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Shans schwierigste Mission.
Shan hat es in die Berge Tibets verschlagen. Hier verdingt er sich als Bergführer, doch in Wahrheit will er nur seinen Sohn sehen, der in einem Lager interniert ist. Auf dem Weg zum Camp findet er ein verunglücktes Auto. Eine tote Chinesin sitzt mit einer Schusswunde am Steuer, die Beifahrerin, eine blonde Ausländerin, stirbt in seinen Armen. Die Behörden finden rasch einen Schuldigen: Oberst Tan, der einzige Mann, der Shans Sohn retten kann ...
Um seinen Sohn zu retten, muss Ermittler Shan in den Bergen Tibets einen Doppelmord aufklären. Ein spannender Roman vom Dach der Welt, voller Magie und Spirit.
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Seitenzahl: 534
Eliot Pattison
Der tibetische Verräter
Roman
Aus dem Amerikanischen von Edgar Rai
Aufbau-Verlag
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Die Originalausgabe unter dem Titel
The Lord of Death
erschien 2009 bei Soho Press, Inc., New York
Der deutsche Verlag dankt Thomas Haufschild
für seine Hilfe bei der Redaktion.
ISBN E-Pub 978-3-8412-0246-8
ISBN PDF 978-3-8412-2246-6
ISBN Printausgabe 978-3-7466-2633-8
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2010
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2009 bei Rütten & Loening, einer Marke der
Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
Copyright © 2008 by Eliot Pattison
Published by arrangement with Eliot Pattison
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Anmerkung des Autors
Glossar der fremdsprachigen Begriffe
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Niemand starb je auf dem Chomolungma. Das sagten die Sherpas jedes Mal, wenn sie Shan Tao Yun hinaufschickten, um eine Leiche zu bergen. Ein Mann konnte so tiefgefroren sein, dass seine Finger brachen wie Zündhölzer, seine Knochen konnten nach einem Dreihundert-Meter-Sturz in die Tiefe zu Mehl zerrieben sein, die Muttergottheit der Berge – der Mount Everest, wie die Westler sie nannten – barg ihre Seelen und hielt sie am Leben. Nicht wirklich lebendig, hatte ein alter Sherpa ihn gewarnt, aber tot auch nicht, jedenfalls nicht im üblichen Sinn. Als müsste Shan jederzeit darauf gefasst sein, dass die Leiche, die er aus dem Berg holte, wieder dorthin zurückbefohlen wurde. Mehr als einer von Shans neuen Freunden in den Basislagern der Bergsteiger behauptete, in den Winden, die vom Gipfel herunterwehten, Stimmen derjenigen zu hören, die bereits Jahre zuvor gestorben waren.
Während er gewissenhaft das Seil verschnürte, das die in eine Zeltbahn gewickelte Last auf dem Rücken seines Maultieres fixierte, warf Shan einen nachdenklichen Blick zur schneebedeckten Bergspitze empor. Die Rundung, auf der dabei seine Hand ruhte, war die Schulter des Toten. Tenzin Nuru. Ein Freund. Sollte der Wind Tenzins Stimme zu ihm tragen, würde Shan sie erkennen.
Er hatte gerade den Abstieg auf dem schmalen Pfad begonnen, als ihn die Führungsleine zurückzog. Das alte Maultier, sein ständiger Begleiter auf diesen Pfaden, weigerte sich, weiterzugehen. Shan betrachtete wachsam die hohe, windzerklüftete Landschaft. Er vertraute den Instinkten seines Gefährten. Die Tibeter gaben ihm stets dasselbe Tier mit, ein stolzes, langbeiniges Exemplar, dessen klare Augen Shan immer aufmerksam im Blick |6|hatten, wenn er auf ihren Abstiegen alte chinesische Gedichte rezitierte. Jetzt waren die Ohren des Maultieres angelegt, der Kopf war geduckt.
