3,99 €
Christine Pfanns plant einen Rachefeldzug. Es soll eine Abrechnung mit all jenen werden, die ihr im Laufe der vergangenen Jahre Unrecht zugefügt haben. Das sind zum Beispiel die alles kontrollierende Nachbarin aus dem dritten Stock, die karrieregeile und selbstgefällige ehemalige Kollegin, die ignorante Sachbearbeiterin beim Arbeitsamt und nicht zuletzt ihr Exmann Thoralf Pfanns, der sie wegen einer Jüngeren verlassen hat. Um den Aufenthaltsort eines ihrer Opfer ausfindig zu machen, beauftragt sie das Detektivbüro von Norbert Löwe und Doreen Graichen. Doch als die Detektive nicht nach ihren Vorstellungen agieren, geraten plötzlich auch sie ins Visier der selbsternannten Rachegöttin... Einmal mehr beweist Claudia Puhlfürst souverän, dass sie zu den besten Spannungsautorinnen Deutschlands gehört!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 501
Claudia Puhlfürst
Rachegöttin
Thriller
Edel Elements
Hinweis: Alle Zitate aus: "Lexikon merkwürdiger Todesarten" von Katja Doubek, Sept. 2000, mit freundlicher Genehmigung des Eichborn Verlages
Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel Elements, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg
Copyright © by Claudia Puhlfürst
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen.
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-175-0
edel.comwww.facebook.com/EdelElements
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Epilog
Sie würden alle dafür büßen.
Einer nach dem anderen, schön der Reihe nach. Es hatte keine Eile. Für jeden würde es eine passende Methode geben. In dem Buch waren genau einhundertfünfundneunzig verschiedene Möglichkeiten, alphabetisch geordnet, beschrieben. Nicht alle eigneten sich für ihre Zwecke, aber für die ersten Kandidaten auf der Liste würde es allemal reichen.
Die Frau lächelte und hob das Kinn, während ihr Blick aus dem Fenster schweifte und sich im Steingrau des Himmels zu den Mauerseglern gesellte.
Rache war süß.
Nur ehrliche Vergebung bringe Seelenfrieden, hatte die Psychotherapeutin gepredigt. Nur, wenn man im Innersten bereit war, Nachsicht zu üben, den anderen von seiner Schuld freizusprechen, wurde man selbst erlöst. Groll auf andere lege sich auf die eigene Seele. Der Geist könne nicht zwischen Zorn auf andere und Zorn auf sich selbst unterscheiden, Verbitterung war Verbitterung.
Hanebüchener Blödsinn war das. Alle predigten Nachsicht, loslassen können, Verzeihung üben. Die Frau war sich nicht im Klaren darüber, ob die Ärzte bewusst logen, oder tatsächlich an ihr eigenes Geschwafel glaubten. Was, wenn man einem von ihnen kräftig ins Gesicht schlüge? Hielten sie dann, um Gnade heischend, die andere Gesichtshälfte hin?
Wieder lächelte sie. So ein Versuch würde den Weißkitteln schnell den Widersinn solch abgedroschener Phrasen vor Augen führen.
Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dem Gegner auch die andere Wange anzubieten, war Humbug. Irgendwann lag man dann nachts in seinem Bett und knirschte mit den Zähnen, weil die Sanftmut einen um den Verstand gebracht hatte.
Wer hatte sie von ihren Sünden losgesprochen? Vergaben andere ihr?
Ihr Blick löste sich von der mächtigen Kastanie, deren letzte Blätter braun und schrumpelig an den verdorrten Ästen hingen, schweifte ins Zimmer zurück und fing sich in dem Spiegel hinter dem Schreibtisch. Erst gestern hatte sie ihn dort aufgehängt. Es war wichtig, sich stets zu kontrollieren. Die Fratze des glühenden Jähzorns musste, sobald sie hervortreten wollte, gebändigt werden. Rage führte zu unbedachten Handlungen. Sie ließ die Schultern herabsinken. Das sanfte Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden.
In der griechischen Mythologie existierten außer Zeus und Hera viele Götter. Nyx, Thanatos, Aidos, Themis, Hybris oder Nemesis. Die Frau verehrte Nemesis, die Göttin des ›gerechten Zorns‹, Tochter der Nacht Nyx und des Okeanos und Schwester von Thanatos.
Thanatos, der Gott des Todes, war ihr großer Bruder. Das passte alles wunderbar zusammen. RACHE und TOD.
Die Rachegöttin Nemesis bestrafte vor allem die menschliche Selbstüberschätzung und die Missachtung von Themis – der griechischen Göttin des Rechts und der Sittlichkeit. Hatte sie nicht genau das Gleiche vor? Der Blick der Frau glitt zum Spiegel.
Gleichmütig betrachtete Nemesis ihr Antlitz. Um den Mund lag ein Zug milder Güte. Die zart violetten Verfärbungen unter den Augen waren verschwunden. Seit die Frau sich zur Vendetta entschieden hatte, hatte sie jede Nacht durchgeschlafen, tief und fest, wie ein behütetes Kind. Das war der eindeutige Beweis, dass Rachegelüste das Gemüt nicht belasteten, sondern befreiten.
All diese nutzlosen Therapien. All die Jahre. Und was hatte es ihr gebracht? Nichts als schlaflose Nächte, schmerzende Muskeln und einen nervösen Magen. Aber jetzt war Schluss damit. Die Frau wollte nicht ihr restliches Leben damit verbringen, vertanen Chancen nachzutrauern. Jetzt war es Zeit, zu handeln.
Die Augen verließen das Spiegelgesicht und schwenkten zur Schreibtischplatte. Der Schutzumschlag des Buches war an den Rändern schon eingerissen. Auf dem Titelbild kippte eine Person über eine Mauer. Nur die Unterschenkel und die Schuhe waren zu sehen. Rot schrie die Schrift den Betrachter an: ›Lexikon merkwürdiger Todesarten‹.
Sie legte die linke Handfläche auf den Wälzer. Der Einband war glatt und kühl. Im Spiegel wirkte das Ganze wie eine Szene aus einem amerikanischen Gerichtssaal, bei der ein Zeuge auf die Bibel schwor.
Lange hatte sie nachgedacht und nun war es soweit.
Die Frau schob das dicke Buch beiseite und lehnte sich zurück. Die Spiegelgestalt überkreuzte die Arme und zwinkerte ihrem Ebenbild zu. Morgen würden die konkreten Planungen beginnen.
Einer nach dem anderen.
Sie würden büßen.
Doreen drängelte sich an dem dicken Mann und seiner nicht minder fülligen Frau vorbei, ging bis dicht an die gläserne Begrenzung und klammerte sich an der Haltestange fest. Unter ihr tummelten sich die Menschen. Mit einem sanften Zischen schlossen sich die Türen und der Aufzug summte nach unten. Die scheinbar sinnlos durcheinanderwimmelnden Leute glitten näher. Einige waren vor den Fahrstuhltüren stehen geblieben und warteten nun, dass die Kabine in ihrer Etage ankam.
Ein unmerklicher Ruck und der Aufzug hielt. Der Dicke zwängte sich durch die wartende Menge, seine Frau watschelte hinterdrein. Doreen folgte den beiden in gebührendem Abstand. Die Leute vor dem Fahrstuhl schubsten und schoben, noch ehe sie ihn verlassen hatte, als gelte es, einen Preis zu gewinnen.
»Zuerst aussteigen, dann einsteigen. Das lernt doch jeder normale Mensch schon als Kind.« Keiner hörte Doreens dahingezischte Worte. Sie wiederholte ›normaler Mensch‹ etwas lauter, mit Betonung auf normal, aber niemand fühlte sich angesprochen. Sie hasste Gedränge. Es war ihr zutiefst zuwider, von Fremden berührt oder gar angerempelt zu werden. Manchmal ließ es sich nicht umgehen. Heute war so ein Tag.
In den Zwickau-Arcaden herrschte das übliche Freitagnachmittagsgetümmel. Die Zwickauer liebten ihre Arcaden. Genau wie die Bewohner der umliegenden Ortschaften. Alles unter einem Dach. Man konnte nett flanieren, ein bisschen einkaufen und anschließend noch ein Eis oder eine Pizza oder etwas Chinesisches essen, ohne auch nur einen Fuß auf die umliegenden Straßen gesetzt zu haben. Es waren die gleichen Geschäfte wie in allen Einkaufszentren. Das, was der Durchschnittsbürger gewöhnt war. Nur keine Experimente.
Doreen zog die Handtasche von der Schulter vor den Bauch und riss an dem widerspenstigen Reißverschluss. Sie musste nicht auf ihren Merkzettel schauen, um zu wissen was darauf stand, tat es aber trotzdem.
Brötchen, frisches Obst und ein paar Kosmetikartikel. Der Drogerie-Discounter war im Untergeschoss. Und diese Dinge waren auch nicht das Problem. Das Problem war ein Geschenk für ihre Mutter.
Doreen blieb stehen und starrte auf die Glaskrüge mit dem frisch gepressten Saft neben der Schüssel Obstsalat. Jedes Jahr das gleiche Theater. Es wäre doch ein Leichtes gewesen, im Vorfeld etwas Schönes für Mama auszusuchen. Ein wirklich passendes Geschenk, etwas, das die Mutter sich schon lange wünschte. Sie schaffte es nie.
»Möchten Sie was?« Die Verkäuferin hatte den Hals wie eine wachsame Eidechse nach vorn gereckt. Nun wartete sie mit schief gelegtem Kopf auf eine Antwort.
»Einen Exotic-Saft, bitte.« Doreen hatte nichts gewollt, aber ein paar Vitamine konnten nicht schaden. Der Winter stand vor der Tür. Die Echse nickte und griff nach einem Krug mit gelb-orangem Inhalt. Zäh floss der Saft in das schmale, hohe Glas.
»Ich nehme noch einen Becher Krautsalat mit.« Noch mehr Vitamine. Der Saft hinterließ säuerliche Spuren an den Zungenrändern.
