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Die zehnjährige Josephine aus Zwickau verschwindet spurlos. Suchaktionen werden gestartet und die verzweifelte Mutter bittet im Fernsehen um Hilfe. Auch die beiden Detektive Norbert Möller und Doreen Graichen beschließen nach dem Kind zu suchen. Als Josephines Mutter einen Brief mit einer Lösegeldforderung erhält, bestätigen sich die schlimmsten Befürchtungen: Ihre Tochter wurde entführt und der Täter meint es ernst. Doch trotz intensivster Ermittlungen, kommen weder die beiden Detektive noch die Polizei dem Entführer auf die Spur - bis Josephines Tagebuch entdeckt wird …
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Seitenzahl: 445
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Claudia Puhlfürst
Eiseskälte
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von photocase.de
ISBN 978-3-8392-3214-9
Fassungslos starrte die Frau auf den Bildschirm. Ihr Gesicht spiegelte sich in der glatten Glasfläche, ohne Einzelheiten wiederzugeben.
Sie saß auf ihrem Sofa, hatte wie immer die Beine hochgelegt und hielt die Fernbedienung wie eine Waffe auf den Fernseher gerichtet. Unruhig zuckten die Finger über die Knöpfe. Die grün schimmernden Zahlen in der linken oberen Bildecke wurden kleiner, als sie die Lautstärke verminderte. Man musste nun genau hinhören, um die Personen noch zu verstehen.
Gerade sprach ein Uniformierter. Das war sicher ein Polizist.
Der Mund redete und redete.
Davon, dass schon seit Stunden Hundertschaften das nahe gelegene Waldstück durchkämmten. Davon, dass Beamte die gesamte Nachbarschaft befragten, davon, dass sich die Polizei sicher war, das Mädchen habe sich nur verlaufen.
Sie würden sie finden.
Bald.
Unverletzt.
Und nun noch einmal zu den bekannten Tatsachen.
Die grün schimmernden Zahlen auf dem Bildschirm erhöhten sich.
Die Frau wollte nun ganz genau zuhören, jedes Wort verstehen. Vielleicht gab es neue Erkenntnisse, Tatsachen, die sie noch nicht kannte, vielleicht hatten die Beamten etwas übersehen, vielleicht fielen auch ihr selbst beim Zuhören noch Dinge ein. Konnte doch sein. Die Erinnerung ist nicht immer abrufbereit, manchmal vergisst man auch wichtige Sachen. Das war alles schon vorgekommen.
Sie tastete nach dem Glas auf dem kleinen runden Tischchen neben der Couch, ohne die Augen vom Fernseher zu nehmen.
Ihr Mund war so furchtbar trocken. Die Zunge fühlte sich wie ein mit Paniermehl bestäubtes Stück totes Fleisch an. Wie ein noch ungebratenes Schnitzel lag sie in der Mundhöhle und konnte sich nicht bewegen. Das Mineralwasser befeuchtete die Schleimhäute nur kurzzeitig und das Prickeln der Kohlensäure schmerzte im Rachen.
»... wurde gestern Nachmittag gegen fünfzehn Uhr zuletzt gesehen«, beendete der Schnauzbart gerade seinen Satz. »Da war sie auf dem Weg zu einer Schulfreundin.« Er zeigte mit einem teleskopähnlichen Stab auf eine Übersichtskarte von Zwickau. Die Kamera zoomte heran. Auf den abgebildeten Straßen war der vermutliche Weg des Kindes mit einer roten Linie eingezeichnet.
»Hier –«, die Spitze des Zeigestabes tippte auf zwei sich kreuzende Wege in einer Gartensiedlung, »– hier wurde sie zuletzt gesehen. Dann verliert sich ihre Spur. Auch das Fahrrad ist bisher nicht gefunden worden.«
Der Beamte hielt inne, leckte sich die Lippen und räusperte sich.
»Ich fasse noch einmal zusammen.« Er wiederholte im Telegrammstil das eben Gesagte.
Die Frau vor dem Bildschirm repetierte im Geiste jedes seiner Worte. Vor ihrem inneren Auge radelte das Mädchen zielstrebig auf dem unebenen Weg entlang, nicht ganz gerade, sehr ernsthaft, und besorgt die Balance halten zu können. Sie solle nicht auf der Straße fahren, hatte ihre Mutter ihr gesagt. Das sei für ein Kind ihres Alters zu gefährlich.
Dann blendeten sie wieder das Foto des Mädchens ein. Sie sah ängstlich aus. Mit seitlich geneigtem Kopf schaute sie in die Kamera. Kein Lächeln zog ihre Mundwinkel nach oben. Die bernsteinfarbenen Augen waren ein wenig verschleiert, nicht trübe, aber auch keine Fenster, durch die man in die Seele hineinblicken konnte. Der zerrupfte Teddy in ihren Armen fühlte sich von der Zange der um ihn geschlungenen Finger erdrückt. Das Kind trug einen selbstgestrickten dunkelroten Pullover, an dessen Ärmelbündchen kleine Knötchen auf häufigen Gebrauch hindeuteten. Es war kein aktuelles Bild, aber in der Eile hatten sie kein besseres gefunden.
Der Sprecher erklärte den Zuschauern, was die Kleine angehabt hatte, als sie verschwand. Sie würden ähnliche Sachen besorgen und den Zuschauern zeigen. Auch das Kinderfahrrad beschrieb er. Auch davon würde man schnellstens ein Foto besorgen.
Und jetzt, so sprach er zu den Zuhörern, jetzt wird sich die Mutter noch einmal an sie wenden und um ihre Mithilfe bitten.
Die Frau im Fernsehen war jung, aber die Haut in ihrem Gesicht hatte eine graue Farbe. Ihre großen rauchblauen Augen blickten in die Ferne, schienen dort aber nichts wahrzunehmen. Sie glänzten stark, als trüge sie Kontaktlinsen. Es konnten auch unterdrückte Tränen sein. Der Mund war ein bisschen geöffnet, die Lippen zitterten ganz leicht.
Auf der Stirn hatten sich quer über den Augenbrauen zwei feine Falten eingekerbt, die noch neu aussahen. Ihre glatten Haare hingen formlos wie dünne Fäden bis auf die Schultern herunter, die blonden Strähnchen spiegelten das Licht der Scheinwerfer nicht wieder.
Andere hätten sie als hübsch bezeichnet. Sie selber hielt sich wohl eher für durchschnittlich. In den Händen knetete sie ein schmutzig aussehendes Taschentuch.
Dann sprach sie.
Ein Appell an die Leute. Man möge ihr helfen. Ihre Tochter sei das Einzige, was sie habe.
Ihre Stimme wurde leiser. Eine Träne löste sich aus dem See ihrer Augen und rann über die Wange. Sie merkte es nicht.
»Bitte geben Sie mir meine Tochter wieder.« Man konnte die Tränen in ihrer Stimme hören, bevor sie aus beiden Augen zu Tal stürzten. Dann wandte sie den Kopf zur Seite und schluchzte schniefend. Schluckauf schüttelte ihren Körper. Die Kamera verweilte noch eine Weile sensationslüstern auf der weinenden Frau und wendete sich dann gnädig ab, um wieder zu den Beamten zurückzukehren.
Die Telefonnummer für zweckdienliche Hinweise wurde eingeblendet. Von einer Belohnung sprach niemand. Vielleicht würde bald eine ausgesetzt, wenn sie nichts fanden. Alle hofften das Beste.
Die Frau vor dem Fernseher hielt die Fernbedienung noch einen Augenblick unschlüssig in der Hand und legte sie dann beiseite. Nahm ihr Glas und stellte es wieder hin. Dann drehte sie im Zeitlupentempo den Kopf hin und her, wie ein Waran auf der Suche nach Nahrung.
Ihre Augen folgten der Bewegung nicht. Blind starrten sie auf die Nachrichtensprecherin im Fernsehen, die zu anderen Meldungen übergegangen war.
Sie hatten den Namen gar nicht noch einmal gesagt, aber die Frau wusste ihn natürlich.
Das verschwundene Mädchen hieß Josephine.
Und es war ihre Tochter.
Doreen hörte Norberts Pfeifen im Treppenhaus schon, als er noch im ersten Stock war. Sonst war er fast immer eher da, als sie, und er war immer pünktlich. Die Triller wurden lauter. Von Zeit zu Zeit hielt er zwischen den Tönen kurz inne, schnaufte wahrscheinlich ein bisschen und setzte dann die ›Melodie‹ oder was er dafür hielt, fort.
Sie verbiss sich ein Lächeln. Norbert wollte immer sportlich und trainiert erscheinen. Wenn sie gemeinsam die Treppen nach oben stiegen, bemühte er sich, verhalten zu atmen, damit sie nur ja nicht merkte, dass er außer Atem kam, und ihn wegen seines Zigarettenkonsums rügte.
