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Seine Kunst soll nur besondere Körper zieren … Der abgründige Psychothriller »Der Tätowierer« von Claudia Puhlfürst jetzt als eBook bei dotbooks. Scheinwerfer, Blitzlichtgewitter, ein Laufsteg … und eine Leiche! Journalistin Lara Birkenfeld soll von einer Modenschau berichten, doch stattdessen findet sie sich am Tatort eines grausamen Verbrechens wieder: Dem jungen Model wurde brutal die Kehle durchgeschnitten, ihr Rücken mit mysteriösen Tätowierungen überzogen. Wenig später tauchen weitere Tote auf, deren Körper von den Nadelstichen des Wahnsinnigen gezeichnet wurden. Nur Lara besitzt die besondere Intuition, die es braucht, um sich in den Kopf des Killers hineindenken zu können. Aber je näher sie ihm kommt, desto mehr wird er auch auf sie aufmerksam … und ihre makellose Haut, auf der er sich verewigen will! »Puhlfürst hat ein Händchen für die Abgründe der menschlichen Psyche.« NDR Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Psychothriller »Der Tätowierer« von Claudia Puhlfürst, auch bekannt unter seinem alten Titel »Sündenkreis«, ist der dritte ihrer Reihe um die findige Journalistin Lara Birkenfeld. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 560
Über dieses Buch:
Scheinwerfer, Blitzlichtgewitter, ein Laufsteg … und eine Leiche! Journalistin Lara Birkenfeld soll von einer Modenschau berichten, doch stattdessen findet sie sich am Tatort eines grausamen Verbrechens wieder: Dem jungen Model wurde brutal die Kehle durchgeschnitten, ihr Rücken mit mysteriösen Tätowierungen überzogen. Wenig später tauchen weitere Tote auf, deren Körper von den Nadelstichen des Wahnsinnigen gezeichnet wurden. Nur Lara besitzt die besondere Intuition, die es braucht, um sich in den Kopf des Killers hineindenken zu können. Aber je näher sie ihm kommt, desto mehr wird er auch auf sie aufmerksam … und ihre makellose Haut, auf der er sich verewigen will!
»Puhlfürst hat ein Händchen für die Abgründe der menschlichen Psyche.« NDR
Über die Autorin:
Claudia Puhlfürst, Jahrgang 1963, wurde in Zwickau geboren. Nach dem Studium der Biologie und Chemie war sie lange Zeit als Lehrerin und Dozentin tätig. Zu ihren Spezialgebieten gehören nonverbale Kommunikation und die Humanethologie, die menschliche Verhaltensforschung. Für ihre Thriller ist sie deutschlandweit bekannt. Sie ist Organisatorin der Ostdeutschen Krimitage und Mitglied bei den »Mörderischen Schwestern«, einem Verein, der von Frauen verfasste deutschsprachige Kriminalliteratur fördert.
Claudia Puhlfürst veröffentlichte bei dotbooks die Psychothriller-Reihe um Lara Birkenfeld: »Der Totschneider«, »Der Sensenmann« und »Der Tätowierer«.
Die Website der Autorin: www.puhlfuerst.com
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eBook-Neuausgabe April 2020
Dieses Buch erschien bereits 2012 unter dem Titel »Sündenkreis« bei Blanvalet.
Copyright © der Originalausgabe 2012 by Blanvalet Verlag
Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: © HildenDesign, München unter Verwendung mehrerer Fotos von Shutterstock.com
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-96148-979-4
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Claudia Puhlfürst
Der Tätowierer
Psychothriller
dotbooks.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete der Mann die großformatige Reproduktion von Hieronymus Bosch, deren Original sich im Prado in Madrid befand. Nach all diesen Jahren war er noch immer hingerissen von der Botschaft, die der Künstler des ausgehenden Mittelalters so dramatisch dargestellt hatte.
Sein Blick irrte zur Seite und fiel auf die weiß gekleidete Frau am Boden. Sie lag auf dem Rücken, die Beine noch immer angewinkelt. Auf der Abdeckfolie unter ihr hatten sich kleine Wasserpfützen gebildet, die er nachher würde aufwischen müssen. Wie ferngesteuert versetzte sein linker Fuß dem Körper einen Stoß, aber die Frau rührte sich nicht. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten an die Decke, als befände sich dort etwas außerordentlich Faszinierendes.
Der Mann wandte sich wieder seinem Bild zu. In der Mitte der kreisförmigen Darstellung prangte umgeben von einem breiten Strahlenkranz das »Auge Gottes«. In dessen Pupille sah man den auferstandenen Jesus Christus mit Wundmalen in einem Sarkophag stehen. Leise murmelte der Mann die vier lateinischen Wörter, die darunter standen, vor sich hin: »Cave cave Deus videt«. Der Maler mahnte die Menschen, sich vorzusehen. Deus videt – Gott sieht. Der Mann seufzte. Im Bildausschnitt rechts unten hatte Bosch eine Frau gemalt, die dem Betrachter den Rücken zuwandte. Sie schien sich nicht für ihre Umgebung zu interessieren, sondern richtete den Blick auf einen zweiflügeligen Schrank. Davor hielt ein fuchsköpfiger Teufel mit einer Haube, die ihre nachäffte, einen Spiegel. Die halb offene Schmucktruhe links von ihr, die prunkvollen Gefäße auf dem Schrank, der Apfel auf dem Fensterbrett, gaben dem Betrachter weitere Hinweise auf ihren Lebenswandel.
Mit einem Nicken rollte der Mann das Bild wieder zusammen und schob es in die Hülse. Es war Zeit, sich um die Frau zu kümmern.
Die Wasserpfützen unter dem Körper hatten sich ausgebreitet. Er berührte ihre Schulter und strich dann mit der Handfläche über den Arm. Auch ihr Kleid war durchfeuchtet. Die bleiche Schönheit war eine ganze Woche bei ihm gewesen und hatte dann noch eine weitere Woche im »Dornröschenschlaf« verbracht. Jetzt würde sie ihn verlassen und ihre letzte Aufgabe erfüllen.
Sein Blick wanderte über den Halsausschnitt zu ihrem Gesicht. Rund um die Augen befanden sich kleine blaurote Punkte. Von Weitem sah es aus, als trüge sie eine dunkle Halbmaske. Letzte Woche hatte er sie in einem unbedachten Moment sinnlosen Zorns kräftig gewürgt. Dabei mussten diese Petechien entstanden sein. Auch die Zunge sah nicht mehr schön aus, aber sie ließ sich einfach nicht wieder in die Mundhöhle hineindrücken. Im Nachhinein hatte ihn seine Unbeherrschtheit heftig geärgert, aber die Male hatten sich nicht mehr beseitigen lassen.
Er berührte ihren kalten Fuß und drückte das Bein gerade. Die Starre hatte sich fast gelöst. Um sie zwischenlagern zu können, hatte er ihre Beine anwinkeln müssen. Wenn die Frau der Öffentlichkeit präsentiert wurde, musste sie ausgestreckt liegen. Sie sperrte sich noch ein wenig, aber dann hatte er es geschafft. Gemächlich saugte er die Wasserlachen mithilfe von Frotteetüchern, die er anschließend in einen blauen Plastikmüllsack warf, auf und begann dann, sie in die feste Folie einzuwickeln.
Aufschneiden würde er sie erst an Ort und Stelle. Er stellte es sich faszinierend vor, wie ihr Blut – das hoffentlich noch flüssig war – in Zeitlupe herabtropfte, während sie sich den Leuten präsentierte. Der Cutter schnitt durch das Packband. Jetzt kam der schwierige Teil. Er musste sie an Ort und Stelle bringen, ohne dass es jemandem auffiel. Im Keller wartete schon die nächste.
»Tu Buße!«
Die Stimme klang barsch und mitleidslos. Nina Bernstein fror. Ihre Augen schmerzten hinter dem kratzigen Stoff, der fest um ihr Gesicht gewickelt war und nur Mund und Nase freiließ. Sie schniefte leise. Die eingeatmete Luft roch modrig. War der Stoff verschimmelt? Oder kam der Geruch aus dem Raum, in dem sie sich befand?
»Du hörst mir gar nicht zu?« Ein Stoß traf Ninas Schläfe, und sie spürte, wie ihr Hinterkopf an etwas Hartes prallte. »Du sollst büßen!« Der Ton hatte sich verschärft, Worte hallten wider, die Gedanken sprangen wie Flipperkugeln durch Ninas Kopf. Was erwartete die Stimme von ihr, welche Antworten wären die richtigen? Und wofür sollte sie büßen?
»Denk nach!« Noch ein Stoß, fester jetzt. »Ich gebe dir ein bisschen Zeit dazu.« Der Mann mit der barschen Stimme räusperte sich und fuhr fort. »Du hast gesündigt. Und dafür wirst du bestraft werden. Wenn du einsichtig bist, kannst du dir viel Leid ersparen.«
Etwas quietschte, und Nina dachte, dass es sich wie ein rostiges Scharnier anhörte. Gleich darauf hörte sie etwas klicken – ein Schloss? – und danach Schritte, die sich entfernten. Dann war alles still. Zu still.
