Mode, Mord und Meeresrauschen - Bernd Stelter - E-Book

Mode, Mord und Meeresrauschen E-Book

Bernd Stelter

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Beschreibung

Tod auf dem Laufsteg: Marc van de Velde, berühmtester Modemacher der Niederlande, bricht bei der Modenschau in Middelburg tot zusammen; sein roter Samtsmoking ist blutdurchtränkt. Das Publikum ist entsetzt, denn allen ist klar: Es war Mord! - Piet van Houvenkamp, Inspecteur der Polizei von Middelburg und nichts weniger als modeaffin, durchfährt gerade den Tunnel unter der Westerschelde und plant ein ganz besonderes Wochenende, als ihm der Anruf seiner Assistentin einen Strich durch die Rechnung macht. Er muss ermitteln! Schlimm genug - und dann kommen auch noch die deutschen Camper vom Camping de Grevelinge dazu, auf deren Unterstützung van Houvenkamp wie immer lieber verzichten würde ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumFreitag, 14. Oktober123456789Samstag, 15. Oktober10111213141516171819202122232425262728293031Sonntag, 16. Oktober32333435363738394041Montag, 17. Oktober42434445464748Dienstag, 18. Oktober495051525354555657Mittwoch, 19. Oktober5859606162636465Donnerstag, 20. Oktober666768697071727374757677787980

Über dieses Buch

Band 4 der Reihe »Holland-Krimi«

Tod auf dem Laufsteg: Marc van de Velde, berühmtester Modemacher der Niederlande, bricht bei der Modenschau in Middelburg tot zusammen; sein roter Samtsmoking ist blutdurchtränkt. Das Publikum ist entsetzt, denn allen ist klar: Es war Mord! – Piet van Houvenkamp, Inspecteur der Polizei von Middelburg und nichts weniger als modeaffin, durchfährt gerade den Tunnel unter der Westerschelde und plant ein ganz besonderes Wochenende, als ihm der Anruf seiner Assistentin einen Strich durch die Rechnung macht. Er muss ermitteln! Schlimm genug – und dann kommen auch noch die deutschen Camper vom Camping de Grevelinge dazu, auf deren Unterstützung van Houvenkamp wie immer lieber verzichten würde …

Über den Autor

Bernd Stelter, Jahrgang 1961, ist einer der bekanntesten deutschen Kabarettisten. Zehn Jahre lang war er Teil der 7 Köpfe auf RTL, ebenso lang moderierte er die beliebte WDR-Spielshow NRWDuell. Außerdem tourt er mit seinen Kabarettprogrammen durch Deutschland. Für Bastei Lübbe schrieb er mehrere Sachbücher und Romane, u. a. seine Camping-Krimis »Der Tod hat eine Anhängerkupplung« und »Der Killer kommt auf leisen Klompen«. Bernd Stelter lebt mit seiner Frau in der Nähe von Köln, ist aber so oft wie möglich in Holland und liebt Camping.

BERND STELTER

M O D E ,

M O R D U N D

M E E R E S -

R A U S C H E N

CAMPING-KRIMI

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2024 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München unter Verwendung von Illustrationen von © Finepic®, München und © Jens van Zoest

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-5513-9

luebbe.de

lesejury.de

FREITAG, 14. OKTOBER

1

Schwarzgrau erfüllte die Dunkelheit das Firmament über Middelburg, dichte Regenwolken zogen ohne Unterlass über den Abendhimmel bis hin zum Horizont. Die brennenden Pechfackeln in den ehernen Halterungen mühten sich gegen prasselnde Tropfen, die der Nordwind an die Fassade des Klosters warf. Sie legten ein diffuses Licht auf das sorgsam verlegte Pflaster vor der Abtei Onze lieve Vrouw. Es war so finster, die Spitze des Kirchturms, von den Bürgern liebevoll »Langer Jan« genannt, war nur noch zu erahnen.

Zwei in edles Tuch gewandete Frauen schritten über einen aus Flachs gewebten karmesinroten Teppich zum Eingangsportal der Koorkerk, diesem Langhaus von sechs Jochen, dem nach dem Brand von 1568 ein wunderschönes Netzgewölbe aufgesetzt worden war.

Eine der beiden Frauen lüftete ihre Kapuze, als sie in die Kirche traten, sodann sprach sie zu ihrer Kumpanin: »Verdammtes Scheißwetter heute Abend. Wir hätten echt einen Schirm mitnehmen sollen.«

Die beiden erreichten einen Counter, an dem zwei offensichtlich sorgsam gecastete Hostessen in altrosafarbenen Kostümen sie erwarteten. »Ihre Einladungen, bitte!«

Jutta kramte aus ihrer Handtasche einen Briefumschlag, reichte ihn der linken der beiden Damen und erklärte: »Ich habe die zwei Karten für die Modenschau beim Preisausschreiben des Magazins Zeeland gewonnen. Die Preisfrage lautete: ›Welches Verkehrsmittel findet man häufiger auf der Halbinsel Walcheren, Pferdekutsche oder Fahrrad?‹. Und das hab ich gewusst, wissen Sie …«

»Ja, ich weiß«, sagte die hübsche Hostess und übergab Jutta zwei Eintrittskarten und ein Programmheft, dessen Cover von einem zauberhaften Model in zeeländischer Tracht geziert wurde. Die Grundfarbe des langen Kleides war allerdings nicht schwarz, wie man es von solchen Trachten kannte, sondern zitronengelb, und die Dame trug stolz das zitronengelbe Tuch nur auf der linken Körperhälfte, rechts war sie nackt, aber ebenfalls stolz.

»Sie sitzen als VIP-Gewinner ganz vorn in der ersten Reihe.« Man hätte der Hostess ansehen können, dass sie sich fragte, warum man Gewinner eines Preisausschreibens nicht auch ganz nach hinten hätte setzen können. Man hätte es sehen können, wenn es einen interessiert hätte. Es interessierte Jutta und Anne nicht die Bohne.

Anne blätterte in dem Programmheft, und Jutta sagte: »Dieser Marc van de Velde hat schon Kleider für Königin Maxima entworfen. Also, die Maxima finde ich ja wirklich toll. Die stammt ursprünglich aus Argentinien, und die hieß mit Nachnamen Cerruti, wie dieser Modeschöpfer aus Italien.«

Anne fragte verblüfft: »Mensch, Jutta, woher weißt du das?«

»Friseur!«, antwortete Jutta beiläufig.