»Bitte sehr.« Die Tüte wurde fein säuberlich verknotet und dann über die Theke gereicht. Im Gegenzug nahm die Verkäuferin das Geld entgegen und zwinkerte bestätigend.
»Danke.« Doreen stellte das Glas zurück, drehte sich um und spazierte in Richtung Marienstraßen-Ausgang davon. Sie würde jetzt systematisch alle Geschäfte abklappern und nach etwas Passendem Ausschau halten. Es gab genug zu kaufen. Irgendetwas würde sie schon finden.
Am Eingang des Schreibwarenladens wetteiferten grellbunte Karten um die Aufmerksamkeit der vorüberschlendernden Menschen. Mit abwesendem Gesichtsausdruck gab Doreen dem Ständer einen Stoß, ließ die farbige Vielfalt an sich vorüberdrehen und suchte nach dem Wort ›Geburtstag‹. Gab es etwas mit Blümchen oder mit putzigen Kätzchen? Das Gestell trudelte aus, als sie merkte, dass sie nichts mitbekommen hatte. Noch eine Runde Kartenkarussell.
Auf dem Rückweg zu den Rolltreppen blieb ihr linker Fuß an einer Unebenheit hängen. Sie machte einen Ausfallschritt, stieß mit dem rechten Bein an den Halbstiefel eines Teenagers und verlor die Balance. Im Fallen nahm sie noch die pinkfarbene Häkeltasche des Mädchens wahr, dann landete Doreen mit nach vorn gestreckten Händen auf dem Boden. Ihre Handballen prallten den Bruchteil einer Sekunde nach den Knien auf den glatten Untergrund. Direkt vor ihrem Kopf landete der Beutel mit dem Krautsalat.
Wie ein ungelenker Vierfüßer hockte die dunkelhaarige Frau neben der Rolltreppe und fühlte, wie die Röte ihr Gesicht erhitzte. Ganz toll, Doreen Graichen. Ein bühnenreifer Auftritt war das. Die Leute um sie herum schienen alle im gleichen Moment die Luft angehalten zu haben. Als die Kakophonie aus Geräuschen und Gemurmel wieder einsetzte, schien sie lauter zu sein als vorher.
Steh auf. Mach dich nicht noch lächerlicher, als du es schon bist. Erhebe dich und verschwinde ganz schnell.
Etwas zerrte an ihrem Ärmel. Dazu brabbelte eine Reibeisenstimme. »Hoppla. Haben Sie sich wehgetan?« Das Muster des Fußbodens brannte sich in Doreens Netzhaut, während sie versuchte, aufzustehen. Das Zerren am Ärmel verwandelte sich in einen Klammergriff um ihren Oberarm. »Na, kommen Sie.«
Doreen streckte die Hand nach dem Krautsalat aus, rappelte sich auf, klopfte die Knie ab und ließ den Blick erst danach von ihren Hosenbeinen zur Seite und nach oben schweifen.
Zu der Reibeisenstimme gehörte ein langer, dürrer Mann mit spitzer Nase. Er lächelte sie an. Das Weiße in seinen Augen war gelb. Gelbsucht. Oder etwas Ähnliches. Doreen sah grellrote Schlagzeilen vor ihren Augen flackern: Zwickauer Detektivin wirft sich vor die Füße eines Leberkranken.
Der ›Leberkranke‹ hielt noch immer ihren Arm umklammert. Doreen bewegte unwillig die Schultern und er ließ los. »Alles in Ordnung?« Als sie nickte, lächelte er breiter und machte dann einen Schritt zur Seite. Neben ihr huschten die Leute vorbei, als wäre nichts geschehen. Eine Frau war gestolpert, hingefallen und dann wieder aufgestanden. Nichts von Belang, nichts, weswegen man seinen Einkaufsbummel unterbrechen musste.
Doreen quetschte ein »Danke« heraus, schob den Riemen der Handtasche auf die Schulter, drehte sich um und prüfte im Davongehen die Blicke der Leute. Niemand schien von ihr Notiz zu nehmen.
Das schien nicht ihr Tag zu sein. Sie verbannte den unangenehmen Zwischenfall in eine fest verschlossene Schublade ihres Gehirns und drehte den Schlüssel zweimal herum. Nur die sanfte Röte in ihrem Gesicht erinnerte noch an den Sturz. Aber das zarte Purpur würde bald verschwinden.
Aus der Parfümerie quoll eine fast sichtbare Wolke synthetischer Duftkompositionen heraus und mischte sich mit den süßscharfen Gerüchen des daneben befindlichen China-Imbisses.
Doreen blieb stehen und begutachtete die riesigen Flakons im Schaufenster, während sie darüber nachdachte, ob der Wunsch, der Mutter eine Körperpflege oder ein Parfüm zu schenken, nicht eher ihr eigenes Bedürfnis ausdrückte. Schenkte man nicht immer Dinge, die einem selbst gefielen? Und bestand die Kunst des Schenkens nicht gerade darin, etwas zu finden, das dem anderen eine Freude machte?
»Guten Tag, schöne Frau!«
Die tiefe Männerstimme in ihrem Rücken ließ Doreens Nackenmuskeln verkrampfen. Mit hochgezogenen Schultern starrte sie auf die beiden Gestalten in der spiegelnden Glasscheibe. Eine große, schlanke Frau mit hellen Hosen und Pferdeschwanz. Der Mann dicht hinter ihr überragte sie um einiges. Er trug ein braunes Tweedjackett. Und er lächelte. Das war im unscharfen Spiegelbild nicht zu sehen, aber Doreen hatte es an der Stimme gehört.
Die Härchen auf ihren Unterarmen hatten sich aufgerichtet, ihr törichtes Herz blähte sich wie ein überdehnter Ballon in der Brust und fiel wieder zusammen, während sie noch immer wie eine Marmorstatue vor dem Geschäft stand und von blumigen Gerüchen umfächelt wurde.
Sie konnte nicht ewig mit glasigen Augen in diese Parfümerie hineinstarren. Irgendwann würde sie sich umdrehen und ihm guten Tag sagen müssen.
Doreen atmete tief aus, ließ die Schultern dabei heruntersacken, wandte sich mit einem Ruck von der Scheibe ab und streckte den rechten Arm aus. »Guten Tag, Paul. Wir haben uns ja ewig nicht gesehen!« Es klang ein bisschen schrill. Seine Handfläche fühlte sich warm und weich an. Erst jetzt wagte sie einen schnellen Blick in sein Gesicht. Die Fältchen um seine Augen schienen sich tiefer eingekerbt zu haben.
Paul behielt ihre Hand einen Augenblick länger als nötig in seiner und Doreen spürte sofort das altvertraute Lodern des glühenden Feuerrades, das durch ihren Bauch rollte.
Verschwand das denn nie? Dies schien ganz entschieden nicht ihr Tag zu sein. Sie hatte Paul jetzt – Doreen rechnete kurz nach, während sie ihre Rechte aus seinem Griff löste – fast zwei Jahre nicht gesehen. Nichts von ihm gehört, nichts von ihm gelesen. Kein Anruf, keine Karte, keine E-Mail. Er war verschwunden. Aus Zwickau, aus Sachsen, aus ihrem Leben. Ein Journalist, der Reiseberichte schrieb. Paul war ständig auf Achse. Paul hatte kein Interesse mehr an Doreen. Sonst hätte er sich doch zwischendurch bei ihr gemeldet.
»Wie geht es dir?«
Doreen musste nicht hinschauen, um zu wissen, dass die Ellenbogen seines altmodischen Tweedjacketts mit braunem Wildleder abgesetzt waren, das schon reichlich abgewetzt wirkte.
»Gut, alles bestens. Und dir?« Bedeutungslose Floskeln.
»Auch. Ich bin viel unterwegs.« Wieder wanderten seine Mundwinkel nach oben. Doreen dachte darüber nach, dass sie hier standen und wie zwei flüchtige Bekannte müßigen Small-Talk machten und registrierte gleichzeitig die kleine Stelle an seinem Mund, die er beim Rasieren vergessen hatte.
»Und jetzt bist du wieder in Zwickau?«
»Die nächsten Wochen ja.« Seine Hand berührte ihren Unterarm. »Komm, trinken wir einen Kaffee zusammen.«
Die Hand schien ein Loch in ihren Ärmel zu brennen. Doreen sah nach unten und bemerkte an ihren Knien zwei dunkle Flecken. Sie mochte nicht mit Paul Kaffee trinken. Schon gar nicht hier in den Arcaden, in aller Öffentlichkeit, auf dem Präsentierteller, wo jeder jeden begaffen konnte. Ihr Mund öffnete sich zu einer Antwort. »Gern. Gehen wir nach unten?«
Paul nickte und ging in Richtung Rolltreppe voran. »Ich habe übrigens von euch gelesen. Detektivbüro Löwe – ihr habt euch in mehreren Vermisstenfällen engagiert.« Doreen betrachtete seinen breiten Rücken. Sie konnte ihn grinsen hören. Der Handlauf der Rolltreppe glitt schneller nach unten als die Stufen. So zog es den Arm nach vorn, bis man loslassen und weiter oben anfassen musste.
Das Eiscafé befand sich genau in der Mitte des Einkaufszentrums, vor dem hinauf- und herunterschwebenden Aufzug. Und auch hier wimmelte es von Leuten. Paul hielt nach einem Tisch am Rand Ausschau, zog einen Stuhl hervor und wartete höflich, bis seine Begleiterin sich gesetzt hatte, ehe er selbst Platz nahm.
