Der Teufel steckt im ICE - Juliane Zimmermann - E-Book

Der Teufel steckt im ICE E-Book

Juliane Zimmermann

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Beschreibung

Juliane Zimmermann mag ihren Job als Zugbegleiterin. Gut, sie versteht, dass die meisten Reisenden Verspätungen, Zugausfälle oder falsche Reservierungen nicht lustig finden. Aber dass man sich immer gleich so aufregen muss... Und überhaupt: Die Passagiere sind auch nicht ohne. Da gibt es welche, die nackt auf dem Tisch sitzen, ihr Glasauge in der Toilette verlieren oder sich für den Teufel höchst persönlich halten. Über die sollte man auch mal schreiben, findet Juliane Zimmermann, und legt nun ein höchst amüsantes Buch voller skurriler Bahngeschichten vor.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 307

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Juliane Zimmermann

Der Teufelsteckt imICE

Die abgefahrensten Erlebnisse einer Zugbegleiterin

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2014/2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Ramona Jäger

Textredaktion: Lisa Bitzer, Landau

Titelillustration: © FAVORITBUERO, München

Umschlaggestaltung: © FAVORITBUERO, München

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-8387-5865-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Inhalt

1 Abfahrt Leben, Gleis 1

2 Von einer, die auszog, das Reisen zu lernen

3 Wiedersehen macht Freude

4 Teatime mit Jesus

5 Von kleinen Wesen und großen Überraschungen

6 Ein Licht am Ende des Tunnels

7 Verkuppelt

8 Knockin’ on Heaven’s Door

9 Ohne Moos nix los

10 Gelegenheit macht Diebe

11 My Bahn is my Castle

12 Bombenstimmung

13 Familie und andere Katastrophen

14 Der Teufel steckt im ICE

15 Die Zugschubse, dein Freund und Helfer

16 Love Train

Nachwort

1 Abfahrt Leben, Gleis 1

Sehr geehrte Fahrgäste, wir begrüßen Sie recht herzlich im Zug der Deutschen Bahn. Sie wissen wahrscheinlich am besten, warum Sie nicht das Auto genommen haben. Denken Sie während der Fahrt ab und zu daran – sich selbst und uns zuliebe.

»Hey«, ruft mir Lutz hinterher. »Ist was?«

Natürlich ist was, du Blitzmerker. Ich bin Zugbegleiterin. Mein Leben verläuft in mehr oder weniger geregelten Bahnen. Wenn ich die Beine in die Hand nehme und die Flucht ergreife, muss etwas sein.

Wir fahren von Dortmund nach München. Vor der Abfahrt hat mich Stefan, der Zugchef, zum Dienst in der ersten Klasse eingeteilt. Zum Glück ist heute auch Lutz an Bord, der mich als Steward unterstützen wird. Ich arbeite nämlich lieber in der zweiten Klasse, da muss man meist nur die Fahrkarten kontrollieren und Auskunft über Anschlusszüge geben. In der ersten Klasse steht der Service im Vordergrund, Zeitungen verteilen, Bestellungen aufnehmen und servieren – natürlich alles in extrafreundlich. Wenn aber ein Erster-Klasse-Steward an Bord ist, übernimmt er den Großteil des Services, und ich kann in Ruhe Karten knipsen.

Wir sind bis gerade eben gemeinsam durch die beiden Wagen gelaufen, ich mit den Zeitungen in der Hand, während Lutz die Bestellungen der Gäste notierte. In einem Abteil saßen vier Geschäftsleute, alle sehr wichtig und mit den neusten elektronischen Spielereien ausgestattet, auf die sie wie hypnotisierte Kaninchen starrten.

»Die Fahrkarten, bitte«, sagte ich – dann entgleisten mir plötzlich die Gesichtszüge. Der Typ rechts am Fenster. Das war doch … Nein, das konnte er nicht sein! Das war nicht möglich. Die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet er in diesem Zug saß, in dem ich arbeitete …

Ich handelte spontan und ohne zu zögern, machte auf dem Absatz kehrt, drückte Lutz die Zeitungen in die Hand und schob mich an ihm vorbei in Richtung Dienstabteil, wo ich seitdem sitze und mich frage, in welchem Mauseloch ich mich verstecken kann.

Alexander Sulzmann. Ausgerechnet der! Was soll ich nur tun? Ich kann ihm nicht entkommen. Aber ich kann auch schlecht die Fahrt bis zu unserem Zielbahnhof im Dienstabteil verbringen …

Ich greife zum Mobiltelefon und rufe meine Kollegin Silke an. Sie hat Dienst in der zweiten Klasse in den Wagen hinter dem Bistro. »Silke, können wir tauschen?«, frage ich, als sie abnimmt. Auf die Begrüßung verzichte ich. Ich habe keine Zeit für Nettigkeiten. »Bitte! Es ist ein Notfall.«

»Erste Klasse mit Steward?« Sie lacht. »Na klar, mache ich sofort. Hier hinten sitzt ein Junggesellenabschied. Das Thema der Veranstaltung ist Oktoberfest. Sie singen schweinische Lieder in bayerischer Mundart und lassen die anwesenden Damen Weißwürste zuzeln.«

»Das klingt verlockend«, seufze ich erleichtert. Mir ist alles recht. Hauptsache, ich muss Alexander nicht begegnen.

»Aber du erzählst mir nachher, was so Schlimmes passiert ist, dass du freiwillig mit dem Löwenbräu-Bierzelt tauschen willst, ja?«

Ich verspreche es ihr und beende die Verbindung. Dann öffne ich die Tür des Dienstabteils, schaue erst links, dann rechts den Gang entlang, um sicherzugehen, dass die Luft rein ist, und mache mich auf in Richtung Zweite-Klasse-Waggons.

Wir verlassen gerade den Kölner Hauptbahnhof, fahren langsam über die Deutzer Brücke. Ich schaue kurz nach draußen – überall hängen Vorhängeschlösser am Brückenzaun, die verliebte Paare dort befestigt haben. Die Schlüssel haben sie als Zeichen ihrer ewigen Liebe in den Rhein geworfen. Ich mag diesen Anblick sonst sehr gern, aber heute kann ich ihn kaum ertragen.

