Der Teufel im Glas - Natalie Mesensky - E-Book

Der Teufel im Glas E-Book

Natalie Mesensky

4,7

Beschreibung

Wien. In der Michaelergruft wird die Leiche eines Priesters gefunden. Erschlagen und auf dem Boden festgenagelt. Gibt es eine Verbindung zu dem Geistlichen, dessen Leiche die Archäologin Anna Grass kurz zuvor in einem mittelalterlichen Grab entdeckt hat? Major Paul Kandler glaubt nicht daran, doch Annas Bauchgefühl sagt ihr, dass Professor Kolma, ein prominenter Wiener Psychiater, etwas mit den Morden zu tun hat. Couragiert folgt sie ihrer Ahnung und kommt einem dunklen Geheimnis auf die Spur …

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Natalie Mesensky

Der Teufel im Glas

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Alexander Biedermann

ISBN 978-3-8392-5086-0

Widmung

Für meine Großeltern

TEIL I

»… Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren. …«

Richard von Weizsäcker,

Auszug aus der Rede zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa

Sonntag, 3. Mai

»Das ist doch eine Schande! Meinen Sie nicht?«

Ihre rosa lackierten Fingernägel krallten sich in seinen Unterarm. Umständlich kletterte die alte Dame über die hohen Stufen aus dem Waggon. Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Seit Stunden kaute sie ihm das Ohr ab und auch diesmal würde sie ihre Frage selbst beantworten.

»Eine Schande ist das, dass sie den Bahnhof abreißen.« Ihre schrille Stimme übertönte sogar das Pfeifen der Bremsen des einfahrenden Zuges auf dem Nachbargleis und die Ansagen aus den Lautsprechern. Er stapelte die Koffer auf einen Gepäckwagen.

»Wo er doch eben neu gebaut worden ist.«

»Wer?«, er bereute seine Nachfrage in derselben Sekunde, in der er sie gestellt hatte. Rasch schob er den überladenen Wagen Richtung Ankunftshalle.

»Der Südbahnhof.« Sie hatte Mühe, Schritt zu halten, und trippelte knapp hinter ihm her.

Er verlangsamte seine Gangart und sah auf sie hinunter.

Was, in Gottes Namen, hatte er verbrochen, dass er diese Frau kennengelernt hatte? Seit er ihr in Bad Aussee in den Waggon geholfen hatte, klebte sie an ihm wie ein Zeck. Sie müffelte nach Lavendel und feuchtem Loden. Kirschroter Lippenstift klebte an ihren Zähnen, und die Kopfhaut schimmerte durch die lila Frisur. Sie plapperte über 15 Themen gleichzeitig in einer Frequenz, die sein Hirn in bleierne Müdigkeit tauchte. Sie war ein fleischgewordener Tinnitus.

»Der Chruschtschow ist hier angekommen. Die Jackie war fast einen Kopf größer als er.«

»Jackie?«

»Kennedy.«

»Die waren am Südbahnhof?«

Sie boxte mit ihrer knochigen Faust in seinen Oberarm und kicherte kokett wie ein junges Mädchen: »Sie sind so ein Charmeur.«

In der Kassenhalle stoppte er. Er richtete sich gerade, drückte die Schultern durch, um seinen Nacken zu entspannen, und da sah er ihn. Ganz nahe, vor dem eingezäunten Markuslöwen, stand seine Rettung. Er ließ Frau und Koffer stehen, lief auf den Priester zu, nickte einen flüchtigen Gruß und zeigte auf den geflügelten Löwen:

»Auf dem Weg in den Süden?«, fragte er.

»Soweit der Plan.« Der katholische Pater deutete mit einem Seufzen auf die Anzeigetafel über der Rolltreppe. »Der Mensch denkt, und die italienische Bahn streikt.«

»Pläne sind dazu da, um Gott zum Lachen zu bringen«, sagte er freundlich und griff nach dem Koffer des Geistlichen. »Kommen Sie! Wir suchen ein Taxi für meine neue Freundin, und dann fahren wir zu mir und trinken eine gute Flasche Wein. Keine Widerrede. Nach Rom können Sie morgen auch noch fahren.«

Freitag, 8. Mai

Grelles Sonnenlicht fiel durch das gotische Maßwerk und zauberte ein flüchtiges Schattenmuster auf die in den Boden eingelassene Grabplatte.