Doreen zog die Beine unter den Sitz und sah sich um. Am Nachbartisch saß eine grimmig dreinschauende junge Mutter, neben sich einen Kinderwagen, in dem ein kleiner Junge mit schokoladenverschmiertem Gesicht saß. Auf dem Sitz daneben hockte ein etwa dreijähriges Mädchen und löffelte Eis aus einer flachen blauen Glasschale. Das bezopfte Kind erinnerte Doreen an den Fall Lamm. Norbert und sie hatten Material von Herrn Lamms Tochter für einen Vaterschaftstest besorgen müssen. Genau hier, in diesem Café, hatte sie ein paar feuerrote Haare des Mädchens ergattert.
»Doreen?« Pauls Stimme holte sie aus ihren Erinnerungen. »Kaffee oder Cappuccino?«
»Ich nehme einen Cappuccino.«
»Fein. Ich hätte gern ein Kännchen Kaffee.« Die Bedienung nickte und verschwand. Er sah ihr noch einen Moment hinterher, dann kehrte sein Blick zu Doreen zurück. »Bearbeitet ihr eigentlich außer Vermisstenfällen auch andere Sachen?«
»Wir machen alles: Ehebruch, Ladendiebstahl, Beschattung von Schwarzarbeitern. In die Fälle mit den vermissten Kindern sind wir eher zufällig hineingeraten.« Wir machen alles. Das hörte sich an, als seien sie und Norbert die Übeltäter.
»Dann könnte ich vielleicht eure Hilfe gebrauchen.« Paul atmete mit einem kleinen Schnaufen aus und legte den Kopf kurz in den Nacken. Doreen dachte zum dritten Mal, dass dies nicht ihr Tag war.
Mit einem Lächeln betrachtete die Frau ihre Liste. Das sah alles sehr schön akkurat und sauber aus.
Ganz links die Ziffern. Dann die Namen der Betreffenden. Daneben folgte das Delikt; das, was die Personen auf der Liste ihr angetan hatten. Schnell huschten die Augen der Frau weiter nach rechts, damit ihr Zorn beim Lesen all dieser Verfehlungen nicht zu stark wurde.
In der nächsten Spalte war die Anschrift eingetragen. Auch für Telefonnummern und E-Mail-Adressen war ein Platz vorgesehen.
Nicht bei jeder Person war die Tabelle vollständig ausgefüllt, aber das würde sich finden. Nur nichts überstürzen, schön Schritt für Schritt. Es konnte auch durchaus sein, dass noch Namen hinzukamen. Dass jemand von der Liste wieder gestrichen wurde, schien ihr eher unwahrscheinlich. Diese hier hatten alle genug Unheil angerichtet. Es gab keinen Anlass zur Begnadigung.
Die Frau hob das Kinn und betrachtete ihr Spiegelbild. Heute fand sie sich regelrecht gutaussehend. Die gelben Strahlen der Nachmittagssonne ließen winzige goldene Lichtpünktchen in ihren Augen tanzen. Zur Feier des Tages hatte sie sich heute Morgen geschminkt. Der metallisch-grüne Lidschatten verlieh ihrer Iris eine bernsteinfarbene Tönung. Die Wangen waren leicht gerötet. Es war kein Rouge nötig gewesen, allein die Vorfreude auf die kommenden Tätigkeiten hatte ihrem Gesicht die Blässe genommen.
Sehr hübsch das Ganze. Der rosa Spiegelmund lächelte zum Abschied sanft, dann wandte die Frau sich von ihrem Ebenbild ab und neigte den Kopf wieder über das Papier.
Das Beste an der ganzen Sache waren eigentlich die letzten beiden Spalten. In beiden stand außer der Überschrift noch nichts. Die eine hieß: ›Bestrafung‹, die andere war mit ›erledigt/Datum‹ gekennzeichnet. Auf die Eintragungen hier freute sie sich am meisten. Im Verlaufe der nächsten Wochen würde sich die Liste mit Inhalten füllen.
Die Frau schaltete den Rechner ein. Jetzt musste sie das Ganze in einer Datei abspeichern. So konnte man stets etwas ändern, einfügen, verbessern. Gut geplant war halb gewonnen. Nemesis überstürzte nichts.
Der Computer summte leise, während sie die Tabelle auf dem Bildschirm betrachtete. Ihre Augen verengten sich. Dann fügte sie noch eine Spalte ein und hielt kurz inne, um über die Benennung der Kopfzeile nachzudenken. ›Schadenshöhe‹ hatte etwas von Versicherungsfall. Darum ging es hier nicht. ›Dringlichkeit‹ klang nicht schlecht, implizierte jedoch ein zeitliches Muster. Und es sollte nicht darum gehen, schnell zu arbeiten. Nach all den Jahren kam es auf ein paar Tage nicht an. Jeder von ihnen würde irgendwann an der Reihe sein.
Nicht alle Angeklagten waren jedoch gleichwertig. Manche hatten ihr weniger abscheuliche Dinge angetan als andere. Demnach würde es auch nicht für jeden die gleiche Strafe geben. Schließlich tippte sie das Wort ›Bestrafungsreihenfolge‹ in das leere Kästchen. Das genügte fürs Erste. Sie konnte über den richtigen Begriff gründlich nachdenken und ihn jederzeit ersetzen.
Die Frau klickte auf ›Speichern‹ und während die Diskette ratterte, huschte ihr Blick zum Schutzumschlag des dicken Wälzers neben der Tastatur. Einhundertfünfundneunzig ›merkwürdige Todesarten‹. Sie zwinkerte Nemesis im Spiegel zu.
Nicht jeder Angeklagte in dieser Datei würde auf ›merkwürdige‹ Art und Weise zu Tode kommen. Das Beste kam immer zuletzt. Sie würde nicht gleich mit einem Mord beginnen. Zuerst die leichten Fälle, dann konnte man sich nach und nach steigern.
Die Vorfreude erhitzte ihre Wangen. Die Frau überflog die Namen in der Tabelle. Sie würde jetzt versuchen, jedem von ihnen eine Zahl in der Chronologie der Sühne zuzuordnen. Die Nummerierung war lediglich eine Richtschnur, an der man sich entlanghangeln konnte. Vielleicht kamen ja im Lauf der Zeit sogar noch Personen hinzu. Man konnte schließlich nie wissen, was noch alles geschah.
Die Ersten in der Tabelle würde sie sich gleich vornehmen. Nächste Woche schon.
Es reichte, den niedrigen Ziffern einen kleinen Denkzettel zu verpassen. Es sollte eine Strafe sein, die jene zwar empfindlich traf, nicht jedoch den Verlust ihres minderwertigen Lebens mit sich brachte. Das wäre zuviel der Ehre für ein paar unbedeutende Gestalten.
Die wirklich bösartigen Menschen konnten auf ihre Bestrafung ruhig ein wenig warten.
Noch einmal glitten die Augen der Frau von oben nach unten über die Liste. Schon der bloße Anblick mancher Namen erzeugte einen rötlichen Schleier vor ihren Augen. Wenige Sekunden später kam es dann dazu, dass es in ihrem Kopf zu pulsieren begann, was letztendlich jedes Mal hämmernde Kopfschmerzen verursachte.
Nachdem ihr Blick sich einen Moment lang am Namen einer unheilbar bösartigen Person festgebrannt hatte, nahm die Frau sich vor, von ihren ›Klienten‹ in Zukunft nur noch als Ziffern auf der Liste zu denken. Nummer eins, Nummer zwei, Nummer drei – so, als habe man Häftlinge in einer Anstalt vor sich.
Sofort lichtete sich der purpurne Nebel. Das war entschieden besser. Die Frau lehnte sich zurück, überkreuzte die Arme so, dass beide Hände in den warmen Achselhöhlen steckten, und bewunderte ihren gelassenen Gesichtsausdruck im Spiegel. Sehr gut. Rasende Wut hatte noch nie zu sinnvollen Taten geführt. Kühl und gleichmütig erreichte man sein Ziel mit Sicherheit.
Nemesis lächelte ihr marmornes Lächeln. Vielleicht konnte heute schon eine kleine Exkursion den Sonntag versüßen. Nur ein kleiner Test ihrer Künste, etwas relativ Harmloses. So wäre es auch möglich, eine ihrer Verkleidungen auszuprobieren.
Die Frage war nur – wer sollte der oder die Auserwählte sein, und welches Unglück würde über den Prototyp – quasi die Nummer null – hereinbrechen?
Es war nur eine kleine Probe aufs Exempel, ein Test von Nemesis’ Fähigkeiten disziplinierter Planung und Ausführung. Die Frau speicherte ein letztes Mal, holte die Diskette heraus und schaltete den Computer aus.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer ließ sie all die Menschen, die sich ihrem Gedächtnis eingeprägt hatten, vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Es musste jemand sein, an den sie ohne aufwendige Recherchen sonntags herankam.
Vor sich hinsummend, griff die Frau nach der graumelierten Perücke ihrer längst verstorbenen Tante, wickelte die Eulenbrille mit dem roten Gestell in den kratzigen Fleecemantel ein und verstaute das Ganze in einem Stoffbeutel. Noch etwas Schminke, und die Utensilien für die kommende Expedition waren komplett.
Schön machen konnte sie sich nachher, im Auto, an einem unbeobachteten Ort. Was sollten die Hausbewohner von ihr denken, wenn sie in ihrer Verkleidung die Treppe herunterkam?
Es war soweit. Sie schlüpfte in ihre flachen Schuhe und schob die Henkel des Beutels über ihrer Schulter zurecht.
Nemesis würde eine kleine Probe ihrer Künste abliefern. Beschwingt eilte die Frau die Stufen hinab.
»Morgen!« Das Begrüßungswort hallte noch einen Augenblick nach. Erst jetzt wandte Norbert sich vom Bildschirm ab und musterte seine Kollegin. »Du siehst müde aus.«
»Ich bin müde.« Doreen hasste seine morgendliche Fröhlichkeit. Wie konnte es sein, dass der eine früh nicht aus dem Bett fand und dann mindestens eine Stunde brauchte, um richtig wach zu werden, und der andere beim ersten Schrillen des Weckers jauchzend aus den Federn hüpfte? Das Leben war nicht fair. Sie hängte ihre Jacke auf den Bügel und ging zu den beiden Schreibtischen. Neben Norberts linker Hand lagen zwei Eier auf einer Papierserviette.
