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Shan und der tote Mönch.
Mit seinem Freund und Lehrer Lokesh hilft Shan einem Mönch eine Gebetsstätte, die von Chinesen zerstört wurde, wieder aufzubauen. Doch plötzlich ergreift der Mönch eine Pistole – und erschießt sich. Selbst der sonst so gelassene Lokesh ist entsetzt. Shan versucht herauszufinden, warum der Mönch sich getötet haben könnte. Und er stößt in einem Kloster auf drei weitere Tote: eine tibetische Nonne, einen Chinesen und einen dritten, den er später als deutschen Filmemacher identifiziert. Doch wie hängen diese Morde zusammen? Kann tatsächlich ein Mönch der Mörder sein?
Shan begreift, dass nur die amerikanische Freundin des Filmemachers Auskunft geben kann, doch sie ist irgendwo im Hochland verschwunden. Und nicht nur er beginnt sie zu suchen, sondern auch die chinesischen Behörden. Doch von unerwarteter Seite erhält Shan Hilfe - Meng, eine chinesische Offizierin, unterstützt ihn ...
Shan, der Ermittler, ist zurück und ermittelt – weise wie ein Mönch, klug wie ein Meisterdetektiv.
»Pattison verbindet profunde Informationen über die Unterdrückung des tibetischen Volkes mit spannenden Handlungen anspruchsvoller Kriminalromane.« Kölner Stadt-Anzeiger.
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Seitenzahl: 517
Aus dem Amerikanischen von Thomas Haufschild
Die Originalausgabe unter dem TitelMandarin Gateerschien 2012 bei St. Martin’s Press, New York.
ISBN 978-3-8412-0553-7
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, April 2013
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2013 bei Rütten & Loening, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
Copyright © 2012 by Eliot Pattison
Published by Arrangement with Eliot Pattison
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Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
Impressum
Inhaltsübersicht
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechzehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
Epilog
Glossar der Fremdsprachigen Begriffe
Das Ende der Zeit fing in Tibet an. Shan Tao Yuns alter Freund Lokesh hatte es ihm in den letzten Monaten immer wieder gesagt. Erst gestern hatte er ihn abermals daran erinnert und mit gekrümmtem Finger auf eine unnatürlich geformte Wolke gezeigt, die am Horizont lauerte. Im Verlauf des vergangenen Jahres war Shan mehr als einmal schaudernd Zeuge geworden, wie Lokesh und ihre Lama-Freunde feierlich die uralte Prophezeiung deklamierten. Die Menschen hatten ihre Chance gehabt und versagt; sie hatten es zugelassen, dass ihre Zivilisation sich mehr um Unmenschlichkeit drehte als um Menschlichkeit. Nun befanden sie sich in einer Abwärtsspirale und würden in absehbarer Zeit durch eine intelligentere, mitleidsvollere Spezies abgelöst werden. Die Anzeichen dafür waren überall in Tibet zu sehen, und so erschien es den Lamas absolut logisch, dass der Prozess hier einsetzte, auf dem Dach der Welt, in dem Land, das der Heimat der Götter am nächsten war.
Während Shan nun zusah, wie Lokesh einen alten Pilgerpfad säuberte und sich dabei leise betend bei den Insekten für die Störung entschuldigte, wurde ihm klar, dass er die alten Tibeter nicht nur wegen ihrer gütigen Weisheit bewunderte, sondern auch für die Lebensfreude, die sie sich trotz aller finsteren Vorahnungen bewahrten.
»Jamyang spielt mit einer Ziege!«, rief Lokesh plötzlich.
Shan bemerkte, dass sein Freund innegehalten hatte und zum gegenüberliegenden Hang schaute. Er blickte verwirrt über das kleine Hochtal hinweg und erkannte eine rennende Gestalt in dem kastanienbraunen Gewand eines Mönches. Erschrocken sah er zu der Straße in dem größeren Haupttal dahinter. Erst vor einer Stunde hatten sie dort eine Polizeipatrouille bemerkt. Jamyang war ein unregistrierter und somit illegaler Mönch, und es war leichtsinnig von ihm, sich so nahe an einer öffentlichen Straße zu zeigen.