›Hier liegt ein armer Sünder. Bittet für ihn‹ war in den roten Marmor graviert. Kein Name. Kein Wappen, wie bei den anderen Gräbern. Oberhalb der Inschrift hatte man ein flaches Relief eingearbeitet. Es zeigte einen Totenschädel über gekreuzten Langknochen.

Anna war müde und zu warm angezogen. Das Plätschern des Springbrunnens im Innenhof ging ihr auf die Nerven. Sie hatte Kopfschmerzen. Ein sanfter Luftzug wehte den schweren Duft der üppig blühenden Rosenbüsche aus dem Garten bis in den letzten Winkel des Kreuzgangs. Sie hasste Rosen. Warum hatte sie sich diesen Job angetan? Schon wieder Tote.

Anna zog ihren Pullover über den Kopf und legte ihn auf die oberste Schachtel des Stapels Bananenkisten, in denen sie die Knochen aus den Gräbern aufbewahrte. Die Toten mussten ihre Ruhestätten räumen, um für die Rohrleitungen der neuen Fußbodenheizung Platz zu schaffen. Damit die Patres es kuschelig hatten in ihrer Kirche. Allerdings war die Ausgrabung keine große Sache, und sie konnte ihrem Freund, dem alten Pater Johannes, einen Gefallen tun.

Sie seufzte, streifte einen Handschuh ab und kniete nieder. Sorgfältig untersuchte sie den Rand der Grabplatte. Ein Schweißtropfen löste sich von ihrer Augenbraue und klatschte auf den heißen Marmor.

»Hier ist eine Scharte im Stein.« Sie wischte mit dem Handrücken über die Stirn und blickte hoch zu Pater Michael. »Hattet ihr die Gruft schon einmal offen?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Anna stand auf, band die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz und krempelte die Ärmel ihres karierten Hemds auf. Sie griff nach der Brechstange und setzte das breite Ende an der abgeschlagenen Stelle des Steins an.

Pater Michael legte einen Holzpfosten zurecht, damit sie das Grab in weiterer Folge offen halten konnten.

»Auf drei«, sagte sie.

»Drei!«, rief er.

Anna warf sich mit ihrem ganzen Gewicht auf die Stange. Sie mochte es, wenn sie ihre Kraft spürte. Sich lebendig fühlte. Knirschend hob sich der Deckel des Grabs. Dann traf es sie wie ein Schlag.

Sie ließ das Werkzeug fallen, stolperte nach hinten, hinein in die Schachteln mit den Knochen. Pinsel, Besen, Kellen und Putzeisen kollerten klirrend über den Steinboden.

Der Geruch war unverwechselbar. Süßlich und moschusartig vermischte er sich mit dem Duft der Rosen und blieb für immer im Gedächtnis haften.

*

Anna kauerte auf der steinernen Bank in der Nische, ganz hinten in einer Ecke des Kreuzgangs. Die Füße in den Bergschuhen eng an den Körper gepresst, umklammerte sie ihre Knie und beobachtete Pater Michael. Der stand in seiner schwarzen Soutane am anderen Ende der Galerie und sprach mit Polizisten in weißer Schutzkleidung. Er gestikulierte hektisch und deutete in die offene Grube, als zwei Männer einen grauen Metallsarg auf einem Wagen an das Grab rollten. Die Szenerie erschien Anna immer irrealer, und das Pochen ihres Herzens wurde lauter. Keine Panik. Atmen. Wo blieb Paul? Am Telefon hatte er gesagt, er sei unterwegs. Ausatmen. Die Luft tief einsaugen. Den Bauch spüren. Keine Panik! Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie befahl sich, ihre Aufmerksamkeit umzulenken und sich auf das Plätschern des Springbrunnens zu konzentrieren. Umso stärker nahm sie jedoch den Duft der Rosen wahr. Den Geruch, der ewig mit dem Bild des toten Priesters verknüpft sein würde. Er war auf dem Bauch gelegen. Sein aufgeblähter Körper hatte den schwarzen Anzug komplett ausgefüllt. Wie ausgestopft, hatte Anna gedacht. Sein Kopf war zur Seite gedreht. Sie hatte sofort erkannt, dass mit seinem Unterkiefer etwas nicht stimmte.