Shan hörte das Trampeln von Hufen auf losem Geröll, kurz darauf schoss ein kleines Pferd über den vor ihnen liegenden Anstieg. Es trug einen Sattel, jedoch keinen Reiter. Aus einem lädierten Kassettenrecorder, der an einer Schnur vom Sattelknauf herabbaumelte, tönte blechern Rockmusik. Außerdem zog das Pferd einen veralteten Karabiner an einem gerissenen Riemen hinter sich her. Das Schlimmste befürchtend, griff Shan nach den Zügeln, brachte das Pferd zum Stehen, nahm das Gewehr, entfernte das Magazin und warf es zwischen die Felsen. Eilig sah er sich nach einem möglichen Fluchtweg um, doch da es keinen gab, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Mantel über seine Fracht zu breiten, das Pferd zu beruhigen, indem er ihm den Hals klopfte, und den Kassettenrecorder auszuschalten.
Im nächsten Moment folgte dem Pferd ein schnaufender Mann in einer zerschlissenen grauen Uniform. Als er Shan erkannte, stieß er einen Fluch aus, hielt inne, strich sich die Uniform glatt und ließ sich das Gewehr geben. Kaum hielt er es in der Hand, richtete er es auf Shan.
»Ich verhafte Sie im Namen der Volksrepublik«, verkündete er mit müder Stimme.
Shan strich weiter über den Hals des Pferdes. »Wessen werde ich diesmal beschuldigt, Wachtmeister Jin?«
Der Polizist, ein Tibeter Mitte dreißig, der gemeinsam mit seiner chinesischen Uniform auch einen chinesischen Namen angenommen hatte, beargwöhnte das Gepäck des Maultiers.
»Mord?«, antwortete er hoffnungsvoll.
Jin Bodai arbeitete nicht für die gefürchtete Öffentliche Sicherheit, sondern als Gesetzeshüter des Verwaltungsbezirks. Seine Aufgabe bestand im Wesentlichen darin, Ordnungswidrigkeiten zu ahnden und Genehmigungen zu prüfen.
Geduldig sah Shan zu, wie Jin seinen Karabiner unter den Arm klemmte und die äußere Schnur des Pakets löste, das auf dem Rücken seines Maultieres vertäut war. Zum Vorschein kam |7|Tenzins Kopf. Der Polizist zog ihn an den Haaren nach oben, beugte sich vor, um ihn genauer inspizieren zu können, ließ ihn fallen und sah Shan fragend an.
»Jeder Arzt«, erklärte Shan mit ruhiger Stimme, »sogar einer aus Tingri, würde Ihnen bescheinigen, dass dieser Mann seit mindestens achtundvierzig Stunden tot ist. Es gibt ein Dutzend Zeugen, die bestätigen können, dass ich vor zwei Tagen in der Stadt war und im Lager gearbeitet habe.«
Erneut richtete Jin seine Waffe auf Shan: »Und wenn schon«, sagte er gereizt, »ein Mann ohne Papiere – ein Illegaler –, der einen Toten mit sich führt. Das sollte genügen, um mich endlich von diesem verfluchten Berg runterzubringen.« Sein Gewehr – wie auch seine Uniform und so ziemlich alles andere in seiner kleinen Wache in Shogo – war ein ausrangiertes Stück aus den Beständen der Öffentlichen Sicherheit.
»Illegaler Leichentransport könnte funktionieren«, schlug Shan vor, »möglicherweise sogar unerlaubte Entfernung eines Toten.«
Die Züge des Wachtmeisters hellten sich auf: »Ich verhafte Sie wegen illegalen Leichentransports.«
»Aber nicht heute«, erklärte Shan müde. Das Maultier stieß ihn an, als wolle es ihn an seine eigentliche Aufgabe erinnern. »Nicht mit dieser Leiche.«
Jin ließ seufzend das Gewehr sinken. »Warum nicht?«
Shan zog eine Flasche aus einer der Satteltaschen, goss sich etwas Wasser in die gewölbte Hand und ließ das Maultier daraus trinken. »Weil dieser Sherpa aus Nepal ist. Verhaften Sie uns, und die Öffentliche Sicherheit wird Sie mit allen möglichen Fragen konfrontieren. Zunächst einmal: Wie kommt ein Ausländer ohne die erforderlichen Papiere in Ihren Verwaltungsbezirk? Noch dazu ein toter. Als Nächstes wartet ein Berg von Formularen, der abgearbeitet werden will: Rücküberführung eines Leichnams in sein Herkunftsland und so weiter. Sie werden eine Woche damit beschäftigt sein, die entsprechenden Vordrucke auszufüllen, und dabei werden Sie kaum auf meine Hilfe zählen können, wenn ich hinter Gittern sitze.«
|8|Jin zuckte zusammen.