»Er wird noch zu seiner eigenen Feier zu spät kommen«, verkündete Lokesh grinsend. Shan erinnerte sich, dass der Lama sie eingeladen hatte, ihm in einer Stunde bei einer Mahlzeit Gesellschaft zu leisten, unweit der abgelegenen Hütte, die sein Zuhause war. Dort gab es einen kleinen Schrein, den Jamyang restauriert hatte, und der Rest des Tages sollte entsprechenden Feierlichkeiten gewidmet sein.
Shan ging zu seinem Pick-up, nahm sein verschrammtes Fernglas vom Armaturenbrett und richtete es auf den gegenüberliegenden Hang. »Das ist keine Ziege«, berichtete er gleich darauf. »Er verfolgt einen Mann.« Die vordere Gestalt balancierte mühsam einen Sack und einen langen Gegenstand quer über den Schultern und lief in einer gebückten, ungleichmäßigen Gangart.
Lokesh streckte beunruhigt einen Arm aus und zeichnete in der Luft den Verlauf des Pfades nach, dem die beiden Gestalten folgten. »Da geht es zu dieser neuen chinesischen Stadt!«, warnte er und deutete auf den Punkt, an dem der Weg hinter der Kammlinie verschwand. »Ihm ist nicht klar, wohin er gelockt wird!«
Mit jäher Bestürzung nahm Shan den Hang erneut in Augenschein. Er hatte die Stadt – eine der neuen Einwanderersiedlungen, wie sie überall im ländlichen Tibet aus dem Boden gestampft wurden – sorgsam gemieden und seine alten tibetischen Freunde ebenfalls ermahnt, sich davon fernzuhalten. Die Regierung zahlte mittlerweile Belohnungen für Informationen über unregistrierte Mönche und noch weitaus mehr für ihre Ergreifung. Das hatte eine neue Sorte Kopfgeldjäger hervorgebracht, die der Polizei zur Hand gingen und versteckte Lamas aufspürten. Bei den Tibetern hießen diese verabscheuungswürdigen Männer Knochenfänger, denn die Mönche, die sie anschleppten, waren zumeist benommene, ausgemergelte Einsiedler, die nur noch aus Haut und Knochen bestanden. Der Knochenfänger, der Jamyang in die Hände der Behörden lockte, würde damit mehr verdienen als die meisten Tibeter in einem ganzen Jahr. In der Stadt musste es einen Polizeiposten mit einem Gefängnis geben. Der Lama mit dem großen Herzen würde verloren sein.
Shan zog hektisch die zerknitterte Landkarte zu Rate, die vorn in seinem Wagen lag, und setzte sich ans Steuer. Er rief Lokesh zu, sie würden sich bei Jamyangs Schrein treffen, aber als er den Pick-up wendete, schwang der alte Tibeter sich auf die Ladefläche.
Sie rasten in halsbrecherischem Tempo den Berg hinunter. Der jahrzehntealte Wagen hüpfte und schlingerte über den lockeren, unebenen Schotter, schlängelte sich am Sockel des Gebirgsgrates entlang, auf dem Jamyang sich befand, und dann die Serpentinen auf der anderen Seite hinauf, um dem Fliehenden den Weg abzuschneiden. Von der Ladefläche hörte Shan das Klappern der losen Eimer und Schaufeln und dazu das Lachen von Lokesh, jenes sanfte Lachen, das geholfen hatte, Shan während der ersten schrecklichen Monate am Leben zu erhalten, als er vor vielen Jahren in ein Straflager geworfen worden war.
Der alte Motor ächzte und hustete, während der Wagen die unbefestigte Straße erklomm. Dann kam er zitternd an einer langen Reihe von Felsblöcken zum Stehen. Hier kreuzte der Weg, auf dem Jamyang den Kamm überqueren würde. Unterhalb erstreckte sich offenes Weideland, gefolgt von dem kleinen Straßennetz der neuen Siedlung, nur ungefähr anderthalb Kilometer entfernt.
Der rennende Mann hatte so sehr mit seiner schweren Last und der Beobachtung des Pfades hinter sich zu tun, dass er beinahe mit Shan zusammengestoßen wäre. Er keuchte auf und wollte Shan ausweichen, indem er auf ein Sims am Wegesrand sprang. Doch sein Hinken brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und er stürzte schwer, verstauchte sich fluchend den Knöchel und blieb bäuchlings im Gras liegen. Der Inhalt des Sacks wurde um ihn verstreut.