»Er hat einen Stein im Mund!«, hatte Pater Michael gerufen.

Der linke Arm des Toten lag eng an seinem Körper. Die Handfläche war nach oben gewandt, und seine Finger – den Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt – bildeten eine sogenannte ›Feige‹.

Anna hob den Kopf und streckte sich wie eine Katze. Als ob sie so das Bild aus ihren Gedanken schütteln könnte. Da sah sie Paul, der den Kreuzgang betrat. Endlich. Auch er hatte sie bereits entdeckt, winkte ihr zu, blieb aber an dem offenen Grab stehen.

Major Paul Kandler war um Einiges kleiner als Pater Michael, er musste zu ihm aufsehen, als er ihm zuhörte. Er nickte, kniete sich an den Rand der Grube, stand auf, zog seine Jacke aus und blickte dabei immer wieder zu Anna. Der Gerichtsmediziner kam, stellte seine Tasche ab und mischte sich in das Gespräch. Pater Michael deutete auf Anna.

Sollte sie aufstehen? Zu ihnen hinüber gehen? Mitreden? Sie wollte sich bewegen, aber ihre Beine gehorchten nicht. Endlich kam Paul auf sie zu und wollte sich neben sie setzen, doch sie konnte nicht zur Seite rücken, um ihm Platz zu machen. Sie war wie gelähmt. Er stand vor ihr und blickte auf sie hinunter. Dann ließ er seine schwere Lederjacke auf den Steinboden gleiten und setzte sich auf den Boden. Den Rücken an die Bank gelehnt, blickte er in den Wandelgang.

»Was hast du hier verloren?«, fragte er.

»›Vermeiden Sie es, zu vermeiden‹ hat mein Therapeut gesagt.«

»Du hast die Therapie abgebrochen.«

»Nicht abgebrochen. Ich bin fertig damit. Den Rest schaffe ich alleine.«

Er drehte den Kopf nach hinten, um sie anzusehen.

»So schaust du aus«, sagte er.

»Wie schau ich aus?«

»Wie das Hendl unter dem Schweif.« Er zog eine kleine Blechdose aus der Innentasche seiner Jacke, bot ihr ein Pfefferminz an und nahm selbst eines.

»Nie wieder beschwere ich mich über den Geruch von Rosen«, murmelte Anna.

Er schwieg.

»Die wollen in der Kirche eine Fußbodenheizung einbauen«, erklärte sie. »Dazu brauchen sie neue Leitungen. Die Gräber liegen den Bauarbeiten im Weg. Die Skelette werden an einer anderen Stelle im Kreuzgang neu bestattet.«

Sie zerbiss das Zuckerl. Der Gestank war zum Geschmack geworden.

»Und den Job kann außer dir keiner machen. Weil du die einzige Archäologin in diesem Land bist.«

»Der Therapeut hat gesagt, ich soll mich meinen Ängsten stellen.«

Paul sagte nichts.

»Ich brauche das Geld«, sagte Anna.

»Deshalb hast du uns auch ein bisserl Arbeit verschafft?«, Paul schüttelte den Kopf und fragte: »Hast du dir den Toten angeschaut?«

»Zwangsläufig.«

»Was soll diese komische Haltung der Leiche?«

Anna hatte sich aufgerichtet, krempelte einen Ärmel hinunter, überlegte es sich anders und schob ihn wieder über den Ellbogen zurück.

»Bin ich Google?«, fragte sie.

Paul antwortete nicht. Er wartete. Anna seufzte und gab schließlich nach.

»Das ist eine Sonderbestattung«, murmelte sie.

»Ach ja!«

»Die Bauchlage ist für einen Wiedergänger normal.«

»Wiedergänger?«

»Wiedergänger.«

»Ist das eine Art Vampir?«, fragte Paul.

»Das ist kein Witz.«

»Das habe ich befürchtet.«

»Er hat einen Stein im Mund. Es gibt einen archäologischen Befund in Venedig …«

»Und die Handhaltung?«, unterbrach sie Paul.

