Der tiefere Sinn unserer Volksmärchen - Karl Wachtelborn - E-Book

Der tiefere Sinn unserer Volksmärchen E-Book

Karl Wachtelborn

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Beschreibung

Wir haben das tiefe Wissen der Alten nicht mehr, und selbst der Schlüssel dazu war, ja ist uns noch immer zu vielem verloren. So haben wir auch die Gleichnisse der Alten nur äußerlich genommen, und weil uns das Verständnis fehlte, so dienten sie uns nicht mehr zur Belehrung, sondern zur Belustigung und zum Zeitvertreib. Sie sind — zum Märchen geworden, für Kinder gut. Doch die Neuzeit hat wieder Licht gebracht, den Schleier gelüftet, der über der Wahrheit schwebte, und so können wir sagen, dass wir auch die Lehren der Alten, ihre Gleichnisse, wieder besser verstehen. Und wohl uns, dass es tagt! Inhaltsverzeichnis Einleitung Gott, die Welt und der Mensch Die Sieben Geißlein Rotkäppchen Jorinde und Joringel Die sieben Raben Siebenschön Der Däumling Hänsel und Gretel Das Gruseln Schneewittchen Aschenputtel Dornröschen

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Der tiefere Sinn unserer Volksmärchen

oder

Die Weisheit der Alten in enthüllter Gestalt

 

Karl Wachtelborn

 

 

 

Verlag Heliakon

 

2023 © Verlag Heliakon

Umschlaggestaltung: Verlag Heliakon

 

Titelbild: Pixabay

 

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

 

www.verlag-heliakon.de

[email protected]

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Einleitung

Gott, die Welt und der Mensch

Die Sieben Geißlein

Rotkäppchen

Jorinde und Joringel

Die sieben Raben

Siebenschön

Der Däumling

Hänsel und Gretel

Das Gruseln

Schneewittchen

Aschenputtel

Dornröschen

 

 

 

Einleitung

 

 

Wenn wir zurück über die Vergangenheit blicken, so verliert sich die Geschichte der Menschheit im grauesten Dunkel der Zeiten; jedoch die Geschichte mag schweigen. Tatsachen reden.

Und so wird uns denn von den Tatsachen erzählt, dass die Menschen einst ebenso dachten und forschten, handelten und strebten wie wir. Denn die Alten haben uns den Ackerbau und die Viehzucht gelehrt; sie haben den Weizen und den Weinstock gezogen; sie haben die Schifffahrt und die Baukunst erdacht; sie haben die Gesetze des Himmels erforscht, und sie haben überhaupt den Grund gelegt zu unserer jetzigen ganzen Kultur und Wissenschaft.

Wohl mag uns da manches jetzt recht selbstverständlich erscheinen. Aber für die Alten ist das, was sie geschaffen haben, neues, von Grund aus neues gewesen, und wir sind nicht in der Lage, dass wir ihnen eine Tat für die Menschheit an Bedeutung gleich der der Züchtung des Weizens an die Seite stellen können. Was aber weiter z. B. die Baukunst betrifft, so zeigen uns auch hier die spärlich erhaltenen Reste von Bauwerken der Alten nicht nur, dass die Alten die Baukunst erfunden und aus eine hohe Stufe erhoben haben, sondern dass sie auch maschinelle und technische Kenntnisse hatten, mit denen sich die unseren in mancher Hinsicht noch nicht messen können; denn unsere Bauleute müssen gestehen, dass sie mit all ihren Maschinen jene Bauten, die uns noch in ihren Resten in Staunen und Verwunderung versetzen, zu vollführen nicht imstande wären. Sind doch z. B. in den Ruinen von Baalbech Steine von 30.000 Zentnern noch in schwindelnder Höhe verwendet, und dabei sind sie, obwohl weder durch Mörtel noch ein sonstiges mittel verbunden, so genau aneinander gefügt, dass ein Eindringen in die fugen nicht möglich ist.