Nina Bernstein zwang sich, noch ein paar Augenblicke zu warten. Womöglich war der Typ noch im Raum und machte sich einen Spaß daraus, sie zu beobachten. Ihre übrigen Sinne schienen durch die Augenbinde, die das Sehen verhinderte, sensibler geworden zu sein. Schnüffelnd sog sie die Luft ein und versuchte, den Geruch zu analysieren. Kälte, Feuchtigkeit, ein Hauch von Schimmel mit einer Beimengung von Salpeter. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich in einer sitzenden Position befand, die Beine gerade ausgestreckt, den Rücken an eine Wand gelehnt. Ihre Hände waren hinter dem Rücken fixiert. Dünne, harte Streifen schnürten die Gelenke ab.
Handschellen waren das nicht. Nina wusste, wie sich Handschellen anfühlten. Schließlich war sie nicht zum ersten Mal in ihrem Leben gefesselt.
Vorsichtig bewegte sie die Hände. Sie konnte mit den Fingerspitzen kalten Stein ertasten. Oder zumindest glaubte sie, dass es Stein war. Auch die Füße waren verschnürt.
Nina fühlte, wie sie wütend wurde. Was hatte dieser Typ eigentlich mit ihr vor? Ob es Sinn hatte, um Hilfe zu rufen? Aber hätte er ihr dann nicht zusätzlich einen Knebel verpasst? Wahrscheinlicher war, dass niemand sie würde hören können. Stattdessen sollte sie lieber darüber nachdenken, was sie tun konnte, um sich zu befreien, oder was der Mann von ihr als »Buße« erwartete. Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach längst vergessenen Liturgien, suchte nach Floskeln, die reumütige Kinder vor einem gestrengen Pfarrer verwenden würden, aber ihr Kopf gab nichts frei.
Wie war sie eigentlich hierhergekommen? Nina kniff die Lider hinter dem derben Stoff fest zusammen, so als sei es nicht sowieso schon stockfinster, und versuchte, Erinnerungen heraufzubeschwören.
Das letzte Ereignis, welches ihr einfiel, war der Besuch im Nachtwerk. Samstagabend. Nina ging jeden Samstag ins Nachtwerk. Die riesige Diskothek im Süden Leipzigs war ein beliebter Treffpunkt für Leute, die sich amüsieren wollten. Sie war also im Nachtwerk gewesen, so viel war sicher.
Wie lange mochte das her sein? Wenn sie ihren Körper prüfte, ihr Durstgefühl, den Drang, pinkeln zu müssen, konnte es nicht länger als einen halben Tag zurückliegen. Es sei denn, zwischen dem Besuch in der Disco und Dem Hier lag eine Zeit, die ihr Gedächtnis nicht gespeichert hatte. Nina sah im Moment keine Möglichkeit, das herauszufinden. Also weiter: War der Abend in der Disco wie immer verlaufen?
In ihrem Kopf tauchte ein unscharfes Bild auf. Dieser gutaussehende Bursche mit den blauen Augen, die im Dunkeln geleuchtet hatten wie die Xenonscheinwerfer einer Nobelkarosse. Er war ihr sofort aufgefallen, und Nina hatte sich behutsam an ihn herangepirscht. Bloß nicht zu aufdringlich wirken! Das mochten die begehrten Typen nämlich gar nicht. Man musste es so aussehen lassen, als seien sie von selbst auf einen aufmerksam geworden. Und Nina Bernstein beherrschte das Spiel perfekt. Wenn man die Kerle einmal an der Angel hatte, konnte man mit ihnen machen, was man wollte.
Und Nina wollte nur eins: richtig guten Sex. Danach konnte der Typ sich schleichen. Manche checkten das nicht und wollten hinterher ihre Telefonnummer oder am nächsten Tag mit ihr essen gehen. Nina fand das spaßig. Was bildeten sich diese Typen eigentlich ein? Sie wollte keine Beziehung, sie wollte Sex. Harten Sex. Manche von den One-Night-Stands sah sie später im Nachtwerk oder in irgendeiner anderen Disco wieder. Wenn sie richtig gut gewesen waren – aber nur dann –, gab Nina ihnen eine zweite Chance. Oft war das jedoch noch nicht geschehen. Die, die am attraktivsten aussahen, brachten es oft nicht. Es war wie mit holländischem Obst: sah super aus, schmeckte nach nichts. Die besten waren die Unscheinbaren, die kleinen dürren oder auch die untersetzten. Und doch fiel sie immer wieder auf diese Strahlemänner herein, die mit den gutgebauten Körpern und den blauen Augen. Nina lächelte kurz, bis ihr einfiel, in welcher Lage sie sich befand. Schnell zwang sie ihre Gedanken wieder zurück zu dem Typen mit den Xenonaugen. Sie hatte ihn gesehen und sich angeschlichen.
Nicht lange, nachdem sie ihn wie zufällig angerempelt und sich dafür entschuldigt hatte, hatte er schon mit ihr getanzt und ihr einen Drink spendiert. Einen Gimlet. Und eine halbe Stunde später einen zweiten. Gimlets trank Nina am liebsten. Schön trocken, mit reichlich Gin. Beim vierten oder fünften Tanz hatte er ihre Hand ergriffen und sie auf seine Hüfte gelegt. Nina hatte nichts dagegen gehabt. So lief es immer. Die Typen taten irgendwas, aber sie steuerte das Ganze unbemerkt.
Ninas Unterleib erinnerte sich noch daran, wie scharf sie geworden war, als sich Körper an Körper schmiegte. Geil auf diesen blauäugigen Casanova und seinen festen kleinen Hintern unter ihren Händen. »Ich heiße Timo«, hatte der Typ zu ihr gesagt.
Sie wollte ihre Namen gar nicht wissen, aber meist ließ es sich nicht vermeiden. »Timo« hatte gut gerochen. Dann hatte er ihr ins Ohr geflüstert, ob sie Lust hätte, etwas zu rauchen, und sie waren auf den Parkplatz gegangen, auf dem sich schon viele junge Leute herumdrückten. Seit man in den Discos keine Zigaretten mehr rauchen durfte, hielt sich die Hälfte der Besucher draußen auf.
Nina hatte ihn in eine unbeleuchtete Ecke gelotst und dabei gehofft, er würde es ihr gleich hier besorgen, auf diesem riesigen asphaltierten Platz – sie an die Rückwand des Gebäudes gepresst, die Beine um ihn geklammert, er vor ihr, der feste kleine Hintern heftig stoßend –, aber er machte keine Anstalten dazu. Sie musste wohl noch weiter an ihm graben. Manche von den Typen waren aber auch zu tugendhaft. Vielleicht würde es ihm die Sache erleichtern, wenn sie zuerst ein bisschen Gras mit ihm rauchte. Timo hatte ewig gebraucht, um zwei Joints zu drehen. Oft hatte er das anscheinend noch nicht gemacht.
Als Nina spürte, wie ihre Gedanken begannen, Karussell zu fahren, hatte sie ihn ein bisschen angeheizt. Daran erinnerte sie sich noch zu gut. Er war allmählich munter geworden und hatte mitgemacht, sodass ihre Hoffnung, den Richtigen für diese Nacht ausgewählt zu haben, wuchs. Schließlich wollte sie nicht das ganze Wochenende hier zubringen.
Nina rutschte ein bisschen an der, Wand nach unten und zog die Beine an. Ihr Rücken schmerzte. Und es war bitterkalt. Fast genauso kalt, wie auf diesem dämlichen Parkplatz vor dem Nachtwerk am Sonnabend. Nachdem sie eine ewige Viertelstunde an dem Typen herumgemacht hatte, gab Nina ihre Hoffnung, er würde gleich hier über sie herfallen, auf. Der Kerl war anscheinend zu feige dazu. Allmählich kroch ihr die Kälte auch unter die Klamotten. Aber einen Versuch hatte er noch. Sie würde ihm das Auto anbieten. Wie immer hatte Nina in einer abgelegenen Ecke geparkt, wo es schön dunkel war. Und wenn jemand ihr beim Ficken zusehen wollte – auch gut. Das törnte sie an. Sie nahm die Typen nie mit zu sich nach Hause, nie seit mindestens zwei Jahren. Schlechte Erfahrungen. Wenn sie erst wussten, wo sie wohnte, klebten manche von ihnen an ihr wie Kletten. Der Parkplatz, eine von den Toiletten im Nachtwerk oder das Auto taten es genauso gut.
Aber zuerst hatte sie dringend pinkeln gemusst, und weil sie trotz der Kälte zu faul gewesen war zurückzugehen, hatte sie beschlossen, sich gleich in das dunkle Gestrüpp des Wäldchens am Rande des Parkplatzes zu begeben. In der Finsternis konnte sie eh keiner sehen. Und den Rest Schamgefühl erledigte der Joint, den sie vor ein paar Minuten geraucht hatte. »Ich komme gleich wieder, lauf nicht weg«, hatte sie mit ihrer heiseren Stimme zu dem Typen gesagt und war über den glatten Asphalt in Richtung der Sträucher getaumelt. Sie war nicht weit in das Wäldchen hineingelaufen, nur ein paar Meter, und hatte sich dann umgedreht, sodass sie den Parkplatz und die dunkelgelben Lichtkreise der Bogenlampen sehen konnte. Nachdem sie vor dem Herunterlassen der Hose die Hosenbeine bis zu den Waden hochgewurstelt hatte, damit sie nicht aus Versehen nass wurden, hatte Nina sich hingehockt. Ihr »Date« stand brav an der seitlichen Ecke und wartete. Ab und zu hob er eine Zigarette – oder war es ein neuer Joint? – und sog daran.
