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Endlich wieder Urlaub! Wer sich auf Dünen, Strand und Ferienluft in Holland gefreut hat, erlebt eine böse Überraschung. Denn auf Camping de Grevelinge ist alles anders: Blaulicht, rot-weißes Absperrband, Polizei! Der Kantinenwirt des Campingplatzes ist kopfüber in der Porta-Potti-Entsorgungsstation ertrunken aufgefunden worden. Es sieht nicht nach Selbstmord aus. Inspecteur Piet van Houvenkamp, der größte lebende Agatha-Christie-Fan weltweit, stellt bald fest: Der Tod hat eine Anhängerkupplung! Urlaubsstimmung und mörderische Absichten - ein außergewöhnlicher Genuss für alle Krimifreunde. Lassen Sie sich von Bernd Stelter an den Campingstuhl fesseln!
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Seitenzahl: 264
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Lübbe Digital
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG erschienenen Werkes
Lübbe Digital in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2008 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Illustrationen: Uli Stommel
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-0668-9
Sie finden uns im Internet unter
www.luebbe.de
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Auf dieser Buchseite steht ja sehr häufig, dass die Geschichte frei erfunden ist, dass lebende oder jüngst ins Jenseits entschwundene Personen hoffentlich keinerlei Ähnlichkeiten mit den Romanfiguren aufweisen, und sollte dem dummerweise doch so sein, dann sei das reiner Zufall und auf keinen Fall beabsichtigt.
Diesen Absatz überspringt der Leser geflissentlich. Das ist nichts Neues, das hat mit der eigentlichen Handlung nichts zu tun, also kann man auch direkt eine Seite weiter blättern und mit Kapitel eins beginnen. Der Internet-Freak kennt dieses Phänomen unter dem Fachbegriff Skip Intro. Ein Doppelklick auf die entsprechende Schaltfläche, und wochenlange Programmierarbeit für bunte Bildchen, lustige Explosionen und nervige Musik geht dem User am geneigten Arsch vorbei.
Ich möchte Sie inständig bitten, diese Seite nicht zu überlesen. Es ist mir sehr wichtig, dass Sie wissen, die Geschichte ist wirklich frei erfunden, und lebende Personen, Tote fallen mir in diesem Zusammenhang sowieso nicht ein, haben nichts, aber auch gar nichts mit dem hier beschriebenen Fall zu tun.
Möglicherweise haben Sie mich schon mal auf einem Campingplatz gesehen, oder ein Nachbar oder der Mann von der Waschstraße hat Ihnen erzählt, dass der Stelter regelmäßig auf einem bestimmten Campingplatz in Holland Urlaub macht.
Das stimmt, aber es hat mit der Geschichte nichts zu tun. Die Schilderungen des Camperalltags und die Beschreibungen der Halbinsel Walcheren entsprechen größtenteils den Tatsachen, aber seien Sie versichert: Auf meinem Campingplatz fühle ich mich pudelwohl und ausgesprochen sicher.
Das kapitalste Delikt, das jemals an unserem UrIaubsdomizil vorgekommen ist, war vor drei Jahren der Diebstahl von zwei Fahrradtachometern an einem Tag.
Dennoch gibt es einen guten Grund, warum diese Geschichte auf einem Campingplatz spielt. Was macht man denn, wenn das Frühstück verputzt und das Geschirr gespült ist? Man setzt sich mit einem Buch vor das Vorzelt, denn es gibt im Urlaub nichts Schöneres, als im Campingstuhl sitzend, den frischen Kaffee dampfend vor sich auf dem Tisch, ein paar Mörder zu jagen.
Also dann, bleibt mir nur noch eine Frage: Kennen Sie Inspecteur Piet van Houvenkamp? Nein? Ooh! Dann muss ich Ihnen den dringend vorstellen.
