Mieses Spiel um schwarze Muscheln - Bernd Stelter - E-Book
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Mieses Spiel um schwarze Muscheln E-Book

Bernd Stelter

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Beschreibung

Inspecteur Piet van Houvenkamp genießt die Ruhe beim Angeln, den einen oder anderen Hornhecht hat er schon erwischt. Aber der Angler neben ihm scheint mehr Glück zu haben. Leider stellt sich schnell heraus, dass es sich bei dessen Fang nicht um einen Fisch handelt, sondern um eine Leiche. Es ist Jacobus Schouten, ein Muschelfischer, ertrunken, in einen Jutesack eingenäht. Das sieht nicht nach Selbstmord aus. Nein, das ist ganz klar Mord! Und Verdächtige gibt es sofort eine ganze Menge ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumPrologFreitag1.2.Samstag3.4.5.6.7.8.Sonntag9.10.11.12.13.14.15.16.Montag17.18.19.20.21.22.23.Dienstag24.25.26.27.28.29.30.31.Mittwoch32.33.34.35.36.37.38.39.40.41.Gründonnerstag42.43.44.45.46.47.48.49.50.51.52.53.54.55.56.57.58.59.Karfreitag60.61.62.63.64.65.66.67.68.69.70.71.72.73.74.75.Samstag76.77.78.79.80.81.82.83.84.85.86.87.88.89.90.91.92.93.Ostersonntag94.95.96.97.98.99.100.101.102.EpilogDanke!

Über dieses Buch

Band 3 der Reihe »Holland-Krimi«

Inspecteur Piet van Houvenkamp genießt die Ruhe beim Angeln, den einen oder anderen Hornhecht hat er schon erwischt. Aber der Angler neben ihm scheint noch mehr Glück zu haben. Er hat einen dicken Brocken am Haken! Leider stellt sich schnell heraus, dass es sich nicht um einen Fisch handelt, sondern um eine Leiche. Es ist Jacobus Schouten, ein Muschelfischer, ertrunken, in einen Jutesack eingenäht. Das sieht nicht nach Selbstmord aus. Nein, das ist ganz klar Mord! Verdächtige gibt es sofort eine ganze Menge … Und leider auch Unterstützung, die Piet lieber gestern als heute los wäre: Denn auch die deutschen Camper von »De Grevelinge« ermitteln wieder tüchtig mit!

Hardcover

Über den Autor

Bernd Stelter, Jahrgang 1961, ist einer der bekanntesten deutschen Kabarettisten. Zehn Jahre lang war er Teil der 7 Köpfe auf RTL, ebenso lang moderierte er die beliebte WDR-Spielshow »NRW-Duell«. Außerdem tourt er mit seinen Kabarettprogrammen durch Deutschland und moderiert verschiedene Fernsehsendungen. Für Bastei Lübbe schrieb er mehrere Sachbücher und Romane, u. a. seine diversen Camping-Krimis. Bernd Stelter lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in der Nähe von Köln, ist aber so oft wie möglich in Holland und liebt Camping.

BERND STELTER

MIESES SPIELUMSCHWARZEMUSCHELN

CAMPING-KRIMI

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2021/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

Einband-/Umschlagmotive: © Manfred Esser, Bergisch Gladbach;

© shutterstock: Michael Kraus | JIANG HONGYAN | macondo | Vitaly Korovin | studiovin

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-8642-4

luebbe.de

lesejury.de

Prolog

Wie die Hitze des Sandes an einem heißen Augustnachmittag und die Kühle des Meeres nur zwanzig Meter weiter, wie das Lachen und das Weinen, die Lüge und die Wahrheit, so gegensätzlich, wie Menschen nur sein konnten, und doch von einem Blut, wie das Feuer und das Wasser, wie die Nacht und der Tag, und doch waren sie Vater und Sohn.

Jacobus Schouten war stolz, er war ein stolzer Muschelfischer aus Yerseke. Stolz lief er zweimal in der Woche mit der »YE 19 Leentje« aus dem Königin-Juliana-Hafen aus. »Leentje« hatte er sein Schiff getauft, in liebender Erinnerung an seine Frau Magdalena.

