Der Taxifahrer - Adolf Jens Koemeda - E-Book

Der Taxifahrer E-Book

Adolf Jens Koemeda

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Beschreibung

Vlado ist Taxifahrer in München. Doch der studierte Emigrant aus Polen ist unterfordert und so beginnt er irgendwann, die Geschichten und Erlebnisse aufzuschreiben, die seine Fahrten mit sich bringen. In diesen Kurzgeschichten teilt sich der Erzähler dem Leser mit. In der Position des stillen Beobachters zeichnet er ein buntes Gesellschaftsbild, vielfältig und authentisch, domstreitenden Brüderpaar, das sich über den Ukrainekrieg in die Haare bekommt, bis zum jungen Pärchen, das über Kinderplanung spricht. Der Rücksitz des Taxis wird zur Bühne, auf der sich das Leben abspielt, un der Leser zum gespannten Beobachter.

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Adolf Jens Koemeda

Der Taxifahrer

Eine Novelle in Kurzgeschichten

…und eh du förder gehst, so geh in dich zurück. (Paul Fleming)

INHALTSVERZEICHNIS

IMPRESSUM

VORWORT

DER TAXIFAHRER

DIALEKT

WARTEN

STADTRUNDFAHRT

TOLERANZ

VOR EINER WOCHE

DAS GEHIRN

KOMPENSATOR

BÜCHER

ZAR UND BOJAREN

DIE LETZTE FAHRT

DER VERDACHT

STREIT

ALTER WEISSER MANN

DAS ERSTE KIND

VATER

NACHWORT

AUSGERUTSCHT

SCHWEIGEN

AUSDAUER

IMPRESSUM

© 2023 Münster Verlag, Zürich

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Umschlaggestaltung: Adolf Jens Koemeda

Gestaltung und Satz: Corinne Lüthi

Lektorat: Pablo Klemann (Unterwegs Verlag, Singen)

Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften: Novel Pro, Brown Pro

Papier: Umschlag, 135g/m2, Bilderdruck, glänzend, holzfrei; Inhalt, 90g/m2, Werkdruck bläulichweiss, 1,75-fach, holzfrei

ISBN 978-3-907301-59-3

Printed in Germany

www.muensterverlag.ch

VORWORT

Adolf Jens Koemeda, der in Ermatingen lebende Schriftsteller und Psychiater aus Prag, hat verschiedene Rollen im Theater seines Lebens gespielt. Als Leichtathlet (Diskus) warf er die Scheibe weit. Er war sogar Mitglied der Jugend-National-Mannschaft der damaligen Tschechoslowakei. Fuhr er zufällig auch mal Taxi? Ja, aushilfsweise als Medizinstudent. Bei der Konzeption von «DER TAXIFAHRER», seiner hier vorliegenden «Novelle in Kurzgeschichten und drei Erzählungen», muss sich da etwas in seinem Unterbewusstsein bewegt haben.

Ein Taxifahrer bekommt ja nolens volens allerhand mit von seinen Gästen, auf der hinteren Sitzbank oder dem Beifahrersitz, spontane und unzensierte Dialoge und Monologe – privat, intim, authentisch. Da bietet uns Koemeda eine originelle und spannende Erzähl-Konstruktion an. Vlado heißt der Taxifahrer, er ist der Erzähler und gleich zu Beginn erfahren wir: Seine Frau bittet ihn, seine Mithör-Erlebnisse aufzuschreiben. Und die lesen wir jetzt. Der Taxifahrer, emigrierter Pole, seit zwei Jahren in München, legt los. Deutsche, ein Pole, ein Russe, ein Tscheche und andere – Koemeda stellt sie attraktiv gemischt auf Vlados Taxi-Bühne.