»Das ist die sogenannte ›Feige‹«, erklärte Anna. »Eine Moorleiche, ein dänischer Fund …«

»Du hast das Grab gemeinsam mit Pater Michael geöffnet?«

»Wir haben dort angesetzt, wo der Deckel schon vorher geöffnet worden ist.«

»Und unsere Spuren zerstört.«

»Welche Spuren? Es ist eh klar, wie der Täter die Platte geöffnet hat!«

»Es müssen zumindest zwei Täter gewesen sein«, sagte Paul. »Die Abdeckung wiegt ein paar hundert Kilo.«

»Nicht unbedingt. Eine Brechstange, ein Holzpflock und ein Wagenheber. Dann mach ich dir das Grab auch alleine auf. Das ist alles eine Frage der Technik. Schaut euch die Kratzspuren auf der Höhe des Reliefs mit dem Totenschädel an. Dort hat er den Wagenheber angesetzt.«

»Damit kriegt er die Platte nicht hoch genug.«

»Mit dem Wagenheber von meinem Jeep funktioniert’s.«

Anna beobachtete die Männer in den grauen Hosen und weißen Hemden, die den Transportsarg parallel zu dem geöffneten Grab ausrichteten.

»Pater Michael kennt die Leiche«, sagte Paul. »Er hat den Toten vergangenen Sonntag in den Zug nach Rom gesetzt. Sein Name ist Raffaele de Rossi. Pater Raffaele.«

»Da war er noch am Leben«, murmelte Anna.

Die Bestatter hoben den Leichnam aus der mittelalterlichen Grabkammer und ließen ihn in den schmalen Metallsarg plumpsen. Anna atmete hörbar aus. Sie war Archäologin. Sie hatte es mit sauberen Knochen zu tun. Nicht mit auftreibenden Gasen, Haaren oder ekelhaften Flüssigkeiten. Am schlimmsten war der Geruch. Sie würde sich verbrennen lassen. Am besten noch am selben Tag ihres Todes. Sie schluckte schwer. Paul reichte ihr das blaue Blechdoserl, und sie nahm ein weiteres Pfefferminz.

»Pater Michael hat ihn am Sonntag zum Südbahnhof gebracht«, wiederholte Paul. »Seit damals hat ihn niemand gesehen. Der Sedlacek meint …«

»Sedlacek?«

»Der Gerichtsmediziner. Der Sedlacek meint, Sonntag könnte als Todeszeitpunkt passen. In dem Fall wäre er seit bald einer Woche tot. Genaues kann er erst nach der Obduktion sagen. Aber wem erklär ich das?«

»Tu nicht, als ob ich eine von euch wäre«, beschwerte sich Anna.

Paul wollte erst antworten, fischte aber dann das läutende Handy aus seiner Jacke und stand auf. Telefonierend schritt er den Wandelgang auf und ab.

Anna hörte nicht zu. Sie wollte mit dem Fall nichts zu tun haben. Paul hatte recht. Was machte sie hier? Warum hatte sie sich breitschlagen lassen, diesen Job zu übernehmen? Wieso war sie schon wieder pleite? Wie viele Projekte sollte sie noch gleichzeitig machen? Wie machten das andere Leute?

»Ich muss weg«, sagte Paul und hob seine Jacke auf. »Wir sehen uns morgen bei mir im Büro. Wir rufen dich an und geben dir die genaue Zeit durch.«

Anna blieb in der Nische zurück. Mit dem Geruch des toten Priesters in der Nase.

*

Paul hatte von den Herrenzimmern in Kellern gehört, ihre Existenz aber stets in Zweifel gezogen. Ähnlich dem Vorhandensein schwarzer Materie oder außerirdischen Lebens.

Eiche rustikal und cognacfarbenes Leder im englischen Stil. Es roch nach erkalteten Zigarren, und die Ziegel der Fototapete hinter dem riesigen Flachbildschirm wirkten im gedämpften Licht beinahe echt.

Der alte Sektionschef Zeller stand hinter seiner Bar und schenkte nicht ganz so alten Whiskey aus.

Wir sind das Land der Keller, dachte Paul und bemühte sich um angemessene Haltung.

»Für mich nicht«, sagte er.

»Stell dich nicht so an.« Zeller drückte ihm einen schweren Tumbler in die Hand.