Nina erinnerte sich an das Geräusch ihres Urinstrahls auf den vertrockneten Blättern. Gleichzeitig hatte sie gesehen, wie der Typ einer Dampflok gleich weiße Wölkchen in die Nacht blies. Sie erinnerte sich auch noch daran, wie sie sich mit zwei Tempotaschentüchern abgewischt hatte und dass sie zwei Schritte nach vorn gegangen war, ehe sie die Hose hochgezogen hatte. Das war alles.
Danach war nichts als Schwärze. Weder fiel ihr ein, wie sie auf den Parkplatz zurückgelangt war; noch, ob sie ihr Vorhaben wahr gemacht und sich im Auto von diesem Timo hatte ficken lassen. Leer, leer, leer war ihr Kopf, nichts als eine hohle Nussschale voller Luft.
Nina dachte noch ein paar Sekunden lang über den Abend nach, aber sosehr sie sich auch bemühte, mehr wollte ihr nicht einfallen. Sie schob sich wieder ein bisschen nach oben. Inzwischen brannte nicht nur ihr Rücken, sondern auch ihr Hintern vom Sitzen auf dem harten Boden.
Sie war im Nachtwerk gewesen und hatte einen Typen kennengelernt. Und dann hatte irgendjemand sie gefesselt und eingesperrt. Und nun sollte sie Buße tun, wofür auch immer.
Ob irgendein verschmähter Liebhaber sie hier gefangen hielt? Zur Strafe, weil sie nach einem Fick nichts mehr von ihm hatte wissen wollen? Sollte sie etwa das bereuen? Dieser Timo war jedenfalls nicht ihr Entführer, da war sie sich ziemlich sicher.
Die Stimme hatte gesagt, sie habe gesündigt und wenn sie einsichtig sei, könne sie sich viel Leid ersparen. Nina beschloss, sich darauf einzurichten. Wenn der Typ mit der barschen Stimme wiederkam, würde sie ihn als Erstes um Entschuldigung bitten. Mal sehen, wie er reagierte. Nina Bernstein hatte nicht wirklich Angst vor dem, was kommen würde. Bis jetzt war sie noch jeder Situation gewachsen gewesen. Sie atmete die modrige Luft tief ein und stieß sie mit einem Pfeifen wieder aus. Die Stimme hatte nicht verkündet, wann ihr Besitzer wieder auftauchen würde. Es konnte Minuten oder Stunden dauern, wer wusste das schon. Aber sie musste ja nicht regungslos hier sitzen bleiben und darauf warten, dass ihre Muskeln komplett einrosteten. Nina beschloss, ihre Umgebung zu erkunden. Auch mit den Fesseln war sie nicht völlig bewegungslos. Sie konnte umherkriechen und alles abtasten.
Langsam zog sie die Beine an und wartete kurz, bis der Schmerz sich etwas verflüchtigt hatte. Dann rollte sie sich zur Seite, verlagerte das Gewicht auf die Knie und ließ den Körper sich stabilisieren. Es war gar nicht so einfach aufzustehen, wenn einem die Hände auf dem Rücken festgebunden waren, aber sie schaffte es. Auch das Vorwärtskommen gestaltete sich schwieriger als Nina gedacht hatte. Mit winzigen Schritten schob sie sich in den Raum hinein. Eigentlich glich es mehr einem wackligen Hüpfen denn einem Laufen. Normalerweise hätte sie die Arme nach vorn ausgestreckt, um Hindernisse rechtzeitig zu ertasten. Die Gefahr, dass sie sich den Kopf anstoßen würde, war groß, und Nina beschloss rückwärtszutrippeln, die gefesselten Arme ein paar Zentimeter vom Rücken weggestreckt.
Die Kälte kniff in Gesicht und Hals. Wenn sie richtig fühlte, trug sie lediglich ihre Jeans und das Top, darunter war nur nackte Haut. Wie immer samstags. Auf Unterwäsche verzichtete Nina beim Ausgehen konsequent – sie störte nur. Ihre wattierte Jacke, der Schal und die Handschuhe fehlten. Vielleicht hingen sie noch immer an der Garderobe im Nachtwerk. Was dafür sprach, dass sie direkt vom Parkplatz der Disco aus hierhergekommen war. Jetzt berührte ihre rechte Handfläche etwas Festes und sie rückte noch ein wenig dichter an die Wand heran. Vorsichtig rutschten die Finger über feuchtkalte Steine, ertasteten eine schmale Fuge, fuhren die unregelmäßige Einkerbung nach. Eine Natursteinmauer. Nina lehnte sich an und öffnete den Mund. Ihr »Ist da jemand?« hallte wider. Was war das hier, eine Gruft? Sie beschloss, sich seitwärts an der Wand entlang zu bewegen. Es musste einen Ausgang geben, irgendwo befand sich eine Tür. Die Stimme mitsamt dem dazugehörigen Körper musste ja schließlich an irgendeiner Stelle hereingekommen sein. Behutsam schob sie sich weiter nach rechts. Nach vierzehn Schrittchen war Schluss. Ninas Schulter stieß an eine weitere Wand. Eine Ecke des Raumes? Sie wollte sich gerade in Position bringen, um den Winkel zu überwinden, als ein leises Geräusch über ihre Haut fuhr wie eine Klinge. Das feine Klicken ließ Nina die Luft anhalten, und als das gleiche Quietschen wie vorhin ertönte, wusste sie, dass die Stimme zurückgekommen war.
»Hoppla! Was haben wir denn da?«
Nina vermeinte, einen ironischen Unterton herauszuhören, aber es konnte genauso gut sein, dass sie sich das nur einbildete. Wenigstens hatte er nicht zornig geklungen. War das ein gutes Zeichen?
»Du brauchtest wohl Bewegung?« Die Stimme kam näher, säuselte. Nina konnte Pfefferminz riechen.
»Ich ... ich ... ich möchte mich entschuldigen.« Sie versuchte ein verlegenes Lächeln, hoffte, dass es echt aussah, und bedauerte gleichzeitig, nichts sehen zu können.
»Du willst dich entschuldigen?« Jetzt klang er überrascht. »Wofür?« Die Stimme war jetzt ganz dicht vor ihr, und Nina fühlte, wie sich die kleinen Härchen an ihren Armen aufrichteten.
»Falls ich Sie gekränkt habe.« Reichte das?
»Mich gekränkt?« Ein feines Prusten. Nina spürte, wie sich ein leichter Nebel auf ihre nackten Unterarme senkte. »Wie kommst du denn darauf?«
»Ich ... äh ... na ja. Kennen wir uns eigentlich?« Die ganze Zeit hatte Nina versucht herauszufinden, ob sie dem Mann, dem die Stimme gehörte, schon einmal begegnet war, aber ihr Gehirn hatte nichts zutage gefördert. Wenn er aber nicht zu den Verflossenen gehörte, die sich mehr von ihr erhofft hatten, woher kannte er sie dann? Oder schlimmer – kannte er Nina Bernstein womöglich gar nicht? War sie ein Zufallsopfer? Was sollte aber dann der Scheiß mit der »Buße«? Das setzte doch voraus, dass sie etwas getan hatte, das er der Sühne würdig fand. Und wie konnte er so etwas wissen, wenn er sie vorher noch nie getroffen hatte? Nina schüttelte ihren Kopf, um die Gedanken zu sortieren.
»Ich weiß nicht, was diese Fragen sollen. Hast du über deine Sünden nachgedacht?« Nina spürte seinen Pfefferminzatem über ihre Haut streichen und fror.
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.« Sie musste ihrem Satz keinen kläglichen Unterton geben. Den hatte er von ganz allein.
»Jetzt ist es aber genug!« Mit einem Mal hatte sich die Stimme von einem sanften Wispern zu einem Grollen erhoben. »Treib keine Spielchen!«
Nina schwieg, während sie fieberhaft nachdachte. Der Inhaber der Stimme schien sie zu beobachten, schien auf etwas zu warten. Sie spürte alles gleichzeitig: die Steine in ihrem Rücken, den unebenen Boden unter ihren Schuhsohlen, das kratzige Gewebe der Augenbinde, die unnachgiebigen Fesseln an den Handgelenken.
Bis jetzt hatte ihr Kerkermeister nur Forderungen gestellt, ihr jedoch außer dem Stoß vorhin und den Fesseln keine Gewalt angetan. Vielleicht würde er sie wieder freilassen, wenn er mit ihr fertig war. Wenn sie das getan hatte, was er von ihr verlangte. Allerdings wusste Nina noch immer nicht, was das eigentlich sein sollte. Buße wofür? Noch immer schwieg die Stimme, und die Kälte kroch ihr allmählich in die Knochen. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie erwarten. Bitte helfen Sie mir doch auf die Sprünge, dann mache ich, was Sie wollen.« Nina hasste sich für das Flehen in ihrer Stimme.
Sollte sie ihm Sex anbieten? War es das, auf das er scharf war? Er war ein Mann. Männer mochten Sex. Fesselspielchen, Sadomaso. Nichts einfacher als das. Darin war sie spitze. Der Pfefferminzgeruch wurde wieder stärker, während Nina noch überlegte, ob es klug war, ihm ihren Körper anzubieten.