Hör-Bilder privater und politischer Erlebnisse und Ansichten der Fahrgäste wechseln einander in der Taxi-Novelle ab. Auch hoch aktuelle Themen wie Putins Ukraine-Verbrecherkrieg tauchen auf. Etwa in «Streit», wo zwei bayerische Brüder sich in die Haare geraten darüber, ob Putin die Ost-Erweiterung der Nato nicht doch zu Recht als Provokation empfinden durfte. Geradezu surreal erscheint die «Stadtrundfahrt». Ein seltsamer Gast steigt zu Fahrer Vlado ins Taxi und antwortet auf die Frage «Wohin?» mit «Wohin Sie wollen». Schließlich verlässt er das Taxi an der Stelle, wo er eingestiegen ist. War das sein Ziel? Rätselhaft. Bewegend! Im Kapitel «Vater» wägen in Vlados Taxi ein Pole und ein Tscheche die Erlebnisse ihrer beiden Väter vor und nach 1945 gegeneinander ab.

An individuellen Schicksalen macht unser Autor so immer wieder aus verschiedenen Sichtweisen Zeitgeschichte lebendig. Die Erinnerungen der Söhne um die beiden Väter spiegelt er ineinander – und verschränkt sie raffiniert noch einmal mit dem, was Vlado zuhause seiner Frau Wanda über seinen Vater erzählt. Menschenmaler Koe-meda mischt da auf seiner Erzählpalette abwechslungsreich noch weitere, bunte menschliche Charakter-Farben: Virtuell sitzen wir in Vlados Taxi zusammen mit einem jungen Paar, einem Betrunkenen, einer älteren Dame, der Bücher alles bedeuten, und manchem mehr, und erfahren von ihren Sorgen durch die Augen und Ohren des meist stummen Beobachters.

In den Porträts und Erinnerungen der Taxigäste sowie den aktuellen Ansichten und Einsichten des emigrierten polnischen Taxifahrers Vlado schöpft der Prager Koemeda aus dem Vollen - vor dem Hintergrund dessen, was er selber ähnlich erlebt hatte. Im «Ostblock» erleben musste.

Für die Erzählsituation bietet sich im Taxi vor allem der Dialog an. Koemeda benutzt ihn hier und auch sonst in seiner Prosa oft – virtuos, knapp, dynamisch. Warum? Im Gespräch betont er, in der Fremdsprache Deutsch könne er zum Beispiel nicht mit sensiblen Naturschilderungen brillieren. Daher viel Dialog. Und der sitzt. Man behält die ausgefeilte Rhythmik im Ohr, im lebhaften Hin-und-Her der Emotionen und Argumente.

Als Emigrations-Motiv ist im Taxi auch von «Freiheit» die Rede - Hoffnung der Flüchtlinge. Das kann ganz einfach Konsum-Freiheit sein, insgesamt ein besseres Leben, dazu funktionierende Infrastruktur, keine Angst vor einer Verhaftung bei einem falschen Wort und ein breites politisches Spektrum. Koemeda selbst trieb die schwer lastende Unfreiheit in die Flucht aus Prag; die russengesteuerte Grausamkeit des damaligen Tschechoslowakei-Regimes. Ein Onkel Koemedas wurde zur Zwangsarbeit in Uran-Minen verurteilt, kam als Wrack heim und verstarb bald kontaminiert.

Nichts wie raus aus diesem Staat! Koemeda gelingt die «Republik-Flucht». Auf Umwegen landet er in der Schweiz. Gut integriert bleibt er hier, quasi als «Edel-Flüchtling». Aber «Heimat ist Heimat», wie der polnische Taxifahrer Vlado einmal betont. Sie lässt auch Koemeda in der komfortablen «Zweitheimat» nicht los. In seiner großen Emigrations-Roman-Trilogie Die Absicht/Sandul/Die Helferin steht der junge Bosnier Simmi zentral. Wir erleben die dramatische Emigrations-Zeitgeschichte aus der Ich-Perspektive Simmis - und erfahren, was das abstrakte «Emigrantenschicksal» für den Einzelmenschen bedeutet.