»Was ist denn das?«
»Mein zweites Frühstück.« Seine Mundwinkel wellten sich für einen Moment nach oben, dann rutschten sie wieder in die ›Ich-bin-beschäftigt-Stellung‹.
»Hast du keine Angst wegen des Cholesterins?« Doreen drehte sich um und hielt nach der Kaffeemaschine Ausschau.
»Das ist doch eine Erfindung der Margarineindustrie. Man hat festgestellt, dass der Cholesterinspiegel durch die Ernährung nur zu fünf Prozent beeinflusst werden kann.«
»Glaubst du das?«
»Es ist mir, ehrlich gesagt, egal. Hühnerei enthält wertvolles Eiweiß. Eiweiß braucht jeder. Und Kaffee ist übrigens auch nicht schädlich.« Norbert nickte zur Bekräftigung, hob dann die Hand und deutete in Richtung Regal. »Ich habe eine Thermoskanne gekauft. Darin bleibt der Kaffee länger heiß.« Er betrachtete die Rückseite seiner Kollegin. Ihr Hintern wirkte in der hellen Jeans flach. Schnell glitt sein Blick nach oben zu ihren Haaren, bevor sie im Spiegel sehen konnte, was seine Augen gerade fixiert hatten.
Beladen mit Kanne, Tassen und Kaffeesahne kehrte Doreen zurück, lud alles auf ihrer Seite ab und setzte sich. »Was machst du da eigentlich?«
»Ich recherchiere im Netz und informiere mich über unsere Konkurrenz.«
»Konkurrenz? Meinst du andere Detekteien in der Umgebung?«
»So ist es. Es gibt einige.«
»Und was nützt uns das, wenn wir wissen, dass es noch andere Detektivbüros gibt?« Doreen goss beide Tassen drei viertel voll und fügte bei sich noch Kaffeesahne hinzu. Norbert verzichtete seit einiger Zeit darauf. Was er daran schlecht fand, hatte er ihr noch nicht verraten.
»Mich interessiert, was die so für Fälle bearbeiten.«
»Du willst ihnen Kunden abspenstig machen?«
»Das ist ein interessanter Gedanke, Doreen, aber nein«, er nahm einen Schluck und kräuselte kurz die Nase, »da können wir eh nicht mithalten. Hör mal, was da alles aufgeführt ist:« Seine rechte Hand löste sich vom Henkel der Tasse und griff nach der Mouse. »Unterhaltsangelegenheiten, Überprüfung von Fehlverhalten innerhalb der Ehe beziehungsweise Partnerschaft, Personenüberwachung, Aufspüren von Überwachungstechnik, Observation, Videoüberwachung und andere technische Überwachungen, Anschriftenermittlung –« Norbert holte tief Luft, ehe er weiter vorlas, »– Spurensicherung und DNA-Analyse, Auffindung versteckter und vermisster Personen, Begleitschutz und Personenschutz, Beweissicherung bei Erpressung und Bedrohung, Diebstahl- und Betrugsaufklärung, Objektschutz und Objektüberwachung, Recherchen jeglicher Art, Sicherstellung von Eigentum, Sorgerechtsangelegenheiten.«
DNA-Analyse und Unterhaltsangelegenheiten. Er presste die Zähne aufeinander und lockerte den Unterkiefer gleich wieder. Sein Sohn Nils materialisierte sich vor seinem geistigen Auge.
DNA-Analyse ...
»Das ist ja gigantisch! Was ist denn mit ›Aufspüren von Überwachungstechnik‹ gemeint?«
»Augenblick, das kann ich dir genau sagen.« Wieder huschte die Hand von der Tasse zur Mouse. Das Rädchen ratterte fast unhörbar.
»Hier steht als Erklärung: ›Unterbindung von illegalen Lauschangriffen und Videoüberwachungen. Durch professionelle Einsatzmittel spüren wir jegliche Art von Überwachungstechniken auf, in Klammern: Lauschabwehr. Falls gewünscht, ermitteln und überführen wir auch den oder die Täter. ‹«
»Wer könnte denn so etwas brauchen?« Doreen trank einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse vor sich hin und verankerte ihren Blick dann in den Murmelaugen ihres Kollegen. Er wirkte irgendwie betrübt.
»Keine Ahnung. Der Durchschnittsbürger sicher nicht. Das ist auch gar nicht so wichtig.« Er hob die Schultern. »Ich dachte, ich finde etwas, das wir unseren Kunden auch anbieten könnten.«
»Personenüberwachung, Diebstahl- und Betrugsaufklärung oder Spurensicherung für eine DNA-Analyse haben wir doch auch schon gemacht. Und ›Recherchen jeglicher Art‹ klingt für mich ziemlich nach blabla.«
»Das ist blabla, Doro.« Norbert schob seinen Stuhl nach hinten, langte nach den Tassen und erhob sich. »Davon abgesehen, habe ich mir die Referenzen und die Herkunft dieser Detekteien angeschaut.« Laut klirrend landete das Kaffeegeschirr im Waschbecken. »Das sind Wessi-Konzerne mit Zweigstellen in allen größeren Städten. Da können zwei kleinstädtische Ossis nicht mithalten.« Den Unterkiefer nach vorn geschoben, kam er zurück.
»Könnte nicht genau das unser Vorteil sein?« Doreen betrachtete die Fältchen, die strahlenförmig von seinen Augen nach außen zogen. »Dass wir kein Großunternehmen sind? Das persönliche, sächsische Kolorit?«
»Ich bin kein Sachse.« Norberts Unterkiefer wanderte noch ein Stückchen weiter nach vorn. Dann grinste er plötzlich. »Aber ein Ossi. Jedenfalls hat mich das auf einige Ideen gebracht. Wirst schon sehen.« Die Beine seines Sessels kratzten über den Boden. »Bevor wir uns an die Arbeit machen: Wie war dein Wochenende?«
»Bescheiden. Langweilig. Und konventionell. Ich war bei meinen Eltern. Meine Mutter hatte Geburtstag.«
»War nicht so doll?«
»Wie es auf dem Dorf eben so ist, wenn jemand Geburtstag hat. Die ganze Zeit kommen Leute zum Gratulieren. Und glaube nur nicht, dass die dann gleich wieder verschwinden. Sie setzen sich fest und wollen bewirtet werden. Bis die Nächsten klingeln. Das geht den ganzen Tag. Jedes Jahr das Gleiche.« Vom Desinteresse der Mutter an ihrem ›Geschenk‹ ganz zu schweigen. Auch alle Jahre wieder – Doreen schenkte nie das Richtige. Die teure Designervase war achtlos auf dem Tisch gelandet, schamhaft versteckt hinter all den schreiend bunten, künstlich wirkenden Blumensträußen. »Und du? Wie war dein Wochenende?«
»Ähnlich deinem, was den Unterhaltungswert betrifft. Ich war zu Hause.« Norbert zog eine Schnute und hob kurz die Schultern. Er würde ihr mit Sicherheit nicht auf die Nase binden, was er tatsächlich gemacht hatte. In seinem Kopf wirbelten die Worte ›DNA-Analyse‹ und ›Unterhaltsangelegenheiten‹ durcheinander. Er senkte den Blick schnell auf den vor ihm liegenden Zettel. »Dann wollen wir mal den Plan für heute durchgehen.« Seine Finger tasteten nach dem Kugelschreiber. »Um zehn kommt Herr Bergmann.«
»Ach ja.« Der Fall war abgeschlossen. Sie mussten nur noch die ermittelten Fakten dokumentieren, ordentlich zusammenfassen und archivieren. Und eine Rechnung für Herrn Bergmann erstellen. Das bedeutete leider Bürokratenkram.
Doreen schaute auf ihren Schreibtisch. Es war höchste Zeit, Norbert über den Besuch eines weiteren Mandanten heute Nachmittag zu informieren. Sie schluckte, legte beide Handflächen über die Augen, sodass die Nase dazwischen frei blieb und holte Luft, während die Stimme in ihrem Gehirn insistierte, dass dies hier kein Kindergarten sei und Doreen kein Kind, das etwas Verbotenes getan habe.
»Heute Nachmittag kommt noch ein potenzieller Klient.« Jetzt war es heraus. Doreen nahm vorsichtig die Hände vom Gesicht, legte sie gerade nebeneinander auf die Tischplatte und hob dann erst den Blick. Norbert hatte seinen Sezierblick aufgesetzt. Die wasserklaren Murmelaugen bohrten sich direkt in ihren Kopf und tasteten nach den Gedanken.
»Noch ein Klient?« Die Wiederholung der Aussage als Frage. Auch das eine seiner Verhörmethoden. Kaum jemand konnte dem Drang widerstehen, darauf eine Antwort zu geben. Doreen war sich dessen bewusst, konnte sich aber dem Zwang ebenso wie die Mandanten nicht entziehen.
»Ja.« Sie spürte ihre verkrampften Nackenmuskeln.
»Und – sagst du mir auch noch, wer es ist?« Jetzt verwendete Norbert seine Ich-finde-das-Spiel-allmählich-lächerlich-Stimme.
»Paul.« Doreen nahm aus den Augenwinkeln noch wahr, wie sich die Augenbrauen ihres Gegenübers nach unten schoben, ehe ihr Blick zur Schreibtischplatte huschte und an den aufgeregt zappelnden Buchstaben kleben blieb.
»Der Paul?« Das ›Der‹ klang scharf. Doreen nickte nur.
»Und er kommt als Klient?« Erneutes Nicken.
»Wann?«
»Fünfzehn Uhr?« Sie formulierte es als Frage.
