdischen usw., dem normalen Erleben dazwischen. Und obwohl es schizophrene Künstler wie den Balletttänzer Vaslav Nijinsky, schizophrene Dichter wie Friedrich Hölderlin und mit Isaac Newton auch einen spätschizophrenen Naturforscher gab und gibt, gehört die Schizophrenie zu den schwersten und folgenreichsten psychischen Störungen. Und zu den unvermeidbarsten.
Die Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York hat herausgefunden, dass gewisse, nur dem Menschen vorbehaltene DNA-Abschnitte, die sogenannten HAR(human accelerated regions), den präfrontalen Kortex, der hinter der Stirn sitzt, steuern – und fehlsteuern können. Genau diese dort verorteten höheren, sprich uns von den anderen Tieren unterscheidenden geistigen Funktionen wie das vorausschauende Denken, die Verhaltensplanung und die Impulskontrolle geraten bei einer Schizophrenie dauerhaft durcheinander. Eine einzelne Psychose hingegen kann man eher als eine kurze Systemstörung beschreiben, die sich wiederholen kann, aber nicht muss.
Obwohl diese erste Unterscheidung zwischen »Schizophrenie« und »Psychose« für den weiteren Verlauf des Buches brauchbar ist, sind solch eindeutige Abgrenzungen auf medizinisch-diagnostischer Ebene schwieriger. Aus diesem Grund spricht die Medizin aktuell eher von einem psychotischen Kontinuum; das wichtigste, international anerkannte Werk zur Diagnostik, das Handbuch Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, kurz ICD-10, unterscheidet mittlerweile organische, schizophrene und affektive Formenkreise.
Auch beim Gebrauch der Psychose als Metapher für einen krisenhaften gesellschaftlichen Zustand lassen sich Elemente aus allen drei Formenkreisen finden. Das beginnt mit der organischen Beschreibung einer Psychose als Dopaminflut, welche die sonst von diesem Botenstoff unter anderem verwaltete Unterscheidungsfunktion zwischen Ich und Welt beeinträchtigt, was innere Auflösungserscheinungen und Grenzverwischungen zur Folge hat. Auf kollektiver Ebene entspricht die Dopaminflut dem Zusammenhang von ökonomischem Steigerungszwang und konstanter Beschleunigung aller Lebensbereiche bei stetig anwachsender Reizüberflutung. Und so, wie eine einzelne Psychose eine fundamentale Krise des »Ichs« darstellt, erscheint eine psychotische Gesellschaft immer auch als fundamentale Krise des »Wir«. Wobei beides auf gesellschaftlicher Ebene natürlich zusammenhängt – gibt doch jedes »Wir« zugleich den Rahmen vor, innerhalb dessen der Einzelne »Ich« sagen und seine individuelle Identität innerhalb des Kollektiven begreifen und begründen kann.
Im Kern jeder psychotischen Erfahrung steht also ein umfassender Realitätsverlust. Dazu kommen Symptome aus dem affektiven, die Gefühle betreffenden Formenkreis wie Erregungszustände, aber auch eher dem schizophrenen Spektrum zugeordnete Phänomene wie Wahnideen, Störungen des Ich-Erlebens und mangelnde Krankheitseinsicht. Der psychotische Mensch hat seinen Geist und sein Urteilsvermögen verloren, sein Leben ist ihm fremd geworden. Er weiß nicht mehr, wer er ist noch was er eigentlich will, und kann sich deshalb nicht länger angemessen verhalten. Begleitet wird dieser Selbst- und Weltverlust von Angst angesichts der inneren Auflösung und Ohnmacht angesichts der Unfähigkeit, selbst etwas daran zu ändern.
Auf gesellschaftlicher Ebene erleben wir den Realitätsverlust als postfaktisches Zeitalter, bestimmt von Fake News und alternativen Fakten. Diese Wortneuschöpfungen verweisen auf einen fundamentalen Zweifel an der Wirklichkeit ebenso wie an ihrer medialen Vermittlung. Was ist wahr, was ist falsch, und wem soll man noch glauben? Doch obwohl nichts mehr gewiss ist, gibt es immer mehr News, die Interesse und Empörung schnell entzünden und noch schneller wieder abflammen lassen. Diese kollektiven Erregungszustände sind ebenso allgegenwärtig wie folgenlos, weil alles, was sie zum Inhalt haben, angesichts stetig nachdrängender News keinen Raum mehr hat, aufgenommen und eingeordnet, geschweige denn irgendwie verarbeitet zu werden.
In Anbetracht dieser sinn- und geistlosen Zirkulation aufmerksamkeitsheischender Inhalte haben es auch auf kollektiver Ebene Wahnideen leicht, sich auszubreiten. Das reicht von ominösen Verschwörungstheorien über abstruse, oft nationalistisch, rassistisch oder sexistisch grundierte Privatideologien hin zu bösartigen Verleumdungen, die vor allem in den sozialen Netzwerken fast ungebremst verbreitet werden können. Ob geheime Reptilienherrscher, gezielte Volksverdummung durch Flugzeugabgase oder russische Machtergreifung – für jeden ist etwas dabei.
Doch während der einzelne Mensch in einer psychotischen Erfahrung sowohl den Kontakt zu sich selbst als auch zum Allgemeinen verliert und deshalb nicht mehr weiß, was man tut und was man lässt, was man sagt und worüber man besser schweigt, ist auf gesellschaftlicher Ebene dieses Allgemeine selbst fragwürdig geworden. Die Auflösung eines kollektiven Sinn- und Bedeutungszusammenhangs befördert nicht nur abweichende und oft auch abwegige Weltdeutungen, sondern führt zu immer stärkeren Störungen des kollektiven Wir-Erlebens. Deshalb fühlen sich auch viele ganz »normale« Menschen in unserer Gesellschaft weder repräsentiert noch zu Hause. Wer sind »wir« überhaupt? Deutsche? Europäer? Weltbürger?