Plötzlich kam links von den beiden Unruhe auf. Menschen standen auf, um einem spät eintreffenden Paar den Weg zu ihren Sitzen zu ermöglichen. Auch Anne und Jutta standen auf und traten dicht an ihren Stuhl, damit die beiden passieren konnten. Ein gut aussehender Mann, der einen gewissen Reichtum weder verbergen konnte noch wollte, folgte einer schlanken kurzhaarigen Frau in einem knielangen dunkelblauem Kleid mit weißer Bordüre am Halsausschnitt. Sie lächelte den beiden Frauen zu, als sie an ihnen vorbei ihren Platz aufsuchte. »Danke!«

»Das war doch …«, flüsterte Jutta.

»Ja, das war Annemieke Breukink, die Assistentin von Piet van Houvenkamp!«, bestätigte Anne.

Jutta nickte. »Richtig, die Assistentin von diesem Kommissar!«

»Inspecteur«, korrigierte Anne, und Jutta sagte: »Klar, Inspecteur, der ist ja nicht im Fernsehen.«

Kaum hatten sich die beiden wieder gesetzt, wurde das Licht gelöscht, und der verzerrte Klang einer elektrischen Gitarre ließ das altehrwürdige Gemäuer erbeben. Mit einem plötzlichen Zischen wurden Nebelschwaden in den Saal geschossen. Farbige Scheinwerfer und bewegte Spots zuckten im Rhythmus der Gitarre und im durchdringenden Beat eines Drumcomputers über den nebelverhangenen Catwalk. Das Schlagzeug erstarb, die Gitarre verstummte, nun war ein Streichquartett zu vernehmen, und in großen orangefarbenen Buchstaben erschien langsam ein Name in der Nebelwand:

VANDEVELDE

Wieder überschlug sich das Schlagzeug, die verzerrte Gitarre gab alles, von Geige und Violoncello war nichts mehr zu hören, ein fulminantes Crescendo ertönte, das Licht erlosch erneut. Drei Sekunden lang war es völlig still, dann erklang aus den Lautsprechern eine wohlklingende Männerstimme, die völlig unaufgeregt sagte: »Ladies and Gentlemen, the Festival ›Middelburg Couture‹ presents ›The art and the œuvre of Marc van de Velde‹.«

»Wow!« Jutta hatte Tränen in den Augen. »Das war ja so ergreifend!«

Tosender Applaus, das Publikum hätte Zeit gebraucht, um sich von diesem Feuerwerk aus Licht und Musik zu erholen, aber diese Zeit gönnte man ihm nicht. Es war zunächst leise eine einzelne Geige zu hören und noch einmal die sonore Stimme. Sie sagte nur zwei Worte: »La primavera, spring«. Die Geige intonierte den Frühlingssatz aus Vivaldis Vier Jahreszeiten. An der Stelle, an der das Thema im klassischen Original piano wiederholt wird, spielte die verzerrte Gitarre eine zweite Stimme.

Ein Model in einem kurzen geblümten Kleid trat auf den Catwalk. Aufgesetzte Blüten zierten oberhalb der Taille den Körper des Mannequins mit feuerrotem Haarschopf, doch einem Rinnsal gleich, das die Blüten zur Seite gespült hatte, war vom Hals ein geschwungener Weg bis zum Bauchnabel blütenfrei. Eine grüne Schleife war um die Hüfte drapiert, der Rock wie ein Petticoat gebauscht, und ließ Platz für unglaublich lange Beine, die sehr knapp unter dem Rock begannen und doch bis zum Boden reichten.

Sechs Models zeigten frühlingshafte Modelle. Jedes Mal, wenn ein neues Kleid über den Laufsteg geführt wurde, ging ein Raunen, ein »Ah«, ein »Oh« durch die Menge.

Und jedes Mal fragte Jutta: »Wer kann denn so was tragen?«

Anne deutete mit dem Kopf zu der Polizistin. »Sie, aber sie würde es nicht tun!«

Die Streicher wechselten in eine getragene Melodie einer Moll-Tonart, und weil sich unter die Gästeschar sicher einige gemischt hatten, die der Klangsprache des Antonio Vivaldi nicht mächtig waren, ertönte auch wieder der wohlklingende männliche Bariton, der nun sagte: »L’estate, summer«.

Sommer war das Thema der nächsten Entwürfe. Die erste Kreation war ein sehr kurzes dunkelrosafarbenes Kleid mit Schleifen und Schmetterlingen, das Oberteil war korsettartig geschnitten. Es wurde von einer zierlichen Frau mit rosafarbenen Haaren getragen. Das Kleid war trägerlos und entblößte eine schlanke Schulterpartie.

Jutta sagte wieder: »Das kann doch keiner tragen!«

»Das ist ja auch nur die Haute Couture! Das sind ein paar handgenähte Kleider für ein paar handverlesene sehr reiche Damen.«

Jutta war sich nicht sicher. »Und wovon lebt der dann?«

»Von dem Parfüm, das seinen Namen trägt, oder von T-Shirts, die er bei Aldi verkauft, was weiß denn ich?«

Weitere Models schwebten über den Laufsteg. Sie staksten gemessenen Schrittes hinter den Vorhang, um dahinter mit hoher Wahrscheinlichkeit sofort in den Laufschritt zu verfallen, denn nach wenigen Minuten würde die Stimme »L’autunno, autumn« sagen, und dann müssten sie in einer Herbstkreation über den Catwalk stolzieren.

Der Höhepunkt von L’inverno, winter war ein dunkelblaues Kleid mit silbernen Sternen. Erst bei genauem Hinsehen erkannte man, dass es keine Sterne waren, es waren die zeeländischen Knöpfe, mit denen früher die männlichen Trachten geschlossen wurden. Später besaßen auch Frauenkleider diesen Knopf, heute ist er das Symbol einer ganzen Region. Der zeeuwse Knop trägt in der Mitte eine Perle, um die herum sich in mehreren Ringen kleinere Perlen gruppieren. Viele erinnert der Knopf an die Blüte der Astrantia major, der Sterndolde.

Das tiefe Dunkelblau des Kleides kontrastierte wunderbar mit dem sehr hellen Teint der fast weißblonden Trägerin. Die Knöpfe auf dem nachtblauen Kleid waren goldfarben, doch statt der Perlen waren Strasssteine eingesetzt. Im Scheinwerferlicht trug die schöne Frau vom Hals abwärts den Sternenhimmel über Zeeland. Es war ein Glitzern und Leuchten.