Ich schlucke schwer. Sulzmann. Ausgerechnet.

Nach dem Abitur war ich wild entschlossen, Hotelfachfrau zu werden. Damals lebte ich mit meinem Vater in einem Siedlungshaus am Niederrhein. Er oben, ich unten, zwei Wohnungstüren, zwei Küchen und jeweils zwei weitere Zimmer. Wir verbrachten die Abende zusammen, wenn wir einsam waren, und schlossen die Türen, wenn wir uns auf die Nerven gingen.

Er fand meine Idee, im Hotel zu arbeiten, gut. »Das Gewerbe läuft schon immer und wird immer laufen«, meinte er. Dass ich für die Ausbildung vielleicht wegziehen musste, machte ihm jedoch zu schaffen. Schließlich waren wir seit zehn Jahren ein Team. Um genau zu sein, seit meine Mutter gestorben war. Ein Verkehrsunfall hatte sie das Leben gekostet, bloß weil so ein dämlicher Mercedesfahrer dachte, er hätte eine eingebaute Vorfahrt, vor allem einem Fiat Punto gegenüber.

Das Haus, in dem Papa und ich leben, gehört schon immer der Familie. Früher haben meine Oma und mein Opa unten gewohnt, meine Eltern und ich in der oberen Etage. Mein Großvater schlief mit neunzig friedlich ein – da war ich zwei, deshalb kann ich mich daran nicht mehr erinnern. Vor fünf Jahren folgte ihm dann Oma. Im Garten an einem sonnigen Tag im Juli. Herzinfarkt. Sie war sofort tot, und die Tomaten unter ihr auch.

Papa und ich entrümpelten die untere Wohnung, renovierten, sanierten und richteten sie so ein, dass sich eine Achtzehnjährige dort wohlfühlen konnte. Ich zog im Erdgeschoss ein, sehr zum Entzücken all meiner Mitschüler, die regelmäßig bei mir Party machen durften. Paps ließ mich. »Tob dich ruhig aus, der Ernst des Lebens kommt früh genug.«

Wie recht er damit doch hatte. Es hat sich so vieles verändert seitdem. Mein Leben, mein Beruf. Auch ich bin eine andere geworden. Und jetzt stehe ich mit einem dicken Kloß im Hals im ICE nach München. Mein Herz pocht, und meine Knie fühlen sich an wie Wackelpudding.

»Sagen Sie«, spricht mich da eine Frau im schicken Kostüm an und reißt mich aus den Gedanken, »werden wir pünktlich in München ankommen?«

Wir sind gerade erst in Köln losgefahren und haben noch knapp fünf Stunden Fahrt vor uns, in denen theoretisch alles passieren kann – vom spontanen Platzregen in der Eifel bis zu Demonstranten auf den Gleisen am Stuttgarter Hauptbahnhof. Woher soll ich denn wissen, ob wir pünktlich ankommen werden? Ich kann doch nicht hellsehen.

»Es spricht nichts dagegen«, antworte ich und zwinge mich zu einem Lächeln.

»Also werden wir pünktlich in München ankommen«, sagt die Dame und macht ein Gesicht, als ob sie sich mit einem Idioten unterhalten würde.

»Ich denke schon, ja.«

»Denken Sie es oder wissen Sie es?«

Ich seufze. »Ich wüsste nicht, warum wir München nicht pünktlich erreichen sollten, aber dieses Leben hat einige Überraschungen parat, sodass es durchaus möglich sein könnte«, ich betone das Wort überdeutlich, »dass es dennoch zu Verzögerungen kommt. Ich verspreche Ihnen aber, wir werden keine Kosten und Mühen scheuen, damit Sie ohne Verspätung im Zielbahnhof eintreffen.«

»Na also«, sagt die Frau. »Geht doch.« Dann dreht sie sich um und verschwindet.

Der Zug nimmt Geschwindigkeit auf, und die Landschaft rauscht an mir vorbei. Ich habe schon lange aufgehört, mich über komische Menschen zu wundern. Ich mag meinen Job, den Kontakt zu unseren Kunden, und ich liebe es, Bahn zu fahren. Man trifft meistens interessante Leute, nur selten unfreundliche, manchmal erlebt man aufregende Geschichten, manchmal lustige und traurige. Der Ruf der Bahn ist schlecht, aber das liegt zum Teil auch daran, dass der Mensch negative Erlebnisse viel länger im Gedächtnis behält als positive. Wie viele Bücher wurden schon über berührende, ergreifende und wunderbare Begegnungen im Zug geschrieben, wie viele über nervige, ärgerliche und störende? Dabei gibt es häufiger schöne Szenen in der Bahn als schlechte. Ich muss wissen, wovon ich rede, ich verbringe einen Großteil meines Lebens auf den Gleisen.

Silke kommt mir entgegengehastet. »Dann darf ich ja gleich die Goodies verteilen! Das mache ich so gern.«

Goodies, das ist unser Ausdruck für die Süßigkeiten, die wir in der ersten Klasse ausgeben.

»Gib den Affen Zucker«, sage ich grinsend.

»Aber nachher will ich wissen, was es damit auf sich hat, dass du unbedingt in die Holzklasse wechseln willst«, sagt Silke und nimmt mir die Tüte mit den kleinen Gummibärchen-Packungen ab.

Ich nicke ergeben und mache mich auf in die zweite Klasse. Dieses Mal bin ich einer Begegnung mit ihm entkommen. Alexander Sulzmann. Er hat mein Leben verändert.

Die Ausbildung zur Hotelfachfrau konnte ich glücklicherweise in einem Hotel in der Nähe machen und so zu Hause wohnen bleiben, was sowohl meinen Vater als auch mich sehr freute.