»Was sollen wir für ihn tun?« Der Kollege schien sich für die sachliche Herangehensweise entschieden zu haben. Zuerst einmal die Fakten erkunden. Doreen entschloss sich, einen kurzen Blick zu ihm hinüber zu wagen. Norbert saß wie ein Buddha auf seinem verschrammten Sessel, die Arme über der Brust verschränkt, das Kinn anklagend nach vorn gereckt. Sein Gesicht erinnerte sie an einen Nussknacker. »Es geht um Diebstahl. Genaueres weiß ich nicht. Ich habe gesagt, er soll vorbeikommen und dir das Problem schildern. Ich hatte ehrlich gesagt keine Lust, mich damit näher zu befassen.«
»Na gut. Dann werden wir nachher sehen. Fünfzehn Uhr, sagtest du?« Seine Stimme klang gleichmütig. Doreen konnte an seiner linken Schläfe eine kleine Ader zucken sehen, während er den Terminkalender betrachtete.
»Ja. Wenn wir etwas vorhaben, soll ich noch einmal anrufen.«
»Brauchst du nicht.« Norbert klappte den Kalender zu und scheuchte die wütenden Fragen in seinem Kopf beiseite.
Nein – es interessierte ihn nicht die Bohne, wann Doreen diesen Schönling wiedergetroffen hatte. Und schon gar nicht wollte er wissen, wie dieses Wiedersehen verlaufen war. Ob sie womöglich das ganze Wochenende mit dem Schnösel verbracht hatte. Vielleicht war der Typ sogar mit bei ihren Eltern gewesen. Wenn er es recht bedachte, war Doreen vorhin bei der Schilderung der Geburtstagsfeier ziemlich wortkarg gewesen.
Norbert hatte die ganzen Monate fest daran geglaubt, dass dieser Arsch für immer in der Versenkung verschwunden sei, aber anscheinend hatte er sich getäuscht. Das Schachtelmännchen war wieder aufgetaucht. Just zu dem Zeitpunkt, als er gewähnt hatte, wenigstens in der Detektei und mit Doreen liefe alles bestens. Aber das Schicksal erteilte bittere Lehren. Es war nicht genug, dass die Sache mit seinem Sohn Nils noch immer wie ein Damoklesschwert über ihm schwebte; nein, es musste ihm noch ein weiteres kleines Schnippchen schlagen; vielleicht, um zu prüfen, was so ein alter Mann alles aushielt.
Doreen war aufgestanden und hatte begonnen, das Geschirr abzuspülen.
Der alte Mann griff nach einem der hart gekochten Eier und klopfte es rhythmisch mit der spitzen Seite auf die Tischkante.
Ihr – beide – werdet – Norbert – Löwe – nichts – vormachen. Ich – bin – ein – geschulter – Detektiv. Ich – kann – kleinste – Regungen – in – eurer – Körpersprache – wahrnehmen. Ich – werde – euch – überführen.
Er legte die Eierschalen auf die Serviette und biss die Hälfte von der weißen Halbkugel ab.
Heute Nachmittag kam Paul Freiberger. Er würde hier in einem Raum mit Norbert und Doreen sitzen und reden. Und Norbert würde Augen und Ohren aufsperren. In diesem Fall war nicht das Gesagte von Bedeutung. Mimik und Gestik verrieten mehr über die Menschen, als ihnen lieb war. Besonders, wenn diese etwas zu verbergen hatten. Er begann, das zweite Ei zu schälen und betrachtete dabei Doreens gebeugten Rücken.
Ich kriege euch.
Die Frau fuhr die Marienthaler Straße entlang und beobachtete dabei die Tachonadel, die sich bei fünfzig einpendelte. Es gab keinen Grund zur Eile.
Kurz hinter der Einmündung der Goethestraße hatte Zwickaus Ampel-Connection eine ihrer ›Großtaten‹ vollbracht. Innerhalb von höchstens fünfhundert Metern strapazierten zahlreiche, nicht synchron geschaltete Ampeln, die Nerven der Autofahrer. Stand man bei Rot am Fritscheplatz, konnte man vier von ihnen vor sich leuchten sehen. Und hinter der Kurve warteten noch weitere auf ihre nichts ahnenden Opfer.
Es war eine Heimsuchung sondergleichen. Und eine sinnlose Verschwendung von Steuergeldern dazu. Niemand jedoch hatte es bisher vermocht, dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten.
Und – wie nicht anders zu erwarten – zeigte die erste dieser Ampeln Rot. Die Frau hielt an.
Im Rückspiegel näherte sich eine Straßenbahn und kam an der Haltestelle zum Stehen. Niemand stieg aus. In der Bahn saßen zwei Leute, einer vorn, einer hinten.
Die Straßenbahn fuhr los; die erste Ampel zeigte sich nachsichtig und ließ die beiden wartenden Autos weiterfahren. Im gleichen Moment wechselte die zweite Ampel von Gelb auf Rot, während die nachfolgende noch Grün anzeigte.
Die Frau atmete tief durch, tuckerte ein paar Meter vorwärts und wiederholte stumm, dass sie es heute nicht eilig habe. Es kam nicht auf ein paar Minuten an. Außerdem war es für ihr Vorhaben günstiger, abzuwarten, bis es dunkel war. Im Augenblick färbte die verschwindende Sonne den Himmel mintgrün. Ein paar durchsichtige rosagelbe Wolkenschleier verliehen dem Ganzen einen unwirklichen Anschein. Der Mercedes hinter ihr fuhr schon mit Licht.
Synchron hielten Fiesta und Mercedes an der nächsten Ampel. Die Straßenbahn entschwand um die Kurve. Straßenbahnen hatten in Zwickau immer Vorfahrt.
Es wurde Grün, und die Frau gab Gas. Vor ihr leuchteten zwei weitere grüne Kreise in der Dämmerung. Noch ehe sie sich der nächsten Einmündung genähert hatte, löste Gelb Grün ab und sie musste abrupt bremsen. Das Ganze war reine Schikane.
Sie hatte schon des Öfteren darüber nachgedacht, einen Bericht über diesen teuren Unfug an den ADAC zu schicken, es bei gründlicher Überlegung dann aber als nutzlos verworfen. Das brachte auch keine Besserung.
Irgendeiner ihrer ehemaligen Arbeitskollegen hatte einmal erzählt, wie das in Zwickau ablief. Noch ehe die Planungen über zu erneuernde Straßen im Stadtrat überhaupt richtig begonnen hatten, wartete besagte Ampel-Connection bereits mit Gutachten über die dringende Notwendigkeit von Ampeln an eben jenen Stellen auf. Niemand schien das seltsam zu finden. Und niemand kam auf die Idee, die Wirtschaftlichkeit solcher Ampelanlagen zu prüfen.
Die Gutachten besagten, dass Ampeln notwendig seien und – Abrakadabra – wurden sie genehmigt und – dreimal schwarzer Kater – war die entsprechende Firma zur Stelle und installierte die Anlagen. Andere Städte hatten ausgezeichnete Erfahrungen mit Kreisverkehren gemacht. Zwickaus Stadträte interessierte das nicht.
Vielleicht war es allmählich an der Zeit, auch über eine Bestrafung der an dieser Sauerei Beteiligten nachzudenken. Sozusagen stellvertretend für Zwickaus gestresste Autofahrer.
Auch am Paulushof überquerte niemand die Straße. Kein Auto bog von der Jacobstraße aus auf die Marienthaler Straße ab. Hämisch funkelte das rote Ampelauge.
War es nicht möglich, einige dieser Verkehrsbremsen wenigstens am Sonntag abzuschalten? Die Frau fühlte, wie altvertraute Gereiztheit in ihr nach oben brodelte, und saugte Luft bis in die feinsten Verästelungen ihrer Lunge. Zorn war kontraproduktiv. Sie fuhr weiter.
Hinter ihr scherte der Mercedes ruckartig aus und zischte an ihr vorbei. Fahr du nur mit deiner Potenzkrücke. An der nächsten Ampel wartest du dann wieder auf mich. Die Frau reckte sich und betrachtete kurz ihre konzentrierte Miene im Rückspiegel.
An der Abzweigung zum Hagebaumarkt stand der Mercedes vor der ihm spöttisch zuzwinkernden roten Ampel. Habe ich es dir nicht gesagt, mein Freund? Die Frau grinste und hielt hinter ihm.
Sanft tuschte die Dämmerung die absterbenden Blätter der Forsythiensträucher grau. Im Rückspiegel glitt die Straßenbahn lautlos im Halbkreis um die Wendeschleife und hielt dann an. Mehrere Leute überquerten die Straße vor dem Heinrich-Braun-Krankenhaus und verschwanden einer nach dem anderen in der Bahn. Die Frau löste ihren Blick von den Schattengestalten und prüfte die Wegränder, bevor sie ihr Gesicht im Spiegel musterte. Noch war es nicht ganz dunkel, aber die verbliebene Helligkeit würde ausreichen, sich zu schminken. Und dann war es so weit. Das Blut strömte plötzlich schneller durch ihre Adern. Es schien ihr, als werde es durch die Anspannung dünnflüssiger. Das alberne Herz flatterte hektisch gegen die Rippen.
Alle vier Farben in der Lidschattenbox schienen mehr oder minder grau zu sein. Die zitternden Finger klaubten den winzigen Pinsel heraus und ließen ihn über die dunkelste Grau-Variante streichen. Dann fuhr die Hand nach oben und verteilte das Anthrazit reichlich auf dem Lid bis hinauf zu den Brauenbögen. Hier ging es nicht um Schönheit, sondern um Entstellung.
Die Frau tuschte auch das zweite Auge. Dann hob sie die Lidschattenbox bis dicht vor die Augen und versuchte sich zu erinnern, welches der vier Kästchen das Dunkelbraun enthielt. Ein paar dunkle Schatten unter den Augen waren sicher nett, aber es würde auffallen, wenn diese Augenränder olivgrün aussahen. Kaffeebraunen Lidschatten dagegen konnte man gut für den ›Augenschatten-Effekt‹ verwenden. Sie hatte es daheim im grellen Licht der Neonröhre über dem Badezimmerspiegel ausprobiert. Die so geschminkte Partie verlieh dem Gesicht einen kränklichen Schimmer.