»Der Kerl ist wahnsinnig!«, stöhnte der Fremde mit ängstlichem Blick den Pfad hinauf und rieb sich den Knöchel. »Geht wie ein blindwütiger Yak einfach auf mich los!« Er fing an, die Gegenstände flink wieder vom Boden aufzulesen.
Shan musterte den Mann für einen Moment. Er war Mitte dreißig, von zäher, drahtiger Gestalt und mit einer langen Narbe über dem linken Auge, die unter seinem struppigen schwarzen Haar verschwand. Die zerlumpte Schaffellweste und -mütze schienen ihn als Hirten auszuweisen, aber unter der Weste trug der Tibeter ein schwarzes T-Shirt mit dem Bild eines Skeletts, das eine Sichel hielt. Shan nahm seinen Hut ab.
Der Fremde erstarrte kurz, als er Shans chinesische Gesichtszüge sah. »Er ist nicht registriert, Genosse!«, rief der Tibeter mit dünner Stimme und hob eine kleine kupferne Opferschale auf. »Sonst würde er sich wohl kaum wie ein wildes Tier in dieser Hütte verstecken.« Er richtete sich auf und zuckte zusammen, als er seinen Fuß belastete. Dann humpelte er auf das größte seiner Beutestücke zu, zwei armlange Bretter, fest verschnürt mit den Bändern, die man benutzte, um die in Holz geschnitzten Druckstöcke tibetischer Schriften zusammenzuhalten.
Shan machte in Gedanken eine schnelle Bestandsaufnahme der anderen Gegenstände, die der Hinkende aufhob. Das zusammengerollte Gemälde einer Gottheit, die kleine Bronzefigur einer dakini-Göttin, zwei Teile einer Zeremonientrompete und ein silbernes gau, eines jener Amulette, wie es fromme Tibeter, mit geheimen Gebeten darin, um den Hals trugen. Zusammen mit den Druckstöcken würde das auf dem Schwarzmarkt genug einbringen, um den Mann für mehrere Wochen zu ernähren.
Der Hirte wollte sich die Bretter auf die Schultern wuchten, hielt dann aber erschrocken inne und wich zurück. Ein Stück neben ihm war der große schlanke Mann mit dem kastanienbraunen Gewand aufgetaucht. Jamyang lächelte. »Lha gyal lo«, sagte er zu dem Dieb. Den Göttern der Sieg.
Der Fremde hielt die Druckstöcke wie einen Schild vor sich. Als Jamyang seine Hände darauf legte, zog er daran und versuchte, sie dem Griff des Lama wieder zu entreißen. »Auf diesen Zauberer ist bestimmt ein Kopfgeld ausgesetzt!«, rief er Shan zu und deutete auf die unterhalb gelegene Siedlung. »Dort in Baiyun gibt es einen Polizeiposten!«
Shan begriff, dass der Mann sich vor dem freundlichen Lama mittleren Alters tatsächlich fürchtete. Jamyang war an seiner Seite erschienen, und zwar nicht etwa von dem Pfad, sondern wie aus dem Nichts. Und er war kein bisschen außer Atem. In der tibetischen Überlieferung gab es viele Geschichten über Lamas, die sich auf magische Art und Weise an andere Orte transportieren konnten.
»Wie hoch ist das Kopfgeld für Diebe?«, fragte Shan den Fremden.
Der Mann richtete seinen provisorischen Schild gegen Shan, dann gegen das Heck des Pick-ups, wo Lokesh inzwischen stand. Er gab sich geschlagen und ließ die Bretter sinken. Doch als er die verblasste Aufschrift auf der Wagentür sah, verflog sein Kummer sogleich wieder. »Du kontrollierst bloß irgendwelche armseligen Gräben«, sagte er.
»Ich bin der offizielle Aufsichtsbeamte für Gräben«, erwiderte Shan, »und glaub mir, eine nähere Bekanntschaft mit der Regierung der Volksrepublik möchtest du heute nicht schließen.«
Der Tibeter starrte Shan ein paar Herzschläge lang an, runzelte dann die Stirn und blickte verwirrt zu Jamyang, der eine Hand noch immer auf den Druckstöcken hatte und ihm mit der anderen die kleine bronzene dakini entgegenstreckte. Der Mann ließ die Bretter los, schnappte sich die Figur und stopfte sie sich in die Tasche, bevor er den Rest des Diebesguts auf die Ladefläche des Pick-ups legte. Nach einem Moment ging Lokesh ihm zur Hand, forderte den Dieb dann gutmütig auf, sich ebenfalls auf die Heckklappe zu setzen, und schob ihm das Hosenbein hoch, um den Knöchel zu untersuchen. Lokesh seufzte und schaute zu Shan. Der Mann mochte sich den Knöchel verstaucht haben, aber sein Bein war bereits von einem früheren, nicht richtig verheilten Bruch in Mitleidenschaft gezogen.