»Du stellst dich dumm an. Dümmer, als ich dachte.« Jetzt stand er direkt vor ihr. Sie konnte sein stoßweises Atmen im Gesicht spüren, wenn er redete.
»Wollen Sie mit mir schlafen?« Nina überlegte noch, warum sie das Wort »ficken« nicht herausbrachte, wo es doch sonst zu ihrem alltäglichen Sprachgebrauch gehörte; und warum sie den Typen mit »Sie« ansprach, als ein gackerndes Geräusch sie zurückzucken ließ. Es dauerte einige Sekunden, bis sie es einordnen konnte. Der Typ lachte.
»Nina, Nina ...« Er schien den Kopf zu schütteln. »Das ist ja gerade das Problem.« Sein meckerndes Lachen verebbte. Die Stimme entfernte sich jetzt wieder, wobei er vor sich hin murmelte. »Du begreifst es nicht. Wenn du ein bisschen nachgedacht hättest, wüsstest du vielleicht, was du falsch gemacht hast, aber anscheinend denkst du zu wenig.« Jetzt näherte er sich wieder. »Aber wir haben genug Zeit. Vielleicht fällt es dir noch ein.« Nun stand er wieder direkt vor ihr. »Ich öffne jetzt die Fesseln an deinen Handgelenken. Komm aber nicht auf dumme Gedanken. Dreh dich bitte um.« Nina gehorchte. Womöglich war das ihre Chance. Und er hatte »bitte« gesagt. Die Wand vor ihrem Gesicht dünstete klamme Steinluft aus. Der Typ fummelte hinter ihrem Rücken an den Fesseln herum. Seine Finger waren warm und weich. Nina konnte fühlen, wie die enge Schnürung an den Gelenken sich löste. Die Haut brannte ein bisschen, aber das würde vergehen. Hoffentlich ließ er ihr die Augenbinde. Solange sie ihn nicht sah, konnte sie sich an die Hoffnung klammern, dass er vorhatte, sie freizulassen. Nachdem er hatte, was er wollte. Was auch immer das sein mochte.
»Jetzt ziehst du das Oberteil aus.«
»Ausziehen?«
»Was ist daran nicht verständlich? Zieh das Shirt aus. Jetzt!« Er hob die Stimme ein wenig, und Nina beeilte sich zu tun, was er verlangte. Wenn er ihre Brüste sehen wollte – gut. Sie waren einen Blick wert. Nina streifte das Top über den Kopf, ließ es an der Augenbinde vorbeirutschen, doch die verschob sich um keinen Millimeter. Das Oberteil in der Rechten blieb sie mit dem Gesicht zur Wand stehen und atmete den Modergeruch ein, während sie auf weitere Anweisungen wartete. Ihr ganzer Körper erschauerte, als seine Fingerspitzen sich auf ihren nackten Rücken legten und dann sanft von oben nach unten glitten. »Sehr schön.«
Die Hände lösten sich. Nina zitterte ein bisschen. Jetzt spürte sie wieder, wie kalt es in diesem Raum wirklich war. Pfefferminzduft wogte heran.
»Hör mir zu. Links neben dir ist eine Matratze. Du legst dich jetzt bitte darauf. Mit dem Gesicht nach unten.«
Aha, jetzt kam es. Er wollte sie doch ficken. Nur dass er dauernd »bitte« sagte, machte Nina ein bisschen Angst. Sie trippelte ein wenig nach links, bis die Fußspitzen an ein Hindernis stießen, und kniete dann nieder. »Soll ich meine Hose auch ausziehen?« In der sie umgebenden Dunkelheit fand Nina, dass sie sich wie eine Dreijährige anhörte.
»Nein. Mach den Reißverschluss auf, das sollte reichen.«
Nina fragte sich, wie er es anstellen wollte, sie zu vögeln, wenn sie die Jeans noch anhatte, während sie an dem Metallknopf nestelte. Ihre Finger flatterten, es schien Stunden zu dauern, und doch wartete der Typ geduldig, bis sie endlich so weit war.
»Und nun leg dich auf den Bauch.« Sie bekam einen leichten Stüber und kippte nach vorn.
»Beine gerade, Arme an die Seiten.« Nina tat, wie ihr geheißen. Die Matratze roch auch muffig. Sie drehte den Kopf zur Seite, um besser atmen zu können. Als seine Hände ihren Hosenbund berührten, sog sie scharf die Luft ein.
»Halt schön still. Es wird nicht wehtun.« Er streichelte über ihren Rücken, und Nina unterdrückte ein Zähneklappern.
Neben ihr klimperte es, dann begann ein feines Surren. Das Geräusch war ihr völlig unbekannt. Was machte der Typ da? Als er sich mit einem Ächzen über sie schwang, hielt Nina für ein paar Sekunden die Luft an und wappnete sich gegen das, was jetzt gleich kommen würde. Aber er blieb einfach auf ihrem Hinterteil sitzen und machte keinerlei Anstalten, ihr die Hose abzustreifen. Lediglich den Bund schob er etwas nach unten. Das schwirrende Geräusch wurde lauter. Der Typ rutschte ein wenig nach oben und legte ihr eine warme Handfläche auf das linke Schulterblatt. »Es geht jetzt los. Nicht zappeln, Nina.«
»Ich verstehe nicht ...«
»Das musst du auch nicht. Halt einfach still, umso schneller ist es vorbei.«
Das Surren war jetzt ganz dicht über ihr, dann begann es unter ihrem linken Schulterblatt zu kribbeln, als liefen Hunderte von Ameisen winzige Kreise. Nach einigen Minuten verstummte das Brummen für einen Moment und etwas wischte mit reibenden Bewegungen über die Haut. Dann begann es von neuem. Die Ameisenarmee arbeitete sich allmählich nach rechts vor. Nina war sich nicht ganz sicher, aber es hörte sich an, als würde das Surren von einem steten Raunen untermalt, als begleite ein gemurmelter Singsang das mechanische Geräusch wie eine Liturgie.
Die Prozedur schien sich über Stunden hinzuziehen. Aber vielleicht waren es auch nur Minuten, Nina verlor irgendwann jegliches Zeitgefühl. Als das Surren plötzlich verstummte, schien die Stille zu rauschen. Noch einmal wischte weicher Stoff in kreisenden Bewegungen über Ninas Rücken. Die Muskeln an ihrem Hintern, die Nina die ganze Zeit angespannt hatte, waren taub. Das Gewicht des Typen fühlte sie wie einen dumpfen Schmerz.
»Bleib liegen!« Er löste sich von ihr und erhob sich. Nina bewegte behutsam ihre Finger. Doch noch ehe sie dazu gekommen war, einen Plan zu schmieden, war er schon wieder über ihr.
Erst jetzt wurde es Nina bewusst, dass die Haut des Rückens heiß war, sie glühte wie bei einem leichten Sonnenbrand. Es knisterte, dann legte sich etwas Kaltes, Glattes auf ihren Rücken, wurde an den Seiten fest angedrückt. »So. Teil eins.« Die Stimme klang irgendwie erleichtert. »Setz dich und zieh dein Shirt wieder an.«
»Ich kann nicht.« Nina war paralysiert. Ihre Muskeln waren vom langen Liegen in der gleichen Position wie gelähmt.
»Stell dich nicht so an!« Dass der Typ nicht einmal die Stimme hob, jagte Nina ein bisschen Angst ein. Während sie auf das feine Kribbeln wartete, das anzeigte, dass das Leben in ihre Arme und Beine zurückkehrte, versuchte sie die Geräusche im Hintergrund zu analysieren. Er packte etwas ein, summte dabei eine Melodie. Als sie gerade dachte, dass es ihm egal zu sein schien, wie lange sie brauchte, kam er zurück, ließ sich direkt neben ihr niederplumpsen, griff nach ihren Schultern, drehte sie mit einem Ruck um und zerrte sie dann. »Hoch mit dir, Schlampe!«
Als sie saß, ließ er los und warf ihr das Top in den Schoß. »Anziehen!«
Nina gehorchte wortlos. Der Stoff rutschte über ihren Kopf nach unten und glitt über den Rücken, an dem eine Art Folie zu kleben schien.
»Hände auf den Rücken!«
»Aber ...«
»Diskutier nicht!«
Während er ihre Arme wie vorher auf dem Rücken fesselte, dachte Nina darüber nach, was er wohl als Nächstes mit ihr vorhatte, aber ihr Kopf gab nichts her.
»Du kannst hier sitzenbleiben oder dich hinlegen, wie du magst. Wenn ich wiederkomme, machen wir weiter.« Er drückte ihr mit dem Daumen gegen die Stirn und entfernte sich dann.
»Lassen Sie mich doch hier nicht allein!«
»Du hast eine Aufgabe. Ich habe es dir beim letzten Mal schon gesagt. Du sollst büßen. Und du musst aufrichtig sein, und nicht nur so tun. Ich erkenne den Unterschied.«
»Ich habe Durst! Und ich muss zur Toilette!«
»Daran kann ich momentan nichts ändern.« Das Scharnier quietschte. »Ich empfehle dir nachdrücklich, über meine Worte nachzudenken.« Es klickte, dann war es still.