Paul stellte das Glas auf den Couchtisch und setzte sich in den Fauteuil. Der Weihbischof saß ihm gegenüber. Er trug einen grauen Straßenanzug, perfekt geschnitten, ein winziges Kreuz am Revers und einen breiten Siegelring am Finger. Seine silbernen Locken waren sorgfältig über die schütteren Stellen am Kopf drapiert.

Paul konnte den Blick nicht von dem weißen Handwaschbecken neben dem Fernseher lösen.

»Damit er seine Hände in Unschuld waschen kann, unser Sektionschef«, lächelte der Bischof, der seinem Blick gefolgt war.

Paul sah ihn verständnislos an.

»Das Waschbecken. Nach den schmutzigen Filmen.«

Paul fühlte sich selbst wie im falschen Film. Im Keller des Sektionschefs. Mit Weihbischof.

»Ich bin Heide«, sagte er und kam sich vor wie ein Idiot.

»Das Sakrament der Taufe bleibt Ihnen erhalten«, antwortete der Bischof wie automatisch und fügte hinzu: »Unsere Tür steht offen für Sie.«

»Lassen Sie das, Kandler«, schnaubte Zeller.

Waren wir per Du oder nicht, fragte sich Paul.

»Was wissen wir über den Toten im Kloster?« Das alte Leder der Couch knarzte, als sich Zeller zu ihnen setzte.

»Unser armer Raffaele«, sagte der Bischof. »Wer hätte gedacht, dass der Herr ihn so plötzlich zu sich holt. Vergangene Woche hat er uns noch mit einem brillanten Vortrag in Heiligenkreuz erfreut.«

»Es war kein Mord«, sagte Paul. »Wahrscheinlich ein Herzinfarkt.«

Der Bischof nickte:

»Die Frage, die uns beschäftigt, lautet, wie kam er in dieses Grab? In dieser ungeheuerlichen Haltung. Dieser brillante Kopf.«

»Auf jeden Fall handelt es sich um eine Störung der Totenruhe. §190 Strafgesetzbuch«, sagte Zeller. »Das können wir nicht anstehen lassen.«

»Auch wäre es nicht von Vorteil, wenn die Presse Wind von dem Vorfall bekäme«, ergänzte der Bischof.

Paul unterdrückte mühsam ein Grinsen und griff nach seinem Glas. Der Whiskey war ausgezeichnet.

»Glauben Sie, wir finden weitere Priester, die auf dem Bauch in Gräbern herumkugeln, mit Steinen im Mund und einer obszönen Handhaltung?«, fragte er schließlich.

»Mehr Respekt bitte«, forderte der Bischof.

»Selbstverständlich werden wir herausfinden, wie dieses Unglück geschehen konnte.« Zeller warf Paul einen drohenden Blick zu.

»Wir?«, fragte Paul.

»Wir«, sagte Zeller. »Du kümmerst dich um die Sache. Das ist keine Lappalie.«

»Das sind ja optimale Voraussetzungen für eine Ermittlung, die uns im Übrigen nichts angeht«, ärgerte sich Paul. »Wir sind ›Leib und Leben‹. Wie stellst du dir das vor? Ein mickriges Delikt, keine Verdächtigen und ein Haufen Priester, die nicht mit uns reden werden? Mein Assistent, der Kollege Bauer, hat mit Recherchen begonnen und ist auf die berühmte Mauer des Schweigens gestoßen.«

»Doktor Bauer?«, fragte der Bischof. »Doktor Doktor Richard Bauer?«

Paul nickte. In welchem Arschloch steckte der Bauer nicht? Klar. Man hatte Verbindungen zur Kirche. Es war zum Kotzen.

»Unser Professor Kolma wird Sie bei Ihren Ermittlungen unterstützen«, der Bischof entspannte sich und ließ sich tiefer in seinen Fauteuil sinken. »Professor Kolma ist Konsulent der Erzdiözese und mit dem Befreiungsgebet vertraut.«

Befreiungsgebet? Paul ärgerte sich über das Zucken des Oberlides seines rechten Auges. Er trank einen Schluck. Der Bauer würde ihm erklären, was es mit diesem Befreiungsdingsbums auf sich hatte. Paul assoziierte mit dem Begriff die Befreiungskirche Südamerikas, die Feste der kommunistischen Volksstimme im Wiener Prater in den 1980er Jahren und literweise Cuba Libre. Er trank den Whiskey aus. Doch mit diesem Gedankengang lag er vermutlich falsch.