»Du brauchst eine Krücke«, stellte Jamyang fest und ließ den Blick über den Hang schweifen. Die nächstgelegenen Bäume befanden sich weit unten, entlang des Baches, der neben der neuen Siedlung verlief.
»Ich werde ihn fahren«, sagte Shan.
»Das wirst du natürlich nicht«, widersprach Lokesh prompt. »Du wirst Jamyang zurückbringen und mit der Feier beginnen. Auf der Straße sind es viele Kilometer bis in die Stadt, aber auf diesem Ziegenpfad ist es nur eine kurze Strecke. Ich werde seine Krücke sein und treffe euch dann später beim Schrein.«
Shan hatte kein gutes Gefühl dabei, aber er wusste, dass es aussichtslos war, mit dem alten Tibeter diskutieren zu wollen. »Hast du deine Papiere?«, fragte er seinen Freund. Die Polizei tauchte beunruhigend häufig im Tal auf und überprüfte doppelt und dreifach die Registrierungen, legte zum Teil sogar unerwartete Hinterhalte auf Nebenstrecken. Die Leute im Tal waren tief in der tibetischen Tradition verwurzelt, was sie für die Regierung automatisch verdächtig machte. Lokesh wies auf seine Hemdtasche und nickte, dann drückte er kurz das gau, das um seinen Hals hing, als wolle er auf die wahre Quelle seines Schutzes hinweisen.
Shan nickte zögernd. »Lha gyal lo. Wir erwarten dich noch vor dem Abendmahl.«
Der Hirte hob eine Hand, als Lokesh ihm auf die Beine half. Er griff in seine Tasche und streckte Jamyang die bronzene Göttin entgegen. »Nein«, sagte der Lama. »Ich habe sie dir aus freiem Willen gegeben. Heute ist ein glücklicher Tag.«
Das Gesicht des Diebes umwölkte sich. Er blieb stumm und starrte den Lama aus großen Augen an, während er mit einem Arm über Lokeshs Schultern davonhumpelte. Auch Shan war verblüfft. Die kleine dakini hatte zu den ältesten und kostbarsten Stücken aus Jamyangs Schrein gezählt.
Der Lama ging ohne ein weiteres Wort um den verbeulten Pick-up herum und nahm auf der Beifahrerseite Platz. Als Shan sich ans Steuer setzte, ließ Jamyang bereits mit befremdlicher Inbrunst seine Gebetskette durch die Finger gleiten und murmelte ein Mantra vor sich hin, eine lange, sich wiederholende Anrufung, die Shan nicht erkannte.
Das Schweigen zwischen ihnen war merkwürdig angespannt. Shan fragte sich, ob der Lama der Ansicht war, er hätte sich dem Dieb nicht in den Weg stellen sollen. Und ob ihm bewusst war, wie gefährlich es sein konnte, wenn ein solcher Mann den Ort kannte, an dem seine Hütte stand. »Dir ist nicht immer klar, wie riskant es ist«, rechtfertigte er sich.
Jamyang sah ihn an und neigte den Kopf, als hätten Shans Worte ihn überrascht. Ein winziges Lächeln huschte über sein Gesicht, und er fuhr sich mit der Hand durch das kurze schwarze Haar. »Dir ist nicht immer klar, wie riskant es ist«, wiederholte der Lama flüsternd und nahm dann sein Mantra wieder auf.