»Den Rest der Saison«, fuhr Shan fort, »werden Sie sich dann anhören dürfen, wie sehr das Klettergeschäft mit den Ausländern darunter leidet, wenn die Basislager ständig von Polizisten kontrolliert werden.«
Die Zunge des Wachtmeisters fuhrwerkte in seinem Mund herum. »Besser, als ständig diesem blöden Gaul nachzulaufen.«
Wieder stieß das Maultier Shan ungeduldig in die Seite. Ebenso wie Shan schien es sich daran zu erinnern, dass sie noch einen kilometerlangen Abstieg vor sich hatten, ehe sie in Tumkot, wo Tenzins Sippe sie erwartete, den Leichnam übergeben konnten.
»Außerdem werden Sie es schon deshalb nicht tun«, fuhr Shan etwas beschämt fort, »weil ich nicht pünktlich zur Arbeit komme, wenn Sie mich noch länger festhalten, und mein Arbeitgeber das ranghöchste tibetische Parteimitglied ist.«
Dem Wachtmeister schien die Luft auszugehen. Er kramte ein verkrumpeltes Päckchen Zigaretten hervor, zündete sich eine an, ließ sich auf einem abgeflachten Stein nieder und bedachte Shan mit einem argwöhnischen Blick. »Auf der anderen Seite des Berges hat man einen Namen für solche wie Sie«, stellte er fest, während er den Rauch ausstieß. »Unberührbare. Gut, um Leichen und sonstigen Müll zu entsorgen. Die unterste Kaste der untersten Gesellschaftsschicht. Dabei sind Sie Chinese. Gebildet. Warum lassen Sie das mit sich machen?«
»Ich ziehe es vor, es als eine heilige Pflicht zu betrachten.«
Shan holte zwei Äpfel aus dem Beutel, der am Geschirr des
Maultiers befestigt war, gab einen dem Pferd, den anderen seinem Maultier. Bei dieser Gelegenheit warf er einen Blick auf Jins Ausrüstung. Neben dem Kofferradio, das Jin während seiner Einsätze meist ausgeschaltet ließ, bemerkte Shan vor allem den schweren Munitionsgürtel, der um die übrigen Sachen auf dem Rücken von Jins Pferd gewickelt war.
»Sind Sie diesmal unterwegs, um einen besonderen Krieg zu führen?«
Jin runzelte die Stirn. »Eigentlich hat mich die Leitstelle hergeschickt, |9|um einen Diebstahl zu untersuchen. Bergsteigerausrüstung. Seile und Haken, die vor zwei Tagen aus dem Basislager verschwunden sind.«
»Aber?«
»Ich wurde von einem Leutnant der Öffentlichen Sicherheit aufgehalten, der einen ganzen Haufen Kampftruppen dabei hatte. Er hat mir gesagt, dass eine erhöhte Sicherheitsstufe ausgerufen wurde. Ministerin Wu, zuständig für den Tourismus, wird heute im Basislager erwartet. Also hat der Leutnant mir neue Befehle erteilt.«
»Die haben Sie wegen der Touristen mit so viel Munition ausgestattet?«
Jin zog ausgiebig an seiner Zigarette und musterte Shan. Keine Frage, er würde Shan noch brauchen, um sich in dem Dschungel der Bürokratie zurechtzufinden. Schließlich zog er die Schultern hoch. »Da die Straße gesperrt werden soll, hat man entschieden, in Sarma Gompa eine Präventivuntersuchung durchzuführen. Ist eins von den kleinen Klöstern oben im Tal. Nur ein Bus, eskortiert von ein paar Kriechern«, erklärte er, wobei er den üblichen Jargon für Soldaten der Öffentlichen Sicherheit verwendete.
