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Ein Landschulheim mitten im Wald, eine tödliche Mutprobe und ein Mörder, der einer ganzen Klasse auf Schritt und Tritt folgt … Eine Woche Exkursion ins Nirgendwo – auf so eine Idee können auch nur verschrobene Biolehrer kommen, finden Lena und ihre beste Freundin Anne. Rund um ihr Landschulheim gibt es nichts als hohe Bäume und dichtes Unterholz. Zumindest eignet sich dieser Ort bestens für nächtliche Mutproben, und gleich am ersten Abend fordern die Jungs Lena und ihre Freundinnen dazu heraus, mit ihnen im Wald zu übernachten. Alles läuft bestens, bis Anne mitten in der Nach von einer vermummten Gestalt angegriffen wird. Sie kann fliehen – aber am nächsten Tag wird eines der Mädchen aus der Gruppe tot im Wald aufgefunden. Erdrosselt! Völlig traumatisiert bricht die Klasse den Ausflug ab – doch der Mörder muss ihnen nach Hause gefolgt sein und lauert schon auf sein nächstes Opfer …
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Seitenzahl: 348
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Claudia Puhlfürst
Fürchte die Nacht
ISBN eBook: 978-3-649-62362-5
© 2017 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,
Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise
Text: Claudia Puhlfürst
Lektorat: Sara Mehring
Das Buch (Hardcover) erscheint unter der ISBN 978-3-649-67127-5
www.coppenrath.de
Hilfe!
Anne konnte das verängstigte kleine Mädchen schreien hören.
Das verängstigte kleine Mädchen war sie selbst.
Die Arme gerade ausgestreckt, setzte sie einen Fuß vor den anderen und unterdrückte dabei das Zittern, das ihr durch den Körper fahren wollte. Vorhin hatte noch der Mond geschienen, jetzt hingegen war es stockfinster. Ein stachliger Zweig schlug in ihr Gesicht und ein Schluchzen entschlüpfte ihrer Kehle. Wäre sie doch bei den anderen auf der Lichtung geblieben!
Aber Luca hatte den Arm um sie gelegt und ihr ins Ohr geflüstert: Lass uns ein paar Schritte gehen. Anne hatte sofort gewusst, dass er sie küssen wollte. Nur eben nicht vor den anderen. Ihr Herz hatte sofort schneller geschlagen – so laut, dass sie geglaubt hatte, er könnte es hören. Wie romantisch! Eine laue Sommernacht bei Mondschein mit dem Jungen, den sie toll fand. Keiner schien Notiz davon zu nehmen, dass sie mit Luca verschwand.
Das hast du nun von deiner Romantik, Dummchen! Jetzt irrst du allein im dunklen Wald umher und Luca ist spurlos verschwunden.
Mit dem Ärmel fuhr sich Anne über Mund und Nase, um die Feuchtigkeit abzuwischen. Dann hielt sie die Luft an und lauschte. Ein paar Meter hinter ihr raschelte es, und sie zog die Schultern noch ein wenig höher, während ihr Blick versuchte, die Schwärze zu durchdringen.
Luca hatte sie nicht nur einmal geküsst. Sein heftiges Atmen, der schwere Körper, der sich gegen sie lehnte, hatten ihr zunehmend Angst eingejagt. Und so hatte sie sich von ihm losgerissen. War davongelaufen. Dorthin, wo sie die Lichtung und die anderen vermutete.
Doch leider war sie anscheinend genau in die andere Richtung gerannt.
Jetzt verfluchte sich Anne für ihre Panik. Sie war doch kein kleines Mädchen mehr, das sich vor einem Zungenkuss fürchtete! Sie zwang sich, langsamer zu gehen, und rang kurz nach Atem. Es hatte sich einfach nicht richtig angefühlt. Zu schnell, zu viel. Was mochte er den anderen jetzt erzählen? Dass sie eine prüde kleine Ziege war? Die Gedanken an Luca verdrängten die Furcht vor der Dunkelheit. Fast jedenfalls.
Anne drehte sich um. Da sie anscheinend bisher tiefer in den Wald gelaufen war, musste sich die Lichtung genau in der entgegengesetzten Richtung befinden. Sieh zu, dass du dich auf den Weg machst, Anne Neugebauer! Ohne Taschenlampe war das nur leider etwas schwierig.
Das Wispern der Blätter setzte für einen Moment aus und in der Stille knackte überlaut ein Zweig. Ziemlich dicht hinter ihr. Anne fuhr zusammen und schlug die Hand vor den Mund, um nicht loszuschreien. Es gab keinen Zweifel, etwas näherte sich ihr. Ein Tier?
Einen bangen Augenblick lang hoffte sie, dass die Geräusche von Luca kamen, der nach ihr suchte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Warum sollte Luca sich anschleichen? Setz dich endlich in Bewegung!, meldete sich die verängstigte Mädchenstimme in ihrem Kopf zurück, aber Annes Füße waren wie festgeklebt, während sie in die Schwärze lauschte.
Wieder knackte ein Ast. Noch näher. Das ist kein Tier!
Jemand ist hinter mir her! Anne presste die Lippen aufeinander, um keinen Laut entschlüpfen zu lassen. Sie durfte nicht noch einmal um Hilfe rufen. Damit würde sie verraten, wo sie war. Lauf!
Jetzt löste sich die Starre und sie tappte los. Irgendwohin, nur weg von hier! Der Mond war inzwischen wieder hinter einer Wolke hervorgekommen und tauchte die Szenerie in ein gespenstisches Zwielicht.
Hastig tastete sich Anne an Stämmen entlang und versuchte dabei, so leise wie möglich zu sein. Das Knacken und Rascheln schien zuzunehmen und sie lief schneller, vergaß jede Vorsicht. Sie kam nicht weit. Ihr rechter Fuß verfing sich in einer Ranke und Anne fiel auf die Knie.
Noch ehe sie sich wieder aufrappeln konnte, nahm sie aus dem Augenwinkel einen Schatten wahr. Eine dunkle Gestalt sprang zwischen den Bäumen hervor, stürzte sich auf sie und drückte sie zu Boden. Und noch ehe Anne ein Laut entfahren konnte, legten sich Finger um ihre Kehle, umklammerten ihren Hals und drückten ihr die Luft ab.
Zwei Stunden zuvor
»Los, da rüber.« Lena strich sich die Haare hinter die Ohren und griff nach Annes Arm, während sie mit der Taschenlampe kurz nach rechts leuchtete, das Licht aber gleich wieder ausschaltete. »Auf dem Weg können wir nicht bleiben. Wir müssen uns verstecken.« Ihre Verfolger würden mit Sicherheit zuerst hier nach ihnen suchen. Widerwillig ließ ihre Freundin sich mitziehen. Kurz darauf blieb sie stehen.
»Reicht das nicht?« Annes Stimme klang ein bisschen genervt. Oder versuchte sie nur, ihre Angst zu überspielen?
»Noch ein paar Meter, komm. Sicher ist sicher. Die dürfen uns nicht entdecken!«
Vorsichtig schritt Lena vorwärts. Sie wollte heute tough sein. Kleine Äste knackten unter ihren Schuhen, trockene Blätter raschelten. Zwischen mehreren Fichten hielt sie an und ließ den Arm ihrer besten Freundin los. »Ganz so weit weg vom Weg möchte ich auch nicht sein. Lass uns hierbleiben. «
»Was glaubst du, wann sie kommen?« Anne tastete nach ihrer Hand und Lena hielt sie fest.