Nach einigen Minuten schien Jamyang sich zu entspannen, und als sie behutsam einem langen Sims folgten, hob er bedächtig eine Hand. Seine Stimme war leicht wie eine Feder. »Ich glaube, ich sollte Worte an euren Pilgerschreinen sprechen. Nur für einige Momente.«
Sie hatten eine scharfe Kurve am Ende einer der steilen Serpentinen erreicht. Von hier aus hatte man freie Sicht auf den Yangon, den heiligen Berg, der das lange Tal beherrschte, den majestätischen Gipfel, von dem es hieß, er verbinde die Einheimischen mit den alten Bräuchen und den alten schlafenden Gottheiten. Neben der Straße ragten vier Steinhaufen auf, die Lokesh und Shan wiederhergestellt hatten. Sie waren aus mani-Steinen errichtet, Steinen mit eingeritzten Gebeten, und markierten nicht nur den Schnittpunkt der Straße mit einem der zahlreichen Pilgerpfade des Tals, sondern auch eine halbkreisförmige flache Stelle aus festgetretener Erde oberhalb einer schroffen Klippe. Die Pilger hatten den Landgottheiten an diesem Aussichtspunkt viele Jahrhunderte lang ihre Hochachtung bezeigt.
Noch bevor der Wagen stand, sprang der Lama bereits heraus, eilte mit langen, energisch wippenden Schritten zum Rand des Simses und breitete begeistert die Arme aus, als wolle er dem Berg um den Hals fallen. Shan verfolgte, wie er leise, vertrauensvolle Worte an den Gipfel richtete und danach jeden der vier Steinhaufen aufsuchte.
Heute war ein außergewöhnlich schöner Tag. Die Schneekappe des Berges schimmerte unter einem kobaltblauen Himmel, und seine Hänge waren in die Farben des Frühsommers getaucht. Beim Anblick des Lama verflüchtigten Shans Sorgen sich und wichen einer neuen Zufriedenheit. Sie hatten Jamyang nicht zum ersten Mal vor einer Entdeckung durch die Behörden bewahrt, aber so knapp wie heute war es noch nie gewesen. Und wie immer würde Lokesh ihm später erklären, dass es dem Lama nicht bestimmt sei, den Knochenfängern in die Hände zu fallen, und dass er und Shan von den Gottheiten erwählt worden seien, Jamyang zu retten, damit dieser seinem übergeordneten Schicksal gerecht werden und helfen könne, die alten Bräuche am Leben zu erhalten.
Shan pflückte einen Zweig Heidekraut und legte ihn auf den Steinhaufen neben Jamyang. Er war sich nicht sicher, ob der Lama ihn überhaupt bemerkt hatte, bis dieser plötzlich das Wort ergriff. »Ich habe mal etwas über das Alter des Planeten gelesen. Wir haben vier Milliarden Jahre benötigt, um dahin zu kommen, wo wir sind«, sagte er mit wehmütigem Lächeln.
Shan hatte den Lama sehr lieb gewonnen, seit er und Lokesh ihm vor Monaten begegnet waren, als er in einem der hohen Seitentäler eine mani-Mauer, entlang eines einsamen Pfades, wiederaufbaute. Jamyang war Ende fünfzig und somit einige Jahre älter als Shan, aber nicht annähernd so alt wie Lokesh. Wie viele der Lamas sprach auch er niemals über seine Vergangenheit, doch er war eindeutig hochgebildet, und zwar nicht nur auf dem Gebiet der buddhistischen Schriften, sondern auch in Bezug auf Geschichte, Literatur und das Wesen der Welt. Shan wusste, dass sein alter Freund den Mönch mittlerweile als eine Art Brücke betrachtete, als einen der seltenen unabhängigen, unverdorbenen Lehrer, die noch eine Generation weiterleben würden, nachdem Lokesh und die anderen Vertreter des alten Tibet nicht mehr da waren. Jamyang schloss sich nie an, wenn die anderen vom Ende der Zeit sprachen. Er hegte immer noch Hoffnung, wusste Shan, wenngleich diese Saat in zahllosen anderen Tibetern allmählich vertrocknete und starb.