Diese Unmittelbarkeit durchströmt ebenso die Novelle des Taxifahrers. Auch hier führt der Ich-Erzähler ja ins Innere seiner selbst und seiner Fahrgäste, indem er aufschreibt, was er im Taxi hört und beim Hören fühlt.

Schriftsteller und Psychiater – beide sind Seelenkundler. Sie brauchen Empathie, um in unser Ich zu blicken. Bei Koemeda haben wir beide Berufe quasi im Doppelpack. Ein Glücksfall für seine Haupt-Thematik von der Emigration. Er hat etwa straffällige Emigranten fürs Gericht begutachtet. Und er, der seit seinen Prag-Jahren Russisch beherrscht, kann sich heute auch mit ukrainischen doppelsprachigen Emigranten unterhalten.

Als Zeit-Zeuge/Schreib-Zeuge steht Adolf Jens Koemeda mitten in unserer Zeit, einer schlimmen Zeit. Ich möchte deshalb schließen mit dem Motto von Michael Bahnerth, das der Autor seinem Roman «Die Helferin» vorangestellt hat: «Es spielt keine Rolle, ob es am Ende des Tunnels ein Licht gibt. Wichtig ist, dass die Sehnsucht nach ihm nicht erlischt.»

DER TAXIFAHRER

DIALEKT

Ich komme aus Polen und bin als Taxifahrer unterwegs, seit mehr als zwei Jahren bei der gleichen Firma angestellt, in München. Zufrieden? Na ja, nicht vollkommen unzufrieden, aber vorläufig möchte ich alles so lassen, wie es ist.

Meine Frau stammt auch aus Polen, sie kam viel früher hierher als ich. Sie sieht Vieles anders und möchte mich von ihrer Sicht überzeugen, fast täglich ist sie am Ball; nicht optimal, ich habe mich allerdings daran gewöhnt. Der Vollständigkeit halber noch dies: Zuhause sprechen wir Deutsch, wegen unserer Kinder.

Wanda, meine Frau, meint: Taxifahrerei sei ein schwerer und gefährlicher Job. Einverstanden, als Zwischenlösung akzeptabel, aber nichts auf Dauer. Vlado, du hast doch studiert!

Stimmt, habe ich, zuerst Soziologie, dann sattelte ich auf Geschichte um, brachte es allerdings nicht bis zum Abschluss; ich musste weg. Warum? Nun, das ist eine andere Story, hier nur ein Stichwort: Freiheit. Die spielte eine ganz wichtige Rolle. Später komme ich vielleicht auf dieses Thema zurück.

Nach einem Nachtdienst erzähle ich zu Hause oft etwas von dem, was während meiner Arbeitszeit passiert ist. Die Idee kam von meiner Frau: – Wenn du schon so ein Dickkopf bist, sagte sie, – schreib zumindest die interessantesten Geschichten auf, einige von deinen Taxifahrer-Stories sind wirklich spannend.

– Meinst du, Wanda? Eigentlich kein schlechter Vorschlag. Ich habe auch ein paarmal daran gedacht. Gut, mache ich! Vielleicht noch heute.

Ein alter Kunde. Ich meine, nicht wirklich alt, sicher unter fünfzig, mir aber seit Monaten bekannt: Ein ruhiger, angenehmer Mann, beim Bezahlen großzügig, rundet meistens schön auf; oft nicht ganz nüchtern. Wenn er genug intus hat, lässt er das Auto vor seinem Büro stehen und ruft mich an.

Vor etwa einer Woche fragte er sogar nach meinem Namen. Trotzdem sprach er mich dann nur mit «Chef» an; später gab er zu, dass er meinen Namen nicht mehr präsent habe.

- Vladimir, sagte ich, - bei Freunden nur Vlado.

- Klar, jetzt haben wir es, danke! Vladimir  ... wie Majakowski oder Lenin.

- Richtig, lassen Sie aber den Lenin bitte bei Seite.

Er lachte und wollte wissen warum. Bei Gelegenheit müsse ich ihm den Unterschied erklären.

Ich nickte: - Tue ich gerne, den gibt es.