Nina lauschte in die Finsternis. Sie hatte es eben nicht nur so dahingesagt. Sie war durstig und ihre Blase drückte. Und sie fror. Was hatte er mit ihrem Rücken angestellt? Wie lange würde der Typ wegbleiben? Und was würde er mit ihr machen, wenn er zurückkam?
»Lasst uns nun singen.« Der Mann mit dem weißen Umhang breitete die Arme aus und ließ seinen Blick über die Gemeinde gleiten. Er bemühte sich dabei, jeden Einzelnen anzusehen. Ehrfürchtig saßen seine Schäflein in ihren Stuhlreihen und blickten nach vorn. Aus ihrer Perspektive wirkte Romain Holländer wie die Christusstatue auf dem Corcovado in Rio de Janeiro, nur dass seine Haare nicht so lang waren. Konrad, der neue Altardiener, sang einen einzelnen klaren Ton in die Stille und stimmte so an.
Romain Holländer schloss die Augen. Sein sonorer Bass übertönte den Chorus, genau so, wie es sein sollte. Er wusste um seine Wirkung. Besonders eindrucksvoll war die Szenerie an einem Tag wie heute, wenn die Sonne hereinschien. Das Licht fiel durch das Ornamentfenster hinter ihm und zeichnete saphirblaue, flaschengrüne und granatrote Muster auf das weiße Gewand. Gleichzeitig fluteten die farbigen Strahlen um seinen Hinterkopf und verliehen ihm eine Art Heiligenschein. Die Markierung am Boden, auf die er sich stellen musste, um diesen Effekt zu erzielen, war fast unsichtbar, und Romain Holländer glaubte nicht, dass sie überhaupt schon einmal jemandem aufgefallen war. Eigentlich brauchte er das Kreuzchen auch gar nicht. Die Riten verliefen seit Jahren immer gleich, ob es nun Sonntags- oder Wochentreffen waren.
Er sang etwas lauter und schielte dabei durch die halbgeschlossenen Lider auf die Gemeinde; prüfte die Gesichter, forschte, ob alle dem Auf und Ab der Töne folgten. Ablenkung war Sünde. Meist beichteten die Betreffenden ihre Verfehlungen von selbst und suchten sich auch selbst eine Bestrafung aus, aber es konnte nichts schaden, sie trotzdem zu kontrollieren. Dieses Mal schien niemand unaufmerksam zu sein. Viele hatten wie ihr Führer die Augen geschlossen, manche wiegten sich im Takt hin und her.
Auch die Kinder bemühten sich. Die ganz kleinen, die Texte und Melodien noch nicht beherrschten, saßen andächtig auf dem Schoß von Mutter oder Vater, die größeren versuchten mitzusingen. Keines von ihnen zappelte, weinte oder plapperte dazwischen, obwohl die Sonntagsandacht manchmal von sechs Uhr früh bis zur Mittagsspeisung dauerte. Es schien Romain, als begriffen sie instinktiv die Bedeutung der Treffen und wollten ihren Eltern keine Schande machen.
Romain Holländer war zufrieden. Heute hatte keiner von ihnen Tadel verdient. Er ließ die letzten Töne verhallen und öffnete die Augen ganz langsam, als erwache er gerade aus einer tiefen Trance. Dann schenkte er der Gemeinde ein inniges Lächeln und senkte bedächtig die segnenden Arme. Den Blick auf die vertäfelte Wand hinter den Stuhlreihen gerichtet, zählte er bis zehn, ehe er sprach.
»Ich danke euch. Es ist ein wunderbares Gefühl, wenn sich alle im Gesang vereinen. Der heutige Sonntag ist ein gesegneter Tag für uns alle. Wir wollen nun voller Freude die Botschaft der Woche hören.« Die Menschen vor ihm falteten die Hände, die Kinder taten es ihnen nach. Romain Holländer gab Konrad ein Zeichen, und während er zu predigen begann, schritt der Junge durch die Reihen und schwenkte das silberne Gefäß von links nach rechts, darauf bedacht, den weißen Rauch gleichmäßig zu verteilen.
Insgeheim gab Romain Holländer zu, dass er das mit dem Räucherwerk von den Katholiken geklaut hatte. Angeblich hatte ja schon der reine Weihrauch einen leicht halluzinogenen Effekt, aber er verwendete zusätzlich noch andere Essenzen. Substanzen, die in Deutschland gar nicht erhältlich waren. Die Beimengungen hatten eine leicht narkotische Wirkung, beruhigten die Gedanken, machten den Kopf leer und schufen so Platz für seine Worte.
Seine Schäfchen wussten davon nichts. Sie fühlten lediglich, dass der Rauch sie beruhigte, dass er ihnen Wohlbehagen schenkte und sie ein wenig schläfrig zurückließ. Auch Romain Holländer spürte die Wirkung. Er liebte es, wenn sich die Gedanken in seinem Kopf zu machtvollen Gebilden formten, wenn die Sätze wie Perlenschnüre aus seinem Mund glitten und sich um die Köpfe der Gemeindemitglieder wanden. Manchmal überflutete ihn die Macht der Worte so stark, dass er Stunden um Stunden predigte, um danach wie eine hohle Spielzeugfigur in die glasigen Augen seiner Gemeinde zu starren.
Heute hatte er Konrad den Auftrag gegeben, die große Silberkugel nur in den Reihen der Zuhörer zu schwenken, denn heute durfte die Predigt nicht bis in die Nachmittagsstunden dauern. Romain Holländer hatte noch einiges vor an diesem wunderbaren Sonntag im Februar.
Nach einer guten Stunde beendete er seine Rede mit einigen metaphorischen Verweisen auf die Nützlichkeit ihres Tuns, wobei er die Stimme lauter und lauter werden ließ, um die Schäfchen sanft aus ihrer Entrückung zu erwecken. Nachdem alle die Augen wieder geöffnet hatten und nach vorn schauten, stimmte er die Schlusslitanei an. Das einsetzende Gemurmel rollte wie ein ferner Donner durch den Raum.
»Und nun gehet zur Sonntagsspeisung. Ich werde euch alsbald folgen.« Die erhobenen Arme winkten die Schäfchen hinaus. Romain Holländer lächelte sein sanftmütiges Lächeln. Er liebte diese schwülstigen Formeln. Sie hoben sich von der Alltagssprache ab und zeigten, dass es hier um etwas Besonderes ging.
»Konrad, du hilfst mir bei den Nachbereitungen.« Der Altardiener nickte. Das ziselierte Räuchergefäß schaukelte sacht in seiner Rechten. Romain beobachtete die Gemeindemitglieder beim Hinausgehen. Manche Kinder waren so fest eingeschlafen, dass sie auch durch das Rütteln und die Geräusche beim Aufstehen nicht erwachten. Langsam schlurften die Menschen hinaus, die große Freitreppe in das Foyer hinab.
Konrad hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er stand noch immer neben dem Altar und starrte in die Ferne. Vielleicht hatte er beim Herumgehen etwas zu viel von dem Räucherwerk eingeatmet. Romain Holländer wartete, bis alle Mitglieder den Raum verlassen hatten, dann trat er zu dem Jungen und legte ihm die Handfläche auf die blonden Locken. »Komm, mein Sohn. Es wird Zeit.« Konrad erwachte aus der Erstarrung und sah zu seinem Meister auf. Ein scheues Lächeln erschien in seinem Gesicht. Es war sein erster Altardienst, und er wusste noch nicht so recht, wie es jetzt weitergehen würde.
»Zuerst kontrollierst du den Andachtsraum.« Romain zeigte auf die Stuhlreihen. »Stelle die gewohnte Ordnung wieder her.« Das Kind nickte. »Das Räuchergefäß kannst du mir geben.« Folgsam überreichte Konrad die Silberkugel. »Dann kommst du in den heiligen Raum und hilfst mir dort bei den Nachbereitungen.« Nachbereitungen hörte sich entschieden besser an als »Aufräumen«. Noch einmal ließ Romain Holländer seine Hand über das seidenweiche Haar gleiten und wandte sich dann, einen Seufzer unterdrückend, ab. Hoheitsvoll schritt er davon. Das weite Gewand verdeckte seine Erektion. Was für ein reines, unschuldiges Wesen dieser Kleine doch war! Hinter ihm scharrten Stuhlbeine über das Parkett. Er würde dem Jungen sagen müssen, dass er die Stühle anheben sollte. Aber das hatte später noch Zeit.
Romain Holländer zog die schwere Flügeltür hinter sich zu. Sein Atem ging stoßweise, und er wollte nicht, dass der Junge dies hörte. Vor dem mannshohen Sprossenfenster blieb er stehen und schaute in den Park hinaus. Hell funkelte der Schnee im Licht der Mittagssonne, und Romain Holländer schloss kurz die Augen und lauschte auf das Rumoren im Andachtsraum. Der goldlockige Konrad würde gleich zu ihm kommen, um bei den Nachbereitungen behilflich zu sein. Er öffnete die Augen wieder, schlüpfte gleichzeitig mit der rechten Hand ins Innere des Fledermausärmels und fuhr mit kreisenden Bewegungen über seinen Unterleib, während das silberweiße Licht ihn blendete. Hinter ihm wurde die Flügeltür geöffnet.