»Lokesh und ich klettern nachts bisweilen die Hänge hinauf, um einfach nur unter dem Himmel zu sitzen«, sagte Shan. »Letzten Monat haben wir Meteoritenschauer beobachtet. Sie schienen alle auf dem Yangon zu landen, als hätte der heilige Berg sie zu sich gerufen.«
Jamyang nickte. »Der Berg und seine Gottheit sind schon seit jeher da. Sie werden immer da sein, noch lange nach uns allen. Der Mensch kann das nicht ändern, oder?«
Shan musterte den Lama einen Moment lang; er war sich nicht sicher, ob er ihn richtig verstanden hatte. »Nein«, antwortete er zögernd, »das können wir nicht.« Er verfolgte schweigend, wie Jamyang zum Wagen ging und ein Kupferrohr holte, eines der Trompetenteile, die der Dieb gestohlen hatte. Der Lama entfernte einen Holzstöpsel und holte aus dem Rohr eine kleine verschnürte Stoffrolle hervor. Es war eine Leine mit selbstgefertigten Gebetsfahnen, eine jede versehen mit einem heiligen Bildnis und einer Inschrift von Jamyangs Hand. Er gab Shan das eine Ende. Sie spannten die Schnur wortlos zwischen zwei der Steinhaufen auf und klemmten die Enden unter den obersten Steinen fest. Ein jedes Flattern im Wind würde die Gebete erneuern.
Als sie fertig waren, nickte der Lama ihm dankbar zu und deutete dann auf eine Ansammlung zerfallender Gebäude in der Ferne, auf dem Grund des Haupttals. »An einem solchen Tag gibt es vermutlich Anzeichen für Besucher«, sagte er. Es dauerte einen Moment, bis Shan begriff, dass Jamyangs Tonfall fragend klang. Er holte sein Fernglas und richtete es auf die Ruinen. Die örtlichen Bauern und Hirten hatten vor einigen Monaten mit dem Wiederaufbau des uralten verlassenen Klosters begonnen. Sie opferten dafür ihre Mußestunden. Andere, wie Lokesh und Jamyang, arbeiteten dort für gewöhnlich im Schutz der Nacht.
»Ja«, berichtete er. »Ich sehe einen Lastwagen.«
Der Lama nickte. »Ich komme gleich zu dir«, sagte er und bedeutete Shan, er möge zum Wagen gehen. Shan setzte sich ans Steuer und beobachtete, wie Jamyang die Gebetsfahnen abschritt, eine jede dabei berührte und Worte murmelte, die sie zu ihrer Aufgabe befähigen würden. Dann wandte er sich dem Berg zu und ließ sich jäh zu Boden fallen, um sich wie ein Pilger bäuchlings vor Yangon auszustrecken.
Bis sie den Wagen geparkt hatten und den knappen Kilometer zur Hütte des Lama emporgestiegen waren, war es später Nachmittag. Das kleine Gebäude, in dem Jamyang schlief – ursprünglich ein Unterschlupf der Hirten –, war so karg wie die Zelle eines Einsiedlers. Der Lama verbrachte den größten Teil seiner Zeit in der oberhalb gelegenen flachen Höhle, in der er ein uraltes Basrelief restauriert hatte, das mehrere Gottheiten und heilige Symbole zeigte.
In der Hütte erweckte Shan die schwelende Glut der Kohlenpfanne zu neuem Leben und legte etwas von dem getrockneten Yakdung nach, den der Lama als Brennstoff sammelte. Schweigend tranken sie einen Tee, dann füllte Jamyang einen kleinen Holzeimer mit Wasser, und sie gingen den Pfad hinauf zum Schrein.
Jamyang hatte unterhalb der alten Felsfiguren als provisorische Altäre zwei primitive Bänke aufgestellt, die nun mit Opfergaben bedeckt waren. Es würde weder ein spezielles Gebet gesprochen noch eine Feier angefangen werden, bevor nicht alle Opfer gereinigt waren. Jamyang legte die Gegenstände zurück, die sie dem Dieb abgenommen hatten, und füllte eine Opferschale mit Wasser. Dann brachte er einen Lappen zum Vorschein und fing ehrfürchtig an, die Stücke auf dem Altar zu putzen. Shan schüttete die Asche aus einer kleinen zeremoniellen Kohlenpfanne und begab sich auf den Hang, um etwas duftendes Wacholderholz zu sammeln, dessen Rauch die Gottheiten anlockte. Derweil grübelte er über die melancholische, ungewisse Stimmung nach, die sich auf der Rückfahrt über den Lama gelegt hatte. Jamyang hatte so gewirkt, als wolle er Shan gern etwas mitteilen, finde aber nicht die passenden Worte. Nun jedoch war der Lama zu Hause, bei seinem geheimen Schrein, und wieder heiter und gelassen.