Unsere interessanteste Fahrt liegt drei Tage zurück. Die Abfahrtszeit: Abend, etwa acht Uhr; der Zustand: Halbnüchtern; die Gesprächsbereitschaft: Viel größer als bei den vergangenen Reisen.

- Herr Vladimir, sagte er, - heute bin ich Strohwitwer, diesmal stinkt es mir besonders, deshalb würde ich Sie gerne einladen. Zu einem Drink, Imbiss, von mir aus auch zu einem Abendessen  ... wenn Sie Zeit haben, wenn es Ihr Dienst erlaubt. Ich kenne unterwegs ein paar Lokale, wir finden sicher etwas, das Ihnen gefällt  ... ist das nicht eine gute Idee?

- Eine sehr gute. Danke! Es muss kein Imbiss sein, zu einem Drink will ich aber nicht nein sagen.

Er freute sich über die Zusage, tätschelte meinen Arm und meinte, jetzt haben wir nur die Qual der Wahl.

- Warum?, fragte ich. - Wir nehmen einfach das erste Lokal, das Sie gut kennen und in dem Sie sich wohlfühlen.

«Zum Bären». Ich kannte das Restaurant nicht. Halb leer, relativ ruhig. Es roch angenehm. Er entschied sich für einen Tisch an der Wand; wir saßen nicht vis-à-vis, sondern übers Eck, waren uns also relativ nah. Die Sitzordnung bestimmte mein Autogast, der demnächst auch mein Gastgeber werden wollte.

- Für den Anfang, meinte er, - wäre mir ein Bier recht, etwas gegen den Durst. Bei einem Bier soll es allerdings nicht bleiben. Die Küche ist hier gut, ich kenne den Wirt seit Jahren; natürlich, es hängt davon ab, wieviel Zeit Sie haben.

- Das ist der Punkt, sagte ich. - Heute nicht viel, eine halbe Stunde liegt aber drin.

Er wollte ein Pils, ich schloss mich an; ein kleines. Das Gewünschte stand in zwei Minuten auf unserem Tisch. Er freute sich.

- Also Prost, Herr Vladimir! Ich treffe oft Leute in meinem Büro, ab und zu auch in einem Lokal, das gehört zu meinem Beruf; Franzosen, Engländer, Südeuropäer eher selten. Mit einem Polen saß ich noch nie an einem Tisch.

- Gehört zu meinem Beruf, sagten Sie. - Darf ich fragen, welcher Beruf?

- Oh, Ihr Interesse freut mich! Ich bin Beamter, Beamter in einem Finanzamt. Hie und da betätige ich mich auch als Wirtschaftsberater, dann privat ... Sie schauen mich so ernst an, die Kombination ist heikel, ist mir ja bewusst. Ich kenne aber die Grenzen ... und Sie? Wie oft überschreiten Sie Ihre Grenzen? Ich meine es buchstäblich, die Staatsgrenzen; wie häufig fahren Sie in Ihre polnische Heimat?

- Nicht mehr so oft, etwa dreimal im Jahr. Am Anfang war es viel häufiger.

- München ist nicht gerade um die Ecke, fünf, sechs Stunden brauchen Sie wahrscheinlich.

- Eher mehr. Pausen sollte man miteinplanen, ohne die geht es nicht, nicht ohne Risiko.

Der Wirt kam. Mein Kunde kannte ihn offensichtlich gut, er sprach mit ihm im Dialekt und sehr schnell, ich konnte kaum die Hälfte verstehen. Es handelte sich aber um keine lange Debatte, der Wirt verabschiedete sich nach drei, vier Minuten.

- Und Sie?, fragte mein Gastgeber. - Von Ihnen würde ich auch gerne etwas erfahren. Was haben Sie vor der Taxifahrerei gemacht? Das war, scheint es mir, nicht Ihre erste Berufswahl.

- Richtig, ich hatte studiert.

- Moment! Darf ich raten? Etwas Technisches? Maschinenbau? Architektur?