Jetzt glitt der Pinsel vorsichtig über die zarte Haut unter den Augen und tönte sie dunkel.
»Guten Abend, Frau Dracula!« Die Frau schloss die Lidschattenbox, bleckte die Zähne und grinste ihr Spiegelbild an. Dann schloss sie den Mund und versuchte einen leidenden Gesichtsausdruck. Sehr schön. Nun noch den Rest der Verkleidung und dann konnte der Probelauf beginnen.
Die Gestalt in dem locker schwingenden Fleecemantel schritt forsch voran. Der weißliche Schein vereinzelter Lampen aus den Laubengängen des Heinrich-Braun-Krankenhauses reichte nicht bis auf den Weg. Die grauhaarige Frau mit der großen Brille verschwand im Dunkel des weitläufigen Geländes.
»Nun, Oberschwester Ursel, wollen wir mal sehen, ob Sie heute Dienst haben.« Die gemurmelten Worte schwebten federleicht davon und verkrochen sich dann unter den Büschen, während die Frau ihren Schritt verlangsamte, die Hände tiefer in die Taschen schob und in der Tiefe der Futterale nach den mitgebrachten Utensilien suchte.
Die Oberschwester war keine bedeutsame Person, auch wenn sie selbst fest davon überzeugt war. Die Frau hatte seit fast zwei Jahren keine Gedanken mehr auf den hageren, giftsprühenden Patientenschreck verschwendet. Für die Bestrafungsliste war sie zu unwichtig. Als Testobjekt für Nerven und Verkleidung der Rachegöttin jedoch war die barsche Ursel wie geschaffen. Nemesis gestattete sich ein kurzes Grinsen und blieb in einer dunklen Nische stehen.
Leise raunten die noch an Bäumen verbliebenen Blätter. Weiter hinten stand ein kleiner Mann im Bademantel in einer nachtfinsteren Ecke neben einer Glastür. An seinem Mund leuchtete ein roter Punkt auf und verlosch wieder; so, als führe die Zigarette ein glühendes Eigenleben. Die Frau bewegte die Zehen in den Halbstiefeln und schloss die linke Hand fester um den langen schmalen Gegenstand. Das kühle Metall erwärmte sich in ihrer Handfläche.
»Geh wieder rein. Es ist kalt. Mach schon.« Der Mann im Bademantel schien die geflüsterten Worte vernommen zu haben. Er drehte sich um und drückte den Stummel am Rand des Papierkorbs aus. Dann schlurfte er zum Eingang. Mit einem dissonanten Summen schwangen die Glastüren auf und er verschwand.
Die Frau war allein. Es konnte losgehen.
»Herr Bergmann wird zufrieden sein.« Norbert lochte die letzten beiden Seiten und heftete sie in dem erbsengrünen Ordner ab. »Alles fein säuberlich dokumentiert.« Zum Abschluss blätterte er den Hefter noch einmal von vorn nach hinten durch und nickte bei den Fotos. »Schon das hier ist mehr als eindeutig.«
Doreen kam um den Schreibtisch herum und schaute über seine Schulter auf die eingeklebten Bilder. Drei Männer vor einem weißen Kastenwagen. Neben ihnen, auf dem grauen Beton des Parkplatzes, standen mehrere übereinandergestapelte Kartons. Einer der Männer trug eine Schiebermütze. Und genau das hatten sie auch getan – Waren verschoben. Herr Bergmann war der Chef der drei.
»Was glaubst du, wird er mit ihnen machen?« Doreen kehrte zu ihrer Schreibtischseite zurück, schielte auf die Uhr und nahm Platz. Halb drei. In ihrem Kopf pochte es.
»Sie entlassen, hoffe ich. Es herrscht kein Mangel an Arbeitskräften in der Branche.« Norbert schlug den Deckel zu und legte den Ordner beiseite. Dann stand er auf und ging in Richtung Waschbecken. »Kaffee?«
»Nein, danke. Der kommt mir schon zu den Ohren raus. Lieber ein Wasser.«
Norbert näherte den Kopf dem Wandspiegel bis auf wenige Zentimeter und musterte die vielen feinen Fältchen. Sein Gesichtsausdruck ähnelte dem eines Hundes am Grab seines Herrchens.
Vielleicht hatte Herr Freiberger Appetit auf Kaffee. Das würde ihnen sicher helfen, die erste Verlegenheit zu überwinden. Und Norbert konnte hin- und hereilen, beschäftigt tun und Doreen und ihren Ex dabei unauffällig beobachten. In seinem Rücken raschelten Papiere.
Norbert starrte noch einen Moment lang auf das Waschbecken, drehte sich dann um und schlurfte zu seiner Tischseite zurück.
»Ich werde mal die restlichen Unterlagen einheften.« Doreen erhob sich im gleichen Augenblick, in dem Norbert sich mit einem kleinen Ächzen niederließ. Auf dem Weg zum Wandregal verdrehte sie die Augen nach oben. Das Ganze glich einer Scharade: Sie setzte sich, er stand auf. Er nahm Platz, sie erhob sich.
Anscheinend war es ihnen heute nicht möglich, sich wie sonst gegenüberzusitzen. Doreen zog den Ordner mit der Aufschrift ›Rechnungen‹ heraus, drehte sich um, ging zu den Front an Front stehenden Schreibtischen zurück und schob ihren Drehstuhl zurecht. Würde Norbert sich erheben? Norbert blieb sitzen. Seine Augen waren stur auf den Bildschirm gerichtet, aber er schien ihren Blick zu spüren. »Mir ist noch was eingefallen.«
»Was denn?«
»Ich wollte mich informieren, wie die Web-Seiten der anderen Detekteien so aussehen.«
»Aha.« Doreen begann, Rechnungen nach dem Eingangsdatum zu sortieren. Mittlerweile war es drei viertel drei. Die unsichtbare Halskrause um ihre Kehle schloss sich fester.
»Vielleicht sollten wir auch mal über einen Web-Auftritt nachdenken.«
»Muss man dazu nicht erst einmal überhaupt eine Web-Adresse haben? Und kostet nicht schon das Geld?«
»Doro, du hast mehr Ahnung, als du immer zugibst. In Wirklichkeit bist du ein wahrer Internetfreak und hast dich die ganze Zeit verstellt.« Jetzt schaute er kurz hoch und grinste sie an, aber gleich darauf fielen seine Mundwinkel wieder nach unten und sein Gesicht nahm erneut den Ausdruck eines trauernden Bernhardiners an.
»Schön wärs. Ich habe das mal irgendwo aufgeschnappt.« Auch Doreen senkte den Blick sofort wieder auf die vor ihr liegenden Rechnungen. In ihrer Speiseröhre schien ein riesiger, trockener Mehlkloß festzustecken.
In dem kleinen Kästchen rechts unten auf dem Bildschirm wechselten die Zahlen gerade von vierzehn Uhr fünfzig zu vierzehn Uhr einundfünfzig.
Norbert schielte aus den Augenwinkeln zu Doreens über die Akten gebeugtem Kopf, dann rief er die Suchseite von ›Google‹ auf, gab den Namen ›Paul Freiberger‹ in Anführungszeichen ein und hämmerte den Mittelfinger auf die Entertaste. Die Suchmaschine lieferte mehrere Hundert Ergebnisseiten. Hastig überflogen seine Augen die kurzen Texte. Reisereportagen, Veröffentlichungen in Zeitschriften und Journalen, Kurzberichte.
Zitternd fuhr der Mouse-Zeiger nach oben, deutete auf das Wort ›Bilder‹ und verwandelte sich dabei in eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger. Norbert drückte auf die linke Maustaste und eine Reihe kleiner Fotos erschien auf dem Bildschirm.
Auf den meisten waren Landschaften, Stadtansichten oder bekannte Sehenswürdigkeiten zu sehen. Auf einigen wenigen der briefmarkengroßen Bildchen befand sich ein groß gewachsener Mann mit markanten Gesichtszügen. Schnell klickte Norbert auf eins der Porträts und überflog die Quellenangabe, bevor seine Augen sich zusammenzogen und über die hagere Gestalt von Paul Freiberger glitten.
14:56 Uhr. Noch einmal musterte der Detektiv das Foto des Journalisten. Fast gutaussehend. Und er war groß und schlank. Wahrscheinlich mochte Doreen lieber große Männer. Einen Bart hatte der Typ auch nicht und er war höchstens vierzig. Norbert schnaufte mit vorgeschobener Unterlippe, schloss das Google-Fenster und senkte den Kopf, um seinen – deutlich kleiner gewordenen – Bauch zu betrachten. Nicht klein genug. Im gleichen Moment schrillte die Klingel und er sah, wie Doreen zusammenschrak. Auf ihren beiden Wangen breitete sich ein rosa Fleck wie eine sich öffnende Blüte nach außen aus.
»Hallo! Hier ist Paul Freiberger. Macht ihr mir bitte auf?« Die Stimme aus der Wechselsprechanlage klang gelassen. Norbert ließ seine Hand auf dem Türöffner liegen. Macht ihr mir auf? Seit wann duzten sich der Typ und er? Vor seinem inneren Auge eilte der Journalist die Treppe nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Und oben angekommen würde er sicher nicht einmal schneller atmen, geschweige denn asthmatisch keuchen, so wie manch anderer Mann.
Die Türklinke war kalt. Norbert klammerte die Finger um den Griff und öffnete dann mit einem Ruck. Der Mann im Tweedjackett war mindestens einen Kopf größer als er. Er stand im Halbdunkel des Flurs und grinste dabei leicht.
»Guten Tag. Eure Klingel hier oben geht nicht.« Paul Freiberger zeigte auf das runde Knöpfchen neben der Tür.