»Zehn, fünfzehn Minuten, schätze ich. Wir können uns ein bisschen ausruhen.« Nebeneinander gingen sie in die Hocke und nahmen auf dem weichen Waldboden Platz, den Blick in Richtung Weg gerichtet. Lena spürte die schorfige Rinde der Fichte in ihrem Rücken. Ein feiner Windhauch brachte den Geruch nach feuchtem Moos und Pilzen mit. Jetzt spürte sie noch mehr, wie sich das Unbehagen in ihr verdichtete. Anne hatte sich ganz nah neben sie gesetzt und Lena schob ihre Hand unter den Arm ihrer Freundin.
Anne atmete tief ein und wieder aus, bevor sie den nächsten Satz hervorstieß. »Wie findest du eigentlich Luca?«
»Ein bisschen zu sehr von sich eingenommen.« Lena wusste genau, warum Anne gefragt hatte. Luca Feldberg war nach den Winterferien neu in ihre Klasse gekommen. Und auch, wenn die anderen es nicht bemerkten, war ihr schon längst aufgefallen, dass ihre Freundin sich für ihn interessierte. Trotzdem wollte sie Anne etwas zappeln lassen. »Warum fragst du?«
»Ich glaube, er steht auf mich.«
Lena grinste in sich hinein. Anne hatte es noch nie an Selbstbewusstsein gefehlt. »Und du?«
»Na ja … ich … ach, scheiß drauf. Ich finde ihn süß.« Anne schnaufte und jetzt musste Lena kichern.
»Ach, das ist mir ja noch gaaar nicht aufgefallen!«
»Oh Gott, merkt man das so?«
»Andere vielleicht nicht, aber ich kenn dich eben, Süße.«
Jetzt sah Anne Lena direkt in die Augen. »Wehe, du verrätst mich!«
»Habe ich das jemals getan?«
»Nein, ich meinte ja nur.«
»Ist schon klar.« Lena schloss die Augen und rief sich ein paar Szenen mit Luca Feldberg in Erinnerung. Er sah gut aus, keine Frage: dunkle Haare, blaue Augen. Und er schien tatsächlich Interesse an Anne zu haben. Sollte er. Zum Glück war er nicht ihr Typ, und selbst wenn, wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, ihrer besten Freundin den Kerl auszuspannen.
»Was ist das?«, flüsterte Anne, berührte Lenas Arm und zeigte dann nach rechts. Ein orangefarbenes Leuchten schimmerte durch die Stämme wie das Licht aus einem Geisterschloss.
»Der Mond.« Lena flüsterte auch. Im nachtdunklen Wald schienen sich alle Geräusche zu verstärken.
»Bist du sicher?«
»Was soll es denn sonst sein?« Sie war froh, dass ihre Freundin in der Dunkelheit nicht bemerkte, dass auch sie mit aufgerissenen Augen die Finsternis fixierte.
»Aber die Farbe! Wie eine Apfelsine. So etwas habe ich noch nie gesehen!«
»Das kommt, glaube ich, weil er gerade erst aufgegangen ist und noch dicht über dem Horizont steht. Hängt irgendwie mit der Dicke der Luftschicht zusammen, die das Licht durchdringen muss. Weißt du nicht mehr …« Lena lehnte sich an Annes Schulter, »das hat Erbi uns erklärt.« Johann Erben war ihr Physiklehrer. Das Wiedergeben nutzlosen Wissens beruhigte Lena immer, wenn sie nervös war.
»Du merkst dir echt alles, alte Streberin.« Trotz des Scherzes hörte sich Anne ein bisschen wie ein furchtsames Kind an. »Es kommt mir vor, als ob wir schon Stunden hier hocken.«
Lena wünschte sich, dass sie ihr Handy eingesteckt hätte. Eigentlich hatte sie es immer dabei. Nur heute Nacht, wo sie es so gut hätten gebrauchen können, hatte sie es im Zimmer der Jugendherberge liegen lassen. Sie konnte die Freundin neben sich atmen hören. Weiter weg raschelte es und dann erklang ein leises Scharren. Ob ihre Verfolger sich womöglich, statt den Weg zu nehmen, von hinten durch den Wald anschlichen?
Mit einem Prusten stieß Anne die Luft aus. »Ich hab langsam echt Schiss.«
»Wir schaffen das schon.« Lena bemühte sich um einen optimistischen Ton, während ihre Finger über das kalte Metall der Taschenlampe wanderten und dabei nach dem Einschaltknopf fühlten. Dass Anne sich fürchtete, konnte sie nur unter vier Augen zugeben und auch nur deshalb, weil sie wusste, dass Lena ihr niemals in den Rücken fallen und ihre Furcht ausplaudern würde.
»Es dauert bestimmt nicht mehr lange. Komm, wir stehen auf, damit wir startklar sind.« Schnell erhob sie sich und wartete, bis Anne es ihr gleichgetan hatte, bevor sie nach den Steinen in ihrer Jackentasche tastete. Mindestens zehn Stück hatte sie auf dem Weg hierher aufgesammelt. Ihre Hand schloss sich um einen der glatten Kiesel. Der Stein fühlte sich warm an. Lena spürte, wie Anne sich straffte, und stupste sie mit dem Ellenbogen in die Seite. »Lass uns jetzt still sein. Sonst merken wir nicht, wenn sie kommen.«
Noch bevor sich das letzte Wort zwischen den herabhängenden Ästen hindurchgeschlängelt hatte, war von Ferne Gemurmel zu hören.
»Das sind sie.« Lena duckte sich unwillkürlich und hielt die Luft an. Geisterhafte Lichtstrahlen zitterten zwischen den Stämmen hindurch. Das Gemurmel verwandelte sich in Stimmen.
»Die müssen doch irgendwo sein!« Tim klang verärgert. Was nichts Ungewöhnliches war. Richtig fröhlich hatte Lena ihn fast noch nie erlebt. »Dass man die Mädels nicht mal zehn Minuten allein lassen kann!«
»Anne! Lena! Wo steckt ihr?« Das war Jacob, Tims bester Freund. Weil er so bleich und dünn war und auf Michael Jackson stand, hatten die anderen ihn »Jacko« getauft.
Lena neigte sich zu Anne und kicherte leise. »Es geht los. Die sind voll mit der Suche nach uns beschäftigt.« Die Lichtkegel der Taschenlampen kamen näher, schwenkten von links nach rechts, verharrten am Wegrand.
»Hier ist was!« Kurze Stille, dann trafen sich die Lichtstrahlen alle an einer Stelle.
»Luca hat mein Tuch gefunden. Hoffentlich nehmen die uns das nicht übel.« Anne flüsterte kaum hörbar, um sich nicht zu verraten.
»Du meinst wohl, hoffentlich nimmt er dir das nicht übel!« Lena, die genauso leise gesprochen hatte, unterdrückte das Kichern, das in ihr aufstieg. »Die hatten doch das Gleiche mit uns vor. Starten wir den Angriff!« Sie zog den ersten Stein aus der Tasche und warf ihn in Richtung Weg, wo er mit einem lauten Plumpsen aufprallte.
»Was war das? Habt ihr das auch gehört?« Jacobs sonst so betont gelangweilte Stimme geriet etwas ins Schwanken. Noch ehe die anderen beiden ihm antworten konnten, schleuderte Anne ebenfalls einen Stein. Er landete im Gestrüpp neben dem Weg.
»Da! Wieder!« Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Jacko hatte Angst.