Es war in der Tat ein Festtag. Da der schlichte, elegante Schrein wiederhergestellt war, würden Jamyang und Lokesh anfangen, die Tibeter der Gegend herzubringen, damit sie den Göttern huldigen konnten und lernen würden, dass die alten Bräuche nicht vergessen waren. Die Gefahr für den Lama würde immer größer werden. Shan musste den beiden unbedingt begreiflich machen, dass sie nie mehr als eine Handvoll Gläubige gleichzeitig mitbringen durften. Eine größere Gruppe könnte die Aufmerksamkeit der Behörden erregen. Peking bemühte sich sehr, alle Überbleibsel der tibetischen Tradition im Land zu tilgen, würde aber nie Erfolg haben, solange es Männer wie Lokesh und Jamyang gab. Während der letzten Wochen hatten fromme Tibeter an anderen Stellen des Tals damit begonnen, der Polizei durch spontane Gebetsversammlungen die Stirn zu bieten. Angekündigt wurden sie durch den Klang der langen, weithin und tief hallenden dungchen-Hörner, mit denen man einst die Gläubigen in den Tempel gerufen hatte. Die verwegene Gruppe, die dafür verantwortlich war, würde zweifellos auch zu Jamyangs Schrein kommen und die Behörden von hier aus mit ihrem Horn verhöhnen. Shan ertappte sich dabei, dass er wie ein Soldat die Landschaft begutachtete und sich überlegte, wo er als unsichtbarer Wächter der Besucher Position beziehen könnte und welche Fluchtrouten es für die Tibeter gab, wenn die Polizei den Berg heraufkam.
Eine halbe Stunde später, während der duftende Rauch in den ruhigen, klaren Himmel emporstieg, ließ Jamyang sich mit übergeschlagenen Beinen nieder und fing an, den aus dem Stein gehauenen Gottheiten heilige Schriften vorzulesen. Während er sprach, wich auch der letzte Rest Sorge aus seinem Gesicht. Shan setzte sich in der Haltung eines Novizen neben ihn, achtete auf die korrekte Reihenfolge der langen losen Seiten und hielt sie am Boden fest, als der Wind auffrischte. Sein Blick wanderte über die Behelfsaltäre. Jamyang war ein vollendeter Künstler im traditionellen Stil und hatte sich angewöhnt, Alltagsgegenstände mit religiösen Symbolen zu verzieren. Entlang des Randes eines Butterfasses hatte er eine Muschel aufgemalt, einen springenden Fisch, eine Vase und die anderen acht Glückszeichen des tibetischen Rituals. Von einer Kupferkanne starrte ein großes Auge. Der Griff einer kleinen Gerstensense wurde durch eine Ranke mit Lotusblüten geschmückt.
Plötzlich erstarrte Shan. In der Mitte der Bank vor Jamyang lag etwas Neues, ein schwarzes und fremdes Objekt. Eine kleine Automatikpistole. Der Lama konnte unmöglich eine solche Waffe besitzen, doch dann sah Shan, dass auch sie mit einer Blume verziert worden war und dass auf dem Lauf das Mantra an den Mitfühlenden Buddha geschrieben stand. Shan wäre am liebsten aufgesprungen und hätte das tückische, hässliche Ding den Hang hinuntergeschleudert. Er sagte sich, dass es sich hierbei nur um eine weitere von Jamyangs Maßnahmen zur Befriedung der Welt handle und dass auch die Pistole für den Lama lediglich ein alltäglicher Gegenstand sei, der durch heilige Worte gereinigt werden könne. Die Alten glaubten, nach einer solchen Reinigung würde eine Waffe nie wieder Schaden anrichten.
Shan widerstand dem Impuls und bemühte sich, sein wild klopfendes Herz zu beruhigen. Im Verlauf seiner Haft hatte er mehr als einmal mit angesehen, wie ein Mönch mit genau so einer Pistole exekutiert wurde, kniend und Mantras rezitierend, während der Henker über ihm stand. Er dachte daran, dass andere den Schrein besuchen würden, andere, die wussten, dass der Besitz einer solchen Waffe ein schweres Verbrechen war, andere, die Jamyangs Vorgehen womöglich nicht verstehen würden. Wo konnte der Lama die Pistole gefunden haben? Shan schob seine Angst beiseite und hielt sich vor Augen, dass Jamyangs Naivität in gewisser Weise eine Gabe war, ein Teil der Reinheit dieses Lehrers. Er lehnte sich zurück und beschloss, das Ritual nicht zu stören. Heute Nacht aber würde er zurückkehren und die Waffe verschwinden lassen.