»Geht nicht? Aber ...« Norbert schob sich an dem Mann vorbei, streckte den Zeigefinger nach dem Knopf aus und schalt sich einen alten Narren, weil statt eloquenter Sätze nur Wiederholungen aus seinem Mund kamen. »Na, so was. Aber kommen Sie erst mal rein.« Er setzte noch ein ›Bitte‹ hinzu und ging voran.
Doreen hatte sich inzwischen erhoben und kam nun auf die beiden Männer zu. Das Rosa auf ihren Wangen hatte sich in Erdbeerrot verwandelt. Es wirkte mädchenhaft und gleichzeitig sehr attraktiv. Ein Hauch ihres Parfüms streifte ihren Kollegen, als sie an ihm vorüber zu dem Mann im Tweedjackett stakte. »Hallo Paul. Du bist ganz pünktlich.«
Das ›Du‹ verursachte ein scharfes Kneifen in Norberts Brust. »Bitte nehmen Sie Platz. Möchten Sie Kaffee?« Er würde den Mann unter gar keinen Umständen duzen.
»Gern.« Doreen und Paul setzten sich schräg gegenüber an das runde Tischchen, während Norbert seinen Plan in die Tat umsetzte und beschäftigt hin- und herwieselte.
Die beiden gaben äußerlich ein schönes Paar ab. Zwei große, schlanke, gutaussehende Menschen. Einfach fabelhaft. Norbert hatte Doreens – er überlegte kurz und entschied sich dann für ›Ex‹ – Doreens Ex bisher immer nur aus der Ferne gesehen.
Hinter seinem Rücken lachte Doreen leise und Norbert bemerkte, dass er nicht registriert hatte, ob sich die beiden unterhielten. Er steckte Zeige-, Mittel- und Ringfinger durch jeweils einen Tassenhenkel, machte eine abrupte Drehung, brachte das Geschirr zum Tisch, baute alles fein säuberlich auf, nahm dann Platz und goss ein. Doreen hielt ihre Handfläche über die Tasse und schüttelte den Kopf.
»Also gut. Dann wollen wir mal zum Geschäftlichen kommen.« Norbert drehte sich zu seinem Schreibtisch und angelte nach Stift und Papier. In seinen Eingeweiden rumorte es und im Hals ätzte Magensäure nach oben. Er betete, dass es nicht noch anfing, in seinem Bauch zu gluckern. Bei zwei hartgekochten Eiern eher unwahrscheinlich, aber sein Körper spielte ihm manchmal seltsame Streiche. »Was können wir denn für Sie tun?«
»Ich weiß nicht, ob ihr solche Fälle überhaupt übernehmt.« Paul Freiberger wandte seinen Blick von Doreen zu Norbert.
»Erzählen Sie uns erst einmal, um was es sich handelt und dann sehen wir weiter.«
»Gut. Es ist nicht ganz einfach. Ich vermute, dass in meinem Umfeld jemand lange Finger macht, kann es aber nicht beweisen.«
»In Ihrem Umfeld.« Norbert senkte die Stimme beim letzten Wort. So klang es nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung.
Vor Doreens Augen erschien die Gestalt einer 20-Jährigen blonden Schnepfe mit grell geschminktem Gesicht, die sich vor dem Badezimmerspiegel in Pauls Wohnung die Lippen nachzog, während er hinter ihr stand, den flachen Bauch der Tussi umfasste und sie an sich drückte.
»Ein Fremder kommt eigentlich kaum dafür in Frage.«
»Berichten Sie doch bitte zuerst der Reihe nach, was eigentlich passiert ist. Danach können Sie Ihre Vermutungen äußern.« Norbert klang unwirsch. Von einem Journalisten konnte man doch wohl erwarten, sich verständlich und geordnet auszudrücken.
»Sie haben recht. Ich bin ein bisschen zerstreut.« Paul Freiberger schaute kurz zu Doreen, hob die Augenbrauen und lächelte. »Aus meinem Keller sind verschiedene Sachen verschwunden. Das Schloss war unbeschädigt.«
»Was für Dinge waren das?«
»Ein Fernglas von Zeiss, eine betagte Spiegelreflexkamera, Fahrradersatzteile. Und ein paar Bücher.«
»Seit wann fehlen denn die Sachen?«
»Das weiß ich nicht genau. Ich gehe ja nicht jeden Tag da runter.«
»Also dann – wann haben Sie den Einbruch bemerkt?«
»Vor drei Wochen ungefähr. Kleinen Moment ...« Paul Freiberger beugte den Oberkörper zur Seite, um nach seiner auf dem Boden stehenden Tasche zu angeln und kam dabei Doreen gefährlich nahe. Er richtete sich wieder auf, begann in seinem Kalender zu blättern und hielt dann inne. »Hier. Gemerkt habe ich es am vierzehnten Oktober.«
Doreen schaute zum Wandkalender. Heute war der siebte November. »Hast du Anzeige erstattet?«
»Aber sicher doch. Da jedoch das Vorhängeschloss an meiner Kellertür unbeschädigt war, gibt es keine Beweise für einen Einbruch.« Paul zuckte entschuldigend die Schultern. Seine Augen leuchteten im Licht der Nachmittagssonne grün und Doreen spürte, wie das Feuerrad in ihrem Leib erwachte. Fahrig wandte sie den Blick ab, nur um sich in Norberts zornig wirkenden Murmelaugen wiederzufinden. Das war auch nicht besser. Schau einfach zwischen den beiden hindurch. Doreen bedauerte es, nichts zum Schreiben vor sich liegen zu haben.
»Hat die Polizei auf Ihre Anzeige hin etwas unternommen?«
»Nicht wirklich. Sie waren da, haben sich die Gegebenheiten angeschaut und dann das Verfahren eingestellt.«
»Ah ja. Das war zu erwarten. Zahlt bei Einbruch nicht die Hausratversicherung?«
»Wenn ein Einbruch nachweisbar ist, schon. In die verschlossene Wohnung zum Beispiel. Bei Kellerräumen sieht es da anders aus. Es ist auch kein existenzieller Verlust für mich.«
»Sie sind sich aber schon bewusst, dass Ihnen durch die Beauftragung einer Detektei weitere Kosten entstehen?« Der Typ hatte doch nicht ernsthaft daran geglaubt, dass das Detektivbüro Löwe umsonst für ihn arbeiten würde, bloß weil er mal mit Doreen zusammengewesen war? Im Kopf des Detektivs wälzten sich seine Kollegin und der ihm gegenübersitzende Mann stöhnend in den Laken. Mit einem unwilligen Schnaufen schüttelte Norbert das Bild in eine dunkle Ecke seines Bewusstseins. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, Doreens ›Ex‹ als ganz normalen Klienten zu betrachten.
»Das weiß ich. Ich weiß auch, dass Sie die verschwundenen Dinge wahrscheinlich nicht wiederfinden werden. Es geht mir ums Prinzip.« Paul holte eine gelbe Mappe aus seiner Tasche.
»Ich habe alles, was ich an Unterlagen besitze, mitgebracht.« Der Hefter landete in der Mitte des Tisches.
»Eine Kopie der Anzeige auch?« Norbert griff nach den Dokumenten und nahm sich vor, in den nächsten Tagen bei Ebay nach den verschwundenen Sachen zu schauen. Falls sie den Fall übernehmen würden.
»Auch die Anzeige.«
Während Paul weiter aufzählte, was in der Mappe war und ihr Kollege dabei die entsprechenden Papiere durchsah, erhob Doreen sich und begann, den Tisch abzuräumen. Norbert sollte allein entscheiden, ob sie die Sache übernehmen würden oder nicht.
Paul und Norbert konnten äußerlich nicht unterschiedlicher sein. Groß, fast hager der eine, mit glatt rasiertem Gesicht und kantiger Nase; eher klein und untersetzt, mit fast weißem Bart der andere. Charakterlich waren sie sich wahrscheinlich ähnlicher, als es ihnen bewusst und lieb war.
Der Griesgram hatte indessen weitergeredet. »Wie kommen Sie eigentlich darauf, dass es ein Hausbewohner war?«
»Die Außentür zu den Kellerräumen ist verschlossen. Auch ins Treppenhaus kommt man nur durch eine extra verschließbare Zwischentür.«
»Und diese Türen sind immer zu?«
»Meistens. Manchmal vergisst jemand abzuschließen.«
»Meistens, hm. Es könnte also doch jemand von außerhalb gewesen sein.«
»Aber wieso hat sich der Dieb gerade meinen Keller ausgesucht?«
»Gute Frage, Herr Freiberger.« Norbert griff nach einer Wasserflasche und schenkte sich ein. Sein Gegenüber ›vergaß‹ er dabei. »In Ihrer Wohnung war niemand?«
»Nicht, dass ich wüsste. Ich schließe immer ab, wenn ich gehe.«
Das muss nichts heißen, Mann. »Nun gut. Haben Sie denn irgendeine Vermutung, wer es gewesen sein könnte?«
»Vielleicht. Aber was, wenn ich mich irre?«
»Wir arbeiten diskret. Sollte derjenige es nicht gewesen sein, wird er nie von unseren Nachforschungen erfahren. Also können Sie mir ruhig sagen, wen Sie verdächtigen.«
»Vielleicht die Leute im zweiten Stock. Blasenhuber heißen sie. Unfreundliche Gesellen. Die Frau schaut drein, als ob sie misshandelt würde und der Mann sieht mit seinen langen Haaren und dem Fusselbart aus wie ein Späthippie.« Paul schaute schnell zu Norberts kurzgeschorenem Bart und griff dann nach dem Mineralwasser, um sich selbst einzugießen. »Abends ist er regelmäßig besoffen. Sie sind angeblich mit der Miete im Verzug, das erzählt man sich jedenfalls. Spricht das nicht dafür, dass sie knapp bei Kasse sind? Grüßen können sie auch nicht. Ihr großmäuliger Sohn hat übrigens ein Fahrrad. Ein Fernglas und eine Spiegelreflexkamera kann man weiterverkaufen, aber wer nimmt außerdem noch wertlose Fahrradersatzteile mit, wenn er sie nicht selbst benötigt?«
»Blasenhuber? Klingt nicht gerade sächsisch.« Norbert schrieb den Namen auf und dachte darüber nach, dass es sehr selten die ›Auffälligen‹ waren. Meist entpuppten sich am Ende die als Täter, von denen man es am wenigsten erwartet hatte, die Netten, Höflichen, Hilfsbereiten.