»Ist bestimmt nur irgendein Vieh!« Auch Tim hatte seine ewige Coolness verloren. Lena warf zwei Steine auf einmal.
»Scheiße, Mann. Was, wenn es Wildschweine sind? Die können einen Menschen mit ihren Hauern zerfetzen, hab ich gehört.« Luca hatte sich ins Gespräch eingeschaltet. »Mit den Viechern ist nicht zu spaßen! Außerdem können die auch noch schneller rennen als ein Leichtathlet! Lasst uns bloß abhauen! «
Fast taten Lena die Jungs leid. Aber nur fast. Sie zupfte Anne am Ärmel, und beide traten einen Schritt nach vorn, wobei sie sich bemühten, richtig Lärm zu machen. Als Anne anfing, Grunzgeräusche von sich zu geben, hätte Lena beinahe laut losgelacht. Gleich darauf ertönte ein entsetzter Aufschrei und etwas fiel klirrend zu Boden.
Als Anne erneut grunzte, konnte Lena sich nicht mehr halten und prustete los.
»Was zum … Lena? Seid ihr das?«
Jetzt kicherte auch Anne. Zwei Lichtkegel schwenkten synchron herüber, trafen auf ihre Beine und glitten schnell nach oben.
»Ich werd verrückt, die Mädels!« Luca kam näher.
»Wir dachten, wir drehen den Spieß einfach um.« Dass sie selbst Angst gehabt hatten, würde Lena den Jungs bestimmt nicht auf die Nase binden. »Ihr hattet ganz schön Schiss, gebt es zu.«
»Ich nicht. Konnte mir schon so was denken.« Tim hatte wieder seinen üblichen mürrischen Tonfall aufgesetzt. Er wandte sich ab und murmelte an Jacob gewandt: »Komm, lass uns zurückgehen. Die anderen warten bestimmt schon.«
»Na, dann.« Lena beobachtete, wie Luca auf Anne zuging und ihr den Arm um die Schultern legte. Er hatte seine Fassung wiedergefunden. Und sie war anscheinend nicht mehr existent. Im Schein seiner Taschenlampe sah sie den seligen Ausdruck in Annes Gesicht und verkniff sich ein Grinsen. Ihre Freundin war echt verknallt in den Kerl.
*
»Wo wart ihr so lange?« Michelle legte den Kopf schief und schob ihre Lippen nach vorn. Mondschein erhellte die Lichtung, und so sah Lena, dass ihr Mund wie lackiert glänzte. Anscheinend hatte Michelle frischen Lipgloss aufgelegt. Im Dunkeln! Das sah der Klassenbarbie ähnlich!
»Wir haben uns versteckt und die Jungs ein bisschen erschreckt …« Lena blickte nach oben. Der Mond hatte seine tieforange Farbe eingebüßt und leuchtete nun gelb. Auch schien er kleiner zu sein als vorhin. Hier draußen im Wald sah man viel mehr Sterne als bei ihnen daheim in Feldstatt. »… obwohl die ja genau das mit uns vorhatten.«
»Cool.« Michelle verzog ihre Entenschnute zu einem Lächeln und Lena nahm neben ihr Platz.
Sie war gleich misstrauisch geworden, als Tim und Jacob nach dem Abendbrot verkündet hatten, dass sie im Schullandheim bleiben würden, weil sie keinen Bock auf einen nächtlichen Ausflug hatten. Die zwei Unzertrennlichen waren sonst die Ersten, die bei etwas Verbotenem mitmachten. Und eine Nachtwanderung gehörte eindeutig dazu. Wenn Tim und Jacko sich diesem Ausflug also verweigerten, planten sie etwas.
Sie alle hatten vor der Klassenfahrt eine Belehrung unterschrieben: kein Alkohol, kein unerlaubtes Entfernen von der Gruppe. Schon gar nicht mitten in der Nacht.
Als Luca und Yannick dann vorhin vorgeschlagen hatten, dass alle als Mutprobe ein Stück des Wegs ohne die anderen zurücklegen sollten, war ihr klar gewesen, was dahintersteckte. Tim und Jacko warteten sicher schon in einem Versteck, um die Mädchen gehörig zu erschrecken. Auf dem Weg in den Wald hatte sie Anne vorgeschlagen, den Jungs einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Inzwischen waren auch Luca und Anne eingetroffen und setzten sich neben die anderen in den Kreis. Lena dachte kurz darüber nach, ob die beiden irgendwo heimlich geknutscht hatten, entschied aber, dass es dafür wohl noch zu früh war. Wahrscheinlich waren sie nur langsamer gelaufen. Sie sah, wie Julia, die etwas abseits von den anderen saß, Luca und Anne fixierte. Im Zwielicht wirkte ihr Gesicht maskenhaft, der Blick starr. Wie immer eigentlich. Julia, die Sonderbare.
Lena blickte in die Runde. Sie waren schon eine außergewöhnliche Truppe: zwei schlaksige Typen, die T-Shirts mit schrägen Prints bevorzugten und so taten, als ob sie an nichts Gefallen fanden, eine Barbie, die sich für Germanys Next Topmodel hielt, dazu Luca, der Schönling, und Julia, die nie ein Wort sagte. Anne und sie wurden seit Jahren nur Schneeweißchen und Rosenrot genannt – wahrscheinlich wegen ihrer unterschiedlichen Mähnen, Anne hatte auffallend rotblonde Haare, sie dagegen sehr dunkle, die so gar nicht zu ihrer blassen Haut passten.
Nur Yannick, Miriam und Paul hatten keine offensichtlichen Macken – außer dass alle Paul Muthmann »Goncalves« nannten, weil er Gitarre spielte und die gleiche Schmachtfrisur wie der australische Justin-Bieber-Verschnitt trug. Obwohl der echte Goncalves seinen Nachnamen inzwischen in »Adams« geändert hatte, war der Spitzname an Paul kleben geblieben. Ganz genau wie »Schneeweißchen« und »Rosenrot« an Anne und ihr.
»Wer anderen eine Grube gräbt …« Michelle ließ ihr affektiertes Kichern hören und wackelte dabei mit dem Zeigefinger. »Habt ihr etwa Angst vor den Mädels gehabt?«
Tim runzelte die Stirn, dann begann er, in seinem Rucksack zu kramen.
»Unsere Mädchen sind eben keine Angsthasen.« Luca tätschelte Annes Schulter. Der stand anscheinend tatsächlich auf sie. Lena stellte sich vor, wie sich die beiden küssten, und spürte Neid in sich aufflammen. Hoffentlich entwickelte sich das Ganze nicht zu einer Sache, bei der Anne nur noch Augen für Luca hatte. Ohne ihre beste Freundin wäre sie aufgeschmissen. Andererseits gönnte sie ihr die Verliebtheit.
Tim zog eine grüne Flasche hervor. »Ich geb ’ne Runde aus, Leute!«
»Was ist das?« Michelle, die sich aufgerichtet hatte, blinzelte. Anscheinend hatte sie ihre Kontaktlinsen nicht drin. Eine Brille kam wegen ihrer Eitelkeit nicht infrage.
»Wein.« Jacob reichte Tim ein Taschenmesser und der öffnete die Flasche. »Haut rein. Hab noch zwei.«
Luca beugte sich nach vorn, griff zu und setzte die Flasche an. »Danke, Mann.« Er reichte die Flasche an Anne weiter, die sie skeptisch betrachtete, und setzte hinzu: »Probier mal. Schmeckt echt lecker.«
Anne nahm einen Schluck, und Lena sah, wie sie das Gesicht verzog. Ihre Freundin trank sonst nie Alkohol. Das eben hatte sie nur Luca zuliebe getan.