Shan durchlief ein Schauer. Nachdem bereits vor Jahrzehnten nahezu jedes Kloster in der Region zerstört worden war, hatte Peking den letzten verbliebenen gompas erlaubt, ihren Betrieb weiterzuführen, wenngleich unter strenger Aufsicht des Büros für Religiöse Angelegenheiten. Eines der Mittel, mit denen diese Abteilung die tibetischen Mönche an der kurzen Leine hielt, waren sogenannte Treueeide, die man sie Peking gegenüber ablegen ließ. Einzelnen Mönchen, die diesen Eid verweigerten, nahm man die Gewänder ab. Doch als ganze Gemeinschaften sich widersetzten, sah man darin einen Akt organisierten Widerstandes gegen die Staatsgewalt. Man gab ihnen eine letzte Chance zu unterzeichnen, anschließend wurden sie in den tibetischen Gulag deportiert. Shan schloss für einen Moment die Augen und versuchte, eine Welle schmerzhafter Erinnerungen zu unterdrücken, die er jahrelangen eigenen Erfahrungen in einem dieser Lager zu verdanken hatte.
|10|Er betrachtete die verwaisten Hänge über ihnen. Gestern, auf dem Weg zum Chomolungma-Basislager, hatte er dort Familien mit kleinen Schaf- und Yakherden gesehen. Nach fünfzig Jahren Erfahrung mit der chinesischen Armee schienen viele Tibeter einen sechsten Sinn für herannahende Soldaten entwickelt zu haben.
»Warum machen die das?« Jins Stimme hatte einen Plauderton angenommen. »Der wievielte Tote ist das diese Saison?«
Shan drehte sich um und sah, dass der Wachmeister den leblosen Körper auf dem Maultier betrachtete. »Für mich wird es der dritte sein, den ich hinunterbringe.«
Wenngleich das Basislager in Tumkot mit Lkw und Nutzfahrzeugen erreicht werden konnte, war das Dorf selbst, obwohl es dort die meisten Träger gab, von der westlichen Zivilisation relativ unberührt geblieben. Zwar gab es dort keine Mönche mehr, doch es gab eine Astrologin, und die hatte den Einwohnern übermittelt, dass die Gottheiten es nicht gerne sahen, wenn chinesische Autos ihre Toten transportierten. Später, aus Gründen, die Shan noch immer nicht nachvollziehen konnte, hatte sie vorhergesagt, dass er die Aufgabe übernehmen würde, die Toten zu begleiten.
»Sie sagen, dass die Muttergottheit dieses Jahr zornig ist.«
»Zornig?«, feixte Jin und blies Rauchsäulen aus seinen Nasenlöchern. »Ich würde eher sagen, sie ist ein launisches Miststück, das eine Fehde mit dem Rest der Welt austrägt.«
Shan legte seine Hand auf den Rücken des Toten. Die anderen Träger, die er aus dem Berg geholt hatte, waren ihm unbekannt gewesen. Selbst mit dem stets gutgelaunten Tenzin hatte er nur wenig zu tun gehabt. Dennoch fühlte er sich allen drei auf seltsame Weise verbunden. Die alten Tibeter hätten gesagt, ihre Geister hätten sich mit Shan angefreundet.
»Sie sind nur die Kofferträger derer, die selbst gerne Götter wären«, stellte Shan leise fest. »Um ihre Familien zu ernähren.« Er ließ seinen Blick den Weg hinabschweifen, während das Maultier ihn abermals anstupste. »Wann werden sie hier sein?« Ein Stück weiter unten würde ihn der Pfad bis auf weniger als fünfzig |11|Meter an den Straßenverlauf heranführen. Was er überhaupt nicht gebrauchen könnte, wäre, von der Öffentlichen Sicherheit mit einer unidentifizierten Leiche angehalten zu werden.
Die Züge des Wachtmeisters verhärteten sich. Mit einem Blick, als habe Shan ihm den Spaß daran verdorben, warf er seine Zigarette zwischen die Steine. Dann stand er auf, um sein Pferd zu besteigen. »Früh genug«, schimpfte er.
»Sie sollten keine Musik hören beim Reiten«, empfahl Shan, während der Polizist umständlich versuchte, mit geschultertem Gewehr sein Pferd zu besteigen. »Es ängstigt das Pferd. Und bleiben Sie nicht zu lange im Sattel. Die Tibeter laufen die Hälfte der Zeit neben ihren Pferden und reden mit ihnen.«
Jin grinste spöttisch und griff nach seinem Kassettenrecorder.