In den Tagen seines größten Glücks – ihnen wurde ein zweiter Sohn geschenkt – begann seine große Tragödie, seine Leentje überlebte die Geburt ihres zweiten Sohnes Ronald nur zehn Tage.

Ohne seine Mutter, Hendrina Schouten, hätte er seine beiden Söhne nicht aufziehen können. Aber hatte er sie aufgezogen? Er hatte sie heranwachsen sehen, den feingliedrigen Rafael, der seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, und Ronald, der schon als Sechzehnjähriger Muskeln hatte wie ein Mann, Ronald, der wütende Junge.

Der stolze Fischer Jacobus Schouten war im Februar fünfundfünfzig Jahre alt geworden. Er sah älter aus. Die Jahre auf dem Meer, die Jahre schwerer Arbeit, die Jahre ohne seine Leentje hatten sich in sein Gesicht gegraben. Das Haar war schlohweiß, wie es in seinem Alter nicht sein musste. Fünfundfünfzig, ein Alter, in dem andere das erste Mal ans Aufhören denken, aber nicht er.

Schon 1870 hatten die Fischer in Yerseke mit der Aufzucht und dem Handel von Muscheln begonnen. Sein Großvater war Fischer gewesen, sein Vater, und er, Jacobus Schouten, war jetzt seit siebenundzwanzig Jahren Kapitän eines Muschelkutters, seit einundzwanzig Jahren Kapitän der »YE 19 Leentje«.

Sein älterer Sohn konnte wunderbar mit dem Steuerrad umgehen, er konnte das Meer lesen. Rafael hatte gesagt, er wolle nicht Fischer werden, aber der Junge musste doch einsehen, dass es auch Pflichten gab im Leben. Natürlich darf ein junger Mann von der Stadt träumen, vom Studium in Amsterdam, aber die Schoutens, das sind Muschelfischer in Yerseke. Und Punkt.

Jacobus und Rafael saßen im Restaurant »De Branding«, und sie hatten wunderbar gegessen, den paling, den Räucheraal, den man auf der ganzen Welt bestimmt nicht besser kriegen konnte, und den kreeft, den zeeländischen Hummer, weil Feiertag war. Feierlich wollte Jacobus seinem Sohn von seinem Entschluss berichten, den zweiten Kutter zu kaufen.

Jacobus hob das eiskalte Genever-Glas und stürzte den Inhalt hinunter, er wischte sich den Mund ab, als wolle er damit auch alle Zweifel wegwischen.

»Weißt du, Rafael, früher gab es hier mal über hundert Fischer, heute sind es noch knapp die Hälfte. Aber die Zahl der Schiffe, die bleibt gleich. Heute musst du wachsen, wenn du dabeibleiben willst. Nur dann hast du eine Chance, und es ist deine einzige Chance. Und du musst investieren, ich habe gut gespart. Wir müssen in die Hängekultur investieren. Wir brauchen neue Maschinen und neue Flöße. Die Spanier und die Iren machen das schon längst. Nur wir Blöden hängen noch hinterher. Wir brauchen ein zweites Schiff, ein MZI-Boot, das die Flöße abernten kann. Aber vor allem brauche ich einen zweiten Kapitän.«

Jacobus zitterte leicht. Er nahm sein Genever-Glas, aber es war leer.

Er sah Rafael in die Augen und sagte: »Du bist mein Sohn, jetzt wirst du auch mein Partner!«

Rafael sah seinen Vater entsetzt an. Er war sich sicher gewesen, dass diese Diskussion beendet war. Er hatte es ihm nicht einmal, er hatte es ihm zehnmal gesagt. Er, Rafael Jacobus Schouten, würde nicht Fischer werden.

»Vater, du weißt es doch! Ich gehe nicht ans Steuer. Ich arbeite an der Uni. Und du hast einen zweiten Sohn. Ronald wird sicher gerne den zweiten Kutter übernehmen!«

»Ronald! Ronald ist zu jung! Die Verantwortung packt der nicht, noch nicht!«

»Ronald ist zweieinhalb Jahre jünger als ich. Was sind denn zweieinhalb Jahre?«

»Ronald ist zu jung. Du wirst Kapitän, und damit basta!«

Rafael stand auf und sagte nur ein einziges Wort: »Nein!«

»Was heißt hier ›nein‹?«, stammelte Jacobus. »Ich befehle es dir! Wie willst du denn leben, ohne mich, ohne mein Geld? Von mir siehst du für den Hokuspokus keinen Cent.«

Auch er war aufgestanden, sein Stuhl war dabei nach hinten gestürzt. Seine Stimme war lauter geworden, hatte sich am Ende fast überschlagen.