Die Flasche wanderte im Kreis herum. Yannick hatte sich die eingeschaltete Taschenlampe in den Mund geschoben und machte Geräusche, die er für gruselig hielt. Was für ein Kindskopf! Sein von innen rötlich erleuchtetes Mondgesicht verlieh ihm das Aussehen eines Halloween-Kürbisses mit Igelschnitt.
Im Wald hinter ihnen rief ein Nachtvogel, aber Lena spürte keine Furcht. Mochten die Bäume unheimlich rauschen, Käuzchen schreien oder etwas hinter ihr rascheln. Zehn Leute saßen im Kreis, es konnte nichts passieren.
Sie hatten sich gegen ein Lagerfeuer entschieden, was Lena schade fand. Aber die Jungs hatten mit ihrem Argument, dass womöglich jemandem der Lichtschein auffallen könnte, recht. Trotzdem war ihr nicht kalt. Der Wein wärmte ihren Bauch.
»Ich muss mal. Kommst du mit?« Anne hatte sich aus Lucas Arm gelöst und zu ihr herübergebeugt.
»Na klar, Süße.« Lena richtete die Taschenlampe auf den Waldrand und sie zogen los. Nachdem sie sich außer Hörweite befanden, legte sie los. »Luca steht auf jeden Fall auf dich.«
»Ist dir wohl aufgefallen?« Anne kicherte.
»Das ist nicht zu übersehen. Habt ihr euch vorhin auf dem Rückweg geküsst?«
»Noch nicht.« Anne blieb stehen. »Mach das Licht aus. Ich möchte keine öffentliche Strip-Show abliefern.«
Lena gehorchte und versuchte, das leise Plätschern auszublenden.
Auf dem Rückweg spekulierte Anne darüber, ob es auffallen würde, wenn sie sich morgen beim Ausflug zum Hochmoor mit Luca absonderte. Lena bezweifelte, dass die Lehrer dies nicht bemerken würden, nickte jedoch zu den Plänen ihrer Freundin.
»Prost, Leute!« Neben Tim stand eine leere Flasche, die zweite machte bereits die Runde. »Lasst es euch schmecken, wir haben genug. Jacko hat auch noch Likör.«
Seit wann waren die beiden denn so sozial, dass sie für alle Wein und Likör spendierten? Planten sie etwas, bei dem die Meute betrunken sein musste? Dann würden sie sich wahrscheinlich selbst mit dem Trinken zurückhalten. Aber Tim hatte die Flasche schon wieder am Hals. Lena entschied, dass es ihr egal war.
»Was haltet ihr davon, wenn wir hier die Nacht durchmachen?« Tim sah in die Runde. Seine Augen glänzten. »Das wäre doch geil.«
»Und wenn Bücherfresser und Agathe was merken?« Yannick nannte ihren Klassenlehrer Herrn Büchner immer »Bücherfresser« und »Agathe« war der von allen verwendete Spitzname für ihre Sportlehrerin Christine Fuchs-Riedel. »Die machen doch einen Riesenaufstand und dann fahren wir sofort zurück.«
»Sei kein Weichei, Yann. Was sollen die schon mitkriegen? Die schlafen tief und fest, und wir sind zurück, ehe sie aufstehen. Na?« Triumphierend musterte Tim seinen Mitschüler. Das mit dem Weichei konnte Yannick natürlich nicht auf sich sitzen lassen.
»Ist doch ’ne coole Idee, Leute.« Michelle musste auch ihren Senf dazugeben. Schlugen die Jungs etwas vor, fand sie es fast immer »cool«. Julia, die zwar schon ordentlich mitgetrunken, aber noch kein einziges Wort gesagt hatte, runzelte die Stirn. Wozu war sie überhaupt mitgekommen, wenn sie sich nicht an den Gesprächen beteiligte? Die Mutprobe hatte sie vorhin auch abgelehnt. Andererseits benahm sich Julia Dengler immer komisch.
»Dann sind wir uns einig?« Jacob wartete, bis alle genickt hatten, und klatschte sich dann mit Tim ab. Jetzt war Lena überzeugt: Die zwei führten etwas im Schilde. Sie rieb sich die Augen und beschloss, sich ein paar Meter entfernt von den anderen ein Plätzchen zu suchen, wo sie sich an einem Stamm anlehnen konnte.
Angekommen, ließ sie sich nieder und betrachtete, in ihre Jacke eingehüllt, die anderen. Jacob hob gerade die angekündigte Likörflasche hoch und prostete in die Runde. Paul, der neben ihm saß, schüttelte den Kopf und erhob sich.
Die Müdigkeit kroch in Lena nach oben wie eine graue Wolke, der Wein kreiste in ihrem Blut. Betrunken war sie nicht, höchstens leicht beschwipst. Links von ihr flüsterten Luca und Anne. Lena schloss die Augen, und die Stimmen entfernten sich, wurden zu einem diffusen Gemurmel, verwoben sich schließlich zu einem Geräuschteppich, der wie ferne Brandung in ihren Ohren rauschte und dabei leiser wurde.
Der fahle Mondschein verlieh dem Ganzen eine besonders unheimliche Stimmung. Das Monster trug eine Maske aus Leder mit Augenschlitzen und grunzte, während es durch den Wald stampfte. Dies hier war nicht seine erste Verfolgungsjagd und die hübsche Kleine, die er sich eben geschnappt hatte, nicht sein erstes Opfer. Es lief immer gleich ab: Wenn er Lust auf Frischfleisch hatte, holte er seine Maskerade hervor und legte sie an. Dann zog er los. Immer nachts, immer bei Mondschein. In dieser gottverlassenen Gegend gab es nicht viele Orte, aber ab und an verirrte sich doch jemand in sein Revier. Besonders im Sommer. Liebespärchen zum Beispiel. Meist musste er zuerst den dazugehörigen Kerl loswerden oder verjagen, um sich dann ungestört seiner Freundin widmen zu können. Aber das erhöhte den Reiz nur. Er liebte es, wenn die Mädchen unter ihm zappelten und sich wehrten; wenn sie versuchten zu schreien, wenn sich seine Hände immer fester um den weichen zarten Hals schlossen. Das Beste war, wenn ihr Widerstand erlahmte, das Leben aus ihnen wich.
Luca lächelte.
Dann trampelte er auf der Stelle und gab knurrende Geräusche dazu ab. Lautes Kreischen durchdrang den Wald. Die Mädels waren so leicht zu erschrecken! Er strich sich die Haare glatt, trat aus dem Dunkeln und klatschte dabei theatralisch Beifall. Wenn Tim eines konnte, dann Horrorgeschichten erzählen. Er und Jacob zogen sich ständig irgendwelches Horror-, Splatter- oder Zombiezeug rein.
Als Luca sich wieder in den Kreis setzte, knuffte Jacko ihn in die Seite und musterte ihn mit glasigem Blick.
»Mann, das hat ja voll gepasst. Tim hat gerade den Horrorfilm erzählt, den wir uns letzte Woche reingezogen haben. Echt geil. Man könnte glauben, er hat das alles selbst erlebt.« Jacob nickte zu seinen Worten und griff nach einer halb vollen Flasche. Das Gesicht des Klassenkameraden wirkte im Halbdunkel noch bleicher als sonst. Neben ihm lagen drei leere Flaschen im Gras. Die hatten ganz schön zugelangt, während er weg gewesen war. Luca sah Tim geschmeichelt grinsen. Es gab also doch Dinge, die ihn zum Lachen brachten. Abartige zwar, aber immerhin.