»Ist ein langer Marsch bis nach Hause«, bemerkte Shan.
Wieder grinste der Polizist, ließ aber das Gerät ausgeschaltet. Er richtete sich auf, stieß dem Pferd die Hacken in die Seiten und trabte steif davon.
Zwanzig Minuten später stand Shan im Schatten eines Felsblocks und beobachtete die Staubwolke, die den Weg des Busses nachzeichnete. Sein Magen zog sich zusammen. Auch er hatte ausgeprägte Instinkte, was die Öffentliche Sicherheit anging. Er beugte sich vor wie eine Katze, bereit, sich mit dem rettenden Sprung vor einem herannahenden Räuber in Sicherheit zu bringen. Während er weiter die Staubwolke im Auge behielt, die sich in einigen hundert Metern an einem aufragenden Felsen vorbeischob, bemerkte er, dass er seine eigene Hand umschlossen hielt, am Gelenk, da, wo seine Gefangenennummer eintätowiert war.
Er griff die Zügel und wollte sich vorsichtig zurückziehen, als er eine Erschütterung bemerkte, ähnlich einem kleinen Erdstoß. Es folgten das Kreischen von Metall sowie der Knall eines explodierenden Reifens. Verärgerte Rufe waren zu hören und das trockene Knacken einer Pistole, gefolgt von panischem Pfeifengeträller. Shan warf seinem Maultier einen letzten nachdenklichen Blick zu, um dann den Pfad hinabzusteigen, der zur Straße führte.
|12|Wenige Augenblicke später kauerte er in einer Mulde. Unter ihm bot sich ein Bild des Chaos. Ein Militärtransporter, ausgelegt für etwa zwanzig Gefangene, steckte, eingekeilt zwischen zwei Felsen, auf der schmalen Straße fest. Die Frontscheibe war geborsten, der rechte Vorderreifen platt, Stoßstange und Kotflügel waren zerbeult. Offenbar hatte sich eine Gesteinslawine gelöst. Der Bus war seitlich von herabstürzenden Felsbrocken getroffen worden, zwei der vergitterten Fenster waren eingedrückt. Ein Soldat der Öffentlichen Sicherheit, vermutlich der Fahrer, lehnte benommen an einem Felsen. Wo sein Kopf die Windschutzscheibe getroffen hatte, klaffte eine Wunde. Außer ihm war nur ein weiterer Kriecher zu sehen, der eilig in den Felsspalten verschwand, verzweifelt seine Pfeife blasend. Unterdessen flohen die Mönche, die im Bus gefangen gewesen waren, mit Ausnahme eines alten Mannes in roter Robe, der sich über den verletzten Fahrer beugte.
Shan ließ sich den Felsvorsprung hinunterrutschen und landete auf der Straße. Der Lama hatte einen Streifen Stoff aus seiner Tunika gerissen und umwickelte damit den blutenden Kopf des Fahrers, der kurz davor war, sein Bewusstsein zu verlieren. Als Shan sich näherte, hob der Lama den Kopf. Shan kannte ihn nicht, doch das müde Lächeln und der unerschrockene, in sich ruhende Gesichtsausdruck waren ihm aus seiner Zeit als Gefangener wohl vertraut.
»Du hast getan, was du konntest«, sagte Shan mit drängender Stimme. »Bitte, geh jetzt.« Er wusste, was der Lama vorhatte, und es erfüllte ihn mit Trauer. »Indem du den Bus verlassen hast, bist du geflohen. Es wird keinen Unterschied machen, ob sie dich hier finden oder zehn Kilometer weiter.« Shan kniete sich neben den verwundeten Soldaten. »Ich kümmere mich um ihn. Du hast keine Vorstellung davon, was sie dir antun werden. Bleib bei deinen Freunden, dort wirst du dringender gebraucht.«
Unbeeindruckt von Shans Worten, nahm der Lama eine Meditationsstellung ein.
»Die Soldaten werden dich …«
Der Lama schnitt ihm das Wort ab, indem er seine ineinander |13|gelegten Hände erhob, eine Geste, die Shan gut kannte: die Einladung, an einem Mantra teilzunehmen.