»Prinzipal?«
»Ja, mein Sohn?« Romain Holländer drehte sich nicht um. Seine Hand kreiste stärker.
»Ich bin draußen fertig.«
»Sehr schön, Konrad. Dann kannst du mir jetzt beim Umkleiden helfen.« Jetzt wandte er den Kopf nach hinten und bewunderte das Spiel des Lichts auf den hellen Kinderlocken. »Schließ die Tür, bitte.« Romain schob seine Hand wieder nach draußen und schritt zu dem Wandschrank, in dem die liturgischen Gewänder aufbewahrt wurden.
Er würde Konrad körperlich nicht zu nahe kommen – zumindest jetzt noch nicht. Der Junge würde ihm beim Umziehen helfen und sich anschließend selbst umkleiden. Dabei konnte Romain die zarte Kinderhaut wie zufällig berühren und sich ein bisschen zu dicht über ihn beugen, mehr nicht. Den Rest erledigte die rechte Hand, wenn Konrad draußen war. In ein paar Monaten würde er ihn so weit haben, dass der Junge die Verrichtungen an Romain Holländer als Dienst an der Sache ansah und sich ihm freiwillig anbieten würde. Und wie all den anderen vor ihm würde es auch Konrad irgendwann Spaß machen, dem Führer zu Diensten zu sein. Das waren Erfahrungswerte.
Vorsichtig entrollte der Mann sein Bild und beschwerte es an den Ecken mit Büchern, ehe er zur Lupe griff und das Segment studierte, das sich etwa auf drei Uhr des kreisrunden Gemäldes befand. Vor einer grünen Hügellandschaft sah man ein rundes Zelt, in dem sich ein Paar niedergelassen hatte, er halb liegend zu Füßen seiner Angebeteten, sie sitzend, eine rote Nelke in der Hand. Die Haube der Frau wies darauf hin, dass sie verheiratet war. Rechts von ihnen kroch ein Narr auf allen vieren in Richtung Zelt, seinen nackten Hintern hatte er in die Luft gereckt, während hinter ihm ein Mann mit einem Holzlöffel zum Schlag ausholte. Seiner Gürteltasche nach schien er ein Wirt oder Kuppler zu sein. Auch die vor dem Zelt scheinbar willkürlich angeordneten Gegenstände zeigten dem wissenden Betrachter, worauf Hieronymus• Bosch in der Szene anspielte. Der runde Tisch mit dem Teller voller Kirschen, die Feldflasche auf dem Boden, Harfe, Flöte und Einhandtrommel waren traditionell Gegenstände der Ikonographie von Liebesgärten. Der Narr verkörperte die Torheit. Auch das zweite Paar, welches weiter hinten im Zelt stand, unterstrich den Aspekt der Lust. Die Frau, mit ihren hochgesteckten Zöpfen als Jungfrau erkennbar, wurde von einem vornehm gekleideten Gecken bedrängt.
Der Mann legte die Lupe beiseite. Er kannte die Details der verschiedenen Segmente bis in jede Einzelheit. Und doch fand er es nützlich, sich vor der Präparation der jeweiligen Mitwirkenden noch einmal in die Bilder zu vertiefen. Die allegorischen Darstellungen untermauerten sein Vorhaben und bewiesen ihm, dass die Menschen schon immer sündhaft gewesen waren. Ab und zu wurde es Zeit, dass sie aufgerüttelt wurden, um ihre Sünden zu erkennen und zu bereuen. Dies war seine Aufgabe. Er hob die Bücher beiseite, und das Bild rollte sich von selbst wieder ein. Es war an der Zeit, die Nächste auf ihre Aufgabe vorzubereiten.
***
Die nassen Stellen an Nina Bernsteins Hose wollten einfach nicht trocknen. Es war zu kalt in dieser Höhle. Zuerst hatte sie sich geschämt, aber mittlerweile war es ihr egal. Es hatte keine andere Möglichkeit gegeben. Eine Toilette gab es nicht, und sie war an Händen und Füßen gefesselt. Es war schlicht unmöglich gewesen, dass sie die Hose vorher auszog. Also war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich einzunässen. Sie hatte sich mühsam aufgerichtet und war ein paar Schritte von der Matratze weggehüpft, weil sie das muffige Ding vielleicht noch brauchte, und hatte es laufen lassen. Es war eine Erleichterung und gleichzeitig eine Beschämung gewesen.
Inzwischen war Nina wieder auf die Unterlage zurückgerobbt und hatte sich hingelegt. Zuerst auf den Rücken, aber das war nicht lange gutgegangen, weil die gefesselten Arme sich in die Lendenwirbelsäule gedrückt hatten und die Folie oder was auch immer der Typ an ihrem Rücken befestigt hatte, in die Haut kniff. Deshalb hatte sie sich auf die Seite gerollt und die Beine wie ein Embryo angezogen. Und da lag sie nun und überlegte.
»Wenn ich wiederkomme, machen wir weiter«, hatte der Typ gesagt. Womit wollte er weitermachen? Mit dem, was er an ihrem Rücken angefangen hatte? Aber was zum Teufel war das? Und sie hatte noch immer keinen Schimmer davon, was sie eigentlich büßen sollte. Sie kannte diesen Typen doch gar nicht, also konnte er logischerweise auch sie nicht kennen. Oder war das ein Denkfehler? Womöglich hatte sie es mit einem Stalker zu tun, der sie schon seit Monaten beobachtete? Was war seiner Ansicht nach die Sünde, die sie begangen hatte?
Nina leckte mit der Zunge über die rissigen Lippen. Ihr Hals war trocken und schmerzte beim Schlucken.
Wie lange mochte sie schon hier sein? Ihr fehlte jegliches Zeitgefühl. Es konnte immer noch Sonntag sein – was sie nicht glaubte –, aber ob sie inzwischen Montag, Dienstag oder gar schon Mittwoch hatten, konnte sie nicht einschätzen. Sie schloss die Augen hinter der Binde und versuchte, Bilder aus dem letzten Italien-Urlaub hervorzurufen. Irgendwann schlief Nina Bernstein ein.
Ein Klicken weckte sie. Ihr Kerkermeister kam zurück. Wie lange mochte sie in diesem komatösen Schlaf zugebracht haben? Nach dem nunmehr schon vertrauten Quietschen herrschte Stille. Nina konnte es nicht sehen, aber sie spürte seine Blicke auf ihrem Körper. Dann sprach er. »Wie geht es dir?«
»Ich habe Durst.«
»Soso. Du bekommst etwas zu trinken, wenn du mir sagst, weswegen du hier bist.«
»Ich soll büßen.«
»Sehr gut.« Er kam näher. »Aber wofür, meine Liebe, wofür?« Nina konnte ein Zittern nicht unterdrücken, als er ihr eine warme Handfläche auf die Stirn legte. »Was sind deine Vergehen?«
»Ich weiß es nicht. Können Sie mir nicht einen Tipp geben?« Nina spürte, wie ihre Unterlippe beim Sprechen zitterte, und hasste sich dafür.
»Vielleicht später. Jetzt haben wir erst einmal anderes zu tun. Ich möchte deinen Rücken betrachten.« Die gleiche Prozedur wie letztes Mal begann. Er öffnete Ninas Fesseln und ließ sie ihr Top ausziehen. Dann musste sie sich mit dem Gesicht zur Wand drehen.
Das ratschende Geräusch kam vor dem Schmerz. Es hörte sich an, als reiße man Paketband von einer glatten Oberfläche. Es dauerte einen Augenblick, bis Nina begriff, dass die glatte Oberfläche ihr Rücken war. Dann begann die Haut an den Seiten zu brennen.
»Was machen Sie da?« Sie keuchte die Worte heraus. Der Typ antwortete nicht. Lediglich ein Räuspern und etwas, das wie »Hm« klang, waren zu hören. Die Angst ging und machte dem Zorn Platz. »Ich habe gefragt, was Sie da machen!«
»Sei still.« Die Stimme entfernte sich und kehrte gleich darauf zurück. »Nicht bewegen.«
Nina krallte die Fingernägel in die Handflächen und hoffte, er möge ihre Fäuste nicht sehen. Es würde schwierig werden, ihn mit verbundenen Augen zu schlagen, aber sie konnte das nicht länger teilnahmslos hinnehmen. Als sie seine Hände an ihren Seiten fühlte, winkelte Nina die Arme an, drehte sich mit einem Ruck um, und schlug mit beiden Fäusten ins Leere. Der Schwung, den sie ihrem Körper verliehen hatte, brachte sie ins Schlingern, und da die Fußgelenke noch immer aneinandergefesselt waren, konnte sie das Taumeln nicht ausgleichen und stürzte zur Seite. Hart schlug ihre Schulter auf den Boden. Etwas krachte im Gelenk.
»Dummerchen.« Der Typ lachte meckernd. Nina unterdrückte die Tränen. Die malträtierte Schulter schmerzte.
»Du kannst gleich da liegenbleiben. Dreh dich auf den Bauch.« Als sie keine Anstalten machte, packte er sie an Füßen und Hosenbund und wuchtete sie herum. Nina hatte beschlossen, sich tot zu stellen. Sollte er doch mit ihr machen, was er wollte. Sie hörte ihn hin und her gehen, etwas raschelte, dann kam er zurück und kniete sich neben sie. Als die streichelnden Hände über ihren nackten Rücken glitten, unterdrückte Nina einen Aufschrei. Die warmen Handflächen strichen sacht von links nach rechts, von oben nach unten. Dabei schnaufte er. So nah würde ihr der Typ vielleicht nicht so schnell wieder kommen. Sie überlegte, ob sie ihm die Augen auskratzen sollte, aber da war er auch schon fertig.