»Hier, willste einen Schluck?« Jacob hielt ihm den Likör hin, aber Luca schüttelte den Kopf.
»Wo hast du denn Anne gelassen?« Michelle schob ihre Lippen nach vorn, nachdem sie geredet hatte, und Luca dachte zum wiederholten Mal, dass sie eine aufgeblasene Ziege war.
»Wie meinst du das? Ich dachte, sie wäre hier.« Fragend sah er in die Runde.
»Aber sie ist doch vorhin mit dir losgezogen!« Miriams Stimme klang ungewohnt schrill.
»Was hast du mit ihr gemacht, Mann?« Tim grinste ihn verschwörerisch an, und Luca wollte gar nicht wissen, welcher Horrorfilm gerade in seiner Fantasie abging.
»Wir dachten, du willst ein bisschen mit ihr allein sein, stattdessen schleichst du dich an und erschreckst die Mädels. War’s mit Rosenrot zu langweilig?«
»Red keinen Scheiß.« Luca spürte Zorn in sich hochsteigen. Tim Stepanski war ein blöder Schwätzer. »Ich habe sie irgendwie verloren.« Die ganze Wahrheit würde er denen hier keinesfalls auf die Nase binden. »Ich dachte, sie ist allein zurückgelaufen. «
»Na, hier ist sie jedenfalls nicht angekommen.« Jacob, der schon ein wenig verschliffen sprach, nahm einen weiteren Schluck. Luca kniff die Augen zusammen. »Julia ist auch weg!«
»Die kotzt dahinten in die Büsche.« Wenn Tim grinste, sah man seine spitzen Eckzähne. »Paul schaut gerade nach ihr. Hat wohl den Likör nicht vertragen.«
»Und Lena?«
»Schneeweißchen schläft da drüben.« Michelle zeigte hinter sich in die Dunkelheit.
»Was müsst ihr auch so viel saufen!« Yannick, der bisher geschwiegen hatte, stand auf. »Los, suchen wir Anne. Vielleicht hat sie sich verlaufen.«
»Hast recht.« Luca erhob sich wieder und stieß Tim mit dem Fuß an. »Komm mit. Jacko bleibt hier, schlage ich vor. Der ist so voll, dass er sich eh nicht mehr zurechtfindet.«
»Klar finde ich mich zurecht, Blödmann!« Jacob wollte sich erheben und fiel rücklings auf den Boden.
»Das sieht man.«
Tim schien wenig Lust auf eine Suchaktion zu haben. »Was machst du denn für ’nen Aufstand. Ruf sie doch einfach an. Ich lauf doch jetzt nicht durch den Wald.«
Luca seufzte genervt und hielt Tim sein Handy unter die Nase. »Hast du vielleicht Empfang? Das kannst du voll vergessen. Wir sind hier im Nirgendwo!«
Tim grunzte missmutig, schien dann aber einzusehen, dass Luca recht hatte. Mühsam erhob er sich und klopfte Jacko auf die Schulter. »Pass auf die Mädels auf, während wir weg sind. Nicht dass das Monster hierherkommt und sich die kleine Michelle schnappt.« Er lachte laut, als Michelle ein erschrecktes Quieken von sich gab.
»Dann kommt.« Luca hielt sein Handy vor sich und zu dritt marschierten sie los.
»Los, leuchte mal mit dem Handy! Hier ist es finster wie im Bärenarsch!« Tim stieß Luca an und der befolgte den Befehl.
»Wo hast du Anne denn zuletzt gesehen?« Yannick schien über Tims drastischen Ausdruck zu grinsen.
»Irgendwo dahinten, links vom Weg.« Luca leuchtete in Richtung der Sträucher. »Wir hätten die Taschenlampen mitnehmen sollen.«
»Hätte, hätte, Fahrradkette.« Tim klang irgendwie wütend. »Du hast vorhin gesagt, du hast Anne ›irgendwie verloren‹. Weswegen eigentlich?«
»Wir haben rumgeknutscht. Das hat ihr plötzlich nicht mehr gepasst, sie hat sich losgerissen und ist weggerannt.«
»Weiber!« Jetzt prustete Tim verächtlich und scharrte mit dem rechten Schuh Laub beiseite. »Hast du nicht gesagt, die steht auf dich?«
»Glaub schon. Jedenfalls dachte ich, sie findet den Weg zur Lichtung allein, aber anscheinend ist sie in die falsche Richtung gelaufen.« Hinter Luca knackte ein Zweig und er fuhr zusammen.
»Wenn Bücherfresser spitzkriegt, was hier abgegangen ist, gibt’s Ärger.«
»Sei kein Mädchen, Yannick. Wir sollten machen, dass wir Anne finden, zurück zu den anderen gehen und ihnen einimpfen, dass sie den Mund halten sollen.« Tim stieß Luca erneut an und der setzte sich in Bewegung.
»Anne!« Überlaut hallte der Name zwischen den Bäumen. Wie eine fahle Bühnenbeleuchtung tauchte der Mond, der zwischen zwei Wolken hervorgekommen war, das Ganze in ein gespenstisches Licht. Die Tiere des Waldes waren verstummt, als fürchteten sie das, was gleich geschehen würde.
»ANNE! Wo steckst du?« Luca und Yannick wechselten sich mit dem Rufen ab, während Tim missmutig schwieg, ihnen aber wenigstens folgte.
»Und wenn ihr etwas passiert ist?« Jetzt hörte sich Yannick ängstlich an.
»Was bitte soll das denn sein?« Tim schnaufte abschätzig.
»Hast du nicht selbst vorhin von diesem Monster erzählt?«
»Das war ein Film, Alter!«
»Und woher nehmen die Filmemacher ihre Ideen? Aus der Wirklichkeit!«
»Jetzt halt doch mal die Klappe!« Luca ließ den Lichtstrahl von links nach rechts gleiten.
»Ihr wisst doch selbst, dass es tatsächlich Leute gibt, die nachts auf der Suche nach Opfern umherstreifen, sie vergewaltigen, foltern oder töten.« Yannick gab nicht auf.
»Aber doch nicht in dieser gottverlassenen Gegend!« Noch einmal schnaufte Tim. »Was für ein Bullshit, Mann.«
Luca wurde langsam wütend. »Es reicht, wenn sie gestolpert und hingefallen ist und sich verletzt hat. Vielleicht hat sie sich etwas gebrochen oder ist durch den Sturz ohnmächtig geworden.«
»Habt ihr die Story gehört, wo Wildschweine eine ohnmächtige Frau am Waldrand angefressen haben, während ihr Mann Hilfe holen war?« Tim war schon wieder in seinem Element.
»Erstens hast du das schon zweimal erzählt und zweitens ist so etwas total unwahrscheinlich. Hör auf mit dem Scheiß, Tim. Wir müssen Anne finden, und zwar bald.« Luca schaltete das Licht wieder ein und marschierte los, ohne sich umzudrehen, während er Annes Namen rief. Yannick fiel ein und jetzt machte sogar Tim mit.