Anne musste an diese besondere Augustnacht vor einigen Jahren denken. Sie lag neben Bernhard vor Barrys Strandpavillon in einem der antiquierten Liegestühle, die beiden schauten in den Abendhimmel. In der Zeitung hatte gestanden, dass viele Sternschnuppen zu sehen sein würden. Ein Meteorstrom, den sie »Laurentiustränen« nannten, sei in dieser Augustnacht zu sehen. Die Sternschnuppen jagten über den Himmel, und er hatte gefragt: »Hast du dir etwas gewünscht?«

»Ja, aber wenn ich es dir sage, geht der Wunsch ja nicht mehr in Erfüllung …«

Jetzt war die weißblonde Schönheit mit dem sehr hellen Teint vom Hals abwärts in den Sternenhimmel über Zeeland getaucht. In das Haar hatte man ihr einen langen Schleier aus dunkelblauer Spitze eingeflochten, wie man ihn normalerweise nur bei Hochzeiten und nur bei Hochzeiten von reichen Adeligen und nur bei Hochzeiten von reichen Adeligen, die im Fernsehen übertragen werden, gebrauchen konnte.

Die Heiratswilligen im Publikum sollten hier aber noch nicht so genau hinsehen, denn der Höhepunkt der Show war das noch nicht. Das Violinkonzert Die vier Jahreszeiten war verklungen. Das Licht erlosch nicht ganz. Das Publikum dachte wohl eine Sekunde lang darüber nach, ob das schon der Moment für den fulminanten Schlussapplaus wäre, als die Ouvertüre von Mozarts Die Hochzeit des Figaro erklang. Ein Verfolgerscheinwerfer legte einen Lichtkreis auf den roten Samtvorhang. Er öffnete sich einen kleinen Spalt, und die sonore Stimme sagte: »Meine Damen und Herren, empfangen Sie die Braut!«

Tosender Applaus, frenetischer Jubel brandete auf, als Elani de Boer, das niederländische Topmodel durch den roten Vorhang trat. Sie trug einen Traum von Hochzeitskleid. Es war schneeweiß und hatte ein Schalrevers aus geblümter Spitze, das um das Dekolleté drapiert war. Das Kleid erinnerte wiederum an eine zeeländische Tracht, nur dieses Mal in blütenweiß. So trug die Braut auch einen weißen Schleier, er wurde an den Schläfen durch zwei »Ohreisen« gehalten. Im sechzehnten Jahrhundert waren diese verzierten Hutnadeln noch aus Eisen, was ihnen den Namen gab. Später wurden sie zu Prunkstücken aus Kupfer, Silber oder Gold.

Elani war eine grazile Frau mit einer Haut wie Ebenholz, das weiße Kleid und die Farbe ihres Teints, das Gold des Kopfschmucks, der Spitzenschal und ihre natürliche Eleganz ergaben ein Ganzes, das im Publikum ein atemloses Staunen hervorrief. Es wurde still in der alten Abtei, bis die Braut wieder an dem dunkelroten Samtvorhang angelangt war, durch den sie den Catwalk betreten hatte. Noch einmal drehte sie sich zum Publikum um und tat etwas, das kein Model vor ihr getan hatte: Sie lächelte … und sie streckte den rechten Arm aus.

Die Baritonstimme sprach: »Marc van de Velde, in guten wie in schlechten Zeiten, möchten Sie die hier anwesende Elani de Boer als Ihre Braut erwählen, so antworten Sie mit ›Ja‹.«

Aus dem Publikum erscholl ein hundertfaches »Ja!«. Alle Augen waren auf den Samtvorhang gerichtet, und der Modedesigner trat ins Rampenlicht, im dunkelroten Smoking mit Weste und schwarzer Fliege. Er stand da und ergriff die Hand der Braut, mit der anderen Hand fasste er nach dem Schal des Vorhangs. Er versuchte zu lächeln, dann riss oben der Vorhang aus seiner Halterung. Marc van de Velde stürzte nach vorn. Hysterische Schreie waren aus dem Publikum zu hören. Er schrie nicht, er fiel, der Vorhang bedeckte seinen Unterkörper, die berühmte schwarze sechseckige Brille glitt ihm von der Nase und rutschte über den Laufsteg. Die Farbe der Stores und die Farbe des Smokings waren beinahe identisch. Die Farbe des Blutes, das in ungeheuren Mengen das Rückenteil des Jacketts durchtränkte, war eine Nuance dunkler.

Elani beugte sich über ihn, versuchte, ihn umzudrehen. Es war nicht möglich, denn der Grund, warum so viel Blut aus Marc van de Velde sickerte, war die große Schneiderschere, die ihm jemand bis fast zum Scharnier in den Rücken gestoßen hatte.

2

Das Herbstwetter an der Nordsee wird gern als »unwirtlich« bezeichnet, was »nicht einladend« bedeutet oder »dem Wohlbefinden nicht zuträglich«. Wenn das zutrifft, ist die Verwendung dieses Wortes im Zusammenhang mit Oktober- oder Novemberwochen auf der Halbinsel Walcheren gänzlich unangebracht. Der Herbstwind über den abgeernteten Maisfeldern, der Nebel über dem Eichenwäldchen im Naturschutzgebiet De Manteling, der Sturm, der die Nordsee in Noordkapelle den Sandstrand überspülen lässt, diese See, die erst wenige Meter vor dem »Strandpaviljoen De Zeerover« vorerst kapituliert, all das lädt die Menschen ein, ans Meer zu gehen, zu sehen, was Natur ist, zu erfahren, wie klein der Mensch ist. Und wenn der Mensch so klein ist, sind auch seine Probleme überschaubar, genau genommen gibt es nichts, was man nicht mit einem guten Freund und einem guten Abteibier aus dem Weg räumen könnte. Diese Erkenntnis wiederum ist dem Wohlbefinden ausgesprochen zuträglich.

Nur an diesem Tage war das nicht der Fall. Draußen goss es in Strömen. Wir hatten uns im »Zeerover« einen Fensterplatz gesucht, von dem aus man Regen und die Nordsee genießen konnte.