Diese kollektive Identitätskrise führt uns wieder zurück zur Ausgangsdiagnose einer psychotischen Gesellschaft, denn eine Psychose beschreibt einen Zustand, in dem sich ein Individuum oder eben eine Gesellschaft nicht mehr begreifen und deshalb auch nicht mehr bewusst verändern kann. Was umso dramatischer wird, je dringlicher reale Herausforderungen des Zusammenlebens – wie beispielsweise hier in Deutschland der Umgang mit dem Pflegenotstand, der fehlenden Kinderbetreuung oder dem Lehrermangel – angegangen und bewältigt werden müssen. Denn auch auf kollektiver Ebene geht der psychotische Wirklichkeitsverlust mit Gefühlen von Angst und Ohnmacht einher, zusammen mit der Unfähigkeit, sich eine andere Welt und ein angemesseneres Zusammenleben auch nur vorzustellen.
Doch obwohl das psychotische Kontinuum viele Schattierungen hat, beschreibt es letztlich immer einen Übergangszustand, der für den Betroffenen entweder zu einem neuen und ganzheitlicheren Verständnis der eigenen Identität führen kann oder sich, wie im Fall der Schizophrenie, zu einer unheilbaren Pathologie verfestigt. Auch Europa steht am Scheideweg: Gelingt es, uns neu zu besinnen, indem wir lange Verdrängtes wie beispielsweise die Spätfolgen kolonialer Weltherrschaft, unbekümmerter Waffenexporte und rücksichtsloser Naturzerstörung anerkennen, verantworten und durch diese bewusste Aufarbeitung schließlich in ein weiter gefasstes Bild von uns und unserer Rolle integrieren, womit wir zugleich unser eigenes Verhältnis zur Natur, den Tieren und unserer Lebendigkeit umfassender begreifen und gestalten? Oder kippt es in einen gewaltbereiten Nationalismus und noch nicht vorstellbare Formen von Überwachung, Ausbeutung und Einsamkeit?
Das Buch beginnt mit einem Blick auf das Leben als geheimnisvolle Ganzheit, deren Dauer der Wandel ist. Der Mensch ist ein Teil dieser geheimnisvollen Ganzheit, und sie ist zugleich ein Teil von ihm. Wir tragen das Leben in uns und sind durch es und mit ihm verbunden.
Doch anders als die bestimmten Tiere mit ihren immer gleichen Nestern und Höhlen und Legestränden ist der Mensch das unbestimmte Tier, das seine Lebensumstände selbst gestalten kann und muss. Diese menschliche Selbstbestimmung ist dabei weder ein Monolog noch ewiglich gültig, sondern gleicht eher einem Gespräch, das seit Jahrtausenden geführt wird, wobei die immer gleichen Fragen immer wieder neu verhandelt werden: »Was ist der Mensch, wie wollen wir leben und zusammenleben und was ist unsere Rolle hier auf Erden?«
Die Unmöglichkeit, diese Fragen letztgültig zu beantworten, verdankt sich der paradoxen Lage unserer Spezies und dem damit verbundenen Problem der menschlichen Freiheit. Denn wir Menschen sind einerseits Teil der Natur und stehen zugleich außerhalb von ihr. Unsere paradoxe Lage besteht eben darin, dass wir nicht nur körperliche Wesen sind, eingefügt in das Werden und Vergehen des Natürlich-Organischen, begrenzt von einer bestimmten »Hardware«, sondern ebenso geistige Wesen, deren reale Daseinserfahrung wesentlich mehr durch ihre »Software«, also ihre Weltanschauung, ihren Bewusstseinszustand, bestimmt wird. Und obwohl wir Menschen immer wieder neu zwischen diesen widersprüchlichen Existenzebenen vermitteln müssen, bleibt schon einmal festzuhalten, dass sich unsere Freiheit zwar im körperlichen Handeln zeigt, sich jedoch im Geistigen gründet. Denn nur dort finden und verändern wir die Gründe, die alles konkrete Handeln motivieren.
Um diesen beiden unterschiedlichen Ebenen gerecht zu werden und sie zugleich als konkrete Einheit zu begreifen, benutze ich den Ausdruck »Haus« im Folgenden als Metapher für die Gesamtheit der Lebensbezüge einer bestimmten Kultur. Denn jede Kultur zieht eigene Grenzen zwischen Innen und Außen, Eigenem und Fremdem, Erwünschtem und Verbotenem, wobei diese vielfältigen Ein- und Ausschlüsse die verschiedenen Aspekte des Lebens und Zusammenlebens ordnen und gewichten und zugleich regeln und lenken.
Ein »Haus« als »kollektive Bestimmung« des unbestimmten Tieres, das der Mensch ist, verbindet damit ein praktisches »Wie« mit einem begründenden »Warum« – man weiß also mehr oder weniger, wer und warum man an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit ist und was man deshalb tun und lassen soll. Dadurch bietet jedes »Haus«, in der französischen Philosophie auch gerne »Ordnung der Dinge« genannt, seinen Bewohnern nicht nur Schutz, sondern auch Sinn, Heimat und kollektive Identität.