»Die Passagiere gingen an Land. Dann wurden die Leichen von Louise Bourget und Mrs. Otterbourne von Bord der ›Karnak‹ geschafft. Zuletzt schiffte man Linnets Leichnam aus, und über die ganze Welt hin begannen die Drähte zu summen. Sie berichteten der Öffentlichkeit, dass Linnet Doyle, vordem Linnet Ridgeway, die berühmte, die schöne, die reiche Linnet Doyle, nicht mehr am Leben sei.«
Und wieder klappte Piet das abgegriffene kleine Buch zu. Er wusste selbst nicht, zum wievielten Male er das tat, zum wievielten Male er diese letzten Sätze von Tod auf dem Nil gelesen hatte.
Ja, es war brillant, wie Hercule Poirot diesen Fall gelöst hatte, so brillant, dass Piet schon damals, als er ein kleiner holländischer Junge war, ganz genau wusste, er würde auch Detektiv werden. Ein Detektiv wie Hercule Poirot, nein, ein noch besserer Detektiv, denn Hercule war ja Belgier.
Früher hatte er immer hinter der Mauer an der Gracht gelegen, und der kleine Vorsprung hinter der Mauer war gerade mal groß genug, dass der kleine, schmächtige Piet mit seinem Agatha-Christie-Roman darauf Platz fand. Seine Mutter hatte ihn nie gefunden. Sie hatte ihn oft genug gesucht, oft genug laut nach ihm gerufen, aber Piet hatte auf sein Versteck vertraut, und er verriet es ihr auch später nicht, denn ein Geheimnis, das ist etwas Besonderes. Ein Detektiv, der ein Geheimnis nicht für sich behalten kann, ist kein Detektiv.
Piet war inzwischen tatsächlich Detektiv geworden, ein guter Detektiv, er war Inspecteur am politiebureau in Middelburg. Wahrscheinlich wäre er niemals Inspecteur geworden, wenn er nicht als Elfjähriger auf dem kleinen Mauervorsprung an der Gracht Tod auf dem Nil gelesen hätte. Aber er hatte es damals gelesen, und seitdem noch unzählige Male.
Natürlich war es brillant, wie Hercule Poirot diesen Fall gelöst hatte, aber heute, mit den Augen eines Polizisten, sah er den Fall kritischer. Da wurde eine reiche junge Frau während der Flitterwochen auf einem Nildampfer umgebracht, hinterher sprangen noch zwei Tatzeugen über die Klinge. Zwar waren da jede Menge nette Menschen am Werk, die allesamt über ungeahnte kriminelle Energien verfügten, aber letztendlich war ihre Anzahl doch begrenzt. Denn auch der Tatort war begrenzt. Es handelte sich um einen Nildampfer, und jeder Verdächtige, der fliehen wollte, würde unweigerlich von den Rettungsbooten von Lacoste zerfleischt werden.
Zehn oder acht oder vierzehn Verdächtige, von denen alle ein Motiv, aber keiner ein Alibi hatte, versammelten sich auf fünfundzwanzig Quadratmetern. Dann betrat der Detektiv den Raum, und mithilfe seiner unnachahmlichen Logik, seiner Intuition und seines Einfühlungsvermögens löste er den Fall, wie Piet morgens in der Kantine die drei Sudokus in der Tageszeitung löste.
Natürlich gab es in Middelburg solche Tatorte. Wenn beispielsweise ein alter Skipper auf einem Hausboot umgenietet werden würde, dann wäre der Raum recht klein. Alle Verdächtigen aufs Hausboot, zwei Agenten auf die Kaimauer, die niemanden rauslassen, und Piet würde ihnen schon zeigen, dass Hercule Poirot doch nur ein Belgier war. So einfach wär’s, aber in den letzten einunddreißig Jahren, und so lange war Piet nun schon bei der Polizei, war noch nie jemand auf einem Hausboot ermordet worden. Wenn überhaupt mal jemand in Middelburg ermordet wurde, dann lag der einfach tot in der Gracht. Und die Verdächtigen waren auch nicht alle in einem Raum versammelt, meist gab es gar keine Verdächtigen.