»Nehmen wir noch eins?«, fragte Detlef, als er das ausgetrunkene Glas auf den Tisch stellte. »Wenn wir nur noch eins nehmen würden, wäre ich aber schwer enttäuscht.«

Robert, der seit Anbeginn der Zeit in dem Strandpavillon bediente, gesellte sich an unseren Tisch. Robert rauchte schon seit Jahren nicht mehr, aber er nahm die Pfeife nicht aus dem Mund, schließlich sprach er auch mit Pfeife zwischen den Zähnen exzellentes Deutsch, das er für akzentfrei hielt, und das selbst Rudi Carrell als »Genuschel« bezeichnet hätte. Sei’s drum, er hielt ein Tablett mit zwei weiteren Grimbergen in der Hand.

»Und eure Frauen sind jetzt bei ›Middelburg Couture‹ in der alten Abtei?«

Ich nahm das Glas dankbar entgegen. »Ja, im Preisausschreiben gewonnen!«

Robert schüttelte den Kopf. »Das gibt’s doch nicht. Die Eintrittskarten werden für horrendes Geld auf dem Schwarzmarkt gehandelt, so begehrt sind die, und eure Frauen gewinnen die im Preisausschreiben.«

»Das Schöne ist ja, dass diese Kleider so teuer sind, dass man sich für den Gegenwert einen Wohnwagen kaufen könnte«, bemerkte Detlef, »und ich bin sehr, sehr sicher, Jutta hätte lieber einen neuen Wohnwagen.«

»Das bedeutet, wenn eure Frauen in Middelburg auf der Modenschau sind, könnt ihr in Ruhe einen trinken, und die Mädels geben keinen Cent aus«, sagte Robert. »Prost, Jungs.«

Detlef erhob sein Glas, ich tat es ihm gleich.

Robert war schon auf dem Weg in Richtung Tresen, als er sich noch einmal umwandte. »Oder auf der Modenschau wird einer erschossen oder erhängt oder ertränkt, und ihr müsst wieder den kompletten Urlaub in den Wind schießen … ihr seid doch die fünf deutschen Privatdetektive.«

Robert konnte sich kaum noch halten vor Lachen, Detlef und ich fanden die Geschichte nicht so lustig.

Na ja, wir hatten mittlerweile unseren Ruf. Wir hatten den Inspecteur van Houvenkamp schon sehr tatkräftig bei der Arbeit unterstützt. Bei unserem letzten Fall, als der Muschelfischer Jacobus Schouten aus Yerseke unter dem Pier in Westkapelle tot aufgefunden worden war, hat sich der Inspecteur beim Grillen auf dem Campingplatz ausdrücklich bei uns bedankt.

Aber jetzt waren Herbstferien, Walcheren war so friedlich, wie sich das für den schönsten niederländischen Küstenstreifen der Welt gehört. Wir saßen mit einem wunderbaren Grimbergen, diesem fast süßen, fast würzigen, fast dunklen, beinahe hellen, aber sicher braunen Abteibier mit sechseinhalb Volumenprozent Alkohol am Tisch und genossen die friedliche Stimmung. Keiner verdächtig, niemand ertrunken, niemand tot, als mein Telefon klingelte. Ich holte das Smartphone aus der Jackentasche, tippte auf das grüne Telefon und lauschte Annes Stimme.

Vielleicht war ich blass geworden, vielleicht sah man mir keine Reaktion an, ich weiß es nicht.

Detlef stellte grinsend sein Glas ab. »Sag nichts, ich weiß Bescheid. Der Modeschöpfer wurde mit einer Schneiderschere erstochen!« Er wollte sich ausschütten vor Lachen.

Ich sah ihn verblüfft an. »Woher weißt du das?«

3

Kreischende Models, zwei davon nur in Unterwäsche, waren auf den Laufsteg gerannt. Elani stand auf, Tränen, schwarz von der Wimperntusche, rannen über ihre Wangen. Ihr weißes Hochzeitskleid wies nun große Blutflecke auf der Brust und im Taillenbereich auf. Blitzlichtgewitter durchzuckte den Raum.

»Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!« Das war sicher korrekt.

Henk ten Dracht hatte in Gent und Leiden Medizin studiert, war in Harvard promoviert worden, und hatte als Professor an der Radboud Universiteit in Nimwegen molekulare Lebenswissenschaften gelehrt, bevor er sich entschloss, das Leben der Lebenden hinter sich zu lassen und sich fortan in Middelburg mit Toten zu beschäftigen.

Annemieke stand bereits auf dem Catwalk. Sie benötigte kein Mikrofon, um sich Gehör zu verschaffen. »Meine Damen und Herren, mein Name ist Annemieke Breukink, ich bin Brigadier der Polizei von Middelburg. Bleiben Sie bitte auf Ihren Plätzen, verlassen Sie nicht diesen Raum.«

Ein Mann in schwarzem Smoking und roter Fliege riss am Arm seiner in keckem Orange gekleideten Begleiterin und rief: »Ich glaub wohl, ich spinne! Ich gehe hin, wo ich will!« Er stand auf und wollte gehen.

»Was ich da eben gesagt habe, war keine Meinungsäußerung, Mijnheer, das war eine behördliche Anordnung. Sie setzen sich jetzt sofort wieder auf Ihren Stuhl, oder ich nehme Sie fest, und wir diskutieren das morgen Vormittag auf dem Präsidium. Wo Sie sich bis dahin aufhalten, können Sie sich in Ruhe überlegen, Sie haben ja Zeit.«

Sichtbar widerwillig nahm der Mann wieder Platz.

Annemieke hatte schon ihr Handy am Ohr, und nun sprach sie wieder leise: »Remco, ich bin in der alten Abtei, und ich glaube …? Ja, bei der Modenschau, und auf den Designer Marc van de Velde ist gerade ein Anschlag verübt worden … Weiß ich nicht, Henk untersucht ihn gerade. Wir brauchen eine Menge Leute, wir kommen mit unserem Personal nicht aus. Wir müssen die Abtei sichern und Leute befragen. Und vor allem brauche ich …« Sie schaute zu Henk ten Dracht, dem Patholoog Anatoom, der schüttelte nur stumm den Kopf, und Annemieke ergänzte: »Du kannst auch gleich der Spurensicherung Bescheid sagen, wir brauchen Thijs, und vor allem brauche ich euch hier sofort …!« Sie holte tief Luft. »Ist schon hier«, erwiderte sie auf Remcos Frage nach ten Dracht.