Aufgeregt fuhr ich an meinem ersten Tag zum Hotel. Meine Dienstkleidung hatte ich schon vorher bekommen. Es fühlte sich großartig an, dieses schicke Kostüm, und machte mich stolz – gleichzeitig war ich aber sehr unsicher und aufgeregt.

In den ersten Wochen war ich vor allem an der Rezeption, aber im Laufe der zweijährigen Ausbildung durchlief ich alle Bereiche im Hotel. Ich musste als Zimmermädchen Kissen aufschütteln, in der Küche unter Tränen Zwiebeln schälen, in der Warenannahme Paletten zählen und im Büro Rechnungen von Lieferanten überprüfen und abheften. Ich musste Zimmer vergeben, Stornierungen annehmen und Kundengespräche führen. Ich begrüßte Gäste, manchmal auch ihre Kinder, die Hunde oder die Katze, Ehefrauen und Geliebte, übte, wie man eindeckt, serviert und abräumt. Vor allem aber lernte ich, wie man in fast jeder Situation freundlich bleibt. Gerade das war nicht ganz so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte. Gäste können sehr anstrengend sein.

Auch die Fahrt zur Berufsschule mit der Regionalbahn war manchmal etwas lästig – nie wusste man, ob der Zug pünktlich fuhr. Morgens war er voller Berufspendler und mittags voller lärmender Schüler. Aber die halbe Stunde eignete sich hervorragend, um zu lernen oder den Arbeitsalltag hinter sich zu lassen.

Nach zwei Jahren Ausbildung bestand ich die Abschlussprüfung und war Hotelfachfrau. Ich wurde vom Hoteldirektor übernommen, was mich natürlich sehr glücklich machte. Dabei war es quasi seine letzte Tat, denn danach ging er in Rente. Ein neuer Direktor aus München kam. Er hieß Alexander Sulzmann, und wir verstanden uns, so unterschiedlich wir auch waren, seit unserem ersten Aufeinandertreffen blendend.

An einem Abend hatte ich Ärger mit einem der Gäste – einem Umbesteller. Dreimal hatte er schon seine Bestellung verändert, und als ich ihm schließlich die Hauptspeise brachte, wollte er sie nicht mehr haben, sondern verlangte plötzlich etwas ganz anderes. Ich nahm den Teller also wieder mit.

Als ich zurück ins Restaurant kam, starrte mich der Gast entrüstet an. »Und wo bleibt jetzt mein Essen? Muss man hier immer so lange warten? Das ist ja unverschämt!«

»Noch ein kleines bisschen Geduld«, sagte ich freundlich. Ich erwähnte nicht, dass er ja den Gang schon hätte haben können, wenn er es denn gewollt hätte.

»Unglaublich, dieser Service hier!«, rief der Gast nun lauter. »Ich werde mich beschweren.«

»Gibt es ein Problem?«, fragte plötzlich jemand.

Es war der neue Direktor, der auf einmal hinter mir aufgetaucht war. Er lächelte mich an, und ich schmolz dahin. Er war einfach nur … WOW! Anfang dreißig, gut aussehend, sportlich, eloquent und sehr freundlich. Er hatte eine Suite im Hotel bezogen, das wusste ich von der Rezeption. Seine Familie – Frau und Kind – waren in München geblieben, dorthin flog er auch an den meisten Wochenenden.

»Der Gast wartet noch auf sein Essen«, sagte ich so neutral, wie es mir möglich war. Dann flüsterte ich dem neuen Direktor zu: »Er ist ein Umbesteller. Als ich ihm den Gang gebracht habe, hat er es sich einfach anders überlegt. Statt dem Steak möchte er nun Rehrücken.«

Sulzmann nickte. Dann wandte er sich an den Gast. »Guten Tag, mein Name ist Alexander Sulzmann. Wie ich höre, möchten Sie sich beschweren?«

»Das Personal hier ist grauenvoll!«, meckerte der Gast los. »Das sind alles Schnecken. Sind Sie hier auch zu Gast? Wenn Sie etwas essen wollen, dann bringen Sie am besten viel Zeit mit. Und das soll das beste Hotel am Platz sein? Dass ich nicht lache!«

»Nein, ich bin kein Gast, ich leite dieses Hotel. Mir hat die Bedienung gerade gesagt, dass Sie Ihre Bestellung haben zurückgehen lassen.«

Dem Mann verschlug es kurz die Sprache. Offenbar besaß sogar er so etwas wie Taktgefühl, und ihm war allem Anschein nach klar, dass er eine Fettnäpfchen-Bauchlandung der Sonderklasse hingelegt hatte. Wie wird er wohl reagieren?, fragte ich mich. Vermutlich so wie die meisten: mit der Flucht nach vorn.

Er räusperte sich. »Nun, ich habe sehr lange warten müssen und dann keinen Appetit mehr auf Steak gehabt. Ich möchte lieber den Rehrücken, allerdings nicht mit Rösti, sondern mit Selleriepüree. Und auch nicht mit Rotkohl, sondern mit frischem Salat und Ziegenkäse. Das wird doch wohl möglich sein?«

Alexander Sulzmann knipste ein 300-Watt-Lächeln an. »Natürlich ist das möglich. Sie sollten dennoch wissen, dass die Speisen hier immer frisch zubereitet werden. Deshalb dauert es auch immer einen Moment, bis unser Personal servieren kann. Darf ich Ihnen die Wartezeit mit einem Glas Wein auf Kosten des Hauses verkürzen?« Er raunte mir zu: »Bitte bringen Sie ihm noch einmal die Weinkarte. Und außerdem noch etwas Brot und Depp … ich meine: Dip.« Er zwinkerte mir zu und lächelte.

So ein süßes Lächeln, und Humor hatte er auch! Da konnte man doch glatt vergessen, dass er verheiratet und Vater eines Kindes war …

Er eroberte mein Herz im Sturm. In den nächsten Wochen kamen wir uns näher – wenn auch nur rein platonisch. Na ja, jedenfalls von seiner Seite aus, ich hätte mir durchaus mehr vorstellen können. Er war so zauberhaft, so charmant und – das erfuhr ich nach und nach – so unglücklich verheiratet. Der Arme.