Über seine Pfunde ganz zu schweigen. Im Sommer, nach dem Krankenhausaufenthalt, hatte er doch tatsächlich versucht, sich das Rauchen abzugewöhnen und einige Wochen durchgehalten. Die Ärzte hatten ihm eindringlich nahe gelegt, dieses Laster aufzugeben. Doreen hörte die Worte des Chefarztes bei der Entlassung noch.Sonst sterben Sie früher, als ihnen lieb ist, Herr Löwe. Ihr Körper ist untrainiert, ihre Lunge geschädigt.Und Herr Löwe hatte sich bemüht. Sehr sogar.
Doreen war furchtbar stolz auf ihn gewesen und deshalb hatte er sich dann auch große Mühe gegeben, vor ihr zu verbergen, dass er wieder rauchte. Eines Tages glimmte dann ganz ›zufällig‹ eine Zigarette in seiner aus dem Autofenster hängenden Hand. Rauchen war für Norbert eine Möglichkeit abzuschalten, sich zu entspannen, aber auch, sich zu konzentrieren. Er hatte sich vorgenommen, aufzuhören, aber es war beim Vorsatz geblieben.
Und jetzt rauchte er wieder wie ein Schlot. Das ganze Büro stank permanent. Und er war genauso kurzatmig und untersetzt wie eh und je, was nichts an Doreens Zuneigung zu ihm änderte. Es ging nicht um Äußerlichkeiten.
Dabei mochte sie den würzigen Duft seiner Zigaretten, wenn sie nicht direkt im Qualm sitzen musste. Der Gestank kam erst später, wenn der Rauch kalt geworden war.
Die Eingangstür wurde schwungvoll aufgestoßen, prallte gegen die Wand und schwang zurück.
Norbert stürmte herein. Eine Tüte mit der obligaten Tagesration an Streuselschnecken baumelte an seinem linken Handgelenk.
»Guten Morgen, Süße!« Die in Richtung Schreibtisch fliegende Tüte hätte diesen bald verfehlt, landete dann aber auf der Kante und blieb liegen.
Doreen hasste diese Kosenamen, aber wenn von ihr kein Einspruch dagegen kam, konnte Norbert sich einbilden, seine Besitzansprüche an sie untermauert zu haben.
»Guten Morgen.« Ihr Kopf drehte sich nur ein bisschen seitwärts. Er konnte ja sehen, dass sie gerade beim Abwaschen war. Die Kaffeetassen vom Vortag hatten an den Innenseiten braune Kreise, die sich nur nach längerem Einweichen wegschrubben ließen.
Auch bei ihr blieb es immer beim Vorsatz. Es wäre doch eine kleine Mühe, das Geschirr bereits am Abend, bevor sie das Büro verließen, noch abzuspülen. Das Orangenaroma des Spülmittels mischte sich mit dem Karamellduft der Streuselschnecken und Norberts neuem ›After Shave‹. Sie schwenkte die letzte Untertasse durch den Wasserstrahl, schloss den Hahn energisch und ging zu Norbert, der schon an seinem Schreibtisch saß. Das eine musste man ihm lassen, er bemühte sich, immer gepflegt zu sein. Zu keiner Zeit ging von ihm jener unangenehm tierartige Geruch der Männer, die sich tagelang nicht waschen, aus. Der gepflegte Mann fingerte in der Bäckertüte herum. Sein Gesicht glänzte, wie bei einem Kind, das ein neues Spielzeug begutachtet.
»Das riecht gut.« Doreen sog ruckartig schnüffelnd die Luft ein. Das duftete nach harzigem Kiefernholz, nach Wald, nach Zedern und Wacholderbeeren, nach Urlaub in der Toskana.
»Lecker.« Sie wich vorsichtig zurück. »Was ist das?«
»Das habe ich ganz neu. Es heißt ›Green Vetiver‹. Jetzt trinken wir erst einmal Kaffee und besprechen das Tagesgeschäft. Holst du bitte die Tassen und den Kaffee?«
Schon gruben sich seine Zähne in das Kuchenstück. Jeden Morgen die gleiche Zeremonie.
Sie kochte als Erstes Kaffee, wusch dann das Geschirr vom Vortag ab, während der Chef-Superdetektiv mit seiner ›Beute‹ vom Bäcker beschäftigt war.
Sie trocknete das Geschirr ab und platzierte es auf ihren beiden, sich gegenüberliegenden Schreibtischen.
Sie holte die Kanne von der Warmhalteplatte und goss ihm ein, während der Chef-Superdetektiv seine Hauer in das erste Beutestück schlug, abbiss, krümelte, kaute und schluckte nur, dass er nicht schmatzte.
Sie reichte ihm die Kaffeesahne und goss sich selbst ein.
Sie aß Joghurt, während der Chef-Superdetektiv seine Hauer in das zweite Beutestück schlug, abbiss, krümelte, kaute und schluckte.
Während all dieser Ereignisse herrschte andächtiges Schweigen. Nach der dritten Streuselschnecke pflegte sich Norbert mit einem Papiertaschentuch über den Mund zu wischen und legte dann los. In seinem Kopf war das Programm für den jeweiligen Tag komplett geordnet und systematisch aufbereitet. Doreen hatte schon mehrmals darüber nachgedacht, was er antworten würde, wenn sie ihnvordem Frühstück nach den Plänen fragte. Ob er dann das Konzept auch schon fertig hätte, oder ob noch alles unsystematisch und durcheinander war.
»Also.«
So fing es auch fast jeden Morgen an. Mit ›also‹.
»Da hätten wir zum einen den Fall Thomas Bäumer.« Norberts Daumen erhob sich für die Zahl eins.
Thomas Bäumer erschien in Doreens Kopfkino. Eine Ratte. Klein, unscheinbar, kurz geschorene, ergrauende Haare, ein ebenmäßiges Allerweltsgesicht. Die Nase zeigte gen Himmel, Schweinenase nannte sie das für sich. Eine Ratte mit der Nase eines Schweins.
Persönlich nahe waren sie ihm noch nicht gekommen, aber er wirkte schon auf dem Foto arrogant, ein Schnösel, ein Ratten-Schweine-Schnösel, einer von der schlimmsten Sorte.
Er arbeitete auf dem Bau. Er sollte auf dem Bau arbeiten, korrigierte sie sich. Thomas Bäumer war schon seit Monaten die meiste Zeit krankgeschrieben. Zwischendurch arbeitete er ein, zwei Wochen, dann war er wieder krank. Stets mit unklaren Diagnosen, mal war es der Rücken, dann plagte ihn die Grippe, dann hatte er einen Reizmagen, immer bescheinigt von einem anderen Arzt. Meistens erfuhr sein Arbeitgeber die Diagnose jedoch gar nicht erst, schließlich war Herr Bäumer ja nicht verpflichtet, ihm diese mitzuteilen.
Das private Bauunternehmen, bei dem der chronisch Kranke beschäftigt war, hatte nun die Nase voll. Ein Detektivunternehmen sollte den Hypochonder observieren und entlarven und die Detektei Löwe hatte gegenüber anderen annehmbare Stundensätze.
Der Chef, ein relativ kleiner, bulliger, sehr agiler Mann war am vergangenen Freitag bei ihnen gewesen.
Doreen hatte gar nicht damit aufhören können, seine Hände anzustarren. Das Wort ›Pranken‹ hatte für sie bisher immer nur eine theoretische Bedeutung gehabt. Diese Schaufeln hier waren doppelt so groß wie Norberts, die Finger wie Besenstiele, die schrundigen, rissigen Handflächen, so schien es ihr, geeignet, um ein A4-Blatt zu bedecken. Wie es wohl wäre, von solchen Handflächen berührt zu werden –
»Doreen, hörst du mir eigentlich zu?« Norberts Stimme löschte ihren abwesenden Gesichtsausdruck.
»Natürlich habe ich dir zugehört.« Sie holte den Nachklang seiner letzten Worte hervor und sprach sie aus.
»Herr Röthig möchte, dass wir seinen Angestellten von acht Uhr früh bis achtzehn Uhr abends beobachten.«
Er nickte, hatte nichts von ihren Gedanken bemerkt: »So lange, bis man ihn bei etwas Unerlaubtem erwischt.«
»Das wird schwierig«, fiel sie ihm ins Wort. »Die Gesetze, was ein Kranker darf und was nicht, sind schwammig. Wir müssten zuerst herausfinden, was er hat, um uns dann zu informieren, was er mit dieser Diagnose legal alles unternehmen kann.«
»Ganz richtig.« Norbert nickte. »Das machen wir auch als Erstes. Wir begeben uns nachher gleich zu Herrn Röthig in die Firma und dann kann es schon morgen früh mit der Observation losgehen. Ad zwei.« Sein Zeigefinger gesellte sich zum erhobenen Daumen. »Da wir keine weiteren aktuellen Fälle haben, werden wir heute Nachmittag unseren liegengebliebenen Papierkram in Ordnung bringen.«
Seine blauen Murmelaugen prüften Doreens Gesicht. Es gelang ihr nie vollständig, ihren Unwillen zu verbergen. Während sich die Augen um eine Winzigkeit verengten, erschienen in den äußeren Winkeln feine Fältchen. Wenn sie sehr unmutig über das Gesagte war, gesellte sich noch eine senkrecht verlaufende, gezackte Linie zwischen den Augenbrauen hinzu.