Piet hatte trotz dieser widrigen Umstände schon viele Fälle aufgeklärt, er hatte eine Menge Betrüger und Strauchdiebe hinter Schloss und Riegel gebracht. Er hatte dafür gesorgt, dass es immer noch Touristen gab, die glaubten, in Middelburg gäbe es gar kein Rotlichtviertel. Vielleicht hatte er einfach mitgeholfen, dass man in der kleinen Stadt dieses Gefühl von Sicherheit hatte.
Aber für diese Eleganz in der Ermittlung, für ein eloquentes Plädoyer, an dessen Ende ein Verdächtiger einfach in Tränen ausbrechen musste, auf die Knie sank und dann sagte: »Ja, Inspecteur van Houvenkamp, ich war es, ich wollte es nie zugeben, aber Sie haben mich so in die Enge getrieben, dass ich keinen Ausweg mehr sehe!«, dafür hatte sich nie eine Chance geboten.
Noch nicht, aber Piet würde nicht aufgeben, noch nicht. Er war jetzt dreiundfünfzig, und wenn er sich nachmittags im Spiegel betrachtete, dann war er eigentlich ziemlich zufrieden mit dem, was er sah, morgens nicht, aber nachmittags schon. Gut, das Hemd spannte ein bisschen über dem Bauch, und er trug die Laufschuhe nur, damit alle zumindest noch glaubten, er könne einem Verbrecher mühelos zwei, drei Straßenzüge weit hinterhersetzen. Das konnte er nicht, er wusste es, aber dafür waren die Schuhe auch ziemlich bequem.
Piet legte das Buch auf den Wohnzimmertisch und ging pinkeln. Er schaute in den Spiegel. Seine Haare waren ein bisschen länger, als man sie im Moment trug, aber das war okay! Er hasste diese kurz geschorenen Bodybuildertypen, die sich mittlerweile auch in seiner Wache breitgemacht hatten. Er war zehn Jahre älter als die, und er wollte auch zehn Jahre älter sein. Damals hatten sie noch viel längere Haare gehabt, sie hatten noch Träume, Ziele. Sie hatten sie nicht erreicht, aber das war kein Grund, sich die Haare raspelkurz rasieren zu lassen.
Er ging in die Küche und nahm sich ein Grolsch aus dem Kühlschrank. Er ploppte die Flasche auf. Sieben Jahre noch, sieben Jahre bis zur Pensionierung, sieben Jahre, das war gar nicht so eine lange Zeit. Sein Fall würde nicht mehr kommen. Solche Fälle gab es nicht mehr. Aber warum sollte er sich darüber Gedanken machen? Er war geachtet, die Kollegen wussten, was sie an ihm hatten, die kleinen Gangster hatten eine gehörige Portion Respekt vor ihm, alles war okay. Es fehlte nur dieser eine Fall.
Das Grolsch füllte kühl und schaumig seinen Mundraum, die Flüssigkeit benetzte seine Stimmbänder, die er in den letzten vier Stunden nicht mehr benutzt hatte. Vielleicht lag es daran, dass sich seine Stimme so kratzig und unfreundlich anhörte, als er in den Hörer sprach. Das Telefon hatte genau in dem Moment geklingelt, als er die Flasche neben das Buch auf den Tisch stellte.