Annemieke hatte weder Zeit noch Muße, sich auszumalen, was Agent Remco Jonker nach ihrer Antwort dachte, und sie wollte ihm auch gar keine Möglichkeit zur Replik bieten, daher sagte sie rasch: »Piet rufe ich selbst an!«

4

Piet van Houvenkamp steuerte seinen ungeliebten schwarzen Land Rover Defender auf der N 62 in Richtung des Westerscheldetunnels, jenes mit einer Länge von 6,6 Kilometern längsten Straßentunnels der Niederlande. Er verbindet unterhalb der Westerschelde die Orte Ellewoutsdijk und Terneuzen, oder genauer gesagt, er verbindet die Halbinsel Walcheren mit dem auf dem Festland gelegenen Zeeuws-Vlaanderen.

Der Tunnel war zwar schon 2003 eingeweiht worden, aber erst jetzt verstand Piet die besondere Bedeutung dieses Bauwerks für ihn selbst, denn er hatte die zarten Bande zu Isabelle ein kleines bisschen verstärkt, sein großes Glück.

Er kannte Isabelle seit der Schulzeit. Mit sechzehn war er total in sie verknallt gewesen, so nannte man das damals, aber sie wollte einen anderen. Sie hatten sich nie ganz aus den Augen verloren. Er lächelte. Im letzten Jahr hatten sie sich auf dem Pier in Westkapelle geküsst.

Mit Isabelle konnte er wortlos am Strand entlanggehen, stundenlang. Auch wenn sie schwieg, war sie so wunderbar lebendig. Sie waren sich immer wieder begegnet. Jedes Mal war es ein bisschen tiefer gegangen. Und jetzt könnte es mehr werden. Das war nicht nur möglich, sondern vielleicht sogar wahrscheinlich. Isabelle hatte ihn nach Breskens eingeladen, auf zwei Flaschen Wein, wie sie gesagt hatte, und nach zwei Flaschen Wein könnte er nicht mehr nach Hause fahren. Piet war verliebt wie ein sechzehnjähriger Teenager, aber mit sechzehn war man cool. Mit sechzig war er fürchterlich nervös. Er hatte ein Rendezvous!

Was für ein altmodisches Wort, dachte Piet, aber in diesem Fall passte es. Wenn ein Mann seines Alters mit einigem Herzklopfen zu einem Besuch bei einer Frau fuhr, dann war das kein Date oder Meeting oder eine Verabredung, es war … ein Rendezvous. Er würde die Nacht bei Isabelle verbringen, wenn sie ihn nicht in einem Hotel eingebucht hatte – und das hatte sie nicht, da war er sich sicher.

Er hätte natürlich auch den geliebten 1968er Landrover nehmen können, und er hätte es bestimmt getan, aber der alte Wagen hatte natürlich kein Navi, und Piet kannte sich zwar perfekt auf der Halbinsel Walcheren aus, aber Zeeuws-Vlaanderen? Es gab überhaupt nur einen Grund, da hinzufahren, Isabelle. Aber sonst? Er war vorher sehr selten, also ganz besonders selten, also genau betrachtet, noch nie da hingefahren. Da konnte so ein Navi ja nicht schaden.

Jetzt sah er schon die Bezahlstation. Es gab acht Spuren, für Lkw, für Pkw, für Fahrer mit Kreditkarten, für Abonnenten, und es gab tatsächlich noch eine Spur, in der man noch bar bei einem Menschen bezahlen konnte. Piet zahlte die geforderten fünf Euro, und der Defender nahm wieder Tempo auf. Dieses Auto hatte nicht nur ein Navi, es verfügte auch über eine Bluetooth-Schnittstelle, die Piets Handy mit dem Soundsystem des Fahrzeugs verband.

Solche Handys kann man natürlich in den Flugmodus schalten, vielleicht sollte man das sogar tun, wenn man auf dem Weg zu einem Rendezvous ist. Weil Piet sich aber nur mit Mühe daran erinnern konnte, was der Flugmodus ist, hatte er das natürlich nicht getan. Erster Fehler. Kurz vor dem Erreichen des Scheldetunnels klingelte sein Handy via Bluetooth-Schnittstelle aus der Lautsprecheranlage des schwarzen Ungetüms, und dann war da im Lenkrad eine Taste mit einem Telefon, und instinktiv drückte Piet darauf. Zweiter Fehler. Kein Flugmodus, Gespräch angenommen.

Das Ergebnis war die dezente Altstimme von Annemieke Breukink aus der Hi-Fi-Anlage des Fahrzeugs, und Annemieke sagte: »Ich brauche dich unbedingt in der alten … Henk meint, da ist nix mehr … liegt da, dieser Marc van de …!«

Piet fühlte sich stark an diese Leerdammer-Reklame aus den 80ern erinnert. Ein wahnsinnig lustiger Sprecher versuchte, über das Radio zu erklären, was das Besondere am Leerdammer ist, und er tat das mit den Worten: »Käse – Loch – Käse – Loch – Loch – Käse – Käse – Loch – Loch – Käse usw.« Diese Reklame lief damals im Radio so lange rauf und runter, bis Piet sich entschloss, nie wieder diesen Käse zu konsumieren.

Aber was hatte dieses »Annemieke – Loch – Annemieke – Loch – Loch – Annemieke« zu bedeuten? Er war jetzt im Westerscheldetunnel. Der Telefonkontakt zu seiner Assistentin war scheinbar vollends zum Erliegen gekommen.

Er ließ Annemiekes Wortfetzen noch einmal Revue passieren. Manch jüngerer Kollege hätte nun auf seine Festplatte zugegriffen, aber Piets Kurzzeitgedächtnis war noch ein Kassettenrekorder. Er spulte zurück. »Ich brauche dich unbedingt in der alten …« Okay, sie brauchte ihn, aber warum? »Henk meint, da ist nix mehr …!« Das hieß wohl nicht, dass nix mehr mit Henk wäre, damit könnte er ganz gut …, und dann: »… liegt da, dieser Marc van de …!« Natürlich! Marc van de …, da geht es um Marc van de Velde, der hatte heute in Middelburg diese Modekiste in der alten … was hatte Annemieke gesagt? »Ich brauche dich unbedingt in der alten …«! In der alten Abtei, da brauchte sie ihn, denn »… da liegt Marc van de …, also Marc van de Velde und »Henk meint, da ist nix mehr …« zu machen!

Scheiße!

Der Tunnel hat eine Gesamtlänge von 6,6 Kilometern. Er hatte erst ein paar Hundert Meter zurückgelegt, also blieben ihm vielleicht noch fünfeinhalb Kilometer, um zu reagieren. Er überlegte. Er könnte die Geschwindigkeit drosseln, um mehr Zeit zu gewinnen, aber dann würden die Autofahrer hinter ihm sehr böse, das wäre auch verständlich. Schließlich kannte er den Unterschied zwischen einer Autoschlange und einer Schlange im Tierreich. Bei der Autoschlange ist das Arschloch vorne.