»Die Freundin meiner Tochter, diese Anna Grass, soll auch mitarbeiten«, brachte sich Zeller wieder ins Gespräch. »Und apropos: Gib ihr eine vernünftige Honorarvereinbarung. Ines liegt mir ständig in den Ohren, dass die Frau am Hungertuch nagt.«

Paul sah Anna vor sich. Das zusammengekauerte Häufchen Elend in der Nische des Kreuzgangs. Die verstörte junge Frau, die er vergangenen Herbst in San Francisco beim ›Panhandle‹ aufgeklaubt hatte, nachdem sie zwölf Stunden auf dem Gehsteig vis-à-vis dem Haus von Sven Larsson gesessen hatte. Die Kollegen von der Polizei in San Francisco hatten ihn verständigt. Anna war noch nicht soweit, wieder für sie arbeiten zu können. Sie hatte die letzte Zusammenarbeit noch nicht verkraftet.

»Sei halt ein bisserl kreativ!«, hörte er Zeller sagen.

»Kreativ?«, fragte Paul. »Kreativ ist es, Zeugen in die Ermittlungen einzubeziehen. Anna hat die Leiche gefunden!«

»Glauben Sie, dass die beiden den Pater zuerst in einem Grab verstecken, um ihn dann wieder auszugraben?« Der Bischof schüttelte den Kopf.

»Anna hat eine posttraumatische Belastungsstörung«, sagte Paul.

»Geh, sei nicht komisch«, gähnte Zeller. »Frag sie halt. Die Frau ist erwachsen und kann Nein sagen. Obwohl wir wissen, dass Nein bei den Weibern Ja heißen kann.«

Paul beugte sich nach vorne und stellte das geleerte Glas auf den Tisch. Er sah die beiden Alten an und wartete. Das konnte nicht alles gewesen sein. So ein Tamtam wegen einem Herzinfarkt und einer kindischen Störung der Totenruhe.

»Sag’s ihm«, sagte Zeller zum Bischof.

Der Bischof schwieg.

»Du musst es ihm sagen«, wiederholte Zeller.

Der Bischof drehte sein Glas in den Händen.

»Pater Raffaele war Priester in Santa Anna in Vaticano«, sagte er endlich.

»Im Vatikan?« Paul konnte mit der Information nichts anfangen.

»Er war der Exorzist der Diözese Rom«, erklärte Zeller genervt. »Und das nächste Mal, wenn du einen Termin mit der Kirche hast, zieh dich ordentlich an. Häng dir wenigstens eine Krawatte um.«

Samstag, 9. Mai

Anna spuckte die Zahnpasta in das Spülbecken und öffnete das Fenster zum Stiegenhaus. Der warme Geruch frischen Gebäcks strömte in ihre Küche.

»Ein Kipferl, Frau Nachbarin?« Herr Urban drückte seine Eingangstür auf und hob mit der anderen Hand den Einkaufskorb hoch.

Sie schüttelte den Kopf, aber er stand schon bei ihr und reichte das Kipferl durch das Fenstergitter.

»Sie müssen essen, Frau Nachbarin. Nicht, dass Sie uns vom Fleisch fallen.«

Die Szene erinnerte Anna an ›Hänsel und Gretel‹. Gemästet von den Nachbarn anstatt von der Hexe. Sie wollte sich bedanken, als sie der überkochende Kaffee vor einem morgendlichen Plausch rettete. Zischend spritzte er aus der Kanne und brannte sich im Email des Gasherds ein. Sie warf die elektrische Zahnbürste in die Abwasch, das Kipferl auf den Küchentisch, zog die Kanne vom Herd, verbrühte sich im Dampf die Finger und goss den Espresso über ihre Filzpantoffeln. Scheiße!

Der Tag fing ja gut an. Auf der Suche nach Butter für das Kipferl öffnete Anna den Kühlschrank. Neben dem Joghurt mit dem aufgeblähten Deckel stand ein Glas kristallisierter Honig. Dahinter leuchtete dunkelgelb Butter aus einem angebrochenen Packerl. Sie sah auf die Uhr, schlappte ins Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Nur nicht in den Spiegel sehen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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