Eines Abends erzählte er mir, dass er beruflich verreisen müsse, nach Frankreich, wo es Hotels unserer Kette gab, die er besuchen wollte. Er würde in einer Woche sechs Hotels besichtigen. Seine Frau wolle nicht mit, obwohl seine Mutter das Kind nehmen würde, erzählte er mir seufzend, und ich sah, wie sehr ihm das Getrenntsein von seiner Familie zu schaffen machte. Inzwischen kannten wir uns gut, duzten uns sogar und sahen uns immer öfter nach dem Dienst.

»Jule«, fragte Alexander mich leise, »willst du nicht mitkommen? Bitte! Die Hotelkette bezahlt sowieso alles für zwei Personen.«

»Aber das geht doch nicht, Alexander!«, stotterte ich. »Deine Frau … deine Tochter …« Mir fehlten die Worte, auch wenn in mir alles schrie: JA, ich will! Aber diese Antwort war in vielerlei Hinsicht unangebracht, das verstand sogar ich.

»Gaby und ich werden uns trennen«, sagte Alexander traurig und ließ den Kopf hängen.

In diesem Moment hätte ich eigentlich das Weite suchen sollen. Aber hinterher ist man ja immer schlauer. Ich tat es natürlich nicht, sondern suchte stattdessen seine Nähe. Ich war zweiundzwanzig Jahre alt, grün hinter den Ohren und verliebt in einen verheirateten Mann. Meine Mutter war schon eine Weile tot, ich konnte sie nicht um Rat fragen. Und mein Vater war in Liebesfragen wirklich nicht der richtige Ansprechpartner. Meine Gefühle fuhren Achterbahn, und ich wusste nicht, was ich tun sollte.

Für Notfälle dieser und anderer Natur sollte jede junge Frau eine ABF haben – eine allerbeste Freundin. Meine heißt Marie Sock, genannt wird sie allerdings Söckchen. Der Spitzname wurde ihr im Kindergarten verpasst, und sie ist ihn bis heute nicht mehr losgeworden. Wir kennen uns aus dem Sandkasten und klebten fast die gesamte Schulzeit wie Kletten aneinander. Sie ging nach der elften Klasse vom Gymnasium ab und machte eine Ausbildung zur Kauffrau im Verkehrsservice – sprich: Sie wurde Schaffnerin bei der Deutschen Bahn. Als ich meine Lehre zur Hotelfachfrau anfing, trug sie bereits die nachtblaue Uniform, das rote Halstuch und eine schicke Mütze. Sie hatte eine Zugmeldescheibe – das sind diese Kellen, die die Zugbegleiter am Bahnsteig hochhalten – und natürlich eine Trillerpfeife. Schaffnerin zu werden war ihr Kindheitstraum, und sie hat ihn sich erfüllt.

»SOS«, lautete meine SMS an sie. »Dringender Notfall. Brauche Rat, bringe Sekt.«

Wir trafen uns im Schrebergarten ihrer Eltern, dort hatten wir schon manche Nacht bei Kerzenschein durchgequatscht und versucht, die Probleme der Welt im Allgemeinen und unseres Lebens im Besonderen zu lösen.

»Was ist passiert?«, fragte sie mich, als ich das quietschende Gartentürchen öffnete. Sie schaukelte sanft in der Hollywoodschaukel mit blau-weiß gestreifter Markise, ein Relikt ihrer Großeltern und ausgesprochen gemütlich.

»Ich habe mich verliebt«, sagte ich und ließ mich neben sie auf die Schaukel plumpsen. Mit einem satten Plopp entkorkte ich die Flasche Sekt und schenkte uns ein. Die Gläser hatte Söckchen in weiser Voraussicht bereits gezückt. »Darauf ein Prosit!« Ich trank den ersten Schluck.

»In wen? Kenne ich ihn? Woher kennst du ihn? Wie alt ist er? Wie sieht er aus? Was macht er beruflich?«, sprudelte es aus ihr heraus.

Ich musste lachen und verschluckte mich. »Das wird dir jetzt gar nicht gefallen, fürchte ich.«

Vor ein paar Wochen hatte ich Söckchen schon von Alexander erzählt – allerdings ohne Details, und vor allem ohne zu sagen, dass er mein Vorgesetzter war. Damals hatte ich nur verraten, dass ich mich mit einem älteren Mann angefreundet habe, der mich irgendwie fasziniere. Söckchen hatte die Sache kategorisch verurteilt. Der Altersunterschied sei zu groß, hatte sie gemeint.

»Also, es ist Alexander, von dem ich dir bereits erzählt habe.«

Söckchen machte ein langes Gesicht. »Der alte Knacker?«

»Er ist kein alter Knacker. Er ist nur acht Jahre älter als ich und ein absolutes Sahneschnittchen.«

Sie grinste. »Nur, wenn er sich wirklich so gut gehalten hat, wie du sagst …«

Ich unterbrach sie. »Und er ist der Hoteldirektor.«

»Der Direktor?« Sie verzog das Gesicht. »Also dein Chef? Das ist aber gar nicht gut.«

»Es kommt noch schlimmer, Marie«, gestand ich. »Er ist verheiratet.«

»Oh nein!«

»Oh doch. Aber er will sich trennen.« Und dann erzählte ich ihr alles.

Am frühen Morgen, als die Sonne gerade aufging, die Vögel den Tag begrüßten und wir die dritte Flasche Sekt geleert hatten, waren wir uns einig: Er meinte es ernst mit mir. Also beschloss ich, mit ihm nach Frankreich zu fahren. Was man eben so machte, wenn man jung, gutgläubig und auf der Suche nach der Liebe war.

»Entschuldigung, können Sie mir helfen?«, wendet sich eine Frau aufgeregt an mich, als ich die Fahrkarten in Wagen 7 kontrolliere. Wir sind kurz vor unserem nächsten Ziel, dem Bahnhof Bonn.