- Nein, zunächst Soziologie. Vieles schien mir dann zu theoretisch und zu vage, ich sattelte auf Geschichte um.

Wir prosteten uns zu. Er lachte, leerte sein Glas bis zur Hälfte und sagte: - Als Historiker mit einer Taxe unterwegs, nein, das kommt in München nicht jeden Tag vor.

- Historiker? ... Ich weiß nicht, ob man es so sagen kann; als Beinahe-Historiker vielleicht.

- Also der zweite Abbruch?

Ich schwieg ein paar Sekunden: - Wenn man es so hört, sagte ich, – klingt es nicht gut ... ja, ein zweiter Abbruch. Nicht aus einer Laune heraus, sondern aus Notwendigkeit.

Er wollte mehr darüber erfahren, mir war aber in dem Augenblick nicht klar, ob ich weiter berichten sollte. Er sah mein Zögern und sagte: - Wahrscheinlich ein längeres Thema und es handelt sich jetzt auch um Ihre Arbeitszeit.

- Das stimmt! Nur ... ich habe angefangen, und deshalb erzähle ich lieber zu Ende. Abbruch, ja, allerdings ungern. Der Grund: Einer der häufigsten – Heirat und ein Kind unterwegs; alles anders als ursprünglich geplant.

- Ein Mädchen ... ein Bub?

- Mädchen. Bald drei Jahre alt.

- Und bitte, nur wenn Sie mögen: Warum gerade Deutschland?

- Sie ahnen es: Das liebe Geld. Ja, ganz andere Verdienstmöglichkeiten, was meistens heißt – ein besseres Leben für die Eltern und für die Kinder. Mehr Freiheit.

- Wahrscheinlich haben Sie recht. Sie sagen «meistens», also nicht immer. Darf ich weiterfragen? «Freiheit». Sie meinen, hier gibt es mehr davon?

- Im Großen und Ganzen ja. Gut, nach der Wende ist es bei uns schon anders, aber Unterschiede gibt es noch.

- Die neuen Verhältnisse in Polen kenne ich nicht, nicht besser als ein durchschnittlicher Deutscher. Klar, hier ist die Freiheit ziemlich groß; zum Beispiel bei der Wahl der T-Shirts von «Seven Sands». Kragen und Hemd selber haben zwei verschiedene Farben, und daraus ergeben sich viele Schattierungen; Sie haben bei einer Bestellung zweihundertsechzig Farbkombinationen zur Auswahl, gestern gelesen. Man schämt sich nicht, sondern prahlt damit.

- Toll!

- Finde ich auch. Diese «Freiheit» meinten Sie sicher nicht.

- Warum nicht? Aber nur am Rande. Einfach die Freiheit, sich etwas Angenehmes, Schönes und Gutes zu leisten, etwas, was zuhause kaum möglich wäre.

- Konkret bitte, Herr Vladimir.

- Ach, das wissen Sie doch, Herr ... darf ich Ihren Namen erfahren?

- Neuroth.

- Herr Neuroth. Interessante Reisen, zum Beispiel, mehr Weiterbildung, mehr Luxus im Alltag, mehr ...

- Ein schönes Auto, zum Beispiel?

- Auch, warum denn nicht?

- Diese Freiheit fällt einem nicht in den Schoß, nicht gleich nach dem Überschreiten der Grenze; und sie ist teuer.

- Ich weiß. Man muss überlegen, vergleichen, kaufen.

- Vor allem kaufen. Wenig Geld, wenig Freiheit. Leider. Diese Verkoppelung ist bei euch in Polen vermutlich nicht so deprimierend deutlich wie bei uns.

- Kann sein. Wie es «bei uns» heutzutage wirklich aussieht, weiß ich inzwischen nicht mehr so genau.

- Nicht? Das ist doch Ihre Heimat, Herr Vladimir! Das Land Ihrer Kindheit.

- Tempi passati! Ich bin seit mehr als drei Jahren weg.