Derartige Beispiele für das hohe Wissen und Können der Alten lieben sich noch sehr viele nennen. Wir können aber schon aufgrund dieser kurzen Betrachtungen sagen: die Alten haben nicht nur ebenso, sondern sie haben, was uns allerdings wenig schmeichelhaft ist, sogar noch tiefer gedacht und geforscht als wir; denn sie mussten erst die Gesetze und Kräfte entdecken, die wir in Ackerbau, Viehzucht, Baukunst, Schifffahrt, Kunst und Wissenschaft heute verwenden, und dabei sind ihre Leistungen zum Teil noch größer als die unseren gewesen.

Schon durch diese Tatsachen wird mit Notwendigkeit klar, dass die Alten nachgedacht haben nicht nur über die alltäglichen Bedürfnisse des Lebens: wie man Häuser baut, Kohl züchtet, Schafe schert usw., sondern dass sie sich auch beschäftigten mit dem, was der Welt zugrunde liegt, und dem Verhältnis des Menschen zum All. Haben die Alten doch nicht nur im Allgemeinen den Grund gelegt zu unserer jetzigen Wissenschaft, sondern selbst, was wir heute im Einzelnen an wissenschaftlich Grundlegendem kennen, wie Weltäther, Atome, Wirbelbewegung usw., darüber haben auch sie schon gelehrt. Und dass sie ihren Sinn nicht nur betrachtend, sondern auch denkend hinaus auf das Universum richteten, dafür haben wir einen vollgültigen Beweis in der von ihnen ebenfalls mit grobem Erfolge gepflegten Astronomie; denn die Alten kannten z. B. den Tierkreis schon, und diese Kenntnis allein setzt eine mehrmalige Beobachtung des Laufs seiner zwölf Zeichen, d. i. eine mindestens zehntausendjährige Beschäftigung mit den Ereignissen des Raums voraus.

Durch diese Beschäftigung des Menschen mit der Welt im groben und ganzen aber stand er bereits auch auf dem religiösen Gebiet; denn Wissenschaft und Religion sind schließlich ein und dasselbe, weil der Gegenstand der Betrachtung beider doch immer nur das eine Wahre ist, das, was der Welt zugrunde liegt, und zweierlei Wahrheit gibt es nicht. Wahre Wissenschaft muss daher nicht nur zur Religion führen und umgekehrt, sondern beide müssen sich schon in ihrem Wesen decken, müssen in Wirklichkeit ein und dasselbe sein. Infolge der Wahrheit und Tiefe der Wissenschaft der Alten, wofür wir im weiteren noch nähere Beweise sehen werden, können wir daher schon aus diesem Grunde bei ihnen auch eine Religion von gleichem Werte, von gleicher Wahrheit und Tiefe, erwarten.

Doch der Mensch wird nicht nur durch die rein Wissenschaftlichen fragen, die fragen, welche mehr den Intellekt, den Verstand, beschäftigen und mehr die Dinge der Welt betreffen, zu dem religiösen Gebiete geführt oder darauf gestellt, sondern er hat auch seiner inneren Natur nach ein eigenes Bedürfnis nach Religion. Sein innerer Wesenskern, sein Gemüt, verlangt nach Beschäftigung mit dem, worin sein Ziel und Ausgang ruhen. Wir werden den Grund dieser Erscheinung ebenfalls im weiteren sehen. Eber, weil der einstige Mensch weniger in der Sinneswelt und der Verstandestätigkeit lebte als der Mensch der Gegenwart, denn Gemäldegalerien, Zeitungen u.s.w. gab es damals noch nicht, deshalb war sein seelisches Innenleben, sein Gemüt, ein tieferes, stärkeres als heute und die Religion infolgedessen nicht nur ein Fach, dem er hin und wieder auch einige Stunden der Betrachtung gewährte, sondern sie war sogar sein Haupt- und Lieblingsgebiet.