Anders als die anderen Tiere können wir Menschen uns jedoch Häuser bauen, in denen wir selbst nicht mehr wohnen wollen, also uns im Leben und Zusammenleben auf eine Weise einrichten, die unseren elementarsten Bedürfnissen nach Sicherheit und Austausch nicht mehr gerecht wird. Ein solch »verrücktes« – vom Leben weg-ge-rücktes – Haus ist ebenso einsturzgefährdet wie untauglich, denn es ist nicht mehr fähig, seinen Bewohnern inneren und äußeren Schutz, also Sinn, Heimat und kollektive Identität, zu bieten. Dabei trägt die dadurch ausgelöste kollektive Identitätskrise zunehmend psychotische Züge, deren nähere Bestimmungen wir anhand einer individuellen psychotischen Erfahrung beleuchten.
Im zweiten Teil blicken wir genauer auf die kollektive Unordnung der Dinge. Auch das gesellschaftliche Äquivalent des individuellen Ausnahmezustands zeigt sich als Normalität der Krise und damit als die für psychotisches Erleben typische Gleichzeitigkeit von Instabilität und Totalität. Instabil wird ein System, wenn seine Elemente so weit auseinanderdriften, dass es zunehmend unmöglich scheint, sie auf ein gemeinsames Ganzes zu beziehen. Diese Brüchigkeit erscheint auf gesellschaftlicher Ebene als immer krasseres Nebeneinander unvermittelter sozialer Widersprüche wie derjenigen zwischen Arm und Reich oder Eigenem und Fremden. Dazu gehört der immer stärker um sich greifende politische Korrektheitswahn bei gleichzeitiger Zunahme von Rassismus, Sexismus und Gewalt.
Andererseits vermischt sich alles mit allem, so wie jeder normale Mensch sich ein bisschen benimmt, als wäre er ein Promi, zumindest in den sozialen Medien, während heute jeder Promi auch Influencer ist und Waren verkauft und, wenn es geht, Zeitschriften und Kosmetik und Hautpflege. Es geht aber auch um die folgenreiche Ununterscheidbarkeit von Arbeit und Freizeit, Privatheit und Öffentlichkeit, Marktwert und Selbstwert. Und um diese uns allerorts und jederzeit begegnende absurde Gleichzeitigkeit von realen Tragödien und süßen Katzenvideos, von Klimakatastrophen und den neuesten Produkten, von Politik, Spektakel und Reisebericht. Und so unernst, ja lächerlich dieser verrückte Brei erscheinen mag, so ernst und tragisch ist die Lage für diejenigen, die es betrifft. Das wiederum sind nicht nur die Armen und Schwachen, die vermüllten Ozeane, die gequälten Tiere und die überfluteten Inseln, sondern in letzter Konsequenz auch wir selbst.
Um nachzuvollziehen, wie unterschiedlich Menschen auf diesen Verlust existenzieller Gewissheiten und die damit einhergehenden Gefühle von Unbehagen, Angst und Ohnmacht reagieren, werfen wir im dritten Teil einen Blick auf drei zeitgenössische Figuren des Übergangs.
Die Kuratoren surfen auf der Welle von Digitalisierung, Kapitalisierung und Beschleunigung. Unendlich beschleunigt sind sie selbst zu den Displays geworden, in denen sich die vorgeblichen Novitäten und Trends der Konsumkultur verkörpern – bis das Produkt, als das sie sich verkaufen, nicht mehr mit dem allgegenwärtigen Innovationsdruck mithalten kann. Oder bis sie innerlich nicht mehr mithalten können, weil der Körper krank wird oder die Seele. Im Gegensatz dazu halten sich die Spirituellen mit ihrer Hoffnung auf eine bessere Welt an ihr Innenleben. Bei diesem Rückzug ins Seelische neigen sie dazu zu vergessen, dass es an ihnen liegt, diese andere Welt nicht nur herbeizusehnen, sondern auch tätig zu verantworten. Ganz abgesehen davon, dass dabei das Wohl aller Lebewesen im Vordergrund stehen sollte und nicht nur die persönliche Erleuchtung.
Solche Empfindlichkeiten haben die Fanatiker längst hinter sich gelassen. Für sie sind die aktuellen Auflösungserscheinungen vor allem bedrohlich, und sie ziehen sich auf die Illusion eines festen Grundes zurück: Eigenes statt Fremdes, Tradition statt Fortschritt, Grenzen statt Globalisierung. Doch hinter diesen Abgrenzungen steht ein starker Verschmelzungswunsch, die Sehnsucht, wieder Teil eines – in diesem Fall aber exklusiven – Ganzen zu sein. Manche träumen deshalb von einer idealen Gesellschaft, die es in Wahrheit nie gegeben hat, einer sauberen und anständigen Nation mit klassischer Rollenverteilung und gerne, sehr gerne ganz unter sich.
Alle drei Lebensformen verkörpern die Gefahren, aber auch die Chancen des Lebens und Zusammenlebens in einer psychotischen Gesellschaft.
Der vierte Teil des Buches widmet sich dem Potential dieses Übergangszustands und der damit verbundenen Möglichkeit, uns selbst und die Welt neu zu erzählen. Denn die so beängstigend scheinende Auflösung des westlichen Hauses ist zugleich die Gelegenheit, alte Bausünden anzuerkennen und zu bereinigen; wobei »Bausünde« ein mehr als beschönigender Ausdruck ist für das, was die einseitige und ignorante westliche Lebensweise die Natur und die Tiere, viele andere Kulturen und auch die Mitglieder der eigenen Kultur gekostet hat.