Die Linien erschienen.
Norberts Mundwinkel wanderten nach oben und sofort wieder nach unten, um sie nicht noch mehr zu verärgern.
»Wenn es unbedingt sein muss.« Ihr Tonfall glich dem eines maulenden Kindes.
»Es muss.« Seine Hand deutete auf den turmhohen Stapel Papier am Rande ihres Schreibtischs. »Das da liegt schon viel zu lange.«
»Aber zuerst gehen wir zu Herrn Röthig.« Lass uns zuerst die Schaufelhände noch einmal begutachten. An das dazugehörige Gesicht konnte sie sich gar nicht mehr erinnern.
»Agnes …«, linkisch versuchte Ralf, seinen Arm um sie zu legen. »Wein doch nicht …«
Er hatte selbst Tränen in den Augen. »Sie wird bestimmt bald gefunden. Komm –«, er fingerte an der Klebelasche einer Packung Tempotaschentücher und versuchte, ihr eines davon in die Hand zu drücken, »– nimm das hier.«
Dass sich ihre Schultern unter dem Gewicht seines Armes noch weiter nach oben gezogen hatten, wurde ihm gar nicht bewusst. Das Papiertaschentuch blieb unbeachtet auf ihrem Oberschenkel liegen. Ihre Hand bewegte sich keinen Millimeter, lag wie ein Stück totes Fleisch auf dem Bein. Der Fernseher plärrte noch immer laut in den Raum. Ralf stellte den Ton leiser. Es kam ihm so vor, als habe Agnes während der gesamten Nachrichtensendung seine Anwesenheit gar nicht wahrgenommen, als sei er aus ihrer Welt völlig ausgeblendet gewesen. Und das war wohl auch ihr gutes Recht, schließlich handelte es sich nicht um seine Tochter, die seit gestern Nachmittag verschwunden war.
»Lass uns doch noch einmal alles in Ruhe besprechen. Vielleicht fällt uns noch etwas ein.« Hilflos schielte er von der Seite auf ihre Nasenspitze, die ein bisschen gerötet war.
Sie blickte gar nicht auf. Wusste sie überhaupt, dass er hier, neben ihr, auf dem Sofa saß? Die ganze Zeit schon neben ihr gesessen hatte, seit gestern nicht von ihrer Seite gewichen war, versucht hatte, sie zum Essen zu überreden?
Sie wollte nicht essen, sie wollte das Schlafmittel von der Ärztin, das diese dagelassen hatte, nicht nehmen, sie wollte nicht mit ihm reden. Sie trank ab und zu einen Schluck Wasser. Das war alles. Wenn sie doch nur sprechen würde. Er war überzeugt davon, dass dies ihr die Bürde erleichtern würde. Man musste über die Dinge reden. Agnes hatte auch nicht geweint. Tränen sollten doch angeblich helfen, mit dem Schmerz fertig zu werden. Ralf schien es, als ob sie sich in einer Art Totenstarre befand.
Mit gebeugtem Rücken, den Kopf nach unten gesenkt, schaute Agnes stumpf auf das Rhombenmuster im Teppich und zählte die Kästchen, wieder und wieder. Wie sollte es jetzt weitergehen? Wie konnte es weitergehen? Was konnte sie tun?
Abrupt sprang sie vom Sofa auf. Das unbenutzte Taschentuch segelte zu Boden. Ralf starrte ihr nach, wie sie im Zimmer ihrer Tochter verschwand, blieb einfach da sitzen, als habe sich ihre Starre auf ihn übertragen, unschlüssig, ob er ihr nachgehen sollte oder nicht. Vielleicht wollte sie ein bisschen allein sein. Obwohl niemand seine Geste sehen konnte, hob er einige Male die Schultern und ließ sie wieder fallen.
Im Kinderzimmer war es zu warm. Irgendwer hatte die Heizung auf Stufe fünf gestellt. Agnes verspürte einen heftigen Anfall von unbeherrschter Wut.
Was für eine Verschwendung! Am Ende summierten sich so in der Nebenkostenabrechnung Hunderte von Euro bloß für die Heizung.
Der weiße Plastikknopf ließ sich nur schwer zurückdrehen und sie riss unwirsch daran. Ihr Zorn verflog so schnell wie eine davon wirbelnde Windhose.
Sie starrte aus dem Fenster.
Die Dunkelheit ergriff Besitz von der kubistischen Neubauwelt draußen, überstrich die verschiedenfarbigen Balkons mit Einheitsgrau, ließ die Farben der geparkten Autos ausbleichen. Trübsinnig bewegten sich ein paar blattlose, schieferfarbene Äste wie mahnende Skelettfinger vor dem dunklen Glas hin und her.
An der linken Fensterscheibe klebten noch zwei Weihnachtsbilder, Überbleibsel aus der Adventszeit, die längst schon hatten entfernt werden sollen.
Ein feister amerikanischer Nikolaus im purpurnen Gewand mit weißem Pelzkragen, auf einem von Rentieren gezogenen Schlitten grinste den Betrachter dümmlich an. Dazu ein goldlockiger Engel mit überdimensionalen Glitzerflügeln, die Hände segnend ausgestreckt.
Zwei Scheusale der Kitschindustrie. Was ihre Tochter nur daran gefunden hatte!
Agnes mochte diesen Ramsch nicht und Josephine hatte ihr versprochen, die gesamte Dekoration selbst zu entfernen und alle Spuren von Weihnachten Anfang Januar zu beseitigen. Dazu hätte auch das Reinigen der Fenster gehört. Irgendwie war ihr entgangen, dass dies nicht geschehen war.
Sie ging dichter zum Fenster und beugte sich schwerfällig nach vorn, bis ihre Stirn die kalte Scheibe berührte.
Der Asphalt verschluckte das inquisitorische gelbe Licht der Straßenlampen. Aus dem Auspuff eines dunklen Autos entwichen weiß-graue Schwaden und verwirbelten in der frostigen Luft.
Ein Totenmonat. Nichts Lebendes da draußen. Alles war im Herbst gestorben und hatte nur Unrat und Schwärze hinterlassen. Im Takt ihres Atems beschlug die Scheibe und wurde wieder durchsichtig. Immer wiederkehrend. Milchig trüb und wieder klar.
Was wäre, wenn sie einfach aufhörte zu atmen? Änderte das irgendetwas?
Ihr Blick tastete sich zurück von der Straße, wanderte am gegenüberliegenden Betonquader nach oben, sprang von Stockwerk zu Stockwerk, von Balkon zu Balkon, hangelte sich über die Straße, landete auf dem eigenen Fensterbrett und kam nach innen. Dunkel und kalt starrten ihre Augen sie von der schwarzen Scheibe aus an.
Aus den Öffnungen des Heizungsgitters stieg noch immer die nach vertrocknetem Staub riechende Luft nach oben. Es war erst fünf und schon völlig dunkel. Dunkel, kalt, grabesstill.
Agnes zog die Übergardinen zu. Keiner sollte in das verwaiste Kinderzimmer hineinblicken können. Vorsichtig lösten sich ihre Gedanken aus der Paralyse und das Karussell begann sich zu drehen. Was könnte eine Mutter denn jetzt als nächstes tun? Was wäre denn sinnvoll? Vielleicht weitere Fotos heraussuchen, hatten die Polizisten gesagt. Sie würden irgendwann im Laufe des Nachmittags wiederkommen, mit ihr sprechen und ihr von den Fortschritten berichten.
Es war doch schon längst Nachmittag. Später Nachmittag. Eigentlich schon früher Abend, schließlich war es schon dunkel. Sie hätten längst da sein sollen. Vielleicht war doch schon etwas entdeckt worden?
Agnes schloss die Augen. Da drinnen war es auch dunkel. Die Gesichtszüge erschlafften, ihre Schultern sackten nach unten.
Sie musste irgendetwas unternehmen, um nicht vollends verrückt zu werden. Diese furchtbaren Gedanken abschalten. Ständig wollten Bilder wie faulige Gasblasen aus dem Schlamm einer Fäkaliengrube nach oben kommen, an die Grenze zum Bewusstsein schwimmen, Bilder, wie man sie im Fernsehen sah, tote Kinder, weggeworfen wie Unrat, vergraben im Wald, entsorgt in einer Mülltonne, versteckt in einer Kühltruhe, zerteilt von einem Fleischbeil, als aufgedunsene Wasserleiche im See schwimmend, tote Kinder überall, ihre gebleichten Schädel grinsten mit gebleckten Zähnen, schwarz die Höhlungen ihrer Augen …
Sie musste etwas unternehmen, schnell. Sofort.