Er könnte sein Versäumnis nachholen und das Handy, das aussieht wie eine Kachel, in den Flugmodus schalten. Aber erstens war er sich nicht sicher, wie das ging, und zweitens soll man beim Fahren nicht am Handy rumfummeln. Okay, er könnte auch mittels elektrischem Fensterheber das Fenster der Fahrertür des schwarzen Boliden herunterlassen und das Handy mit einem eleganten Rückhand Slice gegen die Tunnelwand krachen lassen, das wäre schließlich auch eine Art Flugmodus. Er könnte das nächste Klingeln einfach ignorieren …

Isabelle erwartete ihn in Breskens. Vielleicht hatte sie einen Prosecco kalt gestellt oder vielleicht sogar einen Champagner, oder weil sie ihn so genau kannte, einfach ein Heineken oder ein Grimbergen. Vielleicht hatte sie ein Bad genommen und sich ein bisschen schön gemacht. Sie hatte hübsche Sachen angezogen. Vielleicht war sie dezent geschminkt.

Eine Gänsehaut zog sich von Piets Unterarmen über die Schultern bis an genau die Stelle zwischen den Schulterblättern, wo man sich nicht mehr kratzen konnte. Sie würde so schön sein, und sie würde so schön sein für ihn.

Annemieke stand jetzt in der Abtei, vielleicht war ein Mord geschehen, und möglicherweise hielt sich der Mörder noch in dem alten Gemäuer auf. Annemieke war gut, sie war sehr gut, aber sie hatte gesagt, sie brauche ihn: »Ich brauche dich unbedingt in der alten …« Sie brauchte ihn unbedingt.

Aber Isabelle hatte ihn auf zwei Flaschen Wein eingeladen. Nach zwei Flaschen könnte er nicht mehr Auto fahren. Vielleicht würde er sie in ein paar Stunden im Arm halten, nachdem sie die schönen Sachen ausgezogen hatte, die sie für diesen Abend ausgesucht hatte, für den Abend, nicht für die Nacht, vielleicht.

Und da war Licht am Ende des Tunnels. Das war allerdings keine Metapher für eine Lösungsmöglichkeit, die Piet in diesem Moment einfiel. Es war eine Beschreibung des Helligkeitsgrades in der Unterführung. Die Straße würde in wenigen Sekunden aus dem Tunnel herausführen. Aus der Lautsprecheranlage des schwarzen Land Rover Defender war wieder der Ton für einen eingehenden Anruf zu vernehmen. Piet reagierte nicht. Er drückte nicht auf den Knopf mit dem Telefonhörer im Lenkrad. Er fuhr weiter.

Er fuhr weiter, und als er das Schild sah, das die Ausfahrt Hoek, Terneuzen in fünfhundert Metern ankündigte, drückte er den Blinkerhebel nach oben. Er verließ die N 62, um den nächsten Kreisverkehr an der ersten Ausfahrt schon wieder zu verlassen und der Beschilderung nach Middelburg zu folgen.

Der Defender hatte ein Navigationssystem, er hatte eine Bluetooth-Schnittstelle, und er hatte Power. Als Piet von der Auffahrt direkt auf die linke Spur der N 62 wechselte, um den schnarchenden Fahrer eines Caravangespanns zu überholen, zeigte die Tachonadel schon klar mehr als die 100 km/h, die auf dieser Straße erlaubt waren. Es war einer der wenigen Momente am Steuer dieses Fahrzeugs, an dem er sich nicht in sein altes 68er-Land-Rover-Ersatzteillager zurücksehnte.

5

Jutta schrie. Der Mann fiel, und Jutta schrie: »Das ist Marc van de Velde!«

Anne sagte leise, fast flüsternd: »Ich weiß!«

»Der ist einfach umgefallen!«

»Ich hab’s gesehen!«

Dann sahen beide die große Schneiderschere, die in van de Veldes Rücken steckte. Jutta schrie wieder, was sonst.

Anne legte ihr den Arm um die Schultern. Sie sahen die Polizistin, die auf den Laufsteg getreten war. Sie sagte etwas, das sie kaum wahrnahmen. Sie sollten sich hinsetzen. Das hatten sie bereits getan. Was sagte sie noch? Sie dürften den Raum nicht verlassen. Warum nicht? Sie hatten doch nichts anderes gesehen als die Polizistin auch.

Auf dem Catwalk tummelten sich jetzt Menschen. Sie schrien, sie taumelten, eine Person lag auf den Knien, ein dünnes Model, nur mit Slip und BH bekleidet, warf immer wieder die Hände in die Luft und rief irgendwas in einer Sprache, die vielleicht spanisch war. Anne konnte sie nicht identifizieren.

Ein Mann drängelte sich an ihnen vorbei und zischte: »Haben Sie nicht gehört, wir sollen auf unseren Plätzen bleiben.«

Jutta schrie erneut. Sie krallte ihre Hände in Annes Arm. »Er ist tot«, stammelte sie. »Hör doch, er ist tot!«

Anne wandte sich wieder an die Freundin. »Warte ab, der Mann hat doch gesagt, er sei Arzt.«

»Ja«, sagte Jutta, »aber der hat gerade zu der Frau Breukink geguckt, und da hat er den Kopf geschüttelt.«

Anne hatte es gesehen. Der Begleiter von Frau Breukink hatte der Polizistin ein Zeichen gegeben. Er hatte van de Velde berührt, dann hatte er den Kopf geschüttelt und war aufgestanden. Anne hatte ihr Handy aus der Handtasche gezogen. Sie versuchte, Bernhard zu erreichen.

Draußen vor der Abtei waren Polizeisirenen zu hören, gefühlte Sekunden später betraten uniformierte Männer den Saal. Anne konnte ihre Gedanken nicht ordnen. Die Stimmen drangen nur noch verzerrt zu ihr, zu viele Eindrücke in zu kurzer Zeit. Halb bekleidete Models wurden des Laufstegs verwiesen. Menschen weinten, andere riefen durcheinander. Leute in weißen Overalls erschienen auf der Szene, mehr Menschen in dunkelblauer Uniform mit neongelbem Besatz, der reflektierte, wenn wieder Blitzlichter den Saal erhellten, was kaum noch möglich war, denn die Dunkelheit, die noch während der Show im Saal geherrscht hatte, war dem gleißenden Licht der vollen Saalbeleuchtung gewichen. Es musste laut gewesen sein in dem großen Saal der Abtei, aber Anne vernahm nur eine seltsam gedämpfte Kakofonie von Stimmen und Geräuschen, so als würde vor ihrem Schlafzimmerfenster die Straße aufgerissen, aber sie hätte Ohrstöpsel getragen, um einschlafen zu können.