Die Gespräche in dem gemütlichen, kleinen Restaurant »De Branding« waren verstummt.

Rafael jedoch sagte sehr leise und sehr bestimmt: »Ich brauche Yerseke nicht! Ich brauche dich nicht! Und ich brauche dein Geld nicht!«

Freitag

1.

Piet van Houvenkamp liebte den Wind. Der Wind auf Walcheren war ein treuer Begleiter. Im Sommer, wenn die Hitze flirrte, wenn er der Einzige war, der barfuß über den Strand gehen konnte, ohne dabei herumzutanzen wie ein Flamingo auf einer Herdplatte, dann spürte er den frischen Wind in den Haaren. Im Herbst, wenn man Pilze finden konnte, wenn der Wind die braunen Blätter vor sich herjagte, vertrieb ihm der Wind die trüben Gedanken aus dem Kopf. Im Winter, wenn das Licht fehlte, da wurde der Wind eisig, und wenn der Strand nicht mehr sandweiß war, sondern schneeweiß, dann saß Piet immer mit seinem Freund Robert im »Zeerover«, und sie tranken Tee. Das passierte nur alle paar Jahre.

Nun war April. Eine monochrome Kolonne von anthrazit-, schwarz- oder silberfarbenen Geländewagen, die auf Walcheren ganz sicher keinen Kontakt mit dem Gelände haben würden, wurde nur selten vom Weiß angehängter Caravans unterbrochen. Diese lustige Kolonne staute sich gerade auf der neuen Schnellstraße von der Autobahnabfahrt Middelburg-Oost nach Vrouwenpolder, denn am nächsten Wochenende war Ostern, was wiederum bedeutete, dass die Halbinsel Walcheren von Urlaubern aus Nordrhein-Westfalen geflutet wurde. Duisburg, Krefeld, Mönchengladbach, Köln und Bonn mussten quasi feiertagsbedingt geräumt sein, dachte Piet van Houvenkamp, der auf seiner Gazelle Impala, diesem achtunddreißig Jahre alten Prachtstück von einem fiets mit Trommelbremse und Stormy-Archer-Dreigangschaltung, fröhlich grinsend an dem Stau vorbeifuhr, ohne die still leidenden Duitsers auch nur eines Blickes zu würdigen.

Piet sah die Wellen auf dem Feld, und er nahm diesen magischen Moment sehr bewusst wahr. Der Wind war nicht sehr stark, vielleicht drei oder vier Beaufort, aber er blies in Böen, und diese Böen schufen in dem benachbarten Rapsfeld ein Wellenmeer, die Halme bückten sich im Wind, dann richteten sie sich wieder auf. Es war eine Woge, eine Welle, die auf den »Zeerover« zurollte. Piet bremste seine Impala, rutschte von dem alten Brooks-Sattel, setzte sich auf die Stange und betrachtete das gelbe, wogende Tuch.

Der Wind in den Haaren, das unglaubliche Gelb des Rapsfeldes, Piet fühlte Glück. Walcheren kann dir immer wieder Glücksmomente geben. Es ist an dir, sie zu genießen. Wer immer mal wieder Glücksmomente einsammelt, der ist ein zufriedener Mensch.

Piet spürte Glück, wie damals, als Bengel von fünfzehn Jahren, der sich in Adriana verliebt hatte, in das blonde Mädchen mit den langen Zöpfen, genauso spürte Piet nun dieses Glück als wohligen Schmerz in seinem Brustkorb. Er sah sich auf das fiets springen, weil er Adriana nach den Hausaufgaben an der großen Weide neben dem Rapsfeld treffen wollte, aber dann stand da sein Opa auf dem Hof und fragte: »Wo willst du hin? Wenn der Raps blüht, kommt der Hornhecht!«

Und der Opa, Wilhelmus van Houvenkamp, dieser Teufelskerl, der hatte zwei Angelruten in der Hand, und schon fuhren sie zum alten Pier in Westkapelle.