Anstatt sich angesichts dieser Realitäten und des dadurch ausgelösten Unbehagens in Privatwelten oder exklusive Innenräume zurückzuziehen, können wir die Auflösung unseres vertrauten Hauses auch als Einladung verstehen, ins Freie zu treten. Ins Freie zu treten bedeutet, sich dem lange Verdrängten, also den realen Folgen und Konsequenzen des eigenen Wahrnehmens, Wertens und dadurch motivierten Handelns, zu stellen und dabei zu begreifen, dass uns alle mehr verbindet als trennt. Sich dieser Verbundenheit zu öffnen führt zu einem umfassenderen Bewusstsein unserer Lebendigkeit und unserer Rolle auf dieser Erde.
Das wiederum betrifft jeden Menschen auf je eigene Weise. Denn obwohl es unser gemeinsames Haus ist, dessen innere Architektur durch Ökonomisierung und Beschleunigung entkernt wurde, sind wir Bewohner diejenigen, die es reparieren, aufräumen und neu ausrichten müssen. Und wir können es. Jeder und jede Einzelne ist nicht nur Mitglied einer Gesellschaft, sondern immer auch ihr Schöpfer, denn jeder Mensch sieht und macht die Dinge auf seine Weise und fügt so dem Ganzen seine individuelle Auslegung hinzu. Die eigene Rolle zu begreifen heißt, sich dieser Verantwortung zu stellen und sie genau dort wahrzunehmen, wo man selbst lebt, liebt und arbeitet.
Diese bewusste Wiederaneignung von Welt, Sprache und Menschsein ist vor allem eine poetische Praxis. Das Leben hat die Bedeutung, die wir ihm geben. Nicht die Welt müssen wir ändern, sondern unseren Blick auf sie und damit unseren Umgang mit ihr und miteinander.
Heilung ist das Finden eines neuen Sinns. Angst und Ohnmacht zu überwinden bedeutet, uns auf neue Weise mit unserem Hiersein zu versöhnen, indem wir uns dafür öffnen, wer wir sind und was wir deshalb dem Leben schulden, den Anderen und uns selbst.
Vor dem südlichen Balkon auf der kleinen spanischen Vulkaninsel, wo ich für eine Weile lebte, erstrecken sich einige sanft geschwungene Hügel, und in den Wochen meines Hierseins haben wir uns ein wenig angefreundet. Die Hügel sind rot, grün und gelblich im Morgenlicht, braun-ockerfarben am Nachmittag und schwarz und zackig in der Abenddämmerung, die ihre Gestalt wie durch ein Wunder in ferne Pyramiden verwandelt.
Form und Farbigkeit dieser Hügel endgültig zu beschreiben wäre ein ebenso vergeblicher wie poetischer Prozess, und schon der Gedanke daran lässt erahnen, wie es um das Verhältnis von Mensch und Welt bestellt ist: hier das immerwährende Spiel von Licht und Schatten, Werden und Vergehen, dort der Mensch, der alles erfassen, ordnen und verstehen möchte. Wir wohnen in diesem Begreifen. Das immerwährende Beschreiben und Abbilden der Welt ist unser »Haus«, ein Ort, an dem eine uns zuträgliche Atmosphäre herrscht, ein Ort, an dem wir das, was ist, bezeichnen und unterscheiden können und dadurch uns und unser Dasein verstehen.
Etwas auf eine lebbare – und deshalb noch lange nicht »allgemeingültige« oder gar ethisch »richtige« – Weise zu verstehen heißt, sich für einen bestimmten Blick zu entscheiden und dafür einen anderen Aspekt des Ganzen aus dem Blick zu verlieren. Eine Kultur ist die Summe dieser Entscheidungen; ihre wie Häuserwände gezogenen Ein- und Ausschlüsse, Gebote und Verbote ordnen und gewichten die Mannigfaltigkeit des Lebens und geben ihren Bewohnern dadurch einen bestimmten Umgang mit sich und dem Leben vor. Je offener eine Kultur oder eine Gesellschaft ist, desto weiträumiger ist das »Haus«, desto mehr unterschiedliche Zimmer gibt es, desto größer sind die Fenster, durch die seine Bewohner nach draußen, auf die wechselvolle Beständigkeit des Lebens, blicken können.
Alles Lebende sucht Ausdruck und Austausch. Leben ist Bewegung, ein ständiges Schwingen zwischen Polaritäten: Es geht von Tag zu Nacht zu neuem Tag, von Sommer zu Winter zu einem neuen Sommer. Tiefer noch geht es von Ordnung zu Chaos zu neuer Ordnung, von Sein zu Nichtsein zu neuem Sein. Diese Atembewegungen des Lebens verbinden uns als lebendige Wesen mit allem, was ist. Zugleich jedoch müssen wir anerkennen, dass wir zwar an diesem Ganzen teilhaben, es sich aber keinesfalls in unserem eigenen Dasein erschöpft. Und obwohl es an uns liegt, seiner unermesslichen Seinsentfaltung unsere eigenen Seinsmöglichkeiten hinzuzufügen, ist uns ihr übergreifender Sinn entzogen. Alles, was geschieht, hat einen Grund, doch es ist nicht unbedingt sinnvoll – schon gar nicht auf eine Weise, die sich uns Menschen mit unserer beschränkten Wahrnehmungskapazität direkt erschließen würde. Das Leben überschreitet uns und doch können wir spüren, dass dieses unermessliche Ganze ebenso wertvoll wie schön ist und ihm eine tiefe und zugleich verspielte Entfaltungslust zugrunde liegt, die uns auf eine ganz persönliche Weise einlädt, mitzuspielen.