Jetzt.
Gleich.
Augen wieder auf!
Agnes sah sich im halbdunklen Zimmer um, schlurfte zum Lichtschalter und drückte müde auf den Knopf. Die papierne Ballonlampe mit dem daran hängenden albernen Korb verdrängte die Schatten in die Ecken des Raumes.
Josephine hatte unbedingt diese Lampe haben wollen, keine andere war in Frage gekommen. In diesem Fall war sie starrsinnig bei ihrer Meinung geblieben, auch wenn Agnes ihr das Unpraktische dieses Papierballons deutlich zu machen versucht hatte. Nicht einmal ordentlich abwischen konnte man das blöde Ding. Nein – die Tochter hatte darauf bestanden. Die Leute in dem Laden waren schon aufmerksam geworden, deshalb hatte Agnes schließlich nachgeben müssen. Und da hing das unzweckmäßige Teil nun. Vielleicht war die Tochter in ihrer Fantasie in den Korb eingestiegen und weit weg geflogen, weit weg aus der trüben Neubauwelt. Agnes ließ ihren Blick durch das Zimmer gleiten.
Der Schreibtisch mit dem abblätternden Furnier, sehr aufgeräumt. Zusammengestückelte Teile einer Anbauwand, noch nicht sehr alt und doch schon ramponiert. Noch einen Umzug würden die Möbel wahrscheinlich nicht verkraften. Ein Kleiderschrank. Der messingfarbene Griff fühlte sich kühl an und die Schranktür knarrte unwillig beim Öffnen. Agnes öffnete auch die linke Hälfte und betrachtete die in den Fächern liegenden Kleidungsstücke. Auch hier herrschte der gewohnte Anblick. Ihre Tochter war fast immer sehr ordentlich gewesen.
Fahrig strichen ihre Hände über die sorgsam übereinander geschlichteten Pullover, befühlten die Oberfläche und spürten dabei nichts von der noppigen Struktur der Wolle.
Rechts hingen die Blusen und Kleider auf ihren Bügeln, sortiert nach Farben, eingeteilt in Sommer- und Wintersachen. Eine Bluse und eine Strickjacke fehlten. Und die abgewetzte kaffeebraune Cordhose. Agnes musste die Kleidungsstücke nicht zählen, um das festzustellen, sie wusste es auch so. Das hatte die Tochter zuletzt getragen, damit hatte sie das Haus verlassen.
Ihre letzten Kleidungsstücke.
Hör auf damit. Das führt zu nichts. Überleg lieber, was du jetzt tun kannst.
Sie schüttelte den Kopf.
Fotos. Genau. Fotos wollte sie suchen. Fotos ihrer Josephine, die zur Suche geeignet waren. Gesicht, Haar- und Augenfarbe müssten gut zu sehen sein, hatten die Polizeibeamten gesagt. Und möglichst nicht älter als ein Jahr. Kinder verändern sich schnell.
Der oberste Schreibtischkasten quietschte protestierend und ließ sich nur halb herausziehen. Stifte lagen, einer neben dem anderen, in ihrer Box, daneben rot gestreifte Büroklammern, ein neuer Radiergummi, eine Rolle Klebeband. Keine Fotos. Agnes beugte sich nach vorn und drehte den Kopf seitwärts, um in den hinteren Bereich der Schublade zu spähen. Zwei Hefte und ein Stapel weiße Blätter. Mehr war da nicht.
In den darunter liegenden Schubfächern fand sich ebenfalls nichts. Nicht ein einziges Foto. Alles, was ein Kind für die Schule gebrauchen konnte, war fein säuberlich einsortiert und griffbereit, nichts Überflüssiges, nichts Ausgedientes, nichts Unbrauchbares. Man konnte sehen, dass Josephine von Anfang an zur Ordnung erzogen worden war.
Deshalb fanden sich die Fotos gewiss nicht in den Einzelteilen der Anbauwand oder gar im Kleiderschrank. Ganz sicher nicht. Hatte ihre Tochter überhaupt eigene Bilder in ihrem Zimmer aufbewahrt? Agnes fuhr sich mit der flachen Hand über die Stirnfalten. Sie konnte sich einfach an nichts erinnern.
Aber sie selbst hatte doch mehrere Schuhkartons – zum Einsortieren in Alben hatte es nie gereicht – in einem der Wohnzimmerschränke. Da war doch sicher etwas dabei.
Die Rollen des Schubkastens, in den sie die ganze Zeit blind hineingestiert hatte, ächzten und sträubten sich gegen das Schließen und gaben dann nach einem Ruck nach.
Agnes drehte sich in der Tür noch einmal um, während ihre Hand nach dem Lichtschalter tastete. Das sah alles ganz friedlich aus. Hier wohnte ein braves, wohlerzogenes kleines Mädchen.
Ein Mädchen, das jetzt seit 24 Stunden verschwunden war. Wo blieben eigentlich die Beamten? Sie musste dort anrufen. Fragen, ob sie schon etwas entdeckt hatten, ob schon Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen waren. Niemand schien auch nur das Geringste bemerkt zu haben. Sie musste sich erkundigen. Sie musste da anrufen. Jetzt gleich. Anrufen. Bei der Polizei. Fotos suchen. Anrufen. Fotos finden. Telefonieren. Fotos.
Josephines Mutter rührte sich nicht von der Stelle, nur ihr Kopf wackelte wie der eines Käfigbären hin und her.
Die ›Pranken‹ hoben sich synchron von der zerkratzten Tischplatte. Sie verweilten schwebend in fünfzehn Zentimeter Höhe mit nach außen gekehrten Handflächen und senkten sich dann ganz langsam wieder.
Doreen betrachtete die Fingernägel. Kurz und abgerundet, keine Trauerränder, die Nagelmonde waren fast unsichtbar. An den mittleren Gelenken verdickten sich die Finger, um sich danach wieder zu verjüngen. Jetzt machte Herr Röthig (wie hieß er überhaupt mit Vornamen?) eine Faust, den Daumen nach außen. Die Knöchel traten hell hervor.
Die Faust hämmerte dumpf auf den wackligen Baustellentisch. Wortfetzen glitten an Doreen vorbei.
»... haben ihn zwei Kollegen letzte Woche gesehen. In Arbeitskleidung.«
Sie schielte auf die Papiere vor dem Firmenchef. Stand da nicht irgendwo auf einem Briefkopf ein Vorname? Es war doch unmöglich, an den Besitzer der Schaufelhände als ›Herrn Röthig‹ zu denken. Der Herr hatte bestimmt einen kraftvollen, zupackenden Vornamen. Doreen musterte, ohne sich zu bewegen, den Tisch weiter.
»Wo haben die Kollegen Thomas Bäumer gesehen?« Norbert saß nach vorn gebeugt auf der Stuhlkante. Er hörte aufmerksam zu.
»Er kam aus einer Arztpraxis. Letzten Freitag.« Die rechte Hand wurde zum Hinterkopf geführt, der Zeigefinger – etwas in Doreen sträubte sich, den Schaufelstiel als ›Zeigefinger‹ zu bezeichnen – der Schaufelstiel also, krümmte sich, fuhr zwei, dreimal über die Stoppeln und die Tatze kehrte zur Tischplatte zurück.
»... Und er hatte Arbeitskleidung an.« Norbert schrieb ›Freitag, Arzt, Arbeitskleidung‹ in seine säuberlich vorbereitete Mappe.
»Das war ja das Komische. Thomas Bäumer ist seit drei Wochen krankgeschrieben. Er hätte diesen Montag wieder anfangen müssen. Deshalb ging er vergangenen Freitag zum Arzt, um die Krankschreibung verlängern zu lassen. Das kann man ja noch nachvollziehen«. Der Firmenchef setzte sich aufrecht hin. »Wieso fährt er aber in Arbeitskleidung zum Arzt?«
»Stimmt. Das ist verdächtig.« Norbert nickte wie ein seniler Eisbär. »Haben die Kollegen, die ihn dort gesehen haben, noch mehr bemerkt?«
»Nur, dass er mit seinem Moped davon fuhr.«
Doreen sah, wie der Firmenchef die Schultern kurz hob und wieder senkte. Auch sein Brustkorb war außergewöhnlich breit. Irgendwie animalisch.