»Vielleicht«, antworte ich.

»Ich muss in Siegburg/Bonn umsteigen«, sagt sie und zeigt mir ihr Onlineticket. »Reicht die Zeit dafür?«

Ich sehe nach. Sie hat fünfzig Minuten zwischen den Zügen, und wir haben immer noch keine Verspätung. Vielleicht ist sie gehbehindert?

»Das sollte locker reichen«, sage ich. »Es ist ja fast eine Stunde.«

»Ja, aber schauen Sie doch mal. Jetzt sitze ich in Wagen 7. Aber im nächsten Zug habe ich eine Platzreservierung in Wagen 254.«

»Ja, und?« Ich verstehe nicht, worauf sie hinauswill.

»Dann muss ich ja den ganzen Zug entlanggehen, an über zweihundert Wagen vorbei!«

Ich muss mir auf die Lippen beißen, um nicht laut loszulachen. »Gnädige Frau, ich kann Sie beruhigen. Die Wagennummern zeigen nicht an, wie viele Waggons ein Zug hat.«

»Nicht?«

»Nein. In Australien ist mal ein Güterzug mit sechshundert Waggons gefahren, der hatte allerdings sieben Lokomotiven. In Deutschland gibt es so was natürlich nicht, der Zug würde wahrscheinlich vom Alpenrand bis an die Waterkant reichen. Durchschnittlich haben die Züge acht bis sechzehn Wagen. Ansonsten müssten Sie ja bis Offenbach laufen.«

»Aber da muss ich ja gar nicht hin!« Sie schüttelt erleichtert den Kopf. »Danke für die Auskunft.«

Die Frau verlässt den Zug, als wir zum Stehen kommen, und ein junger Mann steigt zu. Nachdem wir uns in Bewegung gesetzt haben, gehe ich zu ihm, um mir seine Fahrkarte zeigen zu lassen.

»Ich bin unterwegs zum Jobcenter«, sagt er und grinst.

»Das freut mich«, erwidere ich etwas irritiert. Eigentlich wollte ich nur seine Fahrkarte sehen. Wohin die Leute fahren, ist mir meistens egal. Wäre ja noch schöner, wenn ich mich auch noch damit auseinandersetzen müsste. »Ihre Fahrkarte?«, frage ich deshalb noch einmal.

»Aber ich bin doch unterwegs nach Frankfurt, zum Jobcenter!«

Ich lächele ihn freundlich an. »Von mir aus können Sie auch nach Heidelberg ins Schwimmbad fahren. Oder zur Papstaudienz nach Rom. Sie sind in einem Zug. Und deshalb möchte ich bitte Ihren Fahrausweis sehen.«

»Ich soll mich dort vorstellen. Vielleicht haben die einen Job für mich«, sagte er.

»Fein. Und Ihre Fahrkarte haben Sie … wo?«

»Ich habe keine Fahrkarte. Man braucht doch keine, wenn man zum Jobcenter fährt.« Er sieht mich zufrieden an.

Ich bin aufrichtig verwundert. Man braucht kein Zugticket, wenn man zum Arbeitsamt fährt? Dann vermutlich auch nicht, wenn man ins Krankenhaus muss oder zum Sechzigsten von Onkel Karlfried. Sind ja auch alles Einladungen, die man schlecht ausschlagen kann.

»Doch, Sie brauchen auch dafür eine Fahrkarte oder einen Kostenübernahmeschein der Behörde. Haben Sie das?«

Nun gefriert das Lächeln in seinem Gesicht. »Nein.«

»Dann müssen Sie nachlösen.«

»Was? Aber ich muss doch zum Jobcenter!«

Langsam fängt er an, mir auf die Nerven zu gehen. Die anderen Fahrgäste, die außen rum sitzen, gucken schon. »Was ich aber gar nicht verstehe: Wieso fahren Sie ICE, wenn Sie zum Jobcenter müssen? Ist das nicht in Ihrer Stadt?«

Er runzelt die Stirn. »Was meinen Sie damit?«

»Nun, Sie sind doch eben in Siegburg/Bonn zugestiegen und sind auf dem Weg nach Frankfurt.«

»Ja?«

»Wo wohnen Sie denn? In Frankfurt? Was haben Sie dann in Bonn gemacht?«

»Na, meine Freundin besucht.«

Das schlägt dem Fass den Boden aus. »Und da sitzen Sie jetzt in einem Zug der Deutschen Bahn und meinen, dass Sie nichts bezahlen müssen, weil Sie zum Arbeitsamt unterwegs sind?«

»Aber ich bin doch …«

»Guter Mann, die Bahn befördert auch Jobsuchende nicht unentgeltlich. Entweder Sie lösen jetzt nach, oder ich nehme Ihre Personalien auf und Sie werden eine hohe Fahrpreisnacherhebung zahlen müssen.«

Obwohl er nicht überzeugt scheint, kauft er sich ein Ticket.

»Vielleicht ersetzt Ihnen ja das Amt die Fahrtkosten«, sage ich ihm zum Abschied etwas freundlicher.

»Nein«, grummelt er. »Das tun die nie.«

Nachtigall, ick hör dir trapsen! Für die Wiederholungstat hätte ich ihm glatt noch mehr in Rechnung stellen müssen.

Dass meine Reise mit Alexander irgendwann dazu führen würde, dass mein Leben die Deutsche Bahn kreuzte, ahnte ich nicht, als wir damals unterwegs waren. An Alexanders Seite fühlte ich mich wie eine Göttin in Frankreich. Auch wenn ich ein schlechtes Gewissen Paps gegenüber hatte, dem ich die Fahrt als Dienstreise verkauft hatte.