- Und? Heimat bleibt Heimat.

- Allgemein, ja. Im aktuellem Zeitabschnitt oft nein.

- Ah, ist das Ihr Ernst? Für mich nicht vorstellbar.

- Für mich zuerst auch nicht. Ich hatte es nicht so erwartet und vor allem nicht so gewünscht. Irgendwo will man doch sein zu Hause haben. In der alten Heimat geht es häufig nicht mehr, und im Gastland, in dem man das neue Daheim sucht ... na ja, da ist man noch lange nicht angekommen. Man hofft allerdings, dass es sich ändert, dass man Wurzeln schlagen wird.

- Ja? Wie?

Ich schaute ihn an. Er erwartete eine Antwort und die hatte ich nicht so schnell parat.

- Mehr Kontakte, sagte ich nach einer Pause. - Mehr Vertrauen, mehr neu entdeckte Gemeinsamkeiten – mehr Freunde und ...

- Also auch erste im Berufsleben relevante Beziehungen?

- Ja, das würde nicht schaden.

- Im Alter von vierzig oder fünfzig Jahren entstehen gute Freundschaften nicht so schnell wie mit fünfzehn.

- Das kann sein. Im Durchschnitt ist das vermutlich so.

Wir schwiegen eine Weile, Herr Neuroth hantierte wieder an seinem Handy. Dann fragte er, ob ich etwas zum Essen bestellen möchte. Mit dem Hinweis auf die Zeit lehnte ich dankend ab.

- Ich sollte Sie lieber nach Hause bringen, sagte ich. - Sie haben sicher auch Ihr Programm.

- Diesmal nicht ... falsch, nur ein sehr lockeres. Ich finde es schön, dass wir ins Gespräch gekommen sind.

- Danke!

Ob ich schon einige Freunde in Deutschland habe, wollte er noch wissen. Ein paar schon, bejahte ich. Viele seien es nicht. Ob eher Tschechen, Ungaren ... oder Deutsche, fragte er weiter. Vor allem Polen; Deutsche aber auch, zwei deutsche Ehepaare.

Er nickte, schaute sich um und – für mich eine Überraschung – zündetet sich eine Zigarette an.

- Bei Ihrer ganzen Vorgeschichte, Herr Vladimir, fuhr er fort, - Taxifahrer wollen Sie wahrscheinlich nicht bis zum Rentenalter bleiben ... oder als selbständiger Taxi- und Transportunternehmer vielleicht doch?

- Kaum.

- Also: Nehmen wir an, Sie bringen Ihr Geschichtsstudium zu Ende. Wollen Sie das überhaupt?

- Eine schwierige Frage. Ich weiß es noch nicht. Bei uns zuhause ist das ein häufiges Diskussionsthema.

- Sagen wir – ja. Sie schließen ab und doktorieren. Und dann ... Unterricht? Oder bei einem Verlag Ihr Glück versuchen? Oder an der Uni bleiben?

- So weit denke ich gar nicht! Vorläufig bin ich Vater, Ehemann und ein nicht besonders begeisterter Taxifahrer.

Er lachte und bestellte für sich ein zweites Bier. Mein Glas war noch halb voll, ich gab nur ein Handzeichen: Bitte nichts mehr.

Der Wirt brachte das Bestellte und blieb eine Weile bei uns. Sie redeten schwerstes Bayrisch, praktisch ohne Pausen; und sie lachten oft und betatschten sich immer wieder. Die beiden mussten sich schon seit längerem kennen.

Die erste Frage von Herrn Neuroth, als wir wieder alleine waren:

- Haben Sie etwas mitgekriegt, wissen Sie, wovon wir gesprochen haben?

- Nein, nicht ganz  ... ich habe es bald aufgegeben. Nur ein paar Stichworte sind hängengeblieben; es handelte sich um Bestellungen. Wein, Öl, Metallregale. Zuletzt ging es mir zu schnell.