»Sieht gut aus.« Die Hände lösten sich. Während sie sich noch fragte, was »gut« aussah, hatte er schon weitergeredet. »Und nun drehen wir dich auf den Rücken. Vorher fessele ich dir die Hände wieder.« Er hantierte an ihren Gelenken herum, anschließend packte er Nina und zerrte sie an Füßen und Hosenbund zurück auf die Matratze.
Sie presste die Zähne aufeinander und versuchte, nicht daran zu denken, welchen Anblick sie bieten mochte. Ob er ihre Brüste lüstern musterte? Jetzt, wo sie stumm auf dem Rücken lag, kam auch der Durst zurück. Nina räusperte sich. »Hätten Sie etwas zu trinken für mich?« Sie hörte ihre heisere Stimme wie die einer Fremden.
»Hörst du mir denn gar nicht zu? Vor einer halben Stunde habe ich dir erklärt, dass du zuerst deine Verfehlungen erkennen musst, um sie anschließend wahrhaft zu bereuen. Danach kannst du dich laben.«
Was für ein hochgestochenes Zeug schwafelte der Kerl da eigentlich? Nina hatte in ihrem ganzen Leben noch keinen Menschen getroffen, der das Wort »laben« verwendete.
»Wir sind noch nicht fertig für heute.« Er strich über ihre Stirn und schob dann die Augenbinde zurecht. Im Rücken drückten die gefesselten Hände. Das surrende Geräusch, das jetzt ertönte, kannte Nina vom letzten Mal.
»Schön stillhalten. Kann sein, dass das ein bisschen wehtut, aber daran kann ich nichts ändern.« Ihr Kopf wurde am Haaransatz festgehalten und tief in die Matratze gedrückt. Dann ertönte das Summen direkt über ihren Augen, und etwas, das sich anfühlte wie Tausende feiner Nadelstiche, piekte in ihre Stirn. Es begann über der rechten Augenbraue und wanderte langsam nach links. Ab und zu setzte das Stechen aus. Dann fuhr er ihr mit einem weichen Tuch über die feuchte Stirn, ehe er weitermachte. Am Rand der linken Augenbraue hörte es abrupt auf. Er wischte noch einmal und seufzte zufrieden. »Sehr, sehr schön. Du kannst dich jetzt entspannen. Für heute war's das.« Rascheln und Scharren deuteten darauf hin, dass der Typ einpackte.
»Lassen Sie mir doch bitte etwas zu trinken da. Ich tue auch alles, was Sie von mir verlangen!« Den letzten Satz schrie Nina fast, aber sie bekam keine Antwort. Ihre Stirn brannte. Sie kniff die Augen zusammen, öffnete sie gleich wieder und bemerkte erst jetzt, dass sich am unteren Rand ihres Sehfeldes ein heller Streifen abzeichnete. Die Augenbinde musste sich gelockert haben, als er sie vorhin zurechtgerückt hatte. Nina drückte das Kinn auf die Brust und verdrehte dabei die Augäpfel nach unten, sah aber nur helle Schlieren, die sich nach endlosen Sekunden zu bleicher Haut verdichteten. Nach weiteren Sekunden sah sie, dass die beiden hellen Erhebungen ihre Brüste waren.
»Ach, jetzt haben wir doch das Shirt vergessen.« Ihr Kerkermeister schien das Gleiche gesehen zu haben. Er lachte kurz auf. »So ein Pech aber auch, was? Aber wie willst du es mit gefesselten Händen anziehen? Ist dir kalt?« Nina antwortete nicht, und so redete er weiter. »Das wirst du aushalten müssen. Möglicherweise hilft es dir beim Denken.«
Nina blendete den aufwallenden Hass aus und konzentrierte sich weiter auf das Licht. Wenn ihr Peiniger gleich verschwand, konnte sie sich auf die Suche nach einem Ausgang machen. Vorausgesetzt, es blieb hell.
»So, meine Liebe. Ich komme bald wieder und rate dir zum letzten Mal, in dich zu gehen und nachzudenken.«
Nina wappnete sich und hielt die Luft an. Sie wollte genau hören, was er jetzt tat. Es klickte, und im gleichen Augenblick verschwand der Lichtstreif unter der Augenbinde. Das Quietschen folgte. Sie unterdrückte ein Zittern, zählte stumm bis zweihundert und lauschte, aber alles blieb still. Der Typ war weg. Nina setzte sich auf. Sie musste ihr Top suchen und es anziehen. Die Kälte kroch ihr allmählich in die Knochen und wenn sie fror, konnte sie nicht klar denken.
Wie eine bucklige Raupe schob sie sich von der Matratze und rutschte auf den Knien durch den Raum, wobei sie das Kinn dicht über dem Boden hin und her bewegte. Es hatte geklickt und dann war es dunkel geworden. Das konnte nur bedeuten, dass sich irgendwo ein Schalter befinden musste. Im Finstern war es schwierig, sich zu orientieren. Plötzlich fühlte sie einen kalten Hauch an ihrer Stirn und hielt inne. Die Steinmauer musste sich direkt vor ihr befinden. Schwankend richtete Nina sich auf, hüpfte in eine seitliche Position und pendelte mit dem Oberkörper nach rechts, bis die Schulter etwas Festes berührte. Ohne die Ausgleichsbewegungen der Arme war es schwierig, das Gleichgewicht zu halten.
Die Wand hatte sie erreicht, aber wie sollte sie nun ohne die Hände den Lichtschalter finden? Nina beschloss, den Rücken an die Mauer zu drücken und sich dann behutsam vorwärtszuschieben. Dass sie ihr Oberteil noch nicht gefunden hatte, erleichterte ihrem Rücken das Fühlen. Die Steine waren klamm und rau und schürften über die Haut. Als Nina etwas Schmales berührte, zuckte sie kurz zusammen. Dann drehte sie sich vorsichtig um, um den Kontakt zur Wand nicht zu verlieren, und legte die Wange an die Mauer. Das Gebilde war dünn und glatt und verlief vertikal. Ein Stromkabel? Behutsam ging sie in die Knie und drückte sich dann im Zeitlupentempo nach oben. Als sie sich fast aufgerichtet hatte, traf die Wange auf etwas Rundes mit einer Erhebung in der Mitte. Nina unterdrückte einen Triumphschrei. Sie hatte den Lichtschalter gefunden! Nach mehreren Anläufen gelang es ihr, ihn mit der Stirn herunterzudrücken und unter der Augenbinde erschien der ersehnte Lichtstreif. Jetzt musste sie die Augen freibekommen. Sie hatte die Hoffnung, dass der Typ sie freilassen würde, solange sie die Augenbinde noch trug, ohnehin fast aufgegeben. Nein, sie musste etwas sehen können, um eine Fluchtmöglichkeit zu finden. Oder um sich zumindest verteidigen zu können. Die Stirn brannte noch immer von dem, was das Schwein vorhin damit angestellt hatte, also drehte Nina sich mit ein paar Hüpfschrittchen um und begann damit, sich von oben nach unten zu bewegen, den Hinterkopf immer fest an die Wand gepresst. Es schien ewig zu dauern, und allmählich brannte ihr von der ständigen Belastung die Oberschenkelmuskulatur. Auch der Rücken, der bei jedem Auf und Ab die Wand berührte, schmerzte zunehmend, aber schließlich lockerte sich die Bandage, und nach ein paar weiteren heftigen Bewegungen rutschte sie schließlich nach unten und glitt Nina wie ein kratziges Halstuch in den Ausschnitt.
Das Licht blendete, und sie zwinkerte die Tränen weg und wartete dann, bis sich die Schlieren verzogen hatten, ehe sie ihr Gefängnis inspizierte.
Die Wände waren aus dunklen Natursteinen gemauert, der Boden schien aus gestampftem Lehm zu sein. Fenster gab es nicht. Außer der Matratze in der rechten Ecke war der Raum leer.
Von der Mitte der Decke hing eine nackte Glühbirne. Nach einer Drehung sah Nina, dass sich die Tür links neben ihr befand, nur wenige Zentimeter neben dem Lichtschalter. Sie musterte das glatte Metall und die massiven Scharniere. Die würde sie ohne Hilfsmittel niemals öffnen können.
In einer Ecke des Raumes hatte der Lehmboden eine dunklere Farbe. Wahrscheinlich war das die Stelle, an der sie sich erleichtert hatte. Wenn sie es recht bedachte, musste sie schon wieder. Wie konnte ihre Blase erneut voll sein, wo sie doch gar nichts getrunken hatte? Nina verbannte die Sehnsucht nach einem Glas Wasser.
Die Tür fiel also weg. Welche Alternativen hatte sie überhaupt?