Doch das vergaß ich schnell. Denn während Alexander und ich die Hotels der Kette besuchten, hatten wir wunderschöne Tage – und lustvolle Nächte. Er ließ den Room Service mehrmals täglich antanzen und spendierte Mitternachtssnacks, Champagner und Kaviar. Wir hatten immer die größten Zimmer, den besten Service und sieben Tage lang tolles Wetter. Alles war perfekt. Ich wusste: Ich liebte diesen Mann. Er war mein Traummann, besser noch, die Erfüllung einer lang gehegten Mädchenfantasie. Zusammen würden wir irgendwann ein eigenes Hotel führen, vielleicht sogar in Frankreich, da war ich mir ganz sicher. Alexander imponierte mir, er beeindruckte mich, war weltgewandt und umgarnte mich mit seinen Worten. Bald schon, versicherte er mir, bald schon würde er seiner Frau die Wahrheit über uns erzählen, und dann würde unsere gemeinsame Zukunft endlich beginnen.

Er war so wunderbar.

Und solch ein elender Mistkerl.

Das jedenfalls erfuhr ich, als ich ihm drei Monate später, zugegeben sehr entsetzt, mitteilte, dass ich schwanger war. Ungeplant. Unverhofft. Ich hatte immer verhütet, aber irgendetwas musste schiefgegangen sein. Es ist doch unser Kind, dachte ich nach den ersten entsetzlichen Momenten des Schreckens.

»Jule, das geht jetzt gar nicht«, stotterte Alexander. »Ein Kind? Ich habe doch schon eines!«

»Nun ja, bald wirst du zwei haben«, sagte ich trocken.

»Meine Frau macht Ärger. Sie will mir das Sorgerecht entziehen, wenn ich mich von ihr scheiden lasse. Du verstehst doch, dass meine Tochter mir wichtig ist? Ich kann das nicht einfach so hinnehmen.«

»Was willst du machen?« Ich war zum Glück nicht so blond und blauäugig, wie ich mich gerade fühlte, sondern brünett – aber doch sehr naiv, wie ich mir eingestehen musste.

»Es geht nicht darum, was ich machen will. Es geht darum, was du machen musst. Entweder das ist ein großer Irrtum und du bist nicht schwanger, oder du sorgst dafür, dass du es nicht mehr bist.« Er lächelte. Schief irgendwie. Falsch. Gemein.

Was meinte er bloß? Offensichtlich bemerkte Alexander, dass ich nicht begriff, was er wollte.

»Du musst es abtreiben. Ich habe schon eine Tochter. Und ich kann im Moment kein weiteres Kind gebrauchen. Schon gar nicht von dir!«

Ich war entsetzt, verzweifelt, traurig. So schnell es ging, verließ ich das Hotel und schrieb eine SMS an Söckchen: »HILFE!«

Ihre Antwort: »Sekt und Schrebergarten?«

»Lieber Selters«, schrieb ich geknickt zurück.

»Hallo?« Eine Frau mit einem Baby in einer Sitzschale kommt aufgelöst zu mir, als sich der Zug in Frankfurt/Flughafen gerade in Bewegung gesetzt hat. »Ich muss hier aussteigen!«

»Wo?«, frage ich verwirrt.

»Na, hier in Frankfurt. Sie müssen anhalten!«

»Das tut mir leid, das geht jetzt nicht mehr. Da haben Sie den Ausstieg verpasst.«

»Aber ich muss hier raus. Mein Koffer steht schon auf dem Bahnsteig. Ich bin doch nur zurück in den Zug, um Frieda zu holen. Beides konnte ich doch nicht tragen.« Sie hat Tränen in den Augen. »Ich habe erst den Koffer rausgebracht und bin dann zurück ins Abteil, um mein Baby zu holen.«

Ich seufze. »Leider können wir jetzt nicht mehr anhalten.«

»Aber was mache ich denn jetzt?«, schluchzt sie. »Mein Koffer … Und überhaupt, ich will doch zum Flughafen!«

»Sie können in Mannheim aussteigen und mit dem nächsten Zug zurückfahren.« Ich zücke mein Mobiles Terminal und nenne ihr die nächste Verbindung zurück nach Frankfurt/Flughafen.

»Aber mein Koffer …«

»Ich werde dem Zugchef Bescheid geben, er wird dafür sorgen, dass Ihr Koffer verwahrt wird.«

»Das geht?«

»Natürlich. Und für das nächste Mal sagen Sie dem Zugpersonal Bescheid oder bitten Sie um Hilfe. Und wenn Sie mit noch mehr Gepäck unterwegs sind: Sie können sich vorab bei der Bahnhofsmission melden, die bieten Einsteige- und Umsteigehilfen an.«

»Haben Sie auch Babysitter?«

»Bitte was?«

»Na, ob Sie auch jemanden für die Betreuung der Kinder haben?«

Ich lächele sie breit an. In den meisten Fällen ist Lächeln ein probates Mittel, um sich seine Bestürzung nicht anmerken zu lassen. »Das tut mir leid. Da muss ich Sie leider enttäuschen.«

»Könnten Sie dann kurz auf Frieda achtgeben?« Sie senkt die Stimme. »Ich muss schon seit Dortmund auf die Toilette, aber der Kindersitz passt nicht in die enge Kabine.«

Ich blicke auf Frieda, die an ihrem Schnuller nuckelt und mich mit großen Augen ansieht. »Aber klar doch.«

Diesmal kam ich vor Söckchen im Schrebergarten an und tigerte durch die Flora. Mein Leben ist vorbei, dachte ich immer wieder, während neues Leben in mir wuchs – das war doch paradox.

»Ärger mit dem Chef?«, fragte Söckchen und fiel mir in allerbester Freundinnenmanier um den Hals.

»Schlimmer.«

»Was kann schlimmer sein? Ich habe uns doch Sekt mitgebracht – das Kribbeln im Bauch wird dich aufbauen.«

»Bei mir kribbelt etwas ganz anderes im Bauch«, gestand ich tonlos und erzählte Söckchen, was los war.

»O Gott. Im Ernst?«, sagte sie. Doch dann nahm sie mich in den Arm, so wie es nun mal beste Freundinnen tun. »Das schaffen wir. Ganz sicher, irgendwie. Dein Paps hilft doch bestimmt auch.«

Aber sicher. Der würde sich ganz besonders freuen, dass er nun Opa wurde …

Das Gespräch mit meinem Vater schob ich so lange hinaus, wie es ging. Ich wusste, er würde nicht begeistert sein. Ich war es ja selbst nicht.