So können wir bei den Alten einen Schatz religiösen Wissens erwarten, noch größer, als er uns auf anderen Gebieten ihres Wissens und Könnens, z. B. bei ihren bewunderungswürdigen Bauten entgegentritt. Gewiss, unserem Sinn schmeichelt das nicht. Haben wir es doch mit unserem so hellen Verstand, unserer Kultur, unseren Maschinen und unseren Kanonen so herrlich weit gebracht. Wir werden aber im weiteren Schritt für Schritt die große Tiefe und Klarheit der Alten auf dem religiösen Gebiete sehen, und daher wolle sich der geneigte Leser mit seinem Urteil bis zum Ende unserer Betrachtungen gedulden.

Allerdings, die Weisheitslehren der Alten treten uns nicht so ohne weiteres entgegen, sondern wir begegnen ihnen stets nur in verhüllter Gestalt. Und warum das? Nun, wie wir heute die Menschen in zwei große Gruppen trennen müssen: in Gebildete und Ungebildete, in Weise, die Lehrer, und die Belehrten, das Volk, so war es auch ehemals. Auch in den frühesten Zeiten gab es Weise, „Meister“, und das zu belehrende Volk. Die Weisen nun, sie erfassen immer das Wissen und bieten es dem Volke dar nach dem Maß seiner Kraft, je nachdem es also Wissen, geistige Nahrung aufzunehmen und zu verdauen imstande ist. Und es ist eine Tatsache, dass der unentwickelte menschliche Geist — nicht nur der im Kind, sondern der in der Menschheit überhaupt — für reines, tiefes Denken, für das Erfassen und Befolgen hoher und höchster Gedanken nicht die Kraft und Befähigung besitzt, sondern er muss sich erst entwickeln, muss reifen.

Doch es soll und muss das Wissen dem ganzen Volk, der ganzen Menschheit geboten werden; denn der gesamte menschliche Geist soll wachsen, und das kann nicht ohne geistige Nahrung geschehen. Das wussten auch die geistigen Lehrer, die Meister der Weisheit der früheren Zeiten, und sie übermittelten deshalb der Menschheit, dem unentwickelten Volk, das Wissen in einer Gestalt, die, an die alltägliche Erfahrung sich lehnend, einen sinnlichen, leicht zu erfassenden Anhalt bot.

Auch unser Meister Jesus hat daher bekanntlich mit Vorliebe diese Form der Belehrung gewählt. Er sprach in Gleichnissen zum Volk und bot so jedem etwas. Das Kind, der geistig Unreife nahm den einfachen natürlichen, nächstliegenden Sinn, die gute Lehre für das alltägliche Leben, die ja auch den Menschen bessert und hebt. Der geistig Gereifte hingegen fand den tieferen Gehalt der Gleichnisse, der Lehre inneren Sinn, und wurde so, weil selbst schon höher stehend und mit einem weiteren Blick begabt, unmittelbar auf die Wege der Wahrheit, der höheren Erkenntnis geführt. Nun, man schaue hin z. B. auf das so einfache und naheliegende wie wundervolle Gleichnis vom verlorenen Sohn. Hier hat Jesus dem einfachsten, schwächsten Menschenverstand Lehren für das alltägliche Leben gegeben, dem aber, der die Schätze zu heben versteht, die Gesetze der Menschheit und des Universums enthüllt.