Als ihr Blick auf die fleckige Matratze fiel, begann es in ihrem Kopf zu rattern. Hatten Matratzen nicht im Innern Metallfedern? Da keine anderen Gegenstände im Raum waren, schien das derzeit die einzige Wahl zu sein. Mit neugewonnener Energie begann Nina, durch den Raum zu hüpfen. In der rechten Ecke angekommen, sank sie auf die Knie und betrachtete angewidert die undefinierbaren gelben und braunen Flecken auf dem grauen Stoff, auf denen sie gelegen hatte. Aber für Ekelgefühle war jetzt keine Zeit.
Ohne Hände würde es schwierig werden, die Matratze auf Metallteile zu untersuchen. Sie würde ihr Gesicht und die Lippen zum Tasten und die Zähne zum Zerreißen des Materials benutzen müssen. Nina unterdrückte ein Schaudern und streckte sich der Länge nach neben dem modrigen Ding aus. Bevor sie sich an die Arbeit machte, würde sie die Unterlage sorgfältig inspizieren. Die Seiten waren ausgefranst. Der untere Rand war dunkler gefärbt, als habe er Feuchtigkeit vorn Boden aufgesogen. Wer weiß, wie lange das modrige Ding hier schon lag.
Die ausgiebige Betrachtung hatte bis jetzt nichts gebracht und Nina beschloss, sich nun die Unterseite anzusehen. Sie drückte das Kinn unter die Matratze, doch ihr fehlte es an Kraft und Hebelwirkung. Das Einzige, was sie schaffte war, die Unterlage nach links zu verschieben. Sie blieb eine Weile liegen und wartete, bis sich ihre Atmung beruhigt hatte. Das hier war ihre einzige Chance. Also würde sie weitermachen, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrach.
Nina wälzte sich auf den Rücken, drückte dann ihre Füße unter die Matratze und schob die Beine nach. Dann spannte sie die Bauchmuskeln an und hob die Beine mit einem Ruck. Wie gut, dass sie regelmäßig Sit-ups machte.
Nach dem dritten Versuch hatte sie es geschafft. Die Matratze hob sich vom Boden, kippte im Zeitlupentempo nach vorn und landete auf Nina. Der faulige Geruch nahm ihr fast den Atem, aber sie fing sich schnell wieder, drehte sich und schob sich unter der erdrückenden Last hervor.
Der Stoff an der Unterseite war verschimmelt. Nina hustete. Schimmel war giftig. Aber gleichzeitig machte er das Gewebe auch mürbe, und das würde ihren Zähnen die Arbeit erleichtern. Vorausgesetzt, sie konnte sich dazu durchringen, in das stinkende Ding zu beißen. Aber zuerst musste sie sich ein klitzekleines bisschen ausruhen. Auf der Seite liegend atmete Nina tief ein und aus. Ihr Blick schweifte über die Unebenheiten im Lehmboden, glitt über ein winziges rautenförmiges Muster, flog weiter, kehrte zurück und dockte noch einmal an den Rauten an. Durch die körperliche Anstrengung hatte sie bis jetzt nichts von der Kälte gespürt, aber nun kribbelten Eisfinger über ihren nackten Rücken. Feine Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf, so als bliese ihr ein Pesthauch ins Genick.
Diese Struktur war nichts Zufälliges. Das waren Buchstaben, winzige Schrift, die die Matratze bisher verborgen hatte. Nina zitterte, als sie dichter an die kleinen Zeichen heranrobbte und den Kopf darüber neigte.
Im trüben Licht der Glühbirne betrachtete sie die in den Lehmboden geritzten Wörter und hörte dabei ihre Zähne aufeinanderklacken.
Sie wusste nicht, ob sie alles exakt entzifferte, aber das war auch nicht wichtig. Der Sinn der Botschaft war unmissverständlich. Ninas Gefühl, dass das hier kein gutes Ende finden würde, verdichtete sich, als sie die Botschaft noch einmal studierte.
HILFEICH WURDE AM 30. JANUAR ENTFÜHRTCAROLIN FRESNEL
»Schnell, schnell! Zum Fitting, Leute!« Der junge Mann mit der hochtoupierten Krähennestfrisur winkte die Mädchen an sich vorbei und tupfte sich dann über die Stirn. Es war ein bisschen wie bei den Großen der Branche. Junge Frauen mit überhohen Stöckelschuhen rannten wie aufgescheuchte Hühner planlos hin und her. Andere Frauen, meist älter, kleiner und mit flachem Schuhwerk folgten ihnen und zupften an Kleidung oder Haaren herum.
Lara Birkenfeld saß in einer Ecke auf einem wackligen Klappstuhl und knipste, was das Zeug hielt. Für einen eigenen Fotografen hatte es bei dieser Reportage nicht gereicht. Sie würden später in der Redaktion prüfen müssen, welche ihrer Bilder geeignet waren. Eigentlich hätte sie sich hier, hinter den Kulissen, gar nicht aufhalten dürfen. Aber weil sie für die Tagespresse eine Reportage über die Design-Hochschule Rootdesign schrieb, hatten die Professoren ihr gestattet, Backstage dabei zu sein, Lara allerdings darum gebeten, die Abläufe nicht zu stören. Sie durfte in einer Ecke sitzen, Fotos machen und, wenn sich die Gelegenheit ergab, auch Fragen stellen.
»Wo ist die Braut, verflucht nochmal? Ich werde noch wahnsinnig!« Die Stimme des jungen Mannes überschlug sich fast. Er schaute auf seine Armbanduhr, rollte dann theatralisch mit den Augen und wischte sich erneut über die Stirn. »Krähennest« gab die Hauptrolle in dieser bühnenreifen Vorstellung. Er war Absolvent, und heute fand seine Abschlusspräsentation statt. Der junge Mann hatte zehn Semester Modedesign studiert, und nun ging es um alles. Die Schauen bildeten nicht nur das Finale des Studiums, sondern konnten den Absolventen auch den Weg in eine erfolgreiche Zukunft ebnen; weil neben den Gästen, Professoren und Kommilitonen auch potenzielle Kunden und Vertreter der Wirtschaft anwesend waren.
Lara fragte sich, was eine Braut hier zu suchen hatte, bis ihr einfiel, dass renommierte Designer ihre Show oft mit der Präsentation eines Brautkleides abschlossen. Und dieser Nachwuchsdesigner ahmte seine berühmten Kollegen nach. Krähennest huschte an ihr vorbei und murmelte vor sich hin. »Dass diese Weiber nie pünktlich sein können! Besonders die Professionellen!«
Sie verkniff sich ein amüsiertes Grinsen, weil der junge Mann anscheinend gar nicht bemerkte, welchen Titel er seinem Braut-Model da eben verliehen hatte. Eine »Professionelle« hatte ja eigentlich einen ganz anderen Tätigkeitsbereich. Die Models hasteten an ihr vorbei, Absätze klapperten auf dem Betonboden. Lara ließ den Fotoapparat noch ein paarmal klicken. Nicht alle der Mädchen waren so klapperdürr, wie sie es erwartet hatte. Manche von ihnen sahen aus, als würden sie tatsächlich ab und zu etwas essen. Aber die Rootdesign-Absolventen konnten sich keine hauptberuflichen Models leisten, schließlich waren sie Studenten, und die Vorbereitung der Abschlusspräsentationen, die benötigten Stoffe, die Näherei und das Zubehör hatten sie schon eine Menge Geld gekostet. Also halfen sie sich gegenseitig. Studentinnen oder Freundinnen führten die Kreationen vor. Das Geschnatter entfernte sich, und als habe jemand plötzlich an einem Regler gedreht, wurde es still im Raum. Erst jetzt fiel Lara auf, was für eine Lautstärke vorher geherrscht hatte. Sie rutschte ein bisschen nach links unter den Heizpilz, dann blätterte sie die Seite mit den hastig hingeschmierten Notizen um und studierte noch einmal die Hintergrundinformationen, die sie recherchiert hatte.
Drei Kollektionen hatte Lara Birkenfeld in den letzten Tagen schon gesehen und ihre Verblüffung über die Fantasie der jungen Designer und die Gestaltung ihrer Entwürfe war von Mal zu Mal gewachsen. Sogar tragbare Modelle waren dabei gewesen, obwohl es hier nicht primär um Kommerz, sondern um Kreativität und Handwerk ging.
Krähennest nannte sich »Tor B. Hoff« und war der heimliche Star unter den Absolventen. In Wirklichkeit hieß er Torben Hoffmann. Aber das war ihm wohl zu profan erschienen, und so hatte er sich einen Künstlernamen zugelegt.
Die anderen Absolventen, zwei junge Frauen und ein Mann, waren bei weitem nicht so theatralisch wie er gewesen, obwohl man auch ihnen die Aufregung deutlich angemerkt hatte. Lara lächelte und malte einen Smiley auf ihr Blatt. Aber »Tor B. Hoff« war anders. Sie hatte seine Kollektion vorab gesehen. Und der Junge hatte Talent, Affektiertheit hin oder her. Lara sah auf die Uhr.
Noch zwei Stunden bis zum Beginn der Show. Sie konnte noch einmal nach draußen gehen und etwas frische Luft schnappen.
Das stillgelegte Fabrikgebäude und die glitzernde Modewelt bildeten einen Anachronismus, wie er größer nicht sein konnte. Aber wahrscheinlich machte gerade das den Reiz aus: der Gegensatz von unverputztem Mauerwerk, rostigen Stahlträgern und Dreck auf der einen und seidenweichen Stoffen, überschminkten Models und Glamour auf der anderen Seite.