›Außergewöhnlich‹, wiederholte ihre innere Stimme. Dabei war er kein großer Mann, höchstens so groß wie sie. Ihr Blick kehrte zu den Händen auf den Tisch zurück. Daneben lugte unter einem wacklig aussehenden Papierstapel ein Brief hervor. Sie versuchte, die Schrift im Briefkopf zu enträtseln. Als Kind war sie stolz darauf gewesen, auch auf dem Kopf stehende Dinge schnell und mühelos entziffern zu können. Sie musste solche Fähigkeiten mehr trainieren.
Firma … Röthig … na, so schlau war sie vorher auch schon gewesen. Ihre Augen wölbten sich ein bisschen nach vorn. Da stand ein Vorname.
H a r t m u t. Genau! Hartmut Röthig. Jetzt, wo sie es wusste, war es deutlich zu lesen. Was für ein altmodischer Name! So alt war der Typ doch noch gar nicht. Obwohl – er passte zu dem Mann. Nichts Weiches war an ›Hartmut‹. Hart und mutig wirkte er. Und zupackend. Und weil wir grade beim Zupacken sind … Unauffällig ließ Doreen ihre Blicke zurück zu den Händen wandern. Auf den Handrücken tummelten sich glatte, dunkle Haare, zogen sich über das Handgelenk bis zum Ellenbogen. Sie wurden nach oben spärlicher und heller. Feiner Staub haftete wie Puder an ihnen. Die Innenseite des Unterarms war unbehaart, dicke Adern lagen wie Seile unter der Haut.
Es jagte ihr ein bisschen Angst ein. Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass die oberflächlichen Venen bei Männern dichter unter der Haut lägen, als bei Frauen. Nutzloses Wissen.
Doreen drehte ihren rechten Arm im Schoß mit der Handfläche nach oben. Den Arm, der sie schon ihr ganzes Leben begleitete. Es kam ihr vor, als hätte sie ihn noch nie bewusst gesehen. Die Haut war ganz glatt und heller als an der Oberseite. An der Innenseite des Handgelenks kreuzten sich zwei bläulich schimmernde Adern. Sie betrachtete den linken Arm. Dort verliefen die Adern anders. War denn der Mensch nicht symmetrisch? Verliefen die Blutgefäße nicht in beiden Armen gleich?
»... uns zum Schluss noch ein paar Information geben, die wir für die Observation brauchen.« Norbert sah sie an und Doreen nickte bekräftigend. Keiner der beiden Männer schien ihre geistige Abwesenheit bemerkt zu haben. Da Norbert von Anfang an immer derjenige gewesen war, der alles mitschrieb, war es ihre Aufgabe, zuzuhören und zu beobachten. Sie habe ein besseres Gespür für Situationen und unterschwellige Botschaften, hatte Norbert einmal zu ihr gesagt. Vielleicht wollte er auch bloß die für ihn wichtigen Dinge nicht aus der Hand geben.
»Erstens brauchen wir die Adresse von Herrn Bäumer.« Er kritzelte sie in die Mappe.
»Zweitens«, der Stift hob sich erneut, »können Sie uns Angaben zur familiären Situation machen?«
»Viel weiß ich da auch nicht. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder, Jungs glaube ich.« Der Firmenchef rieb mit den Fingerspitzen über die linke Schläfenregion.
»Gut, das ist auch nicht ganz so wichtig.« Norbert rutschte auf dem Stuhl noch weiter nach vorn. »Eine Sache wäre noch hilfreich für uns.« Er schickte seinen Blick kurz zu Doreen, die ihm zunickte und schnaufte kurz. »Wissen Sie, welche Krankheit er hat? Wenigstens ungefähr? Nicht bei jeder Erkrankung ist Bettruhe angeordnet.«
›Bärentatze‹ kratzte sich noch einmal an der Schläfe. »Genau weiß ich es nicht. Er ist ja nicht verpflichtet, das mitzuteilen.« Die Hand verharrte auf halbem Wege zum Tisch zurück in der Luft und wackelte dann abwiegelnd hin und her. »Am Telefon hat er irgendwas von Grippe gesagt.«
»Gut.« Norbert nickte knapp. »Damit können wir schon etwas anfangen. Bei einer Grippe kann man nicht körperlich schwer arbeiten. Nun wollen wir mal die Modalitäten absprechen.« Er ließ seinen Blick flüchtig zu Doreen schweifen und sah, wie sie mit der Zunge die Lippen anfeuchtete. Irgendetwas lenkte sie ab.
»Wir beginnen morgen früh mit der Observation. Ich würde vorschlagen, ab sechs Uhr.« Doreen schien auch den frühen Zeitpunkt, den er nannte, nicht bewusst aufzunehmen. Sonst hätte sie wenigstens ein bisschen mit den Augen gerollt. »Wann sollen wir die tägliche Beobachtung beenden?«
»Ich glaube, es reicht, wenn Sie ihn bis achtzehn Uhr im Auge behalten. Vielleicht ergeben sich schon in den ersten ein, zwei Tagen genug Beweise.« Irritiert schaute Hartmut Röthig von dem untersetzten Mann zu dessen dunkelhaariger Kollegin. Sie war nicht bei der Sache, wirkte unaufmerksam, träumte vor sich hin. Er zweifelte an der Richtigkeit seiner Entscheidung, ein Detektivbüro mit der Beobachtung seines Angestellten zu beauftragen. Herr Löwe wirkte erfahren, aber die Kollegin? Gut, sie sah nicht schlecht aus. Nicht ganz sein Typ, zu groß und zu knochig, aber schöne braune Augen hatte sie. Leider war gutes Aussehen noch nie ein Anhaltspunkt für Kompetenz gewesen. Er fixierte wieder den bärtigen Detektiv. »Nun, Sie wissen ja bereits, wie Thomas Bäumer aussieht. Haben Sie das Foto noch?«
»Aber sicher.« Norbert blätterte, ohne hinzusehen, in seinem Ordner mit den Unterlagen und fand das Bild sofort, fein säuberlich in einer Klarsichthülle verstaut.
Erst heute früh im Büro hatte er die Mappe mit seinen bürokratischen Kopien bestückt. Doreen fand das jedes Mal lächerlich, hütete sich aber, ihm das zu sagen, denn er reagierte meist verärgert darauf.
Norbert zog das großformatige Hochglanzfoto aus der durchsichtigen Hülle, legte es auf die zerkratzte Tischplatte und tippte auf das Konterfei von Thomas Bäumer. Hochmütig schaute der inmitten seiner fröhlichen Kollegen in die Kamera.
Das ›Rattengesicht‹ mit den kurz geschorenen Stoppelhaaren und der Schweinenase tauchte vor Doreen auf. Es würde sich zeigen, ob Thomas Bäumer auch in der Realität ein solcher Schnösel war, wie er auf dem Bild mit den Arbeitskollegen wirkte, aber es würde ihm nicht gelingen, ihr Urteil über ihn zu ändern, dessen war sie sich sicher. Viel lieber würde sie ›Hartmut‹ ein bisschen zu nahe kommen. Doreen schielte Abschied nehmend auf seine Pranken. Während er mit Norbert über Stundenpreise und Beweisfotos verhandelte, sah sie, wie die rechte Tatze auf sie zukam, sich dann langsam auf ihrem Unterarm niederließ und mit einem schabenden Geräusch darüber fuhr. Die Härchen an ihren Armen stellten sich auf. Ein kleines Steinchen kullerte in ihrem Brustkorb hin und her.
Doreen schüttelte den Gedanken ab. Genug geträumt. Sie wusste nicht mal, was ›Bärentatze‹ für ein Gesicht hatte. Als ob nur Hände, Brustkorb und Schultern interessant wären. Was für ein Rückfall in die Stammesrituale der Neandertaler! Schon, als er vergangenen Freitag bei ihnen im Büro gewesen war, hatte er im Nachhinein nur den Eindruck eines kleinen, bulligen Mannes hinterlassen. Lediglich seine Tatzen hatten sich in Doreens Gehirn eingebrannt.
»So.« Norbert schraubte sich von der Stuhlkante nach oben. »Dann wäre ja alles klar.« Wir rufen Sie übermorgen Vormittag an und erstatten einen ersten Bericht.«
Der Firmenchef und Doreen erhoben sich gleichzeitig. Ihre Augen waren auf einer Höhe und Doreen tauchte in ein überwältigendes Himmelsblau ein. Es mussten Kontaktlinsen sein.
Solch eine Augenfarbe konnte nicht echt sein. Norbert besaß wasserblaue Murmeln. Hartmut Röthig hatte den gesamten Himmel Flanderns an einem warmen Herbsttag in seinen Augen. Sie spürte eine leichte Schwäche in den Kniekehlen, so, als ob sie gleich einknicken würden und zwang ihren Blick zur Seite.
Eine Hand wurde in ihre Richtung gestreckt. Auch das noch! Jetzt würde gleich ein Funke überspringen, kurz bevor sich ihre Finger trafen.