Sie konnte nicht einschlafen, denn Jutta krallte sich wieder in ihren Oberarm. »Ich will nach Hause, ich will sofort nach Hause!«, keuchte sie.

Anne hatte es verstanden, aber sie konnte nicht antworten, sie konnte sie nicht beruhigen. Sie hatte Ohrstöpsel im Hirn.

6

Am liebsten wäre er einfach feige gewesen. Wenn er sie nicht anrufen würde, könnte er ja morgen sagen, da wäre ein Mordfall dazwischengekommen, und ein Mordfall wäre halt ein Mordfall …! Nein, könnte er nicht. Eigentlich wusste er das auch. Sie würde sagen, er hätte doch frei gehabt. Annemieke war ja vor Ort. Annemieke war seit Jahren seine Assistentin, und er vertraute ihr. Sie würde in ein paar Jahren seinen Job übernehmen, und sie könnte das. Genau diese Annemieke hatte ihn angerufen.

»Ich brauche dich hier«, hatte sie gesagt. Nein! »Ich brauche dich unbedingt!« Das hatte sie gesagt. Ob er Isabelle das erklären könnte? Nein, er musste handeln, er musste schnell sein, er hatte überhaupt keine Zeit, Isabelle anzurufen.

Aber der liebe Gott kalkulierte auch die Möglichkeit ein, dass Piet die Notwendigkeit des Anrufs bei Isabelle zwar einsah, aber wegen der Hektik der beruflichen Herausforderung, quasi aus Versehen, den notwendigen Anruf versäumen musste oder zumindest diese Hektik als Argumentation für dieses Versäumnis ins Feld führen könnte. Um ihm diese Chance zu verwehren, schickte der Allmächtige zur abendlichen Stunde drei Segelboote mit hohen Masten just in dem Moment von Veere über den Kanaal door Walcheren nach Vlissingen. Deshalb sah sich der Zugbrückenwärter der Schroebrug, unmittelbar bevor Piet selbige passieren konnte, gezwungen, die Ampel auf Rot zu schalten und den in Rede stehenden Fahrbahnteil des Schroewegs in die Vertikale zu ziehen, wodurch Piet van Houvenkamp die Möglichkeit geboten wurde, den ohnehin geplanten Anruf bei Isabelle nun auch durchzuführen.

»Isabelle?«

»Hoj, Piet, was sagt das Navi, wann bist du hier?«

»Weißt du, Isabelle, ich war schon im Scheldetunnel, und dann musst du dir vorstellen, da ruft die Annemieke mich an und sagt, sie braucht mich dringend, wir haben einen Mord in Middelburg in der alten Abtei. Der Modeschöpfer Marc van de Velde ist …«

Wieder hörte Piet keinen Ton aus seiner Freisprecheinrichtung, es war wie eben im Scheldetunnel, auch da war die Verbindung einfach abgebrochen, aber er stand ja nicht im Tunnel, er stand vor einer Zugbrücke.

»Isabelle, hörst du mich, sag doch was.«

»Ja.«

»Wie ›Ja‹?«

»Ja! Ich sage was.«

»Ja, weißt du, die Annemieke, ich kann ja …«

»Ich sage dir, du kannst mich mal!« Sie hatte aufgelegt.

Natürlich. Was hatte er denn gedacht. Eben noch hatte er sich ausgemalt, dass sie sich vielleicht für ihn ein bisschen schön gemacht hätte, vielleicht dezent geschminkt, vielleicht ein besonderes Kleid angezogen. Und jetzt rief er an und sagte, sie hätten da einen Mordfall. Was sollte sie denn sonst sagen? Er hätte auch »Du kannst mich mal!« gesagt, vielleicht hätte er es geschrien, er hätte vielleicht sogar gehupt. Gehupt?

Die Autos hinter ihm hupten, blinkten ihn an. Da erst bemerkte er, dass der Gegenverkehr längst wieder floss, das rote Licht war erloschen, die Zugbrücke wieder befahrbar.

Piet ließ das Fenster auf der Fahrerseite herunter und hob zur Entschuldigung den linken Arm aus dem Fenster. Er passierte die Brücke und bog danach halb links auf den Segeerssingel ein. Das Fenster ließ er offen, auch wenn es draußen noch leicht regnete. Er brauchte den Fahrtwind, um wieder einen kühlen Kopf zu bekommen. Was war da passiert? Marc van de Velde war tot? Das war doch unmöglich.

Als er viel zu schnell in die Straße Onder de Toren einbog, verlor er beinahe die Kontrolle über den Landrover, der auf dem regennassen Pflaster nach rechts über die Vorderachse schob. Piet bremste, riss gleichzeitig am Lenkrad und zog die Handbremse. Jetzt begann er ein kurzes Gebet, als der schwere schwarze Wagen seitwärts über einen seltsam beleuchteten Platz schoss, um dann mit quietschenden Reifen neben einem Kameraturm vor einem dort ausgelegten roten Teppich zum Stehen zu kommen. Piets Puls lag bei etwa hundertneunzig. Das sollte nicht zu häufig der Fall sein, darauf hatte ihn sein Internist hingewiesen. Mit leicht zittriger Hand wollte er die Tür öffnen, da hatte Agent Jannis Munniks sie schon aufgerissen.

Mit erstauntem Blick sah er Piet an. »Goedenavond, Chef, das letzte Mal, dass jemand so eingeparkt hat … das hab ich im Kino gesehen.«

»Übung, Jannis, nichts als Übung! Wo geht’s lang?«

7

Piet betrat die Koorkerk. Saal und Moment passten nicht zusammen. Da war eine Bühne, ein Laufsteg, ein Publikum. Alles war hell. Es hätte dunkel sein müssen. Das Publikum saß an seinem Platz, aber es gehörte nicht hierher. Der Saal war hell erleuchtet, die Show war zu Ende, die Menschen hätten zu den Ausgängen strömen müssen, aber sie saßen an ihrem Platz. Der Laufsteg musste leer sein. Ein leerer Laufsteg musste vom vergangenen Geschehen zeugen, aber da stand Annemieke und winkte. »Piet, hier!«

Piets Gedanken verirrten sich zwischen der alten Abtei in Middelburg und einem Restaurant in Breskens. In Breskens wartete ein Problem, hier gab es nicht nur eines. Der Saal durfte nicht hell sein, das Publikum musste gegangen sein. Van de Velde durfte nicht tot am Boden liegen. Und diesen ganzen Mist hatte er sich aufgehalst, weil er sich nicht getraut hatte, das Mobiltelefon an die Tunnelwand zu knallen.