Adriana war einige Jahre später nach Darmstadt gezogen, wahrscheinlich, weil sie endgültig genug hatte von Männern, in deren Präferenzstruktur sie hinter Hornhechten rangierte.

»Wenn der Raps blüht, kommt der Hornhecht!«

Piet wendete sein fiets. Er würde jetzt nach Hause fahren und seine Angelrute, die nur unwesentlich älter war als seine Impala, vom Speicher holen. Er müsste sehr früh am nächsten Morgen los, damit er auf dem Pier von Westkapelle einen guten Platz bekam. Er würde spätestens um sieben in seinen hellblauen Land Rover Defender steigen, der so alt war, dass er noch gar nicht »Defender« hieß. Diese Bezeichnung hatte man diesem Fahrzeug erst 1990 verpasst, da war Piets hellblaues Lieblingsauto schon einige Jahre auf den Straßen Walcherens unterwegs gewesen.

Piet war durchaus bereit, zuzugeben, dass das ein bisschen danach klang, als lehne er modernes Equipment ab, aber dem war nicht so. Nein, er schaute sogar öfter Filme oder Sportübertragungen auf einem gekrümmten Flat-Screen-4K-LED-Smart-TV. Allerdings nicht in seiner Wohnung, sondern in der seiner Vermieterin Juliana Joosses, die gerade vor ein paar Tagen vierundneunzig Jahre alt geworden war.

Ein Navigationssystem nutzte er jedoch aus Prinzip nicht. Er kannte halt jede Straße auf der Halbinsel Walcheren und fast jede Straße in Zeeland, also brauchte er es einfach nicht. Und so ein Navi sah in einem Land Rover IIa 109 von 1968 auch scheiße aus.

Ein modernes Handy hätte er auch nicht gebraucht, jetzt hatte er trotzdem eins. Das Präsidium hatte sein Nokia 6110 aus dem Verkehr gezogen – eine völlig unberechtigte rote Karte – und hatte ihm ein neues Smartphone zur Verfügung gestellt, das mit einem Telefon nicht viel gemein hatte. Es sah eher aus wie eine Kachel. Gut, Annemieke hatte ihm schon einiges beigebracht, er konnte den Benzinpreis verschiedener Tankstellen vergleichen und die Öffnungszeiten vom Supermarkt Albert Heijn herauskriegen. Sein Nokia wäre ihm trotzdem lieber gewesen.

»Wenn der Raps blüht, kommt der Hornhecht!«

Auf dem Heimweg machte Piet noch eine Zwischenstation in Noordkapelle beim Fischladen von Maarten van de Kreeke, der in Noordkapelle schon Fischhändler gewesen war, als Piets Angelrute noch nicht gebaut worden war. Oder war es damals dessen Vater oder Großvater gewesen? Egal! Maarten van de Kreeke hießen sie alle.

2.

Als unser Audi heute Vormittag beim Autobahnkreuz Kerpen über die von Sturzbächen geflutete A4 gepflügt war, hatten wir wirklich nicht damit gerechnet, dass der Beginn unserer Osterferien auf der Halbinsel Walcheren sonnenbeschienen sein würde.

Aber wir horchten schon auf, als Sven Plöger auf WDR 2 Steffi Neu erklärte, dass nach der fetten Kaltfront, die im Moment über uns läge, eine postfrontale Subsidenz zu erwarten sei, dass das folgende Sturmtief wohl nach Skandinavien abdrehe, was dann für den Ableger eines Azorenhochs Platz schaffen würde, der uns ein frühsommerliches Wochenende mit Temperauren weit über der Zwanzig-Grad-Marke bescheren würde. Frau Neu reagierte auf diesen Monolog wie ich. Sie sagte: »Aha!«, und Herr Plöger empfahl noch, den Grill herauszustellen und die kurzen Hosen bereitzulegen. Wir hatten stattdessen zwei Pullover mehr eingepackt, uns geistig und moralisch auf das romantische Geräusch »Regenschauer auf Vorzeltdach« eingestellt, und ich glaubte Herrn Plöger kein Wort.