Wenn wir dieser Einladung folgen, fügen wir dem Leben nicht nur unser Dasein, sondern auch unsere Auslegung dieses Daseins hinzu. Diese Auslegung können wir unter Anerkennung unserer beschränkten Wahrnehmungsmöglichkeiten durchaus »Sinn« nennen; sie ist die Antwort, die wir als Menschen mit unseren eigenen und kollektiven Leben auf die Tatsache unseres Hierseins geben und geben müssen. Denn anders als die Tiere, die in eine bestimmte Umgebung hineingeboren sind und sich dort ihrer Natur gemäß einrichten wie die kleinen Kaninchen in den bunten Hügeln, sind wir Menschen unbestimmte Tiere, die sich ihre Lebensumstände selbst schaffen müssen.
Wir stehen nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Natur und haben dadurch Anteil am Sein sowie am Nichtsein. Und weil wir zwar wissen, dass wir sind, aber weder, was wir sind noch warum wir sind, haben wir ein Identitätsproblem. Das betrifft nicht nur den Umstand, dass wir sowohl Individuen sind als auch in Gemeinschaft leben, sowohl eine äußere Erscheinung als auch ein Innenleben besitzen, sondern reicht bis zu den Inhalten unseres Bewusstseins selbst. Auch dort existieren Reales und Imaginiertes nebeneinander.
Indem wir diese unterschiedlichen Existenzebenen immer wieder individuell und kollektiv versöhnen, stellen wir den für uns Menschen notwendigen Sinn her. Doch er stellt sich ebenso ein, nämlich dann, wenn die Abstände und Benachbarungen, also die Rhythmen und Resonanzen zwischen den Dingen des Lebens, stimmen und wir mit dieser lebbaren Ordnung, die so viele Formen haben kann, wie es wohnliche Häuser auf dieser Erde gibt, nicht nur dem Eigenen und dem Anderen, sondern ebenso dem Ganzen gerecht werden.
Jede Kultur als »kollektives Haus« ist deshalb eine Wahrnehmungsgemeinschaft, welche die geheimnisvolle Ganzheit des Lebens nicht nur auf eine bestimmte Weise erfährt, sondern auch auf eine bestimmte Weise bewertet und infolgedessen unterschiedlich mit dem Leben und Zusammenleben umgeht. Das betrifft nicht nur den jeweiligen Umgang mit der Natur, den Tieren und der Erde, sondern auch den konkreten Stellenwert, den bestimmte Ausdrucksformen unserer eigenen Lebendigkeit haben. Während beispielsweise viele asiatische ebenso wie afrikanische Kulturen alten Menschen großen Respekt und sozialen Einfluss zugestehen, werden alte ebenso wie schwache oder kranke Menschen in einer ökonomisierten Leistungsgesellschaft, wie sie auch die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahren immer mehr geworden ist, zunehmend missachtet und an den Rand gedrängt.
Der Begriff »Haus« empfiehlt sich aber nicht nur wegen seines allgemeinen, sondern ebenso wegen seines besonderen Gehalts, der auf die Wurzeln unserer eigenen westlichen Kultur verweist. In der griechischen Antike wurde noch klar zwischen der privaten Sphäre des oikos, übersetzt als »Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft«, und der öffentlichen Sphäre der polis, was »Staat«, »Stadt« oder ursprünglich auch »Burg« bedeutete, getrennt. Diese Trennung ging immer schon zulasten derer, die dadurch vom öffentlichen Leben ausgeschlossen waren – Frauen, Sklaven und Fremde. Auch die »Ökonomie«, von Aristoteles begründet und oikonomia getauft, beschränkte sich als Wissenschaft des guten und gerechten Wirtschaftens zunächst auf die Interessen derer, die mitspielen durften. Wobei der Philosoph jedoch stets betonte, dass nicht die Zirkulation der Waren und Güter, sondern die Gemeinschaft, die polis, das höchste Gut eines jedes Staates sei.
Ironischerweise hat die Jahrhunderte später ebenfalls von unserer Kultur ausgehende Ökonomisierung die gesamte Erde in einen globalen Markt verwandelt, in dem das Private veröffentlicht und das Öffentliche im Gegenzug privatisiert wird. Diese »Implosion« des Politischen zwingt uns dazu, nachzudenken, wie tragfähig unser eigener oikos letztlich ist und wie darüber hinaus ein oikos aussehen könnte, das groß und geräumig genug ist, allen Mitgliedern unserer Spezies einen angemessenen Raum auf dieser Erde zu geben – und zugleich dem, was mit uns lebt.
Der zur Bewältigung dieser Krise notwendige Rückbezug auf das jeweils Andere und damit auf den »Schatten« unserer Wahrnehmungsgewohnheiten ist ebenso wie die Besinnung auf das Ganze letztlich eine optische Selbstkorrektur. Denn obgleich sich das Ganze des Lebens im Bewusstsein jedes Einzelnen spiegelt, wird es dort zugleich gebrochen. Es ist uns Menschen physikalisch unmöglich, zwei Aspekte oder Zustände einer bestimmten Polarität gleichzeitig wahrzunehmen. Wenn wir das »Eine« fokussieren, wird das »Andere« unscharf. Wenn man sich über jemanden ärgert, kann man nicht gleichzeitig an dessen liebenswürdige Seiten denken. Wenn es kalt ist, spürt man keine Wärme. Und wenn die Physiker Lichtquanten beobachten, sehen sie diese entweder als Welle oder als Teilchen, aber niemals in ihrer Doppelnatur.