»Van Houvenkamp«, meldete er sich, »was um alles in der Welt ist los?«
»Ich bin’s, Annemieke. Ich weiß, es ist Samstag, und wahrscheinlich spielen gerade irgendwelche Männer im Fernsehen Fußball. Aber wir haben einen Toten!«
»Einen Toten? Lass mich raten.« Pause! Annemieke ahnte, dass er sarkastisch grinste, als er fortfuhr: »Auf einem Hausboot. Es gibt zehn Verdächtige, ihr habt den Tatort abgeriegelt. Und jetzt soll ich kommen, um den Kutter aus dem Dreck zu ziehen.«
»Nein, Mijnheer Poirot, auf Camping de Grevelinge, es gibt tausendneunhundertvierundzwanzig Verdächtige, von denen die Hälfte am nächsten Samstag wieder abreist. Und jetzt schwing deinen durchtrainierten Hintern ins Auto und komm her!«
Zwei Dinge fielen ihm auf. Erstens: Brigadier Annemieke Breukink hatte seinen Hintern zur Kenntnis genommen. Zweitens: Sieben Jahre, das war eine verdammt lange Zeit!
Endlich wieder auf Barrys Terrasse. Ich hatte vergessen, wie hier die Luft riecht. Sie riecht nach Salz und See und Sand. Unser Urlaub hatte begonnen. Endlich wieder Wohnwagen, endlich wieder Windmühlen, Grachten und den Hintern aufs Fahrrad! Vor ein paar Stunden hatte ich nicht geglaubt, dass wir es heute noch schaffen würden. Der erste Urlaubstag von Familie Lehnen läuft immer gleich ab.
Wir müssen früh aufbrechen, denn es dauert ein paar Stunden, bis wir es uns richtig gemütlich gemacht haben. Erst muss die Kaffeemaschine aufgebaut, Strom und Wasser müssen angeschlossen werden. Dann werden Nachbarn begrüßt, der Tisch wird nach draußen gestellt und Stühle drum rum. Und wenn das alles erledigt ist, fehlt noch etwas Entscheidendes: Wir müssen früh genug auf dem Campingplatz sein, damit wir noch im Hellen an den Strand können! Also nehmen wir uns stets vor, spätestens um zehn loszufahren.
Dann jedoch fehlte Tristans Angelausrüstung. Gegen elf musste Anne noch eben kurz überprüfen, ob Waschmaschine und Trockner aus waren, und als endlich alle im Auto saßen, hatte Edda die Adressen der Freundinnen nicht dabei. Die sind im Computer, aber der Drucker ist kaputt. »Papa, ich schreib die ganz schnell ab!« Gegen zwölf waren die Kaninchen noch nicht gefüttert. Und um halb eins kriegte ich Hunger.
Es war schon elf Minuten nach zwei, als wir dieses Mal endlich im Auto saßen. Anne lächelte mich von der Seite an und sagte: »Weißt du noch, vor sieben, acht Jahren, da hatten wir noch die Benjamin-Blümchen-Kassette in der Stereoanlage. Die haben wir in einem einzigen Urlaub hundertneununddreißig Mal gehört.«
Ich seufzte wehmütig. »Ja, vor sieben, acht Jahren, da hatten wir noch einen Kassettenspieler im Auto. Heute wissen Edda und Tristan nicht mal mehr, wie Kassetten aussehen.«
Tristan saß hinter mir, Edda hinter Anne. Beide konnten unser Gespräch nicht mithören, weil sie die kleinen weißen Ohrstecker ihrer MP3-Player in den Ohren hatten. Sie hören nicht mehr Benjamin Blümchen. Tristan hört am liebsten Rap: Eminem, Bushido oder Snoop Dogg. Edda steht auf Tokio Hotel.
Ich habe mir den Sänger der Band, diesen Bill, den mit den langen schwarzen Haaren und mit den schwarz geschminkten Augen, ganz genau angeschaut. Ich muss über ihn Bescheid wissen, weil es immerhin sein kann, dass er mein Schwiegersohn wird. Er weiß es noch nicht, aber Edda ist sich sehr sicher!