Nichts geschah. Kühl und trocken berührten sich beide Handflächen. Die Schwielen kratzten ein bisschen an der Innenfläche von Doreens rechter Hand, ein kurzer fester Druck, dann wurde die Pranke zurückgezogen und in die Hosentasche gezwängt.
Die hereinströmende kalte Luft traf Doreens Gesicht wie eine Ohrfeige, während sie sich ihren Mantel zuknöpfte. Sie wandte sich zur Tür, die Norbert für sie aufhielt. Wo zum Teufel war ihr blauer Schal?
Nur nicht noch einmal zurückblicken. Sie würde in den Azuraugen versinken und nie wieder auftauchen. Das war die wahre Bedeutung des Ausspruchs, es sei um jemanden geschehen.
Blechern krachte die Tür hinter ihnen ins Schloss. Schnell trippelte Doreen neben Norbert her und wühlte in ihrer großen Umhängetasche, fand jedoch nur ihre Handschuhe. Die brauchte sie auf dem Weg zum Auto nicht erst anzuziehen. Die Haut auf ihren Wangenknochen spannte, als sei sie zu eng. Mit eisigen Fingern zwickte die Kälte.
Abrupt blieb Norbert stehen. Doreen prallte mit dem Oberkörper an seine Schulter und ihr leicht geöffneter Mund berührte die Fasern seiner Wolljacke.
Er drehte den Kopf zur Seite und versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu erforschen. Weiße Dampfwölkchen quollen beim Sprechen stoßweise aus seinem Mund hervor.
»Was war da drin mit dir los?«
»Wie meinst du das?« Doreen zupfte sich mit klammen Fingern die Fusseln, die an den Resten ihres Lippenstiftes klebten, vom Mund. »Was soll mit mir los gewesen sein?« Merkte er eigentlich alles? Sie hasste das Gefühl, durchschaut zu werden.
»Du warst abwesend, nicht bei der Sache. Das habe nicht nur ich bemerkt.« Immer noch durchbohrte er sie mit seinem Blick.
Sie wendete sich ab und wischte ihre Finger an der Seite des Mantels ab. »Nichts war. Ich habe aufmerksam zugehört.« ›Bärentatze-Azurauge‹ tauchte vor ihrem Auge auf. Sie wusste gar nichts von ihm. Einen Ehering hatte er jedenfalls nicht getragen. Gab es überhaupt Eheringe in Besenstielgröße? Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht, sie drehte sich, schob ihren Arm unter Norberts und legte die Hand locker auf seinen Unterarm. Der Stoff kratzte. »Da war nichts. Lass uns gehen. Mir ist kalt.«
Der Autoschlüssel ging nicht ins Schloss. Doreen trippelte auf der Stelle hin und her und krallte die Zehen in den Halbstiefeln ein, um sie aufzuwärmen.
Sie mochte den Winter, wenn die Tage durchsichtig und sonnig waren. Gegen den Frost konnte man sich wappnen. Der blaue Schal fiel ihr ein. Hatte sie ihn heute früh überhaupt getragen? Norbert kramte leise ächzend in seinen unergründlichen Manteltaschen nach dem Enteiserspray, fand es und drückte die Düse ins Schloss der Fahrertür. »Ist das eine Kälte.« Er steckte das Spray wieder ein. Jetzt ließ sich die Tür mühelos entriegeln. »Steig ein. Hoffentlich springt die alte Kiste an.«
»Sag so was nicht.« Doreen riss an der Beifahrertür, deren Gummidichtungen mit dem Rahmen wie verwachsen waren. »Irgendwann rächt sich das Auto an dir und fährt nicht.« Ihre Mundwinkel wanderten ein klein wenig nach oben, während sie sich auf den klammen Sitz fallen ließ.
»Das Auto rächt sich an mir?« Norbert sprang immer auf solche Bemerkungen an. »Du weißt, dass das Blödsinn ist.« Er steckte den Zündschlüssel ins Schloss und drehte ihn.
Doreens Grinsen wurde breiter, als ein asthmatisches Röcheln zu hören war, das schnell erstarb. Sie hob den rechten Handrücken an den Mund und schaute nach unten. Norbert würde wütend werden, wenn er das Gefühl hatte, sie lache über ihn. Er versuchte es noch einmal und der Anlasser röchelte wieder.
»Na komm. Ich nehm das mit der Schrottkiste zurück. Spring bitte an.« Norbert klopfte mit der Linken liebevoll auf das Armaturenbrett und dreht den Zündschlüssel ganz sanft. Der Wagen sprang an.
Jetzt schaute er zu ihr. »Lachst du etwa über mich?«
»Nie würde ich über dich lachen!«
»Dann ist es ja gut. Die Batterie ist nieder. Die kurzen Stadtfahrten im Winter, immer mit Licht, da lädt sie sich nicht auf und vielleicht brauchen wir eine neue.« Er trat die Kupplung und fuhr sanft los.
Doreen schaute nach hinten und musterte die Rückbank. Da lagen zwei leere Pizzakartons von letzter Woche, ein Lappen zum Reinigen der Fenster, ein alter Handschuh, ein Eiskratzer und ein Handfeger, um den Schnee vom Auto zu entfernen. Nur, dass kein Schnee lag. Es war zu kalt für Schnee.
Ihr blauer Schal jedenfalls lag nicht dort. Und den Kofferraum hatten sie heute noch gar nicht aufgemacht. Sie nahm ihre Umhängetasche auf den Schoß und wühlte noch einmal darin herum. Nichts. Doreen versuchte, sich an den Aufbruch aus ihrem Büro zu erinnern. Sie hatte Lippenstift aufgetragen. Sehr sorgfältig. Dunkelrot. Um ›Bärentatze‹ zu beeindrucken? Sie konnte sehen, wie sie ihren Mantel vom Kleiderbügel nahm, Norbert die neu angelegte Mappe in seiner Aktentasche verstaute, den Anrufbeantworter anmachte und wie sie ihren Schmollmund im Spiegel betrachtete. Um ihren Hals war der blaue Schal geschlungen.
Also hatte sie ihn vorhin getragen. Wo war er dann jetzt? Sie spulte vor.
Auf dem Weg zu ›Bärentatze‹ hatten sie nicht angehalten, sondern erst auf dem Firmengelände geparkt und waren schnurstracks in das Büro von Herrn Röthig spaziert. Doreen hatte ihren Mantel aufgeknöpft und – Stopp – den Schal abgewickelt.
Abgewickelt und hinter sich über die Stuhllehne gehängt. Und da hing er nun.
Der glatte Bachkiesel kullerte in ihrem Brustkorb herum. Ein Zeichen des Schicksals. Sie musste zurückkehren und den Schal abholen. Ohne Norbert. Nur schnell den Schal abholen und wieder gehen, mehr nicht. Es wurden mehr Steinchen. Sie kullerten und rollten und fühlten sich warm an, wenn sie an die Innenseiten der Rippen stießen.
»Aussteigen Traumsuse!« Norbert sah sie forschend an.
Das Auto stand in der Bahnhofstraße. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie er gewendet und vor dem Drogeriemarkt eingeparkt hatte.
Doreen öffnete die Tür und setzte einen Fuß auf den Gehweg. Irgendwie musste sie eine Möglichkeit finden, Hartmut Röthig anzurufen, ihn nach dem Schal zu fragen und diesen bei ihm im Büro abzuholen. Heute noch, denn sie brauchte ihn.
Den Schal brauchte sie, sonst nichts. Es war sehr kalt und sie hatte nur diesen einen. Nein, das war zu dick aufgetragen. Keine moderne Frau besaß nur einen Schal. Sie wollte ihn einfach zurückhaben. Basta. Sie wollte ihn gleich. Sie würde ihn selbst abholen.
Dann konnte sie gleich die Pranken auf Spuren eines Eherings prüfen. Und sich ein bisschen nach persönlichen Dingen in ›Bärentatzes‹ Büro umsehen. Wäre doch gelacht!
Schwungvoll lief Doreen hinter Norbert her, die Treppen hinauf. Was für ein schöner Wintertag!
»Und los geht’s! Papierkram steht an.«
»Wie wäre es zuerst mit einer Tasse Kaffee?«
»Schon überredet. Du machst den Kaffee und ich sichte und sortiere schon mal vor.« Norbert stellte das Radio an. Radio Zwickau dudelte die üblichen Titel. Er hatte gehört, dass die Radiostationen ihre Musik vom Computer auswählen ließen. Der Moderator war nur zum Schein selbst aktiv. Da brauchte man sich nicht zu wundern, wenn alle das Gleiche spielten. Eigentlich war es ihm egal, welcher Sender lief. Das regionale Radio bevorzugte er einzig wegen der aktuellen Verkehrs- und Blitzermeldungen und den Nachrichten aus der Region.