Deshalb bezeichnen wir mit dem »Einen« oder »Eigenen« im Folgenden denjenigen Aspekt einer Sache, auf den der eigene Blick gewohnterweise fällt, während das »Andere« dasjenige ist, das durch diesen fokussierenden Blick in den »Schatten« der eigenen Wahrnehmung gerückt ist. Dieses »Andere« bezeichnet deshalb nicht nur die Wahrnehmungsgrenzen des Einzelnen, sondern ebenso das, was eine Kultur als kollektive Wahrnehmungsgemeinschaft an den Rand gedrängt, also ver-drängt hat. Das Sprechen des Anderen oder die Rückkehr des Verdrängten beschreibt folglich den Moment, in dem sich ein bestimmter Schatten lichtet und dabei etwas vorher Unerblicktes oder schlicht Ignoriertes in den Bereich der eigenen Wahrnehmung tritt. Die uns alle verbindende Fähigkeit zur Ignoranz wiederum beschreibt das menschliche Vermögen, sich so fest auf das »Eine« zu konzentrieren, dass man das »Andere« ebenso wie das »Ganze« vergisst.
Alles, was ist, zeigt sich uns also auf eine bestimmte Weise, wodurch sowohl sein Bezug zur Ganzheit als auch seine andere Seite verborgen werden. Etwas zu bestimmen heißt notwendigerweise etwas anderes zu ignorieren. Auf der Ebene der Sprache und damit auch dieses Textes bedeutet das beispielsweise, dass alles Sagbare von den Schatten des Unsagbaren begleitet wird und jedes Begreifen immer auch ein Verfehlen bedeutet. Und doch ist es möglich, mit weiteren Worten auf die hinter allen Bestimmungen liegende Ganzheit zu verweisen und damit das jeweils Ungesagte nachzutragen. Mit diesem Rückbezug akzeptieren wir die Tatsache, dass unser Bewusstsein einerseits immer das Bewusstsein von etwas Bestimmtem ist, aber andererseits auch der Ort, an dem wir, mit einer gewissen Verspätung, auch dessen entgegengesetzter Seite und zugleich dem Ganzen gerecht werden können. Diese Besinnung oder Reflexion – von lateinisch reflectere, »zurückbeugen, -drehen, -wenden« – dagegen ist nur möglich, weil unser Bewusstsein uns nicht nur befähigt, zu fokussieren und so das Leben auf eine bestimmte Weise wahrzunehmen, sondern ebenso der Ort ist, an dem wir mit der Ganzheit dieses Lebens verbunden sind.
Diese geheimnisvolle Ganzheit zeigt sich uns zunächst in unermesslich vielen Teilen oder Einzelaspekten – von exotischen Blumen über bunte Hügel bis zum Wunder unseres eigenen Geistes. Doch obwohl es sich fortlaufend mit-teilt, ist das Leben an sich ganz und heil und gegenwärtig; mehr noch, es strebt nach Ganzheit und stellt sie früher oder später wieder her. Seine lebendige Ökonomie des Ausgleichs können wir »Ursache-Wirkungs-Zusammenhang« nennen, »Dialektik« oder schlicht »Konsequenz«.
Diese uns durch das Leben selbst gesetzten Grenzen stehen im Kern der aktuellen Krise, die man unter anderem als den Moment beschreiben könnte, in dem wir mit den immer unabweisbareren Konsequenzen unseres kollektiven Handelns konfrontiert werden. Das betrifft nicht nur die Folgen unseres achtlosen Umgangs mit dem Leben und dadurch mit unserer eigenen Lebendigkeit, sondern auch die damit verbundene Frage nach unserer Rolle und unseren Pflichten hier auf der Erde.
Denn wir Menschen sind weder das »Eine« noch das »Andere«, sondern die Agenten des Dritten. Alle existenziellen Gegensätze bilden sich in uns nicht nur ab, sondern werden immer wieder durch einen Rückbezug zum gemeinsamen Ganzen überwunden, den wir auch Versöhnung oder Liebe nennen können. Zugleich fügen wir allem, was ist, immer wieder Neues hinzu, von Kindern über Kinofilme hin zu Kernkraftwerken. Letzteres verweist schon darauf, dass das Neue nicht unbedingt das Gute ist, wenn wir dieses Gute schlicht als Rücksicht auf das Ganze verstehen, was im Fall der Kernkraftwerke beispielsweise hieße, zu fragen, was ihre Existenz und Benutzung für die Zukunft des Lebens und Zusammenlebens aller bedeuten.
Die Tatsache, dass sich unsere Gesellschaft diese Fragen zwar gestellt, aber ihre realen Konsequenzen – wie beispielsweise den Verzicht auf Atomenergie – bislang vermieden hat, führt uns zu den Ursachen der aktuellen Krise zurück, vielmehr zu einem ihrer besonders unangenehmen und angstauslösenden Aspekte, nämlich der Rückkehr des Verdrängten.
Das meint zunächst ein wachsendes Bewusstsein des Leides, das unsere ebenso ignorante wie einflussreiche Kultur der Natur, den Tieren, anderen Kulturen und unserer eigenen Lebendigkeit zugefügt hat und weiterhin zufügt. Denn obwohl es mittlerweile große Unterschiede zwischen Europa und Amerika, Kanada und Australien gibt, von innereuropäischen Differenzen ganz zu schweigen, bezieht sich die Rede vom »westlichen Haus« auf eine jahrhundertealte Wahrnehmungs- und Wertegewohnheit, die trotz größer werdender Unterschiede immer noch einen gemeinsamen Nenner – von der Antike und dem Mittelalter über die Industrialisierung zur Erfahrung beider Weltkriege – besitzt, dessen Gestalt und Geschichte wir weiter unten noch genauer beleuchten.