Es besteht aber auch noch ein zweiter Grund dafür, dass das Altertum seine Weisheitslehren dem Volk nur in verhüllter Gestalt, nur in Gleichnissen bot. Jesus hat ihn genannt, indem er sagte, man solle die Perlen nicht vor die Säue werfen; denn der unentwickelte menschliche Geist, das Gemeine, zerrt nicht nur leicht das ihm unfaß-, unerreichbare Höhere in das Niedere herab, tritt es mit Füßen, sondern Willen, höheres Wissen verleiht auch Macht, und diese Macht wird dann vom Niederen nur allzu leicht missbraucht. Deshalb wurde im Altertum der tiefere Sinn der Weisheitslehren nur denen enthüllt, die durch lange ernste Prüfungen gezeigt hatten, dass sie dieses Vertrauens würdig sind. Wohl kann man in der Gegenwart den Grund dieses Verhaltens der Alten nur schwer begreifen. Man weiß und versteht nicht, dass es ein im Schatz der Natur liegendes Wissen zu verhüllen gibt, und dass sich ein Wissender entschließen sollte, es zu verhüllen; dass er sich nicht vielmehr auf die Märkte stellt und, wie es heutigentags geschieht, sein Wissen sofort aller Welt offen verkündet und preist. Aber in den Tiefen der Natur ruhen gewaltige Kräfte — Kräfte, die der alles Tiefere in der Natur verleugnende Mensch der Gegenwart meist nicht einmal dem Namen nach kennt, und die Alten hatten dieses Wissen, diese macht. Diese Geistesschätze werden aber einem jeden zuteil, der die Pfade der Weisheit weit genug und in der rechten Weise verfolgt, und um die unreife Menschheit vor ernsten Gefahren zu schützen, deshalb wurden von den Alten die Wege zu den Gründen der Wahrheit, der geistigen Macht, für das Volk durch Schleier verhüllt. 

Ein Hinweis auf den Hypnotismus, den in seiner gefährlichen Macht heute jedermann kennt, mag genügen, von einem Gebiet eine Ahnung zu geben, von dem der Hypnotismus nur erst ein schwacher Anfang ist. Auch den Hypnotismus hat unsere moderne Wissenschaft für unmöglich gehalten; sie hätte ihn vom Standpunkte ihrer geist- und seelenlosen Anschauungen überhaupt nicht gefunden. Und doch ist er da, und doch ist er eine gewaltige, so leicht zu missbrauchende und — leider — auch schon so vielfach zu Unrecht verwendete Macht. Die Alten kannten aufgrund der Tiefe ihrer Wissenschaft, die vorwiegend eine praktisch seelische war, auch das hypnotische Gebiet und noch weit mehr. Sie waren aber weise genug — weiser als wir — dieses Wissen und diese Macht nicht Unwürdigen in die Hände zu geben. Ihre Wissenschaft wurde deshalb strenge vor einem Übertritt nach außen, zum Volke, gehütet, und nötigenfalls, wie es z. B. Sokrates an sich selber erfuhr, dem der Mund unfreiwillig geschlossen, der zu schweigen nicht imstande war.

Es hat daher durch das ganze Altertum eine Gemein- und eine Geheimreligion, eine Gemein- und eine Geheimwissenschaft oder eine äußere Wissenschaft und Religion für das Volk und eine tiefere, innere für die Eingeweihten immer gegeben, und nur weil die Eingeweihten nicht alles, was sie wussten, öffentlich oder doch nicht offen schreiben durften, die nichteingeweihten aber entweder überhaupt nichts oder doch nichts Ganzes wussten, deshalb zeigt sich uns heute die Wissenschaft der Alten, das, was uns also doch schriftlich überkommen ist, meist so verschwommen, wenig tief und wenig wahr.

Doch wir finden ein „Geheimchristentum“ sogar noch in den ersten christlichen Zeiten, da wo wir es heute sicher am wenigsten erwarten, und diese Tatsache, also das Vorhandensein entweder überhaupt nicht öffentlich oder doch nur verhüllt gelehrten Wissens, wurde damals von den beteiligten Kreisen auch gar nicht verschwiegen, sondern offen erklärt. Mir könnten infolgedessen allein für das Geheimchristentum hier viele bestätigende Zeugnisse von den namhaftesten ersten christlichen Männern nennen; doch mögen nachstehend einige genügen, und von der Verhüllung der tieferen Weisheitslehren im frühesten Altertum werden uns im Weiteren die Märchen erzählen.