- Ich verstehe. Das kommt allerdings mit der Zeit, das kann man lernen. Aber selber reden, den hiesigen Dialekt akzentfrei zu beherrschen, die Sprache der Einheimischen, tja, das ist noch etwas anderes.

- Entschuldigung, eine Zwischenfrage: Muss man das? Ist das notwendig?

- Das lässt sich mit nein oder ja nicht beantworten. Wenn Sie die Uni abgeschlossen haben, unterrichten oder in einer Agentur tätig sind, dann ist es sicher gut, aber nicht so wichtig; Sie sind angestellt.

- Und als Selbständiger, als Klein- oder Mittelunternehmer?

- In dem Fall wird es ohne die Sprache der Einheimischen viel schwieriger, dann haben Sie im Berufsleben ein paar Nachteile.

- Nur, weil ich den Dialekt nicht beherrsche, die Sprache der Nachbarn?

- Ja, deshalb.

Er wandte sich um und winkte, der Wirt kam sofort. Herr Neuroth bestellte einen Espresso; seine einschlägige Frage beantwortete ich nach einem kurzen Zögern mit Nicken.

- Also zweimal, sagte er; und dann zu mir: - Jawohl, deshalb, Herr Vladimir. Wundert Sie das?

- Ein wenig schon.

- Warum? Sie sind doch den Menschen hier nicht bekannt, wenig vertrauenswürdig, ja, fremd. Und mit Fremden lässt man sich eher ungern ein ... wenn man eine Wahl hat, wenn zum Beispiel ein Einheimischer gleich daneben steht.

- Womöglich haben sie Recht, Herr Neuroth. Die Dialektsprache hat ihren Wert. Die kann man aber lernen.

- Wie alt sind Sie?

- Vierzig plus.

- Lernen, einverstanden – in Grenzen. Mit vierzig sind diese Grenzen etwas enger als mit fünfzehn oder fünf. Und dass Sie mit mir einmal so sprechen könnten, wie ich vor drei Minuten mit meinem Schulkammeraden geredet habe, nein, das schaffen Sie nicht, das ist rein biologisch nicht möglich, auch das Gehirn hat sich inzwischen verändert. Dieser Zug ist leider abgefahren, bei uns Männern etwas früher als bei Frauen.

Ich schwieg und nahm einen Schluck von dem gespendeten Espresso.

- In meiner Muttersprache, sagte ich, - hat die Dialektfärbung kaum eine Bedeutung. Hier allerdings  ... das Ganze zu beurteilen ist für mich schwierig.

- Nun, es ist halt so. Und daran lässt sich kaum etwas ändern.

Er bezahlte und verabschiedete sich von seinem ehemaligen Schulkollegen mit einem Händedruck. Bevor er in meine Taxe einstieg, sagte er:

- Wissen Sie, alles ist relativ. Bei den Künstlern ist es schon anders, da kommt es auf das Fremdländische – auf den Akzent, zum Beispiel – nicht so an; oder ganz im Gegenteil: Je fremder und exotischer die Aussprache, desto interessanter ist der Künstler. Auf die Star-Stufe bringt es aber ein Normalbürger nicht so oft.

Damit war ich wieder einverstanden. Wir lachten.

Im Auto wurde in den nächsten Minuten geschwiegen. Herr Neuroth entschuldigte sich und beschäftigte sich eine Weile mit seinem Smartphone. Eine wichtige Nachricht musste bei ihm angekommen sein, sein Gesicht wirkte plötzlich ernst.

Zuhause erzählte ich Wanda alles. Mein Bericht war möglicherweise etwas ausführlicher, als sie es sonst von mir kannte. Sie schmunzelte: - Ach die Sprache! Das war schon einmal unser großes Thema, Vlado. Genau das!

Wo, wann? ... Ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern. Ich fragte.

- Gut, sagte sie. - Wir reden noch darüber, wenn du magst. Aber bitte nicht heute. Später.

Ich wollte sie nicht bedrängen; lieber später als gar nicht.

WARTEN