Wenige Sekunden später blieb Yannick stehen und hielt den Finger an die Lippen. »Seid mal still. Hört ihr das auch?«
Das leise Rufen kam schnell näher. »Luca? Tim?« Die furchtsame Mädchenstimme klang kindlich. »Seid ihr das? Wo steckt ihr?«
»Anne? Hier herüber!« Und zu sich selbst gewandt murmelte Yannick: »Zum Glück. Wir haben sie.«
»Jungs! Wo ist Anne?« Lena stoppte und strich sich die Haare hinter die Ohren. Jetzt hörte sie ihr eigenes Schnaufen noch lauter.
»Du bist es?« Yannick runzelte die Stirn.
»Wer denn sonst?«
»Wir dachten, es ist Anne. Verdammte Scheiße!« Luca schlug die Faust in die linke Handfläche. »Wo kommst du denn auf einmal her?«
»Ich war am Waldrand eingeschlafen. Der Wein …« Lena schüttelte den Kopf. In ihren Ohren rauschte das Blut. »Dann habe ich das Rufen gehört und bin aufgewacht. Mir war gleich klar, dass etwas passiert sein musste, und ich bin euren Stimmen nachgegangen.« Sie schniefte. »Was ist denn mit Anne?«
Während Luca ihr erklärte, was in der letzten halben Stunde passiert war, spürte Lena, wie die Furcht wie ein großer dunkler Nebel in ihr nach oben kroch, den Brustkorb hinauf bis zum Hals. Ihr Mund fühlte sich trocken an, und ihr Herz pochte heftig, während sie den Gedanken daran, dass ihrer besten Freundin etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte, ganz schnell wieder zu verdrängen versuchte.
»Wahrscheinlich hat sie sich bloß verlaufen.« Tim klang gar nicht mehr so cool wie sonst. »Wir sollten weitersuchen.«
Von ferne raschelte es und wie auf ein Zeichen hin schwiegen alle und lauschten. Das Rascheln verstärkte sich, wurde zu einem Trappeln, das schnell näher kam. Noch ehe Lena realisiert hatte, dass das Begleitgeräusch ein Schluchzen war, hatte Luca auch schon die hell leuchtende Taschenlampe seines Handys in die entsprechende Richtung gedreht und strahlte die sich nähernde Gestalt an.
Blonde lange Haare flogen im Takt der Schritte wirr um ein schmales Gesicht. Mit der verlaufenden Schminke um die Augen sah Anne wie ein Zombie aus. Sie stolperte die letzten Meter und fiel Lena in die Arme, wobei sie laut aufheulte. Lena drückte ihre Freundin fest an sich und hatte Mühe, vor Erleichterung nicht auch zu schluchzen.
»Boah, Anne, du hast uns vielleicht einen Schrecken eingejagt! « Yannick war sichtlich erleichtert. »Hast du dich verlaufen? «
Anne, die in Lenas Armen noch immer zitterte, schüttelte nur den Kopf.
Lena schluckte und strich der Freundin über die Wange, die daraufhin noch einmal aufschluchzte, jedoch allmählich ruhiger zu werden schien.
»Schön, dass du dich endlich blicken lässt.« Tim hatte seinen schnoddrigen Tonfall wiedergefunden.
»Alles klar bei dir?« Luca war näher gekommen und streichelte Annes Schulter. »Warum bist du vorhin weggerannt?«
»Weiß nicht.« Gepresst kamen die Worte hervor. Dann löste die Freundin endlich das Gesicht von Lenas Schulter und sah sie an. »Ich wollte zurück zu den anderen.«
Lena hatte eine Ahnung, warum Anne vor Luca weggelaufen war, beschloss aber zu schweigen. Sie konnten morgen darüber reden. Hauptsache, ihre Freundin war wieder wohlbehalten da.
»Was hast du da?« Luca neigte seinen Kopf nach vorn, und jetzt schien es Anne wieder einzufallen, warum sie so aufgelöst war. Sie legte beide Handflächen an den Halsausschnitt, und Lena sah, wie ihr Gesicht dabei einen entsetzten Ausdruck annahm.
»Jemand hat mich im Finstern angefallen und gewürgt!« Nun schluchzte die Freundin wieder.
»Quatsch!« Luca richtete das Licht auf Annes Hals und in Lenas Bauch begann es zu rumoren. Yannick und Tim reckten die Hälse. »Sieht irgendwie rot aus. Wie ist das denn passiert? «
Lenas Entsetzen verwandelte sich in Zorn. »Lasst sie erst mal zur Ruhe kommen! Und blende doch nicht so mit dem Licht, Yannick!« Sie fuhr mit den Fingerspitzen über die weiche Haut ihrer Freundin und befühlte die gerötete Stelle. Wie von selbst schlang sich dann ihr Arm um Annes Hüfte und zu ihr gewandt fügte sie hinzu: »Erzähl mal der Reihe nach, was passiert ist.«
Unter Schluchzen und Schniefen berichtete die Freundin, dass sie durch den Wald hatte zur Lichtung zurücklaufen wollen, als sich jemand angeschlichen und sie ohne ein Wort angefallen habe. »Er hat mich am Hals gepackt und zugedrückt! Ich hatte solche Angst!« Anne fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase. »Hat jemand ein Taschentuch?«
Lena kramte in ihrer Hosentasche und zog ihre Freundin dann wieder an sich.
»Echt krass, Mann!« Tim schien verblüfft zu sein und gleichzeitig glänzten seine Augen fasziniert. Seine Horrorfantasien hatten sich in Realität verwandelt.
Auf Lucas Stirn war hingegen eine steile Sorgenfalte zu erkennen. »Kannst du den Typen beschreiben?«
»Nein. Nur, dass es eine dunkle Gestalt war, wahrscheinlich mit Kapuze. Mehr habe ich nicht gesehen. Es war finster.«
»Er muss von dir abgelassen haben, als er unsere Stimmen gehört hat. Ein Glück, dass wir gleich losgezogen sind, um dich zu suchen.«
»Der Würger aus dem Hochmoor! Unglaublich! Meint ihr, der streift jetzt noch hier herum?« Tim schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich stellte er sich gerade vor, wie er seinem Kumpel Jacko davon berichten würde.
»Das ist nicht lustig. Ihr jagt Anne noch mehr Angst ein.«
Und mir auch.
Lena setzte einen strafenden Blick auf. »Lasst uns zu den anderen zurückgehen. Anne ist voll fertig.«
Luca richtete den Lichtschein auf den Weg und auch Yannick wandte sich zum Gehen.
»Genau. Und dann nichts wie ab ins Schullandheim. Agathe und Bücherfresser brauchen nichts davon zu erfahren.« Tim schien plötzlich die Furcht zu plagen, dass er als Anführer des nächtlichen Ausfluges auffliegen könnte und die von ihm angezettelte Sauferei herauskam. Wenn sie sich sofort auf den Weg machten, konnte Jacko bis morgen früh noch ausnüchtern.
Wie spät mochte es überhaupt sein? Lena spürte, wie Anne ihren Arm umklammerte, und streichelte erneut ihre Hüfte. »Alles ist gut, Süße. Wir passen auf dich auf.« Als sich die Bäume lichteten und das Gemurmel der anderen lauter wurde, atmete Lena auf. Sie hatten es geschafft.
»Guten Morgen, die Herrschaften.« Frau Fuchs-Riedel schaute grimmig. Eigentlich wirkte sie nie freundlich, und die tiefen Falten um ihre Mundwinkel zeugten davon, dass sie schon immer eher missvergnügt gewesen sein musste, aber heute schien sie besonders zornig zu sein.