Erinnerungen an das Gefängnis wurden wach, in das sie ihn gesperrt hatten, an Mönche, die bis zur Besinnungslosigkeit mit Schlagstöcken und Rohren traktiert wurden, an alte Tibeter, die Tritte ins Gesicht erhielten, bis ihnen die Zähne ausfielen, an Lamas, die ihren Scharfrichtern friedlich in die Augen blickten, während diese ihnen die Pistolen an die Schläfen setzten. Der Lama nickte weise, dann begann er, mit tiefer Stimme ein Mantra zu sprechen, ein Bittgebet an den Heilenden Buddha.
»Lha gyal lo«, sagte Shan mit fester Stimme, während er sich zurückzog. Den Göttern der Sieg.
In einiger Entfernung tauchten rotbraune Flecken zwischen den Felsen auf. Shan lief ihnen entgegen und fand sich drei vor Angst zitternden Mönchen gegenüber.
»Weg von der Straße!«, rief er und gestikulierte in Richtung des zerklüfteten Hanges über ihnen.
Die Soldaten mussten jeden Moment zurückkommen. Und sie würden Schlagstöcke dabei haben und Elektroschocker, die einem furchtbare Stromstöße versetzen konnten. Shan griff sich das erstbeste Handgelenk. Es gehörte einem jungen Tibeter, über dessen Kinn sich eine gezackte Narbe zog. Seine Augen blitzten trotzig, als er Shans Arm zurückstieß.
»Das sind Gefangenenwärter«, erklärte Shan. »Die werden sich nicht weit von der Straße entfernen. Aber sie werden Grenzschützer mit Helikoptern anfordern. Ihr müsst die höher gelegenen Täler erreichen«, drängte er. »Und zieht eure Gewänder aus! In euer Kloster könnt ihr nicht zurück. Haltet euch an die Schäfer und versteckt euch in den Höhlen.«
»Aber wir haben nichts Unrechtes getan«, wehrte sich der junge Mönch und fügte mit Blick auf den alten Lama hinzu: »Rinpoche hat recht. Das ist alles nur ein Missverständnis.«
»Das ist kein Missverständnis! Ihr werdet auf Jahre in den Gefängnissen der Öffentlichen Sicherheit verschwinden.«
Die anderen Mönche rafften ihre Gewänder zusammen und rannten den Hang hinauf. Der junge Mönch jedoch machte |14|einige unschlüssige Schritte in Richtung des alten Lama, der noch immer sein Mantra betete.
»Ich kann ihn nicht zurücklassen.«
Shan sprach zu dem Rücken des jungen Mönchs: »Sie werden euch nicht zusammen lassen. Geh zu ihm, und alles, was du dadurch erreichst, sind fünf Jahre chinesische Gefangenschaft. Als Erstes werden sie dein gau zerstören und dein Gewand verbrennen.«
Der Mönch wandte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zu ihm um: »Ich habe von einem Chinesen gehört, der selbst in Gefangenschaft war und jetzt unseren Leuten hilft. Wie heißen Sie?«
»Du willst meinen Namen nicht wissen und ich nicht deinen.« Shan zeigte den Hügel hinauf. »Geh!«
»Aber Rinpoche …«
Als Shan jetzt zum Lama hinübersah, schlug ihm das Herz bis zum Hals. »Die Alten haben die Fähigkeit, Gefängnismauern anzunehmen wie die Mauern einer Klosterzelle. Das Beste, was du für ihn tun kannst, ist zu fliehen. Bring dich in Sicherheit, so kannst du Mönch bleiben. Erspare ihm den Schmerz, zu wissen, dass er dich die Freiheit gekostet hat.«
Der Mönch drehte sich zum Lama, sprach ein stummes Gebet, berührte sein Handgelenk an der Stelle, wo seine Perlenkette gewesen war, bevor die Kriecher sie zerrissen hatten, und rannte den Berg hinauf.