Norbert griff nach der Zigarettenschachtel auf dem Tisch. Eigentlich hatte er überhaupt nicht wieder im Büro rauchen wollen und deshalb auch keinen neuen Aschenbecher angeschafft, sich irgendwann in den letzten Wochen jedoch, ohne nachzudenken, eine Zigarette angebrannt und die Untertasse entweiht. Doreen hatte wider Erwarten nicht protestiert und nun schliffen sich alte Gewohnheiten wieder ein.
Wenn er ehrlich war, hatte er nicht nur im Büro nicht wieder rauchen wollen. Die Ärzte hatten ihm nach dem Stromschlag fast alles verboten, was Spaß machte. ›Ihr Herz muss sich erholen, Herr Löwe. Also leben Sie gesund. Keine Zigaretten mehr. Alkohol in Maßen.‹ Er griff nach dem Feuerzeug, ließ es aufschnappen, hielt das Flämmchen an die Zigarette und langte nach den obersten Briefen. Rechnungen, nichts als Rechnungen. Das nahm bedrohliche Ausmaße an.
»Morgen müssen wir zur Bank.« Er schielte zu Doreen, die Kaffeepulver in den Filter schaufelte.
»Ich habe die Absender gesehen.« Sie füllte Wasser in die Maschine. »Was haben wir denn noch auf dem Geschäftskonto?«
»Dafür reicht es noch.« Norbert warf die leeren Umschläge in den Papierkorb, sortierte die Vordrucke in seine ›Zu-Erledigen-Mappe‹ und fuhr fort. »Wir haben ja jetzt den Auftrag von Herrn Röthig. Wenn wir einige Tage observieren, kommen wir gut über die nächsten Wochen.« Das Geld war immer knapp, aber noch reichte es. Er hielt inne, irritiert durch Doreens abwesendes Lächeln. »Hörst du zu?«
»Aber ja doch. Du hast gesagt, wir bräuchten uns vorerst keine Gedanken um Geld zu machen. Klar habe ich das gehört.« Sie wackelte mit dem Kopf hin und her und schob das Bild von ›Bärentatze‹ beiseite.
Der Stapel mit der unerledigten Post wurde kleiner und Norbert entsorgte die Werbebriefe, ohne sie zu öffnen. Ein Hochglanzkatalog kam unter dem Stapel zum Vorschein. Das hatte er ja völlig vergessen. »Was haben wir denn da!«
Schon blickte Doreen neugierig zu ihm. Schöne bunte Kataloge interessierten sie jederzeit.
Im Näherkommen kniff sie die Augen zusammen, um ein scharfes Bild zu erzielen. »Was ist das?«
»Den habe ich vor einigen Wochen angefordert. Zu unserer Information.« Er beobachtete ihr Gesicht, als sie mit dem rechten Daumen die Seiten auffächern ließ. »Computer, Software, Hardware, Technik, Zubehör? Was wollen wir damit? Brauchst du mal wieder ein Diktiergerät?«
»Wir müssen technisch gesehen aufrüsten. Erinnerst du dich an Alfred?« Er fuhr fort, ohne ihr Zeit zum Antworten zu geben. »Alfred hat erst vor kurzem zu mir gesagt, wir seien provinziell. ›Liebenswert provinziell‹ zwar, aber provinziell.«
Alfred, der ›Profiler‹ mit dem Schuhbürstenbart über der Oberlippe, Alfred mit der fettigen Bassstimme, die so gar nicht zu seinem eher schmächtigen Körper passen wollte, tauchte vor Doreens innerem Auge auf. »Provinziell nennt er uns, sagst du. Das ist aber gar nicht nett von ihm.« In ihrer Stimme schwang ein kleines Lächeln mit, während sie sich neben Norbert auf die Schreibtischkante setzte. »Wir zwei Provinzdetektive.«
»Ich glaube nicht, dass er es abwertend gemeint hat. Aber wenn wir den Kunden auch rückständig vorkommen, ist das nicht gerade förderlich. Deshalb dachte ich –«, er zeigte auf den Katalog, »– dass wir etwas tun müssen.«
»Und an was hattest du da so gedacht?«
»Als Erstes brauchen wir einen Extra-Computer für das Büro.« Erst jetzt löste Norbert seinen schräg gelegten Kopf aus der Handfläche und sah ihr in die Augen. Sie schien nicht erbost über seinen Vorschlag sondern wartete geduldig, und so fuhr er fort. »Ich möchte meinen gern wieder mit nach Hause nehmen. Den Drucker auch.« Er ahnte ihre Stirnfalten, bevor sie erschienen.
»Also kostet es doch Geld.« Jetzt wurde sie doch unwirsch.
»Ja, aber damit es nicht zu teuer wird, informiere ich mich erst einmal.« Er konnte es sich nicht verkneifen, seine Hand auf ihren Unterarm zu legen. Nur zur Besänftigung. Ihre Haut fühlte sich seidig und kühl an.
Doreen versuchte, sich loszumachen. Seine Handfläche brannte auf ihrem Arm. Er probierte es immer wieder. »Also gut. Informiere dich.« Sie nickte ihm zu und erhob sich, um den Kaffee zu holen. Vorläufig würde sie ihn in dem Glauben lassen, er habe gewonnen.
Mal sehn, wann du mit den ersten Neuerwerbungen ankommst, mein Freund.Jetzt waren ganz andere Probleme zu lösen. Sie musste Bärentatze anrufen und sagen, dass sie den Schal abholen wolle. Und zwar ohne, dass Norbert Wind davon bekam. Er war hellhörig in solchen Angelegenheiten, vermutete gleich absurde Dinge und war grundlos eifersüchtig, auf alles und jeden. Und sie wollte doch wirklich nur schnell auf dem Heimweg vorbeifahren und ihren Schal holen.
Und einen Blick in die Azuraugen werfen.
Doreen schüttelte sich kurz und balancierte die übervolle Kaffeekanne, Sahne, Tassen und Untertassen zurück zu ihren beiden Schreibtischen.
Telefonieren, Norbert für fünf Minuten loswerden. Mechanisch schob sie die Tassen auf ihre Plätze und goss ein. Zuerst die Kaffeesahne, dann den Kaffee. So brauchten sie keine Löffel.
»Jetzt könnte ich noch eine Streuselschnecke verdrücken.« Norbert pustete auf die Oberfläche der Tasse und beobachtete die goldgelben Schlieren in der dunkelbraunen Flüssigkeit. »Das wäre eine schöne Belohnung.«
»Ich könnte auch ein Stück Kuchen vertragen.« Doreen ahnte den Hauch einer Chance. Er kriegte nie genug. Das wäre die vierte Streuselschnecke an einem Tag. Sie aß selten Kuchen. Zu viele ungesunde Kohlenhydrate, weißer Zucker, zu viele Kalorien.
»Dann hol ich uns gleich welchen.« Norbert erhob sich.
Mit einem Schmatzen schloss sich die Tür hinter ihm. Fünf Minuten. Der Bäcker war am unteren Ende der Bahnhofstraße. Doreen griff zum Hörer, öffnete Norberts ›Thomas- Bäumer- Mappe‹ und suchte in den Hieroglyphen nach der Telefonnummer.
Da. Hartmut Röthig. Ihr Herz pochte.
War ihr blauer Schal im Büro liegen geblieben? Könne sie ihn heute abholen? Wann? Ihre Finger klebten an den Tasten. Sie hörte, wie jede einzelne Ziffer durch die Relais klickerte. Es klingelte. Sie würde kein Wort herausbringen.
»Hoch- und Tiefbau, Massivhäuser, Bausanierung, Röthig, guten Tag.«
»Herr Röthig?« Wie formell! Doreen war sich nicht sicher, ob man ihrer Stimme die Aufregung anhörte. »Graichen hier, Doreen Graichen. Vom Detektivbüro Löwe.« Sie schnappte nach Luft. »Wir waren heute Vormittag bei Ihnen im Büro.«
»Ja, Sie haben Ihren Schal hier vergessen.« Seine Stimme klang gelassen. Warum sollte er auch aufgeregt sein.
Sie presste den Hörer fester ans linke Ohr. »Genau. Deswegen rufe ich an.« Das rechte Ohr spionierte in Richtung Tür. Sie würde es hören, wenn Norbert zurückkam. Wenn sie bereits im Büro war, benutzte er die Sprechanlage und Doreen ließ ihn ein. Gleich darauf schimpfte sie sich eine dumme Gans. Als ob das Telefonat etwas Verbotenes war! »Ich würde gern nach dem Dienst vorbeikommen und ihn abholen. Wie lange sind Sie da?«
»Das Büro ist bis achtzehn Uhr besetzt. Kommen Sie einfach vorbei.«
»Prima, danke. Bis dann.« Doreen legte den Hörer vorsichtig zurück. Ihr linkes Ohr glühte und für einen Moment konnte sie gar nichts denken. In ihrem Kopf war es leer und hell, wie auf einem Eisfeld in der Antarktis. Dann kam der letzte Satz zurück.