Nun schien die Abendsonne von einem wolkenlosen Himmel und tauchte den Stellplatz 438 des Vier-Sterne-Campingplatzes »Camping de Grevelinge« in ein sommerliches Licht, das so an einem Aprilwochenende nicht zu erwarten gewesen war.

Ich saß in kurzen Hosen vor dem Vorzelt und leistete Herrn Plöger Abbitte. Anne hatte zwei Tassen Kaffee gebracht, und nun reckte sie mit geschlossenen Augen ihr schönes Gesicht der Sonne entgegen.

Ich genoss diesen Anblick und die Ruhe, die augenblicklich wieder durch Babette gestört wurde, die an unserem blau-gelben Windschutz vorbei auf uns zustürmte, sich zu uns setzte, meinen Kaffeebecher zu sich herüberzog und atemlos sagte: »Er ist da!«

Anne öffnete die Augen und fragte ruhig: »Wer ist da?«

»Chester Bloomberg ist da!«

»Welcher Chester Bloomberg?«

Babette schaute uns empört an. »Na, der Chester Bloomberg!«

Dieser Name sagte mir gar nichts, und auch Anne schien damit nicht allzu viel anfangen zu können.

»Ihr kennt Chester Bloomberg nicht, ihr kulinarischen Banausen? Der Chester ist Foodblogger, er ist der Foodblogger. Der hat 1,4 Millionen Follower. Der weiß alles über Ernährung, über Fette und Kohlenhydrate und Zusatzstoffe, und Chester sagt: ›Essen ist Kultur!‹ Ich ernähre mich seit Monaten nur noch nach seiner Philosophie – und schaut mich an! Na?!«

Ich wartete, dass meine Ehegattin auf diese Aufforderung reagierte, denn wenn ich etwas sagte, wäre das sicherlich geeignet, den nachbarlichen Frieden auf »Camping de Grevelinge« nachhaltig zu stören. Anne war allerdings schon wieder mit Mit-geschlossenen-Augen-das-schöne-Gesicht-der-Sonne-Entgegenrecken beschäftigt. Deshalb lag Babettes fordernder Blick letztlich doch auf mir.

»Ja, Babette, du siehst großartig aus! Du hast abgenommen? Glaube ich. Bestimmt ein ganzes Pfund oder zwei?«

Böse funkelten mich ihre Augen an.

»Was anderes fällt dir nicht ein, oder? Es geht doch nicht um das Gewicht, das sagt der Chester immer wieder. Aber mein Bindegewebe ist schon viel fester, meine Augenfarbe ist klar und intensiv, und mein Teint strahlt, das sieht doch jeder!«

»Ja, das wollte ich auch gerade noch sagen, aber du hast bestimmt auch ein bisschen abgenommen …«

»Und ihr kennt den Chester ganz bestimmt nicht? Hach!«

Sie schien in sich zusammenzusacken, aber dann streckte sich ihr Körper schon wieder in dem türkisfarbenen Jogginganzug, und sie fingerte eine Postkarte aus ihrem Handtäschchen und reichte sie mir.

Von dem Foto lächelte mir geckenhaft und mit strahlend weißen Zähnen ein Typ mit sorgsam-vehement zerzaustem Haupthaar entgegen. Seine untere Gesichtshälfte wurde durch einen akkurat gestutzten Kinnbart mit dazugehörigem Schnauzer konturiert. Er trug eine Fliege, ein Tweed-Sakko zur rosafarbenen Weste und eine Kniebundhose. Farblich auf die Weste abgestimmte Kniestrümpfe steckten in braunen Budapestern, und neben dem lächelnden Clownsgesicht stand in goldener geschwungener Schrift: »Für Babette! Love, Chester!«

»Und der Chester ist im Moment gerade in Zeeland. Ich habe gestern noch sein neuestes Video auf YouTube gesehen. Er berichtet über Muscheln. Diese Muscheln sind ja ein so reines Lebensmittel, die pure Natur. Der Chester, der schmeckt bei einer Muschel, wo sie aufgewachsen ist.«