Zugleich ist nicht jeder Mensch, sondern auch jedes »Haus« stets mehr als das Bild, das man sich von ihm macht. Eine »westliche« Kultur ist nicht denkbar ohne den ständigen Austausch mit anderen Kulturen, ohne arabische oder asiatische Einflüsse und eine jahrtausendealte Praxis gegenseitiger Herausforderung und Bereicherung. Dennoch verweist das mit der Rückkehr des Verdrängten einhergehende Bewusstsein eines realen »Leides« nicht nur auf die Folgen von Kolonialismus, Christianisierung und Naturzerstörung, sondern ebenso auf den folgenreichen Export sozialer Rollen, der unsere mannigfaltigen menschlichen Daseinserfahrungen inklusive unserer äußerst vielfältigen Sexualität in ebenso kleine wie kleinherzige Schubladen gepackt und dadurch »fokussiert« oder »essenzialisiert« hat.
Und so wie sich Einzelne und Gesellschaften in einem unheiligen, also die Ganzheit, Bewegtheit und Verbundenheit des Lebens negierenden Abstand einrichten können, können sie auch Konzepte, Produkte und Abläufe in die Welt setzen, die das Leben, seine Mannigfaltigkeit und seine Verbundenheit mutwillig missachten. Hier wird die menschliche Schöpfungskraft pervertiert und das Neue, das wir in die Welt bringen, wird unversöhnlich und unbarmherzig, eine Verkörperung von Egoismus, Machtwillen und Ignoranz.
Dieser Schatten unserer Schöpfungskraft wird beispielhaft verkörpert von den mutierten Orks, die Sauron – seinerseits eine der eindrucksvollsten Personifikationen des Bewusstseinszustandes »alter machthungriger weißer Mann, der sich ganz allein die Erde untertan machen will« – im Herrn der Ringe herstellt, oder von den Maschinen, die in den Terminator-Filmen die Erde beherrschen. Doch diese Monster rufen Helden und Heldinnen auf den Plan, die sie bekämpfen und am Schluss besiegen, nicht um des Ruhmes willen, sondern damit das Leben weitergeht.
Obwohl diese Beispiele aus der Fantasy oder der Science-Fiction stammen, erfassen sie zugleich die aktuelle Krise als den Moment, in dem wir vor dem Schattenhaften oder schlicht Lebensfeindlichen unserer eigenen Kultur nicht mehr die Augen verschließen können. Denn Gier, Ungleichheit und Ausbeutung entfremden uns vom Leben und das Leben von uns. Doch obwohl wir alle spüren, dass etwas nicht stimmt, ist es ungleich schwieriger, dieses Unbehagen in Worte zu fassen, besonders wenn man selbst aus einer Kultur kommt, die ignorantes und egoistisches Verhalten immer noch für normal und selbstverständlich hält.
In dieser Hinsicht können wir uns eine Kultur auch als eine Art Betriebssystem vorstellen, das in jedem ihrer Mitglieder von frühester Kindheit an installiert wird und eindeutige Anweisungen darüber bereitstellt, was man tut, was man lässt, was gut und was schlecht ist und wie man leben sollte. Dieses Allgemeine im Einzelnen ist dessen blinder Fleck, der das Zufällige der jeweiligen Weltanschauung in die Illusion des Selbstverständlichen verwandelt.
Der unter Depressionen leidende Schriftsteller David Foster Wallace hat 2005, drei Jahre bevor er sich das Leben nahm, vor den Absolventen des Kenyon College eine Abschlussrede gehalten. Sie beginnt mit einer Parabel: Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen dabei einen älteren Fisch, der in der Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: »Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?« Die zwei jungen Fische grüßen zurück, schwimmen eine Weile weiter und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: »Was zum Teufel ist Wasser?«
Das »Haus« – also die jeweilige Weltanschauung einer bestimmten Kultur – ist das Wasser. Wir können an dieser Stelle auch von »System«, »Struktur« oder »Matrix« sprechen. Der gleichnamige Film von 1999 hat viel verdeutlicht und viel verschleiert. Gut ist, dass jeder sofort eine Vorstellung hat von einer existenzumfassenden Megastruktur, innerhalb derer selbst der eigene Körper nur eine Verkörperung ist, quasi ein aus kleinen grünen Nullen und Einsen zusammengesetzter Struktureffekt. Der Film hilft dabei, das Funktionieren, also die Automatismen der Struktur in uns selbst, in den Blick zu bekommen und damit das, was man, ohne selbst nachzudenken, an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit so sagt und denkt und tut. In unserer gegenwärtigen Kultur wären das unter anderem Leistungsdenken, Konkurrenz und Selbstoptimierung, angetrieben von der dahinterliegenden Überzeugung, unser Wert und unsere Würde müssten im Äußeren errungen, gezeigt und immer wieder bewiesen werden, anstatt innerlich gegeben zu sein.
Doch ohne die Automatismen des Weltbezugs, der Orientierung und der Urteilsfindung, die jede Kultur ihren Mitgliedern bereitstellt, wären wir nicht wild und endlich frei, sondern lebensunfähig. Da beginnt schon das Verschleiernde des Films: die Paranoia, die einseitige Überzeichnung, kurz: das Verteufeln der Struktur an sich, die unser Lebensraum ist, nicht unser Gefängnis. Obwohl sie tatsächlich zu einem Gefängnis werden kann, wenn sie nicht mehr ihren Bewohnern dient, sondern nur noch dem Selbsterhalt. Und da der Film Matrix nicht von irgendeiner Kultur spricht, sondern von unserer eigenen spätkapitalistischen Wohlstands-, Performance- und Ausbeutungskultur, ist dieser fast 20 Jahre alte Film an dem Punkt letztlich eher visionär als paranoid.