›Das Büro ist bis achtzehn Uhr besetzt‹. Er hatte nicht gesagt: »Ich bin bis achtzehn Uhr da.« Sie würde ihren Schal bekommen, aber von wem?
Ein schöner Plan! Da hätte sie auch gleich, ohne vorher anzurufen, nach dem Dienst hinfahren können. Doreen hörte Norberts schwere Schritte vor der Tür. Egal. So blieb es wenigstens spannend. Sie würde nachher zu ›Bärentatzes‹ Firma fahren und sehen, ob er anwesend war. Alles Weitere würde sich ergeben.
Norbert kam herein und stellte als Erstes das Radio lauter. Grönemeyer sang sein neues Lied. Was den Menschen ausmacht. Norbert liebte Grönemeyer. Manchmal sang er laut mit, laut und falsch. Doreen fand Grönemeyer manchmal zu rockig. Die älteren Titel, Balladen über die Liebe, gefielen ihr am besten. Jetzt dudelte jeder Radiosender, der etwas auf sich hielt, seine neue Single, nachdem vier Jahre Sendepause gewesen war. Sie überlegte, ob es sich lohnte, die gesamte CD zu erstehen. »Wirst du dir die neue CD von Grönemeyer kaufen?«
»Aber sicher, sobald sie rauskommt.« Er grinste. »Und dann kannst du sie auch mal mitnehmen und anhören, wenn du das möchtest.« Sein Grinsen wurde stärker. »Hätten wir einen CD-Brenner, könnte ich dir eine Kopie brennen.« Er zeigte auf den bunten Katalog. »Da sind Brenner drin.«
»Brauchen wir aber nicht für die Arbeit, oder?« Lauernd sah sie zu ihm.
»Nein, man kann zwar große Datenmengen prima auf CD speichern, deshalb wäre das sicher keine schlechte Anschaffung, aber vorerst brauchen wir keinen.«
Das Wetter wurde verlesen. Dann die aktuellen Verkehrsmeldungen. ›Und nun die Nachrichten aus der Region.‹
Doreen würde sich später immer wieder daran erinnern, an diesen kalten Montag Ende Januar, in ihrem gut geheizten Büro, Norbert ihr gegenüber, die Kaffeetasse auf halbem Weg zum Mund in der Luft verharrend.
Sie konnte noch Jahre darauf jede unwichtige Einzelheit der Situation abrufen, als sie zum ersten Mal vom Verschwinden dieses Mädchens hörte, diesem ›Fall Josephine‹, der sich im Nachhinein als so schaurig, so unverständlich grausam und so gänzlich anders als ursprünglich angenommen erwiesen hatte.
Im ersten Moment hatte Doreen ein Déjà vu.
Als die Nachrichtensprecherin mit ihrer kühlen, unbeteiligten Stimme verlas, dass ein Kind vermisst werde, seit gestern Nachmittag, ein zehnjähriges Mädchen, sah sie Annie und Melanie vor sich. Zwei süße, blonde Mädchen, entführt, missbraucht und getötet von einem Pädophilen, einem Kinderschänder der schlimmsten Sorte, Ronny Sommerfelder. Den Namen würde sie nie vergessen. Vergangenen Sommer war das gewesen. Durch Zufälle waren sie ihm auf die Schliche gekommen. Aber Ronny Sommerfelder saß doch im Knast und war rechtskräftig verurteilt. Oder? Doreen schloss die Augen.
Sie hörte, dass das Kind Josephine hieß. Auf dem Weg zu einer Freundin sei sie gewesen, mit dem Fahrrad. Sie sei klein für ihr Alter, zierlich. Trug eine abgewetzte braune Cordhose, Bluse und Strickjacke. Wer könne sachdienliche Hinweise geben?
Dann kam die nächste Meldung.
Doreen öffnete die Augen.
Norberts Mund stand ein bisschen offen und er hielt die Kaffeetasse noch immer auf halber Höhe. »Hast du das gehört?« Ganz langsam, als habe er Angst, sie könne zerbrechen, setzte er die halb leere Tasse auf die Schreibtischplatte. »Ein Mädchen wird vermisst.«
»Ich habe es gehört.« Was sollte sie sagen? Dass das Kind sicher wieder auftauchen würde? Wohl kaum, wenn es schon über 24 Stunden verschwunden war. Eine Zehnjährige!
»Wir müssen was unternehmen.« Norbert kniff die Augen zu Schlitzen zusammen.
»Wir müssen was unternehmen?« In ihrer Hilflosigkeit wiederholte sie seine Worte.
»Sie suchen, Leute befragen, mithelfen.« Er schüttelte den Kopf, als glaube er sich selbst nicht. »Weißt du nicht mehr, voriges Jahr? Haben wir den Fall denn nicht aufgeklärt?« Sein Blick bohrte sich in ihre Augen, stach zu, drängte. Wollte sie nicht begreifen?
»Das war Glück und Zufall. Norbert!« Doreen hob die Stimme. »Du kannst doch jetzt nicht im Ernst glauben, dass wir Profis im Wiederfinden vermisster Kinder sind!« Sie starrte zurück. Er wich ihrem Blick nicht aus.
»Ich glaube nicht, dass wir ›Profis‹ sind. Ich glaube, wir können mithelfen, das Kind zu suchen. Wir haben Erfahrung darin.«
Doreen war fassungslos. »Was willst du denn jetzt tun?« Sie schaute zur Uhr. Kurz nach drei.
»Ich muss erst einmal darüber nachdenken, nachdenken und Informationen sammeln. Vielleicht rufe ich Alfred an.«
Alfred. Norberts Allzweckwaffe. Der konnte auch keine Ferndiagnose stellen. Doreen berührte ihn am Arm, ließ ihre Hand besänftigend liegen. »Norbert, bitte, überleg dir das doch noch einmal. Wir haben den Auftrag von Herrn Röthig.« Ihr Schal fiel ihr wieder ein. Den sie nachher abholen wollte. »Wenn wir diesen Thomas Bäumer beschatten, bleibt uns keine Zeit für die Suche nach dem Kind.« Und davon abgesehen konnten sie es sich finanziell nicht leisten.
»Wir müssen aber.« Er streifte ihre Hand ab und sah in ihre Augen, müde und ein bisschen abwesend. »Wirmüssen.« Sein Blick richtete sich auf das Radio, das nun wieder computergenerierte Musik abdudelte und er schaltete es aus. »Ich könnte mir das nie verzeihen, wenn wir tatenlos zusehen. Egal was du denkst, ich will da mithelfen. Zuerst biete ich den Eltern meine Unterstützung an.« Er legte die Handfläche über die Augen. »Dann sehen wir weiter. Thomas Bäumer beschatten wir trotzdem. Wir teilen uns die Arbeit, einverstanden?«
Seine Murmelaugen bettelten. Aber nur ein bisschen. Hinter der Bitte war eiserne Entschlossenheit. Nichts würde ihn davon abbringen. Er wollte den Entführer des Mädchens jagen und zur Strecke bringen.
»Ich bin immer noch dagegen.« Auch Doreen war aufgestanden. Es sah so aus, als wäre der Tag im Büro für heute beendet. »Ich gehe jetzt. Wir haben für morgen früh einen Termin. Um sechs. Wo treffen wir uns?« Sie würde es nicht zulassen, dass er diesen einträglichen Beschattungsjob vernachlässigte. Auch wenn das langweilig war. Wie zwei Raubtiere kurz vor dem Kampf standen sie sich gegenüber.
»Hier. Wir treffen uns hier. Zehn vor sechs.« Er klang erschöpft. »Doreen, sei nicht böse mit mir deswegen, ich kann nicht anders.« Seine Stimme erreichte nur ihren Rücken.
Doreen nahm ihren Mantel vom Haken, schlüpfte hinein und schaute prüfend in ihre Umhängetasche. Lippenstift konnte sie im Auto auftragen. Sie würde jetzt fahren und ihren Schal holen. Und ein bisschen mit Hartmut Röthig flirten. Sie musste die quälenden Gedanken an verschwundene Mädchen beseitigen. Das war nicht gut für ihr Seelenwohl. Gar nicht gut.
»Dann bis morgen.« Die Türklinke in der Hand schaute sie zu Norbert. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Gebeugt stand er am Schreibtisch und Doreen konnte sehen, wie er als alter Mann sein würde.
Sie drehte sich um und ging hinaus.
Die Dunkelheit kam näher.
Fotos.
Agnes stand im Flur, unbeweglich, mit weit aufgerissenen Augen, ihre Schultern hingen kraftlos herab. Von weitem wirkte sie wie eine Marmorstatue. Ihr Kopf war ein Lampion ohne Licht, leer und dunkel.