»Was wollen Sie tun, wenn wir herausfinden, wer es war?«
»Das weiß ich jetzt noch nicht genau. Mal sehn.« Paul Freiberger trank das halbe Glas in einem Zug leer. »Reden wir über die Kosten. Wie sind denn eure Stundensätze?«
Jetzt war er wieder zur jovialen Anrede übergegangen. Doreen versuchte, Norberts Gesichtsausdruck zu ergründen. Welchen Betrag würde er nennen? Es gab keine feste Gebührenordnung für Privatdetektive. Ihr Kollege entschied sich meist schon, wenn der Kunde die Detektei betrat, welche Summe er ihm nennen würde. Sah einer eher wie ein armes Schwein aus, machte Norbert es billiger. Von einem Hartz IV-Empfänger konnte man kaum fünfzig Euro die Stunde verlangen. Schon gar nicht in Zwickau. Sie befürchtete, dass Paul mehr als das Übliche würde bezahlen müssen.
»Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Normalerweise nehmen wir fünfunddreißig Euro die Stunde plus Mehrwertsteuer, Spesen und Fahrtkilometer extra.«
»Das ist in Ordnung. Vielleicht kann ich es von der Steuer absetzen.« Paul Freiberger grinste.
Schöne Zähne hatte der Typ auch noch. Ein Bild von einem Mann. Aus Norberts Bauch drang ein wütendes Kollern.
»Dann übernehmen Sie den Fall?« Der Schönling rutschte auf dem Stuhl nach vorn und zog die Augenbrauen hoch.
»Ich denke schon. Doreen?« Norbert wandte sich zur Seite und sah seine Kollegin zustimmend nicken. »Gut.« Sein Tonfall wurde geschäftlich und er versuchte, trotz der Bilder im Kopf ein förmliches Gesicht zu machen. Auf – gar – keinen – Fall würde er es sich entgehen lassen, im Haus dieses Mannes herumzuschnüffeln, mochte Doreen davon halten, was sie wollte. »Wir besichtigen zuerst die Örtlichkeiten und versuchen, Spuren zu sichern. Wann können wir zu Ihnen kommen?«
»Moment.« Paul Freiberger schlug seinen Filofax auf und Norbert versuchte, unauffällig hineinzuschielen, konnte aber nichts entziffern.
»Morgen Nachmittag, ab sechzehn Uhr?«
»Das müsste gehen. Warten Sie.«
Doreen reichte Norbert den Kalender.
»Morgen, Dienstag, achter November. Um sechzehn Uhr sind wir bei Ihnen.« Beide Männer trugen den Termin ein und erhoben sich dann gleichzeitig.
»Die Unterlagen lasse ich euch da. Bis morgen bei mir zu Hause. Doreen weiß ja, wo das ist.« Paul Freiberger grinste.
Die Frau drückte die gespreizten Finger der Linken auf das Papier. Das Buch wollte sich immer wieder schließen, als sei es ihm unangenehm, seine Geheimnisse zu offenbaren. Sie nahm es mit beiden Händen und drückte die beiden Hälften nach hinten. Jetzt blieb der dicke Wälzer aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegen.
Die Tabelle auf dem Bildschirm wartete geduldig darauf, mit Inhalten gefüllt zu werden. Mit der Mouse scrollte die Frau nach unten und überflog dabei Ziffern und Delikte.
Höhnisch flackerte ein Name, die Buchstaben tanzten verschwommen auf dem Bildschirm auf und ab: Thoralf Pfanns. Das ›T‹ und das ›P‹ ätzten purpurn die Netzhaut. Die Frau schloss die Augen. Ein orangefarbenes Nachbild der Buchstaben verblich nur zäh. Ihre Augäpfel brannten.
»Du kommst auch noch dran.« Stoßweise verließen die Worte den Mund. Es klang gehetzt. Bevor sie ihre Augen wieder öffnete, ließ die Frau den Zeigefinger über das Mouse-Rädchen rutschen, sodass die Tabelle nach oben gleiten und den Namen des Unholds verbergen konnte. Vielleicht wäre es hilfreich, für ›TP‹ gleich eine passende Bestrafung aus dem dicken Buch zu suchen. Möglicherweise würde das ihre Nerven beruhigen und eventuell gelänge es ihr so, den Namen des Schurken in Zukunft gelassener zu betrachten.
»Gar keine schlechte Idee, Frau Rächerin. Tun Sie das.«
Ein kurzer Blick in den Spiegel, ein unmerkliches Hochziehen des rechten Mundwinkels, ein kleines Lächeln. Die Frau atmete tief aus und ließ die Schultern herabsacken, ehe sie das Buch heranzog, den gesamten Papierblock mit der Linken hochnahm und die Seiten über den Daumen rutschen ließ. Zuerst zum ›P‹. Fände sich dort nichts, konnte man auch den Anfangsbuchstaben des Vornamens verwenden. Nemesis war nicht engstirnig.
Ihr Kopf neigte sich über das gelblich schimmernde Papier und sie begann zu lesen.
»Patiententötungen –
Die Tötung schwerstkranker Patienten gehöre zum Alltag in den Krankenhäusern der westlichen Welt [...] Von 275 Klinikmitarbeitern hatten 12 Prozent eigenmächtig und fünf Prozent in Kooperation mit Ärzten das Leben von Patienten direkt verkürzt. [...]
In einer vom STERN in Auftrag gegebenen Repräsentativerhebung des Berliner Instituts für Epidemiologische Forschung vermuteten 17 Prozent von 184 befragten Krankenhaus- und 40 Prozent von 282 niedergelassenen Ärzten, daß das Pflegepersonal in Kliniken und Heimen ›gelegentlich‹ beim Sterben nachhilft. In Deutschland ohnehin ein heikles Thema, wird dies zum kriminellen Akt, wenn es ohne Einverständnis oder ausdrücklichen Wunsch der Patienten geschieht. [...]«
Die Frau ließ ihren T Zeigefinger auf dem Wort ›Patienten‹ ruhen und betrachtete ihr Spiegelbild. Die Augenbrauen waren nachdenklich nach unten gezogen. Ihr Blick wanderte nach rechts und verlor sich in den kleinen Unebenheiten der Raufasertapete. Patienten ...
›TP‹ lag ihres Wissens nach derzeit nicht in irgendeinem der Krankenhäuser. Aber generell war es eine nette Idee, jemanden in einem Krankenhaus sterben zu lassen. Sie hob den Zeigefinger und las weiter.
»[...] Die 27jährige Krankenschwester Michaela R. wurde verhaftet und gestand im Verhör, zwischen 1984 und 1986 insgesamt sechs Schwerstkranke per Injektion getötet zu haben. Nach sorgfältigen Ermittlungen gegen den ›Todesengel von Wuppertal‹ und 28 Exhumierungen klagte die Staatsanwaltschaft die junge Frau an, in mindestens 17 Fällen den zumeist betagten, teilweise schwerkranken und frischoperierten Patienten kurz nach deren Verlegung auf die Intensivstation blutdrucksenkende Mittel, in mindestens fünf Fällen den herzlähmenden Wirkstoff Kaliumchlorid verabreicht zu haben. [...] «
Erneut sank der Zeigefinger herab und schabte über das Ende des Absatzes. Der Todesengel von Wuppertal war noch jung gewesen. Oberschwester Ursel dagegen war ein alter Drachen. Dafür hatte sie auch keine Patienten ins Jenseits befördert. Jedenfalls nicht nachweislich. Die alte Schreckschraube hatte ihre Strafe bekommen. Und es war eine für ihre eher marginalen Delikte angemessene Strafe gewesen. Schließlich hatte der Stationszerberus die gerade frisch am Blinddarm operierte Christine Pfanns damals nicht persönlich geschädigt. Die Oberschwester war stets und zu allen unhöflich, barsch und lieblos gewesen; so, als seien die Patienten lästige Simulanten. Am zweiten Tag nach der Operation war die Frau ein bisschen über die Gänge gehumpelt, um den Kreislauf in Schwung zu bringen und hatte dabei am Fenster stehend zufällig beobachtet, wie der Zerberus auf dem Parkplatz in einen älteren rostfarbenen Skoda eingestiegen war.
Die Frau lehnte sich zurück und schloss die Lider.
Vor ihrem inneren Auge huschte eine grauhaarige Gestalt im knöchellangen dunklen Mantel über einen Krankenhausparkplatz. In der Rechten hielt sie einen stabähnlichen Gegenstand. Über ihr schwangen die papiernen Blätter der Bäume leise tuschelnd hin und her. Die Gestalt hob das Kinn und schaute in den gleichförmig schwarzgrauen Himmel. Von oben betrachtet, wirkte ihr Gesicht wie eine fahle Scheibe.
Jetzt eilte das Wesen über den Parkplatz, dicht an den Autos vorbei. Ein leises Quietschen verklang in der Dunkelheit, dann verschwand die Schattenfrau in der Schwärze hinter dem quer abzweigenden Laubengang.
Nach einer Minute tauchte die Gestalt wieder auf. Mit forschen Schritten näherte sie sich erneut den parkenden Autos. Ihr Kopf zuckte nach rechts und links. Nur zwei nachtmüde Spatzen sahen von ihrem skelettfingrigen Zweig herab, wie die Schattenfrau auf der Fahrerseite des Skodas, an dem sie eben noch vorbeigelaufen war, stehenblieb und sich nach vorn beugte, um dann nach wenigen Sekunden endgültig davonzuhasten.