Für das „Geheimchristentum“ lassen wir zunächst Jesus selbst reden, ihn, von dem man sonst so gerne behauptet, dass er frei und offen zu allem Volk und zu diesem besonders auch über die tiefsten religiösen Geheimnisse gesprochen habe. Er aber sagte: »Such (den Jüngern, den Eingeweihten) ist es gegeben, das Geheimnis des Reiches Gottes zu wissen; denen aber draußen (denen, die nicht zum inneren Kreise gehörten) widerfährt es alles durch Gleichnisse, auf dass sie es mit sehenden Augen sehen, und doch nicht erkennen, und mit hörenden Ohren hören, und doch nicht verstehen;«1 er sprach weiter, wie schon erwähnt: »Ihr sollt das Heiligtum nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen«2. Damit erklärte Jesus in der Sprache der damaligen Zeit unzweideutig, dass die höheren Religions- oder Weisheitslehren gewissen Kreisen vorbehalten bleiben sollen — denen, die dazu die nötige Reife besitzen — und dass man die inneren Schätze der Religion nicht dem gemeinen Volk übergebe, nicht denen, die sie nicht zu würdigen wissen und mit ihnen Missbrauch treiben würden.

Paulus schreibt an die Korinthen »Davon wir reden, das ist Weisheit bei den Vollkommenen3; doch er konnte noch nicht mit ihnen reden als mit Geistlichen, sondern (nur) als mit Fleisch-lichen«4, womit er sagen wollte, dass sie zur Entgegennahme der höheren Lehren noch nicht die geistige Reife hätten.

Ignatius, Bischof von Antiochien, ein Schüler des Johannes, spricht in seiner Epistel an die Epheser von diesen als »Initiiert (Eingeweiht) in die Mysterien (Geheimnisse) des Evangeliums«; aber er schreibt selbst zu ihnen: »Sollte ich euch nicht Dinge schreiben, die mehr von dem Mysterium enthalten? Aber ich fürchte das zu tun, weil ich euch schaden könnte, die ihr bloß Kinder (in geistigen Dingen noch wenig Entwickelt) seid.«

Clemens von Alexandrien, den von den Aposteln Petrus, Jakobus, Johannes und Paulus nur ein Lehrer trennte, erklärte: »Der Herr … hat den Vielen nicht das enthüllt, was den Vielen nicht zukommt, sondern nur den Wenigen, denen es zukam … Geheime Dinge aber werden nur der Rede anvertraut, nicht der Schrift«, und er fährt fort: »Einige Dinge lasse ich absichtlich aus, da ich eine weise Auswahl treffen will und davor zurückschrecke, das niederzuschreiben, wovon zu sprechen ich vermieden habe; nicht weil ich es ungern tue, denn das wäre unrecht, sondern weil ich für meine Leser Befürchtungen hege, das sie zu fall kommen möchten, wenn sie diese Dinge in einem falschen Sinne auffassten; und, wie das Sprichwort sagt, hätten wir dann ‚einem Kind ein Schwert in die Hand gegeben’.« Weil die von den religiösen Dingen handelnden Schriften auch anderen Leuten als den Weisen, den Eingeweihten und Würdigem in die Hände kommen könnten, deshalb hielt dieser Kirchenvater es für »erforderlich, die ausgesprochene Weisheit, welche der Sohn Gottes lehrte, in einem Mysterium zu verbergen.«5