Ich habe mittlerweile Konzerte von Tokio Hotel, Bushido, und 50 Cent hinter mir. Falls Sie irgendwann auf die Idee kommen sollten, ein 50-Cent-Konzert besuchen zu wollen, kann ich Ihnen nur davon abraten. Der Mann steht fünfzig Minuten auf der Bühne, dann schmeißt er seine Schuhe ins Publikum und haut ab. Und er kommt nicht wieder, keine Zugabe, nix! Außerdem heißt er zwar 50 Cent, kostet aber 50 Euro. Bei Tokio Hotel ist schon mehr los. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, dass ein startender Jumbo in hundert Metern Entfernung einen Krach von hundertdreißig Dezibel verursacht. Beim Tokio-Hotel-Konzert im Palladium in Köln wurden hundertsiebenunddreißig Dezibel gemessen, noch bevor die Jungs auf der Bühne waren, nur durch das Gekreische der viertausend aufgebretzelten Weihnachtsbäume im Publikum.
Jetzt denken Sie wahrscheinlich: Na, wenn die Kinder die Musik im Auto über Kopfhörer gehört haben, dann war es ja kein Problem. Es wäre auch keins gewesen, wenn sie nur zugehört hätten. Aber beide sangen mit!
Etwas anderes hatte sich ganz eindeutig zum Positiven gewendet: Auf dem Campingplatz de Grevelinge in Walcheren wartete unser Dethleffs 560 TK auf einem Stellplatz mit sanitair privé, einem kleinen Waschhaus ganz für uns alleine, mit Dusche, mit Waschbecken, mit Toilette, einem kleinen Nasszellenbereich, den Anne mit viel Liebe und mit vielen blauweißen Accessoires in einen maritimen Wellnessbereich auf zweieinhalb Quadratmetern verwandelt hatte. Deswegen waren wir heute ohne Wohnanhänger auf den belgischen und niederländischen Autobahnen unterwegs. So mussten wir uns nicht an die Höchstgeschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern halten, die für Fahrzeuge mit Anhänger vorgesehen waren. Die allgemeine Höchstgeschwindigkeit von hundertzwanzig sollte man dennoch nicht überschreiten, wenn einem sein Urlaubsgeld lieb ist. Im Urlaub wird ja bekanntlich viel fotografiert, und die Autobahnpolizei fängt gerne damit an.
Auf der A 58 zwischen Bergen op Zoom und Vlissingen hieß die anvisierte Abfahrt 39 Middelburg, Domburg, Terneuzen. Es war wieder nicht zwölf Uhr mittags wie geplant, es war schon sechs Uhr nachmittags, als ich endlich den Blinker nach rechts setzte.
»Lasst uns gleich mit dem Wagen an den Strand fahren, sonst schaffen wir es heute gar nicht mehr«, schlug Anne vor. Edda und Tristan stimmten zu. Sie hatten tatsächlich die Kopfhörer aus den Ohren genommen, als wir über die Zugbrücke in Middelburg gefahren waren.
Der Strandparkplatz von Noordkapelle liegt fünfhundert Meter vom Deich entfernt. Ein Fußweg führt durch das Naturschutzgebiet in den Dünen bis zum Deich. Es gibt ein paar Bäume, denen man ansieht, dass hier der Wind oft von der See her weht. Die Eichen sind nicht größer als Büsche. Die Strandaster sorgt dafür, dass die Düne da bleibt, wo sie ist. Eine Fasanenfamilie hat sich anscheinend an Fußgänger gewöhnt.
Der Deich ist nicht hoch, aber er verwehrte mir trotzdem die Sicht auf die Nordsee. Ich konnte das Meer noch nicht sehen, aber ich konnte es riechen. Meine Schritte wurden langsamer, obwohl ich mir jetzt nichts sehnlicher wünschte, als das Meer zu sehen! Oben auf dem Deich blieb ich stehen und schaute auf die Wellen. Ich spürte einen Anflug von Demut. Wenn man das Meer sieht, dann merkt man endlich wieder, wie klein man selber ist, wie klein die kleinen Alltagssorgen sind. Wenn ich am Meer bin, kann die Seele baumeln.