Die Tür zu meiner Wohnung war nie abgeschlossen. Warum auch? Papa respektierte meine Privatsphäre. Eigentlich. Eines Morgens aber platzte er einfach so herein, während ich unter lautem Würgen der keramischen Abteilung einen Besuch abstattete. Er war ja meist zu Hause, außer er war auf einer Kegeltour mit seinem Klub. Paps hatte die Bäckerei seines Vaters übernommen und sie vor einigen Jahren gewinnbringend an einen Konkurrenten verkauft. Das Geld hatte er dann gut angelegt und musste seitdem nicht mehr arbeiten. Große Sprünge konnte er sich zwar nicht leisten, aber für ein Leben als Privatier, wie er es nannte, reichte es.

»Du bist krank, Jule. Du hängst schon seit Tagen über der Kloschüssel. Meinst du, ich hör das nicht? Warum gehst du zur Arbeit und nicht zum Arzt? Jule, du bist doch kein Kind mehr«, schimpfte er. »Ich rufe Dr. Schneider an und sage, dass ich dich gleich vorbeibringe.«

Um Gottes willen, dachte ich nur. Alles, nur das nicht!

Ich wusch mir das Gesicht ab. Meistens war es nur ein Anfall von Übelkeit am Morgen, und danach war alles gut für den Rest des Tages. Ich war ja nicht krank … sondern schwanger. Und natürlich arbeitete ich weiterhin. Nur Alexander ging ich aus dem Weg. Das war aber gar nicht so schwierig, denn der Feigling tat es mir gleich. Pah. Und so was wollte ein Mann sein!

»Ich bin nicht krank«, sagte ich.

»Du hast irgendetwas mit dem Magen. Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock.«

Am besten war wohl ein Frontalangriff. Ich holte tief Luft. »Ich glaube, ich muss dir was sagen, Paps. Da gab es diesen Typen …« Weiter kam ich nicht, denn mir fehlte jegliche Idee, wie ich meinem Vater von seiner neuen Rolle als Superopa berichten konnte.

Er verstand mein Zögern aber vollkommen falsch. »Ach je. Deshalb die Magenverstimmung? Aus Liebeskummer? Mädchen, lass dir sagen, das gibt sich. Ganz bestimmt. Auch wenn es jetzt im Moment sehr wehtut.«

»Papa, setz dich mal.« Ich schob ihn aus dem Badezimmer zum Sofa. Das war der entscheidende Moment. »Mir ist tatsächlich etwas auf den Magen geschlagen.«

»Was hat der Typ gemacht? Dich beleidigt? Deine Gefühle verletzt? Soll ich dem mal zeigen, wo der Frosch die Locken hat?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, du kennst ihn nicht. Es ist mein … nun …«, druckste ich herum. Ach, was soll’s, alles raus, was keine Miete zahlt. »Mein Direktor.«

»Was? Der ist doch uralt. Und sicherlich verheiratet«, schnaubte Papa entsetzt.

»Es ist Anfang dreißig, und ja, er ist verheiratet.« Ich fühlte mich wie eine frisch überbrühte Tomate, der man nun leicht die Haut abziehen konnte.

»Juliane.« Papa schüttelte den Kopf. Er sah sehr enttäuscht aus. »Er hat dir sicher erzählt, dass seine Ehe unglücklich ist, dass er sich trennen will und nur noch nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden hat.«

»Woher weißt du das?«

»Weil man so etwas weiß! Das sind die üblichen Tricks von Ehebrechern. Schau mich nicht so an, ich habe solche Sprüche nie losgelassen.« Er seufzte. »Na gut, es ist also vorbei. Und das hat dich so umgehauen? Oder macht er Ärger im Hotel? Ach, Kind, man scheißt doch nicht da, wo man isst!«

Das hätte mir mal früher einer sagen sollen, dachte ich.

»Nein, er macht keinen Ärger.« Ich holte noch mal tief Luft. »Aber da ist noch was … Ich erwarte ein Kind von ihm.«

Jetzt, dachte ich und zog instinktiv den Kopf ein, jetzt wird es ein Donnerwetter geben, das ich mein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen werde.

Doch Papa schwieg nur und schaute mich an. Sehr lange sagte er nichts. »Willst du es denn?«, fragte er schließlich.

Ich nickte. »Aber er nicht. Er will, dass ich abtreibe. Ich habe darüber nachgedacht, aber ich glaube, das kann ich nicht.«

»Gut«, sagte Papa. Er stand auf, nahm mich in den Arm und drückte mich. »Das schaffen wir schon irgendwie.«

Ich war verwirrt. Der Vater meines ungeborenen Kindes, von dem ich erwartet hätte, dass er sich mit mir freute, wollte, dass ich eine Abtreibung vornahm. Und mein Vater, der nichts von meinem Verhältnis zu dem älteren und verheirateten Mann hielt, würde zu mir stehen. Mit meiner Menschenkenntnis stand es wohl nicht zum Besten …

In Mannheim haben wir eine Pause, und Silke hat mir einen Becher mit Kaffee mitgebracht. Wir stehen mit unseren Getränken neben dem Zug, als ein Mann auf uns zukommt. Er hebt die Hand und will irgendwie nach meinem Becher greifen, den ich verblüfft zurückziehe. Erst da zögert der Mann, schaut mich an, dann den Becher, dann Silke.

»Verzeihung«, murmelt er. »Ich dachte, Sie wären von der Bahnhofsmission und würden sammeln. Ich wollte etwas spenden.«

»Nein«, sagt Silke und kichert. »Wir trinken nur unseren Kaffee. Sie finden die Bahnhofsmission unten neben der DB Information.«

Die Erleichterung nach dem Gespräch mit meinem Vater hielt nicht lange an. Ein paar Tage später fing mich Alexander im Mitarbeiterbereich des Hotels ab. »Hast du das Problem gelöst?«, zischte er.