Lena, die hinter Anne den Frühstücksraum betreten hatte, sah Herrn Büchner neben der Sportlehrerin stehen. Ihr Klassenlehrer überragte die Kollegin um mindestens zwanzig Zentimeter. Seine dunklen Haare standen struppig vom Kopf ab, so als hätte er sie sich gerauft. Die braunen Augen schauten betrübt.
»Setzt euch.«
Kein »Bitte«. Frau Fuchs-Riedel deutete mit einer knappen Handbewegung auf die Stühle. »Es gibt etwas zu besprechen. Und zwar noch vor dem Frühstück.« Dabei glitt ihr Blick zuerst zu Tim und Luca und wanderte dann zu Anne.
Schnell ließ sich Lena neben ihre Freundin plumpsen. Die beiden Lehrer mussten irgendwie spitzgekriegt haben, was heute Nacht passiert war. Sie sah, wie Julia Dengler hastig den Kopf senkte und mit ihren abgenagten Fingernägeln die Tischplatte bearbeitete. Oder jemand hatte es ihnen gesteckt. Unter dem Tisch tippte Anne ihr Bein an, und als Lena sie ansah, blinzelte sie zu Julia hinüber. Ihre Freundin hatte also auch bemerkt, dass die Sonderbare ein schlechtes Gewissen zu haben schien.
»Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht?« Herr Büchner sprach leise. Gefährlich leise.
»Wobei?« Tim schob nach dem Wort den Unterkiefer vor und Lena bewunderte seine Kaltschnäuzigkeit.
»Ihr wisst, was wir meinen!« Agathe klang schrill. »Also, stellt euch nicht dümmer, als ihr seid. Eure einzige Chance, aus der Sache herauszukommen, ist es, reinen Tisch zu machen! Und zwar gleich!«
Luca sah kurz herüber und zwinkerte unmerklich. Offenbar wollte er sie aufmuntern. Die Frage war, was Bücherfresser und Agathe tatsächlich wussten. Und was nicht.
Lena wartete, ob einer von den anderen Anstalten machte, etwas zu sagen, doch es hatte nicht den Anschein. In dem Moment, als sie den Mund öffnete, um zu reden, stand Luca auf. »Es tut uns sehr leid, Herr Büchner. Wir möchten uns bei Ihnen und Frau Fuchs-Riedel entschuldigen.« Seine blauen Augen schauten treuherzig.
Clever gemacht. Er sprach für alle, gab nichts Konkretes preis und nahm ihnen den Wind aus den Segeln, indem er sich entschuldigte. Und da er bei den Lehrern beliebt war, würden sie ihm so schnell nichts übel nehmen.
Anne schien das Gleiche zu denken, denn sie stupste erneut Lenas Bein an. Die Freundin schien den nächtlichen Überfall gut verkraftet zu haben. Nach ihrer Rückkehr heute Nacht waren alle erleichtert gewesen, dass Bücherfresser und Agathe schliefen, und schnell in ihren Zimmern verschwunden. Sie beide jedoch hatten nicht schlafen können und das Ereignis wieder und wieder durchgekaut. Doch je mehr Lena nachfragte, desto unsicherer wurde Anne. Weder konnte sie sich erinnern, wie der nächtliche Angreifer ausgesehen hatte, noch woher er gekommen war. Selbst die roten Male an ihrem Hals waren inzwischen verblasst. Fast hätte man meinen können, sie hätte sich den Überfall nur eingebildet und wäre stattdessen in der Finsternis gegen ein Hindernis gelaufen. Je größer der zeitliche Abstand zu dem Geschehen wurde, umso mehr schien sogar ihre Freundin selbst Zweifel an allem zu haben.
Lena schaute kurz zu den beiden Lehrern. Frau Fuchs- Riedel trug nach wie vor ihren erbarmungslosen Gesichtsausdruck zu Schau, Herr Büchner betrachtete Luca, der noch immer stand.
»Da du dich ja anscheinend zum Sprecher ernannt hast …«, Agathe zeigte auf Luca, »erzählst du jetzt bitte noch einmal, was heute Nacht passiert ist.« Der Mund der Sportlehrerin schnappte nach diesem Satz zu. Während Luca schilderte, wie die Gruppe zu der Nachtwanderung aufgebrochen war, ließ Lena ihren Blick in die Runde schweifen. Jacko hatte rote Augen und wälzte ein Bonbon im Mund hin und her. Da er ausnahmsweise mal nicht seine Mütze trug, sah man seine Haare wie dünne Fäden vom Kopf herabhängen. Wenigstens wirkte er einigermaßen nüchtern. Goncalves hatte sich zurückgelehnt und die Arme verschränkt, Michelle und Miriam starrten übertrieben interessiert auf ihre Fingernägel und Julia bearbeitete noch immer die Tischplatte. Was nur hatte die blöde Kuh getrieben, den Lehrern alles zu erzählen? Wollte sie sich einschleimen? Tim und Jacko würden der Verräterin nachher mit Sicherheit die Leviten lesen.
Luca war inzwischen dabei angekommen, wie sie nach Anne gesucht hatten. Er stellte es so dar, als habe sie sich verlaufen, als sie austreten gewesen war; genauso, wie sie es letzte Nacht im Wald mit Anne besprochen hatten.
Julia hatte jetzt ihre Teilnahmslosigkeit abgelegt und schaute herüber. Ihr Blick schien direkt auf Annes Hals gerichtet zu sein. Mit den zusammengekniffenen Augen hatte ihr Gesicht etwas Katzenhaftes. Sie konnte nicht wissen, was Anne zugestoßen war, weil keiner von ihnen es denen auf der Lichtung erzählt hatte, und doch schien sie eine Ahnung zu haben, dass etwas an Lucas Bericht nicht stimmte.
»… und als wir sie gefunden hatten, sind wir gleich zurück.«
Jacob grinste kurz. Luca hatte auch kein Wort über den Alkohol verloren, aber vermutlich konnten sich die Lehrer das eh denken.
»Leute, Leute …« Bücherfresser schüttelte den Kopf. »Stellt euch mal vor, euch wäre etwas passiert. Keiner von uns wäre seines Lebens mehr froh geworden!«
»Herr Büchner und ich haben uns beraten.« Wieder klappte Agathes Mund mit einem hörbaren Geräusch zu. Wie bei einer alten Schnappschildkröte. Einer faltigen alten Schnappschildkröte. Lena sah, wie sich Annes Nase kräuselte, und unterdrückte das aufkommende Kichern. Schnell zog sie die Lippen nach innen. Manchmal dachten sie beide exakt das Gleiche. Ziemlich oft sogar.
Mal sehen, was sich die Lehrer als Strafe ausgedacht hatten.
»Ich war der Meinung, dass die gesamte Klasse sofort nach Feldstatt zurückfahren solle, aber Herr Büchner hat mich überzeugt, dass dies für diejenigen von euch, die sich an die Regeln halten, ungerecht wäre.«
Na klar. Bücherfresser hat dich überzeugt … Lena konnte sich gerade noch ein verächtliches Schnaufen verkneifen. Das mit der sofortigen Abreise war nichts als eine leere Drohung. Schließlich hatten die Eltern Geld für die Fahrt bezahlt, und eine harmlose Nachtwanderung war noch lange kein Anlass, auch die zu bestrafen, die mit der Sache nichts zu tun hatten.