Von unterhalb ertönte ein metallisches Pfeifen, gefolgt von scharfen Befehlen und einem langen, schmerzlichen Stöhnen. Shan kämpfte gegen die aufsteigende Panik an und blickte sich um. Zwischen den Steinen waren bunte Flecken zu erkennen. Ein dickes, rotes Kletterseil, außerdem gelbe und schwarze Seile, die zu einer Schlinge gebunden waren – die gestohlene Ausrüstung. Etwas klirrte unter seinen Füßen, und als er sich bückte, um es aufzuheben, hielt er einen stählernen Karabinerhaken in der Hand. Noch einmal betrachtete er den Hang und versuchte, sich vorzustellen, wie die Seile benutzt worden waren. Doch bevor er einen Schluss ziehen konnte, hörte er drei krachende Schüsse über sich und rannte los.
|15|Es würde verwundete Mönche geben – und wütende Kriecher. Noch während er rannte, überlegte er, was von den Dingen, die er bei sich trug, als Verband herhalten könnte. Doch als er die kleine Ebene auf dem Rücken der Anhöhe erreichte, erwarteten ihn dort keine Mönche, sondern ein Verkehrsunfall.
Eine große, dunkle Limousine war von der schmalen Straße abgekommen und hatte sich überschlagen. Die Tür auf der Fahrerseite stand offen.
Noch ganz außer Atem lehnte Shan sich gegen den Kotflügel. Offenbar hatte es keinen Zusammenprall gegeben, sondern der Wagen hatte sich in den kleinen, knorrigen Wacholderbüschen verfangen und war herumgeschleudert worden. Shan hielt Ausschau nach Soldaten, ging vorsichtig um den Wagen herum und blieb abrupt stehen.
Die zwei Frauen saßen gegen einen Felsblock gelehnt. Die Chinesin, mittleren Alters, trug eine weiße Seidenbluse, die jüngere Frau hatte blonde, kurzgeschnittene Haare und hielt sich den Bauch, als habe sie Magenschmerzen. So, wie die Chinesin die blonde Frau ansah, hätte man annehmen können, sie seien in eine leise Unterhaltung vertieft. Doch die Hände der Älteren waren blutgetränkt. Shan kniete sich neben sie und legte ihr zwei Finger an den Hals, konnte aber keinen Puls finden. Ihr Körper war noch warm, doch sie war bereits tot.
Die Augen der blonden Frau waren in die Ferne gerichtet, ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung. Dann allerdings bemerkte Shan, wie ihre Hand zitterte, als wolle sie auf sich aufmerksam machen. Sie war von zwei Kugeln getroffen worden, beide in der Brust. Auf ihrer roten Windjacke und der hellblauen Bluse waren dunkle Flecken zu sehen. Aus ihrem Mundwinkel rann Blut. Als sie Shan ihr Gesicht zuwendete und ihn mit bittendem, verständnislosem Blick ansah, schnürte sich ihm die Brust zusammen. Er setzte sich neben sie, legte ihr einen Arm um die Schultern und wischte ihr einen Blutfleck von der Stirn.
»Nicht bewegen«, flüsterte er auf Chinesisch, bevor er es auf Englisch wiederholte.
Er strich ihr über den Kopf. Eine innere Stimme rief: Lauf! Er |16|musste schleunigst fliehen, wenn möglich den Mönchen helfen. Aber er konnte keine sterbende Frau zurücklassen.
»Wer war das?«, fragte er.
Die Lippen der Frau öffneten und schlossen sich. »Der Rabe«, flüsterte sie auf Englisch.
Ihre Hand tastete nach seiner und drückte sie, während sich ihr Blick wieder gen Himmel richtete. Doch es war nicht der Himmel, wie Shan klar wurde, und auch kein Vogel, sondern der hoch aufragende, düstere Berg im Süden – der Everest.
Noch einmal fing ihr Blick Shan ein: »Bin ich es …«, hörte er ihre dünne Stimme. Der Rest ihrer Worte ging in einem Blutschwall unter. Sie führte eine Hand zum Mund und tastete nach dem Blut, das sie mit dem nächsten Husten auf der Wange verschmierte.
»Hilfe ist unterwegs«, sagte Shan mit belegter Stimme. »Alles wird gut.«
Sobald die Soldaten kämen, würde er sie bitten, zum Bus zurückzulaufen, einen Verbandskasten zu holen und den Notarzt zu rufen.