»Welches Problem?«

»Du weißt schon, der Zellhaufen.«

Ich war kurz davor, ihm eine runterzuhauen, doch ich riss mich zusammen. »Der Zellhaufen wächst und gedeiht, hoffe ich.«

»Du sollst das wegmachen lassen! Das geht doch wohl noch? Ansonsten fahren wir nach Holland. Keine Sorge, ich zahle das.«

»Nein.«

»Doch, das ist das Mindeste, was ich tun kann.« Er lächelte gönnerhaft.

Dieses abstoßende Grinsen hatte ich mal anziehend gefunden? Schön? Aufregend? Jetzt wurde mir nur übel, und diesmal lag es nicht am »Zellhaufen«.

»Ich meinte: Nein, ich werde es nicht wegmachen lassen. Das ist auch kein Zellhaufen, das ist ein Baby.« Ich streckte das Kinn vor.

Alexander sah aus wie ein Dampfkochtopf, der gleich in die Luft fliegt. »Das ist nicht dein Ernst«, brüllte er. »Bist du wahnsinnig? Du wirst es nicht bekommen, da habe ich ja schließlich auch noch ein Wort mitzureden!«

»Eigentlich nicht«, sagte ich ruhig und ging an ihm vorbei in den Servicebereich.

Als ich am Ende der Schicht gehen wollte, hatte ich ein Schreiben in meinem Fach liegen: meine Kündigung. Ich lachte auf. So einfach war das nicht – ich war schwanger und hatte einen Kündigungsschutz. Zwei Tage später nahm er die Entlassung zurück. Kurz darauf war er weg. Er hatte sich zurück nach München versetzen lassen, zurück zu Frau und Kind und weg von mir.

Ich schaffe das allein, dachte ich. Irgendwie schaffe ich das. Es gab ja noch mehr alleinerziehende Mütter in Deutschland. Außerdem war mein Vater da. Er ging mit mir zum Frauenarzt, er richtete das Kinderzimmer ein, er besorgte ein Babyphon und wollte mich auch in den Geburtsvorbereitungskurs begleiten. Das war mir allerdings etwas zu viel – immerhin war mein Vater im Gegensatz zum Erzeuger des Kindes wirklich ein paar Jahre älter als ich, und auf das Getuschel hinter meinem Rücken konnte ich gut und gern verzichten. Dennoch kam ich gut durch die Schwangerschaft, auch dank der tatkräftigen Unterstützung von Söckchen, die mich anstelle meines Vaters zum Geburtsvorbereitungskurs begleitete. Nun dachten zwar alle, wir wären Lesben, aber damit kam ich klar.

Und dann kam der magische Moment: Mein Sohn wurde geboren. Ich nannte ihn Felix, den Glücklichen.

Nicht so glücklich dagegen war Alexander, als ich ihm die Geburtsurkunde schickte, in die ich ihn als Vater hatte eintragen lassen. Er verweigerte jeglichen Kontakt zu uns, zahlte aber immerhin den Unterhalt. Mit dem Erziehungsgeld reichte es gerade so, um uns über Wasser zu halten. Doch auf längere Sicht brauchte ich wieder einen Job, und die Gastronomie konnte ich mit ihren Schicht- und Wochenenddiensten vergessen, zumal es kaum Teilzeitstellen gab.

Söckchen war natürlich Felix’ Patentante geworden und stand uns bei jeder Gelegenheit mit Rat und Tat zur Seite. Sie hatte inzwischen erfolgreich einen Lehrgang bei der Bahn absolviert und war nun Zugchefin.

»Was machst du da eigentlich, so als Zugchefin?«, wollte ich von ihr wissen, als wir eines Nachmittags gemeinsam in der Sonne lagen und Felix bei seinen ersten Krabbelversuchen zusahen.

Sie lachte. »Zugchefs haben die Verantwortung für den Zug – also den Service und die Kontrollen. Gefahren wird er vom Trieb- oder Lokomotivführer, man kann beides sagen. Aber ich habe rangieren und kuppeln gelernt und kann sogar die Bremshundertstel berechnen.«

»Das klingt so …« Langweilig? Staubtrocken? »… technisch.«

»Ist es auch«, sagte sie begeistert, »aber im normalen Betrieb bin ich nur für die Sicherheit zuständig. Ich mache vor der Fahrt zum Beispiel die Bremskontrolle. Während der Fahrt gebe ich dem Lokführer oder der örtlichen Aufsicht das Signal zur Abfahrt. Die Zugbegleiter sichern die Ausgänge und melden ihren Bereich als abfahrbereit, wenn alle Türen ordnungsgemäß geschlossen sind. Das gebe ich dann weiter.«

Okay. Ich hatte ungefähr zehn Prozent von dem verstanden, was sie gesagt hatte. Bremskontrolle? Signal? Abfahrbereit? Hä? »Musst du jetzt keine Fahrkarten mehr verkaufen?«

»Doch, klar. Aber ich bin auch für alles andere im Zug verantwortlich. Ich muss die Zugbegleiter einteilen und ihnen sagen, welche Wagen sie betreuen sollen. Nicht immer haben wir einen Erste-Klasse-Steward an Bord, wenn nicht, muss einer der Zugbegleiter den Service übernehmen. Außerdem bin ich für Notfälle und Streitigkeiten zuständig.«

»Und?«, fragte ich zweifelnd. »War das die richtige Entscheidung?«

»Den Lehrgang und die Prüfung zu machen? Auf jeden Fall. Zugchefin zu sein macht mir unglaublichen Spaß, auch wenn es stressiger ist.«

»Also bereust du es nicht, Zugbegleiterin geworden zu sein?«

»Auf keinen Fall. Das ist der coolste Job der Welt.«

Ich winkte müde ab. »Also ehrlich, Marie. Das kannst du deiner Oma erzählen!«

»Wollen wir wetten?«