»Deshalb haben wir Folgendes entschieden. Nach dem Frühstück werden wir euch noch einmal schriftlich belehren. Niemand darf die Herberge zwischen 18:00 und 07:00 Uhr verlassen.«
Herr Büchner nickte ernst und Frau Fuchs-Riedel fuhr fort. »Außerdem hat sich auch tagsüber jeder bei einem von uns beiden abzumelden, falls er nach draußen geht.«
»Auch wenn wir nur mal frische Luft schnappen wollen?« Obwohl Miriam sonst in allen Dingen das scheue Reh gab, rauchte sie genau wie Jacko heimlich und schien nun Angst um ihre Zigarettenpausen mit ihm zu haben.
»Keine Ausnahmen, Fräulein. Sonst geht es sofort nach Hause.« Immer wenn Agathe eine von ihnen »Fräulein« nannte, war sie besonders wütend. Und Miriam hatte sie sowieso auf dem Kieker, weil die hübsch, aber unsportlich war. Unsportliche Menschen fielen bei Frau Fuchs-Riedel durchs Raster. Egal, was sie im Kopf hatten, in ihren Augen taugten sie nichts.
»Haben das alle verstanden?« Herr Büchner wartete das einmütige Nicken ab, ehe er fortsetzte. »Dann werden wir jetzt frühstücken und danach geht es zur Exkursion.«
Stühle scharrten. Die Lehrer würden sie heute scheuchen, so viel war sicher. Auf dem Weg zum Frühstücksbüfett hörte Lena, wie Tim Michelle zuflüsterte: »Heute Nacht ziehen wir wieder los. Ich lass mir doch von den beiden Betonköpfen nicht vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe. Kommst du mit?« Er legte den Arm um ihre Hüfte und Michelle kicherte geziert.
»Beeilt euch ein bisschen!« Herr Büchner, der neben Lena und Anne lief, vollführte eine herrische Handbewegung in Richtung Jacob und Miriam. Die beiden hatten sich von der Gruppe abgesetzt und bummelten hinterher. Wahrscheinlich hatten sie sich hinter Bücherfressers Rücken eine Zigarette anstecken wollen, aber der schien den Plan durchschaut zu haben. Anne hakte sich bei Lena unter und sie beschleunigten ihre Schritte.
»Agathe rennt wie immer vorneweg.« Lena zeigte nach oben, wo die anderen gerade eine Steigung erklommen hatten und im Wald verschwanden.
»Das macht sie doch dauernd.« Anne tuschelte, damit Herr Büchner sie nicht hören konnte. Der kam, Jacob und Miriam vor sich hertreibend, schnell näher. »Damit auch jeder sieht, wie gut sie marschieren kann. Und bestimmt will sie sich für letzte Nacht rächen.«
»Ich bin schon gespannt auf die Pflanzen, die wir uns heute vornehmen werden.« Lena spürte, wie Anne sie in die Seite stieß und dabei »Nicht dein Ernst!« zischte, und musste lachen. Gleich darauf schnaufte Bücherfresser an ihnen vorbei, und sie konnte sehen, wie Anne wegen der Bemerkung eben ein Licht aufging.
»Ihr zwei lauft bitte auch ein bisschen schneller.« Der Klassenlehrer atmete schwer. Zwei schöne Aufpasser hatten sie dabei. Lena grinste. Eine alte faltige Schnappschildkröte und eine asthmatische Dampflok.
»Worüber lachst du?« Anne löste sich aus Lenas Arm.
»Erzähl ich dir später. Los, komm.«
Der Wald begrüßte sie mit kühler Luft, die einen feinen Duft nach Tannennadeln und Moos mit sich brachte. Lena fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. Für Mitte Mai herrschte eine ziemliche Hitze.
»Ich denke die ganze Zeit über letzte Nacht nach.« Anne griff wieder nach Lenas Arm.
»Das kann ich mir vorstellen. Hat Luca eigentlich noch irgendetwas zu dir gesagt? Also, ich meine, zu gestern Nacht?«
Natürlich hatten sie letzte Nacht auch darüber gesprochen, aber Anne war ein bisschen einsilbig beim Thema Luca gewesen und Lena hatte sie nicht bedrängen wollen.
»Nicht wirklich. Ich glaub, es ist ihm peinlich. Und mir auch. Eigentlich war es ja schön, ihn zu küssen, aber …« Wieder atmete Anne tief ein, und Lena wusste, was sie als Nächstes erzählen würde.
»Aber dann wurde er auf einmal aufdringlich. Ich weiß nicht … Er hat mich so fest an sich gedrückt und ich hatte irgendwie Schiss.« Die Freundin sprach jetzt leiser, weil sie sich den anderen näherten. »Da habe ich mich losgerissen und bin weggerannt.«
»Gibst du ihm noch eine Chance?« Auch Lena flüsterte jetzt.
»Mal sehn. Ich möchte gern mit ihm darüber reden, weil ich glaube, dass er gar nicht gemerkt hat, wie unangenehm mir das war. Vielleicht hatte er nur ein bisschen viel getrunken.«
Das hieß also ja. Lena betrachtete die blühende Bergwiese. Ein Riesenhaufen unbekannter Pflanzen zum Bestimmen. Was für ein Scheiß. Sie würden den ganzen Tag zu tun haben. Bloß gut, dass Anne dabei war, so konnten sie wenigstens quatschen.
»Ich glaub, ich muss mal. Kommst du mit?«
»Klar.« Anne erhob sich und klopfte sich die Krümel vom Shirt. Vor einer Viertelstunde hatte Herr Büchner verkündet, dass es Zeit für eine Pause sei, und alle hatten sich ein schattiges Plätzchen gesucht und ihre mitgebrachten Brote ausgepackt.
»Wir verschwinden mal kurz.« Lena sah Agathe nicken und folgte ihrer Freundin.
Hinter einem dichten Gesträuch hockte sie sich hin, während Anne stehen blieb und die Umgebung absicherte. Dann tauschten sie. Obwohl Lena das ganze Pflanzenzeug hasste, musste sie sich eingestehen, dass der Ausflug auch etwas Idyllisches hatte. Vögel zwitscherten, Bienen und Hummeln summten über die Lichtung und es roch nach Honig. Sie betrachtete Annes bis zu den Schultern hochgekrempelte Ärmel. Die Freundin nutzte jede Chance, braun zu werden, obwohl sie mit den hellen Haaren eine ziemlich empfindliche Haut hatte. Rosenrot eben. Sie hingegen wurde sowieso nie braun und hatte das Sonnenbaden inzwischen aufgegeben.
»Fertig.« Anne zog die Hose hoch und berührte dann in Gedanken ihren Hals. »Am Tag ist der Wald gar nicht so gruselig.« Nach einigen Schritten fasste sie nach Lenas Arm und flüsterte »Warte!«.
»Was ist denn?«
»Sei still.« Die Freundin, die stehen geblieben war, legte den Finger auf die Lippen. Erst jetzt hörte Lena die Stimmen. Tim und sein Kumpel Jacko.
»Ich denke, Luca hat etwas damit zu tun.«
Lena hielt die Luft an. Tim schien über letzte Nacht zu spekulieren.
»Wahrscheinlich wollte er sie erschrecken und hat es etwas übertrieben. Sie war ja wohl vorher schon hysterisch.«
»Oder Anne hat sich das Ganze nur ausgedacht.« Lena sah, wie das Gesicht der Freundin bei den Worten der beiden Jungs einfror.
»Könnte auch sein. Wollte sich vielleicht ein bisschen wichtigmachen oder Luca dazu bringen, den Beschützer zu spielen, und der Blödmann hat es nicht mitbekommen.« Tim lachte.
Hallo?