Der sehr gelehrte und berühmte Kirchenvater Origenes, ein Schüler des vorigen, aber sagt in seiner Schrift gegen den Römer Celsus, nachdem er den Zweck des Christentums erklärt hat: »Wenn ihr zu den Büchern gelangt, die nach der Zeit Jesu geschrieben sind, werdet ihr finden, dass die große Maße der gläubigen, welche die Gleichnisse hören, sozusagen „draußen“ stehen, und nur der exoterischen (der äußeren im Gegensatz zu den esoterischen oder inneren) Lehren würdig sind, während die Jünger im Geheimen die Erklärung der Geheimnisse lernen. Denn im vertrauten Kreis seiner eigenen Jünger offenbarte Jesus all diese Dinge, da er die, welche seine Weisheit zu erkennen wünschten, als über der Menge stehend ansah.« An anderer Stelle schreibt Origenes, dass ungereimte und unmögliche Dinge in die geschichtlichen Berichte eingeflochten sind, um den intelligenten Leser anzuregen und ihn zu zwingen, nach einer tieferen Bedeutung zu suchen, während einfache Leute weiter lesen werden, ohne auf die Schwierigkeiten Wert zu legen.6

So ist die Geheimhaltung und Verhüllung der tieferen Lehren selbst im Christentum während der ersten Zeit seines Bestehens unwiderleglich bewiesen. Wenige Jahrhunderte nun sind es erst, seit Jesus mit seinen Lehren die Menschen beglückte; wenige Jahrhunderte erst im Hinblick auf die Zeit, welche die Menschheit bereits die Erde bevölkert; denn wir dürfen hier nicht nur, wie es gewöhnlich geschieht, mit wenigen Jahrtausenden rechnen, sondern es muss mit Hunderttausenden und Jahrmillionen geschehen. Liegt doch allein die entstehung der Bauten, die wir in ihren Resten noch heute bewundern, sicher Zehntausende von Jahren zurück, und wie lange muss der Mensch dann vorher gelebt haben, bevor er also die Baukunst und alle sonst noch dazu nötigen Wissenschaften bis zu jener vollendeten Höhe beherrschte. So kennen wir bei der Kürze der erst verflossenen Zeit wohl Jesu Namen, seine Lebensgeschichte und seine Gleichnisse und Lehren. — 

Ob wir die kehren Jesu auch innerlich, in ihren Tiefen, und nicht nur äußerlich kennen, ist eine Frage, die wir hier nicht zu untersuchen haben; sie sei jedoch zur Erwägung empfohlen, schon für den fall, dass sich zwischen ihnen und den uns in den Märchen in verhüllter Gestalt entgegentretenden Lehren der Alten hin und wieder ein Unterschied zeigen sollte.

Doch wir wissen nichts von den Lehrern der frühesten Zeiten; ja, es sind nicht nur Menschen, sondern Völker dahingegangen im Laufe der Zeiten, der Jahrmillionen, und wir kennen nicht einmal deren Geschichte und Namen; denn was wissen wir z. B. von jenen Völkern, die die Tempel von Stonehenge und Baalbeck bauten, die im Inneren Asiens zu Bamian aufrecht in den Stein ein Standbild meißelten, das eine Höhe von 173 Fuß besitzt, auf der Osterinsel Statuen schufen, deren eine imstande ist, eine Gesellschaft von dreißig Personen vor der Hitze der Sonne durch ihren Schatten zu schützen usw. Wir wissen nichts von all diesen Völkern. Aber auch diese Völker hatten ihre Meister und Lehrer. Sonst hätten sie ja allein ihre Wunder- und Riesenbauten nicht schaffen können, und auch diese Meister sprachen belehrend zum Volk, belehrend über das innere Wesen der Dinge und über das Verhältnis des Menschen zur Welt, zu Seinesgleichen und zu dem, was ihm und der Welt zugrunde liegt — zu Gott. Sie sprachen aus Gründen, die wir genügend bereits kennen, zum Volk in verhüllter Gestalt — durch Gleichnisse. Ihre Damen wie die ihrer Völker sind uns nun verloren gegangen. Doch ihre kehren, ihre Gleichnisse sind uns erhalten geblieben — erhalten durch die Volksseele; denn diese ist dauernder als Pergament und Stein, und was ihrem Wesen entspricht, das einfache, natürliche und Wahre, das gräbt sie getreulich in sich ein und überliefert es wohlverwahrt fort.