Jetzt stand er neben Annemieke. Wie war er auf den Laufsteg gekommen? Er sah den leblosen Körper in diesem affigen roten Anzug. Er kannte Elani de Boer aus Zeitungen, aus dem Fernsehen. Nun stand sie leibhaftig da, und sie war abwesend. Sie trug ein weißes Hochzeitskleid, aber es war voller Blutflecken. Als er hereingekommen war, war es laut. Stimmen, die gesprochen, geflüstert, geschrien hatten, kumulierten zu einem Vielklang des Entsetzens. Jetzt war es ruhig geworden, nicht still, aber ruhig. Die Schreie waren verstummt, das Geflüster war geblieben. Ruhiger.

Piet hockte sich neben den Toten. Da war eine Menge Blut. Die Scheren, die er kannte, waren kleiner, zierlicher, und die Griffe waren aus Kunststoff. Das hier war eine sehr massive Vollmetallschere, die Griffe waren schwarz, am Scharnier wurde sie silbern, an den Schneiden klebte Blut. Sie steckte im Rücken des Modeschöpfers. Dass es der berühmte Couturier war, wusste Piet wegen des Anrufs von Annemieke und weil man in Middelburg seit Tagen über nichts anderes mehr redete als über »Middelburg Couture«. Es war in jedem Herbst der gesellschaftliche Höhepunkt der Stadt. Aber in diesem Herbst kam nicht irgendein Modedesigner, es kam Marc van de Velde. Es war die Sensation, Glanz und Glamour in Middelburg für einen Abend. Piet gehörte nicht »zur Gesellschaft«. Er wollte ums Verrecken nicht dazu gehören. Er war froh gewesen, sich nach Breskens absetzen zu können. Hätte er es nur getan. Er wäre jetzt bei Isabelle und würde die Ruhe genießen.

»Goedenavond, Meneer Inspecteur, kannst du mal irgendwas fragen? Zum Beispiel ›Wann war der genaue Todeszeitpunkt?‹. Das wolltest du letztes Mal unbedingt wissen, und ich hatte keine Ahnung. Jetzt könnte ich es dir ganz genau sagen. Es war 20:19 Uhr, ich habe extra auf die Uhr gesehen. Und jetzt fragst du Idiot nicht.«

Der Mensch ist real, in der Wirklichkeit. Piet hatte schon einige Male über die Formulierung »in die Wirklichkeit zurückholen« die Nase gerümpft, aber in diesem Moment traf genau das zu. Der Gerichtsmediziner Henk ten Dracht holte ihn in die Wirklichkeit zurück.

»Wann, sagst du, 20:19 Uhr? Okay, und die Schere hat man ihm dann hinter dem Vorhang in den Rücken gestoßen, und dann ist er rausgekommen? Das können nur Sekunden gewesen sein, oder?«

Piet war über seine eigenen Worte überrascht. Auch über den Ausdruck »neben sich stehen« hatte er auch schon öfter geschmunzelt, aber jetzt passierte es. Er stand neben sich und beobachtete den Inspecteur van Houvenkamp, der zu dem Patholoog Anatoom sagte: »… und die Schere hat man ihm dann hinter dem Vorhang in den Rücken gestoßen, und dann ist er rausgekommen? Das können nur Sekunden gewesen sein, oder?«

»Ja, Sekunden.«

Thijs Joziasse, der Polizeifotograf brauchte kein Blitzlicht, um das Opfer mittels Nikon D 5 aus allen Perspektiven auf das Speichermedium zu bannen. Bernadien d’Hondt, die Chefin der Spurensicherung, wandte sich an Henk ten Dracht. »Ich brauche die Schere.«

Ten Dracht grinste nur. »Lass sie da, wo sie gerade ist. Wenn ich ihn morgen Vormittag auf dem Tisch habe, kriegst du sie, und ja, ich werde ganz sicher dafür sorgen, dass keine Fingerabdrücke verwischt werden. Das glaubst du zwar sowieso nicht. Aber die Schere bleibt drin!«

Bernadien lächelte ihn an, zuckersüß wäre fast noch untertrieben gewesen. »Und wenn die Fingerabdrücke wider Erwarten doch verwischt sind, liegst du morgen selber auf deinem Tisch!«

Der Gerichtsmediziner trat nun vor Bernadien. Er neigte den Kopf ein wenig, sah sie mit hochgezogener rechter Braue an und flüsterte: »9:00 Uhr, und zwar Punkt 9:00 Uhr bist du bei mir in der Vlissingse Straat. Dann werden wir ihm den todbringenden Fremdkörper gemeinsam aus dem Rücken ziehen. Kommst du um fünf nach, macht dir keiner mehr die Tür auf.« Mit diesen Worten wandte ten Dracht sich ab. Selbst wenn er Bernadiens hingeworfenes »Lackaffe!« noch vernommen hatte, er drehte sich nicht mehr um.

Piet genoss dieses Geplänkel. Er war wieder im Hier und Jetzt. Zeit für die Arbeit. »Ich rede mit Elani de Boer. Wo ist sie?«

Bernadien deutete auf die kleine Tür unter der riesigen Orgel. Annemieke hatte sie von der Leiche weggeführt, nun sprach sie beruhigend auf das Model ein.

Er trat auf die beiden zu und sagte: »Mevrouw de Boer, ich weiß, dass das jetzt sehr schwer für Sie ist, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Ich bin Piet van Houvenkamp, Inspecteur der Polizei hier in Middelburg. Tja, als Sie auf den Laufsteg traten, war Meneer van de Velde da schon hinter der Bühne, haben Sie vorher mit ihm gesprochen?«

Elani de Boer sah ihn an und sah an ihm vorbei oder durch ihn hindurch. Plötzlich begann sie zu zittern und weinte aus glasigen Augen. Ihre Knie gaben nach. Annemieke stützte sie und rief nach Henk ten Dracht, der augenblicklich bei ihnen war.