»Aber Babette …!« Anne hatte sich das Autogrammfoto geschnappt. »Wenn wir hier auf dem Platz unser Muschelfest hatten, dann hast du doch nur Pommes gegessen, weil du keine Muscheln magst.«

»Ja und? Ich habe doch gesagt, dass ich meine Ernährung ganz auf Chester Bloomberg ausgerichtet habe, und jetzt liebe ich Muscheln!«

Sie schnappte Anne das Autogramm aus der Hand, stand abrupt auf und blaffte: »Ich muss noch nach Middelburg. Ich kaufe mir einen schönen Rahmen, und dann hänge ich mir den Chester in die Küche.«

Sprach’s und verließ unsere gemütliche Runde. Wutschnaubend war vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck, aber viel hatte nicht gefehlt.

Ich schaute ihr ratlos hinterdrein, und selbst Anne sah sich angesichts der gerade aufgeführten Szene noch nicht in der Lage, das Schöne-Gesicht-der-Sonne-Entgegenrecken übergangslos fortzusetzen.

»Na, da haben wir dem neuen Schwarm von Babette wohl nicht ausgiebig genug gehuldigt!«

»Denk mal an den armen Adi, der hat bestimmt schon daheim in Köln Monate unter Chester Bloomberg gelitten. Jetzt fährt er nach Noordkapelle und freut sich darauf, unter zeeländischer Sonne endlich ein bisschen auf andere Gedanken zu kommen, und dann hängt ihm Babette den Kerl auch noch gerahmt in die Wohnwagenküche!«

Anne grinste spitzbübisch. »Möchtest du einen neuen Kaffee?«

»Ja, gerne!«

Lothars Gesicht tauchte wie ein unrasierter Luftballon über unserem Windschutz auf.

»Na, auch schon Bekanntschaft mit Chester Bloomberg gemacht?! Das wird nicht leicht für Adi. Babette dreht nicht am Rad, die dreht am Rhönrad. Was meinst du, sollen wir ihn morgen da rauseisen? Es ist ein Bombenwetter angesagt, und was kann es Schöneres geben, als an einen Samstagmorgen auf dem Pier in Westkapelle die Rute auszuwerfen?! Wind in den Haaren, Sonne im Gesicht, Angel in der Hand.«

Anne brachte den Kaffee. »Wann wollt ihr denn los?«

Lothar sagte: »Also, um acht sollten wir spätestens da sein, wenn wir einen vernünftigen Platz ergattern wollen.«

Anne küsste mich auf die Stirn. »Okay, dann holst du morgen um sieben bei Johnny die Brötchen, und wehe, du weckst mich!«

Ich schaute selbstbewusst zu Lothar und sagte: »Ich bin dabei, Bruder!«

Samstag

3.

Piet stand wieder auf dem Pier in Westkapelle, und er genoss es. Er warf seine betagte Angelrute aus, und es dauerte nicht lange, bis sich all die Gedanken an seinen Großvater Wilhelmus und seine Jugendliebe Adriana verflüchtigt hatten. Als er den Schwimmer an der Wasseroberfläche beobachtete, hatte der Wind schon seine Haare zerzaust und die melancholischen Erinnerungen vertrieben.

Nach einer knappen halben Stunde hatte er bereits den zweiten Hornhecht am Haken. Der alte Trick funktionierte noch immer: Ein kleines bisschen Räucherlachs als Köder, und – schwupp! – schon wieder hing einer dieser silbrig schimmernden Pfeile an der Angel.

Piet sonnte sich ein kleines bisschen in der Bewunderung der deutschen Angel-Amateure, die sich vergeblich bemühten, auch nur einen einzigen dieser blitzschnellen Jäger zu erwischen, während er bereits mit Robert im »Zeerover« telefonierte.

»Ich habe jetzt vier Hornhechte, können aber leicht noch mehr werden.«

Zehn würde Robert gerne abnehmen. Na bitte!

Wind in den Haaren, gelbe Rapsfelder, silberne Hornhechte und die Aussicht auf zwei, drei Grimbergen im »Zeerover«. Genau das verstand Piet unter einem verdammt guten Tag.