Sie saßen in der Nachmittagssonne und schauten dabei zu, wie die sich verändernden Schatten den Gottheiten auf dem Fels Bewegung verliehen. Der süßliche Rauch umwehte sie, und das einzige Geräusch kam von Jamyangs leisem Mantra und dem gelegentlichen Lied einer Lerche. Shan entspannte sich wieder und ließ nur die ehrerbietigen Worte in sein Bewusstsein, so wie die Lamas es ihn gelehrt hatten. Eine Pforte in seiner Erinnerung öffnete sich, und er fing an, die gleichförmigen Gebete der Mönche seiner ehemaligen Sträflingsbaracke zu hören, was sich auch diesmal wieder lindernd auf seine Befürchtungen auswirkte. In diesem Moment spielte es keine Rolle, dass ganze Brigaden chinesischer Polizisten nach Männern wie Lokesh und Jamyang fahndeten, zwei der sanftmütigsten, freundlichsten Menschen, die er je gekannt hatte. Es war egal, dass Knochenfänger durch die Hügel streiften, dass Außenstehende sich im Tal ansiedelten und tibetische Familien vertrieben, die hier seit Jahrhunderten verwurzelt gewesen waren. Er konnte vorübergehend die Todesträume vergessen, die immer häufiger seinen Schlaf heimsuchten. Er würde nicht einmal zulassen, dass Gedanken an seinen Sohn, der fünfzig Kilometer von hier in einem Straflager eingesperrt war, einen Schatten auf diesen Tag warfen. Shan hatte von seinen Freunden zu akzeptieren gelernt, dass das Hier und Jetzt zählte, die Erfahrung dieses Moments. Und dieser Moment – in der Gegenwart des betenden Lama, mit einem Herz voller Vorfreude, weil Lokesh bald eintreffen würde und weitere andächtige Stunden bevorstanden – war perfekt.
Jamyang blickte von seiner Meditation auf, als hätte er Shans Gedanken gelesen. »Die Götter sind zufrieden genug«, verkündete der Lama mit heiterem Lächeln. Er griff durch den duftenden Rauch und drückte Shans Hand. »Es gibt mir Kraft, dass du jetzt hier bist«, flüsterte Jamyang und wickelte sich seine Gebetskette um die Finger.
Dann nahm der Lama die Pistole und schoss sich in den Kopf.
Der Todestraum hatte wieder einmal von Shan Besitz ergriffen. Es musste sich um eine dieser unbarmherzigen Visionen handeln, die seinen Schlaf mit den Bildern gefolterter Lamas und hingerichteter Mönche zur Qual werden ließen. Ein leise schluchzendes Stöhnen hallte in der flachen Höhle wider, und er schaute sich hektisch nach dem Ursprung um, bis ihm bewusst wurde, dass es aus seiner eigenen Kehle drang. Dann sah er die karmesinroten Tropfen, die über seine Hand rannen, weil Blut auf ihn gespritzt war. Er stürzte an Jamyangs Seite.
Die Augen des Lama waren offen und auf die herausgemeißelten Gottheiten über dem Altar gerichtet. Doch er sah nichts mehr. Das Einschussloch in der Mitte seiner Stirn war sauber und rund, wie ein drittes Auge. Die Austrittswunde am Hinterkopf war ein blutiger Krater voller Knochensplitter und Hirnmasse.
Shan liefen Tränen über das Gesicht, als er den toten Lama auf seinem Schoß barg. »Erkenne das strahlende Licht, das deinen Tod bedeutet.« Er hatte die Worte des Bardo, des traditionellen tibetischen Todesritus, schon so oft gehört, dass sie ihm wie von selbst über die Lippen kamen. Jamyangs Seele würde verwirrt sein und sich schrecklich vor der schwierigen Reise fürchten, die so unvermittelt anbrach. Daher mussten die Lebenden sie trösten. »Erkenne, dass dein Bewusstsein ohne Geburt oder Tod ist.« Er stieß die Worte mit kleinen erstickten Atemzügen hervor, leiser und leiser, bis sie schließlich ganz erstarben.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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