Hier, an dieser Stelle, direkt hinter dem Deich, gehen die Deutschen noch genau sieben Meter, bis sie Sand unter ihren Füßen spüren. Dann lassen sie sich fallen. Einfach so. Deshalb sieht es hier direkt hinter dem Deich auch immer ein bisschen so aus wie in Rimini. Die Leute liegen da wie die Ölsardinen.
Wir gingen hundert Meter weiter, was der normale Deutsche ungern tut, und schon sank die Strandbevölkerungsdichte pro hundert Kubikmeter Sand um mehr als fünfzig Prozent, und noch mal hundert Meter weiter war niemand mehr da. Genau da ragt plötzlich einsam aus dem traumhaften Sandstrand ein Schild, das in etwa folgenden Inhalt transportiert: »Von diesem Schild an ostwärts darf man sich nackend ausziehen. Wenn man das nicht macht, ist es aber auch okay.« Der genaue Wortlaut ist natürlich anders. Direkt hinter diesem Schild lagen noch mal zweihundert Deutsche, diesmal nackt. Die waren halt nicht direkt hinter dem Deich umgefallen, sondern direkt hinter dem Schild, weil sie sich sonst nicht hätten nackend ausziehen dürfen, das wollten sie aber.
Sollten sie ruhig tun. Wir setzten unseren Weg fort, den Strandweg aus Holzbohlen entlang, vorbei an den kleinen Strandbuden, die man kaufen oder mieten kann, um alles darin unterzubringen, was man nicht jeden Tag an den Strand schleppen will: Grill, Windschutz, Liegestuhl.
Wir gingen vielleicht einen halben Kilometer. Unser Ziel war der Strandpaviljoen von Barry, ein Bau auf hohen Pfählen. Ja, der kann einige Winterstürme überstehen, das schafft der. Der Pavillon, meine ich. Barry selbst ist im Winter in der Schweiz und bedient Skifahrer. Qualität setzt sich halt europaweit durch.
Wir setzten uns auf die Terrasse, die manchmal gelb, manchmal blau, manchmal gar nicht gestrichen ist, je nachdem, wann Barry wieder das Geld ausgegangen ist. Nach zehn Jahren Noordkapelle weiß ich immerhin eins: Es gibt viele tolle Plätze hier, aber der tollste, das ist der weiße Plastikstuhl hinter dieser Glasscheibe, die dafür sorgt, dass mir der Wind nicht allzu viele Tränen in die Augen treibt. Dieser weiße Plastikstuhl, die Schuhe ausziehen und unter den Tisch stellen – Herz, was willst du mehr? Anne stand an der Treppe aus stabilen Holzbohlen und schaute auf den Strand. Edda und Tristan waren ans Wasser gelaufen.
Vielleicht sah ich gerade ein bisschen zu gedankenverloren aufs Meer, als Barry kam. Er stellte mir ein Bier auf den Tisch und fragte: »Was hast du?«
Ich sagte: »Urlaub.«
Piet bog in die Einfahrt von Camping de Grevelinge ein, vorsichtig, zuerst die Trommelbremse hinten ziehen, dann die Felgenbremse vorne, und auf das Schlagloch dazwischen achten.
Er kannte sich aus. Nicht dass er jemals auf die Idee gekommen wäre, zwölf Kilometer von zu Hause auf einem Campingplatz zu übernachten. Es hieß zwar, man müsse ein bisschen verrückt sein, um Polizist werden zu wollen, aber so bekloppt war er nun auch wieder nicht. Dass er den Campingplatz kannte, hatte einen anderen Grund: Er war mit Wim Verheijden zur Schule gegangen. Piet war Polizist geworden, und Wim hatte den Campingplatz seiner Eltern übernommen. Sie hatten sich nie aus den Augen verloren. Wenn sie sich nicht im verabredeten, trafen sie sich manchmal hier auf dem Platz, um noch ein Glas Bier zu trinken.
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