Das leise Lächeln der Frau kehrte zurück, als hätte er einen Witz gemacht, dann ließ sie ihren Kopf auf seine Schulter sinken wie auf die eines alten Freundes. Nur kurz ausruhen. Unter offenbar größter Anstrengung berührte sie mit ihrer freien Hand ein verziertes Schächtelchen, das von ihrem Hals herab hing. Ein gau, ein tragbarer Schrein, das traditionelle tibetische Gebetsmedaillon. Wie um es Shan zu zeigen, schoben ihre Finger das Medaillon in seine Richtung, dann fiel die Hand in ihren Schoß zurück. Während Shan weiter über ihre schmutzigen, blonden Haare strich und nach tröstlichen Worten suchte, wich die Kraft aus der Hand, die nach seiner getastet hatte, ihre Atmung verlangsamte sich und setzte schließlich ganz aus.
Shan strich weiter über ihren Kopf und betrachtete sie wie aus der Entfernung. Ihre leblosen Augen waren noch immer auf die Muttergottheit der Berge gerichtet. Als er das gau unter ihr Hemd zurückschob, hörte er sich noch immer sinnlose Worte flüstern. Zu spät nahm er den Schatten neben sich wahr, das Bein |17|in der grauen Uniform. Der elektrische Schlag traf Shan überall gleichzeitig, an der Hand, dem Hals, der Wirbelsäule, und plötzlich sah er sich selbst, aus noch größerer Entfernung, seinen zuckenden Körper, der den der blonden Frau auf sich zog und dabei ihr Blut auf seinem Gesicht und seiner Brust verschmierte. Ein Schlag schien in seinen Kopf einzudringen, dann wusste er nichts mehr.
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Mit seinem gesunden Auge betrachtete Shan die Hand des toten Gefangenen. Sie zuckte und schreckte dabei die Fliegen auf, die sich an der nässenden Wunde gütlich taten. Er hatte das schon öfter erlebt, diesen Laborfrosch-Reflex. Bei Opfern von Elektroschocks trat dieses Phänomen häufig auf. Die sehnigen Finger schnappten nach Luft, als suchten sie verzweifelt nach dem Regenbogenseil, das gute Buddhisten in den Himmel beförderte. Unter stechenden Schmerzen hob Shan seinen Kopf so weit von der Pritsche, dass er sehen konnte, wem die tote Hand gehörte. Ein dunkles, schmerzvolles Stöhnen drang aus seiner Kehle. Die Hand war seine eigene.
Unter quälenden Anstrengungen richtete er sich auf und lehnte sich gegen die gekalkte Steinwand. Er ignorierte die Taubheit seiner Beine und betastete sein blindes Auge, um festzustellen, dass es lediglich zugeschwollen war. Der Schmerz, der sich in seinem Körper ausbreitete, als er den Kopf hob, war mit nichts vergleichbar, was er in den letzten Jahren erlebt hatte. Sein Blick tastete sich über den kahlen Betonboden. Shan registrierte frische Blutlachen und Erbrochenes unter einer verdreckten Spülwanne, dann begann die Zelle zu rotieren. Das Letzte, was er wahrnahm, während er erneut das Bewusstsein verlor und die Wand hinabglitt, war ein vergilbtes Plakat, das an der Wand vor seiner Zelle hing. Glücklich lächelnde Arbeiter waren darauf zu sehen, darüber der Schriftzug: FREUDE DURCH ARBEIT ZUM WOHLE DES VOLKES.
Es war Nacht, als Shan das nächste Mal das Bewusstsein erlangte. Die einzige Lichtquelle bestand aus einer milchigen Glühbirne, die im Mittelgang zwischen den Zellen von der Decke hing. Darunter ein Metalltisch sowie eine dreibeinige Tafel. |19|Shan stellte sich auf wackelige Beine, indem er seinen Körper von der Wand abstieß. Als er einen Fuß vor den anderen zu setzen versuchte, knickten seine Knie ein, und der Zellenboden flog ihm entgegen. Es gelang ihm, sich abermals auf die Füße zu stellen und einen zweiten Schritt zu gehen. Dabei erinnerte er sich an die Lektionen seiner tibetischen Lehrmeister, jedem Schmerz einzeln zu begegnen. Shan schaffte es bis in die vordere Ecke seiner Zelle, wo er in sich zusammensackte. Er umklammerte die Eisenstangen und zog sich empor, um im Schein der Glühbirne das Werk seiner Peiniger zu inspizieren.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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