Allerdings, wir haben das tiefe Wissen der Alten nicht mehr, und selbst der Schlüssel dazu war, ja ist uns noch immer zu vielem verloren. So haben wir auch die Gleichnisse der Alten nur äußerlich genommen, und weil uns das Verständnis fehlte, so dienten sie uns nicht mehr zur Belehrung, sondern zur Belustigung und zum Zeitvertreib. Sie sind — zum Märchen geworden, für Kinder gut.

Doch die Neuzeit hat wieder Licht gebracht, den Schleier gelüftet, der über der Wahrheit schwebte, und so können wir sagen, dass wir auch die Lehren der Alten, ihre Gleichnisse, wieder besser verstehen. Und wohl uns, dass es tagt!

Da aber bei den Alten Religion und Wissenschaft noch eine harmonische Einheit waren, so finden wir in ihren Gleichnissen, unseren jetzigen Märchen, auch beides, Religion und Wissenschaft.

Dieser tiefe Sinn tritt uns gewiss nicht in allen unseren jetzigen Märchen entgegen; denn es sind auch Märchen in der späteren und neueren Zeit entstanden, und da diesen Zeiten der tiefe Sinn der Alten fehlte, ihr volles Verständnis der Natur und ihrer Gesetze und Kräfte, so konnte man den Märchen auch nicht jene Tiefe geben.

In den Märchen der Neuzeit sind deshalb meist nur einfache Wahrheiten des alltäglichen Lebens enthalten. Zwar kann man auch in den Gleichnissen oder Märchen der Alten auf den ersten Blick oft nicht einmal diese entdecken, so dass sie in ihrem meist so kuriosen Gewand wohl oft für eine Mär zu halten sind.

Doch sie sind keine Mär, sondern sie stellen Schätze dar an Wissenschaft und Religion, in ein kindlich naives Gewand gekleidet, übermittelt dem Kind und dem Weisen und bestimmt, beide über die Wahrheiten des Daseins zu belehren.

Bevor wir nun an der Hand einer Anzahl von Märchen deren tiefen Sinn verfolgen, ist es gut, dass wir uns erst möglichste Klarheit verschaffen über das, wovon uns die Märchen erzählen, also über die Welt und den Menschen und das Verhältnis des Menschen zu Gott und dem All; denn, indem wir dann die Märchen im Licht der Wahrheit betrachten, werden wir ihren oft so dunklen Sinn umso leichter erkennen.

 

1 Evang. Mark. 4, 11 u. 12.

 

2 Evang. Matth. 7. 6.

 

3 1. Korinth. 2, 6.

 

4 1. Korinth. 3, 1.

 

5 Clemens von Alexandrien, Stromata, Buch 1.

 

6 Origenes, Von den Grundlehren, Kap. 1.

 

 

 

 

Gott, die Welt und der Mensch

 

 

Für den denkenden Menschen wird niemals darüber ein Zweifel entstehen, dass wir und die Welt aus dem geworden sind, was vor der Welt im Raum war; denn etwas muss vorher in ihm gewesen sein, weil aus einem nichts kein Etwas entstehen kann. Die Welt ist aber ein gewordenes und vorhandenes Ding — ein etwas. Und so kann man nur darüber streiten, was das Wesen dessen ist, das der Welt zugrunde liegt, und wie die Weltentstehung vor sich ging, nicht jedoch darüber, ob die Welt aus etwas entstanden ist.

Ist die Welt aber aus etwas geworden, dann muss das Wesen dieses Etwas auch in ihr zum Ausdruck kommen, und die Gesetze und Kräfte der Welt wieder müssen jenem Etwas entsprechen, müssen Ausdrucksformen von seinem Wesen sein. Damit ist uns der Weg klar vorgezeichnet, der uns zunächst zum Verständnis unserer selbst und des Welturgrundes führt.