Während Matrix damit beginnt, dass ein geheimnisvoller Fremder den jungen Programmierer Neo vor die Wahl zwischen der existenzberuhigenden blauen und der existenzerschütternden roten Pille stellt, ist das Ganze im echten Leben komplizierter. Denn wirklich und deshalb auch folgenreich zu verstehen, dass die eigene Kultur und Weltsicht zwar als Behausung notwendig, in ihrer inneren Architektur jedoch zufällig und deshalb hinterfragbar, kritisierbar und vor allem transformierbar sind, ändert tatsächlich alles. Dieses Verstehen lässt einen die eigene Verantwortung für die Welt und ihren Zustand begreifen, ebenso wie für das eigene Leben, was bedeutet, dass man so weitermachen kann wie eh und je – aber eben nicht muss.
Das revolutionäre Potential dieses Perspektivwechsels ist also unbestritten atemberaubend, befreiend, gigantisch – nur dass die Welt auch nach ihrer radikalen Hinterfragung immer noch da ist, genauso wie der Abwasch und die Notwendigkeit, sich bei den alten Eltern zu melden, Steuern zu zahlen und Klopapier zu kaufen.
Also ja, es gibt die roten Pillen, und nein, sie wirken nicht so wie im Film. Deshalb findet jeder, der diesen existenziellen Perspektivwechsel nachvollzieht, keine andere Welt, sondern nur einen anderen Blick auf das, was selbstverständlich scheint. Diese Selbstverständlichkeit jedoch ist die härteste Droge, die es gibt. Das Problem dabei ist allerdings nicht die böse Matrix, sondern der bequeme Mensch. Denn um sich wirklich anders zu spüren, um anders zu denken, zu lieben und zu leben, reicht eine Pillendosis einfach nicht aus. Man muss das verdammte Ding immer wieder schlucken, Tag für Tag.
Während die Geschichte von der Wahl zwischen roten und blauen Pillen als Metapher für den Unterschied zwischen einem bewussten und einem unbewussten Leben den zentralen Punkt existenzialistischer Philosophie zu einem eingängigen Bild verdichtet, müssen wir unsere Krise umfassender begreifen. Das beginnt mit der Möglichkeit und Unmöglichkeit dieses Begreifens selbst. Denn gerade hat die Fokussierungsleistung unseres auf historisch neue Weise abgelenkten Bewusstseins – News! Terror! Social Media! – rapide abgebaut. Durch diese Unschärfe jedoch tritt das Ganze auf neue Weise hervor. Hier regnet es, aber in Burkina Faso regnet es nicht, und in Tokio wird es regnen, wenn die Nacht anbricht, die bei uns der frühe Morgen ist. Der Tisch steht hier, aber er steht auch bei Sophia in Budapest und bei Imre in Istanbul, und das weiß ich, weil wir alle ein Foto mit #eamesforever auf Instagram gepostet haben. Und dieses oder jenes ist zwar nicht passiert, sieht dank digitaler Bildbearbeitung aber so aus, als ob es passiert wäre.
Globalisierung und Digitalisierung als neue Ausdrucksformen unserer Verbundenheit bringen es nicht nur mit sich, dass wir alles, was ist, immer stärker gleichzeitig wahrnehmen, sondern führen auch dazu, dass sich Seiendes und Nichtseiendes zunehmend gleichberechtigt verhalten. Deshalb lässt sich das, was uns an unserer Gegenwart so verrückt, unübersichtlich und widersprüchlich scheint, aus einer anderen Perspektive als der Moment beschreiben, in dem sich die Wahrheit des Lebens uns allen auf neue Weise zeigt. Und so bieten nicht mehr nur geheimnisvolle Fremde wenigen Auserwählten die kostbaren existenzerschütternden roten Pillen an, sondern das Leben selbst überschwemmt uns mit ihnen. Was nur ein anderer Ausdruck ist für das immer lauter werdende Sprechen des Anderen, lange Verdrängten. Oder, wie der Philosoph Bruno Latour es in seinem 2017 erschienenen Buch Das terrestrische Manifest formuliert: »Heute sind alle: Dekor, Kulissen, Hinterbühne, das gesamte Gebäude, auf die Bühnenbretter gestiegen und machen den Schauspielern die Hauptrolle streitig.«
Diese neue Gegenwart des Draußen trifft in dem Fall unserer eigenen Kultur allerdings nicht auf festgefugte Mauern und messerscharf gezogene Grundrisse, sondern die ebenso wackeligen wie vielfach verschobenen Überreste dessen, was wir Europa nennen, und auf die noch viel heiklere Frage einer deutschen Identität. Wobei das bei uns in Deutschland im Jahre 2018 gegründete Heimatministerium als trachtentragendes Männerkränzchen das dahinterliegende Problem nicht löst, sondern beispielhaft illustriert.
Denn natürlich gibt nicht das Leben die roten Pillen aus, vielmehr hat es niemals damit aufgehört, jeden und jede Einzelne von uns einzuladen, sich von allem selbst ein Bild zu machen. Neu ist jedoch, dass unsere eigene Matrix sich durch Kapitalisierung und Beschleunigung so weit destabilisiert hat, dass sie keine beruhigenden blauen Pillen mehr herstellt. Was nur ein anderer Ausdruck dafür ist, dass sie aufgehört hat, Sinn und kollektive Identität und damit Heimat zu produzieren. Das wiederum ist beunruhigend. Denn es hat zur Folge, dass wir, die Bewohner des westlichen Hauses, nicht mehr selbstverständlich wissen, wie man darin leben kann und soll.