Die Hornhechte schienen eine Pause einzulegen. Schon seit fünfunddreißig Minuten hatte sich der rot-weiße Schwimmer an der Wasseroberfläche nicht mehr bewegt. Er dümpelte auf den seichten Wellen vor sich hin.

Piet war aufgestanden, um seine müden Glieder zu bewegen. Er schaute in den großen länglichen Eimer. Hinter ihm taten es ihm zwei Männer gleich und bewunderten seinen Fang.

»Wow, vier Hornhechte! Wir sitzen hier schon drei Stunden, und wir haben gerade mal eine miese kleine Makrele. Wie haben Sie das denn gemacht, Herr Inspecteur?«

Da wusste wohl jemand, wer er war. Er drehte sich um und blickte in zwei sehr bekannte Augenpaare. Das waren doch dieser Silberrücken und das Milchgesicht von Camping »De Grevelinge«! Was machten die denn im April auf Walcheren? Osterferien, natürlich!

»Verdammter Mist!«

Die drei schauten hinüber zu einem weiteren Petri-Jünger, der seinen Platz rechts von Piet eingenommen hatte.

Verärgert rief der aus: »Dieser vermaledeite Haken hängt schon wieder fest, und ich hab’ nur noch einen!«

Piet traute seinen Ohren nicht. Das war ein Niederländer, klarer Brabanter Dialekt, erkennbar am »sachten G«.

Das Niederländische und das Arabische haben wenig gemeinsam, aber da gibt es diese Vorliebe für scharfe Rachenlaute, die man in beiden Sprachbereichen wiederfindet, in Arabien und in den Niederlanden, nur der Brabanter, der benutzte diese scharfen, an fortgeschrittene Halskrankheit erinnernden Konsonanten nicht.

Genau so ein Brabanter saß neben ihm, also war er eigentlich ein Niederländer. Aber jeder Niederländer weiß verdammt noch mal drei Dinge: Ein Haus ohne Keller ist ein gutes Haus, ein fiets ohne Satteltaschen ist kaputt, und ein Angler mit zu wenig Haken ist ein Deutscher!

Während Piet noch traurig-stumm den Kopf schüttelte, sprang der Angler bereits aus Jeans und Sneakern, riss sich das T-Shirt über den Kopf und sprang mit einem sehenswerten Kopfsprung in die Nordsee.

Die Kollegen auf dem Pier amüsierten sich noch über den mutigen Sprung und fabulierten über eine gewisse Ortskenntnis, über die man schon verfügen müsse. Fünf Meter weiter hinten wäre der Kollege mit dem Kopf gegen …

»Hat mal einer ein Messer?« Prustend war der Hakenengpass wieder aufgetaucht.

»Moment«, rief der eine der Camper, griff in seinen blau-schwarzen Angelkoffer und warf ihm vorsichtig sein Messer zu.

Das Opinel-Messer hatte in dieser Situation zwei Vorteile: Es war ein Klappmesser, und es hatte einen Holzgriff.

Nach einem kurzen »Bedankt!« war der Mann schon wieder unter Wasser, und nun dauerte es ein paar mehr Sekunden, bis er sich erneut meldete. Dafür meldete er sich aber umso lauter.

»Aaaah!«

Er brüllte hysterisch!

Und noch einmal: »Aaaah!«

Er schwamm in einer Mischung aus Kraul, Brust und Schmetterling in Richtung Strand, und immer, wenn der Kopf über Wasser war, gellte dieses »Aaaah!« über den Pier.

Piet erreichte ihn, als er sich gerade rücklings auf den Sand fallen ließ, die Augen noch schreckensstarr.

»Aaaah!«

»Was ist los, Mann?! Nun beruhigen Sie sich doch!« Piet beugte sich über ihn.

»Da unten ist ein Toter!«

Genau das sind die Momente, die Piet beim Hornhechte-Angeln nicht gebrauchen kann, und genau das sind die Momente, in denen der Polizist in ihm einfach funktioniert.

»Niemand geht hier ins Wasser! Niemand verlässt den Pier! Ist das klar?«

Piet fingerte dieses entsetzliche Handy, das eher aussah wie eine Kachel, aus der Jacke und war sehr stolz, dass er die Kurzwahl auf diesem Mistding mittlerweile verstanden hatte. Vom Display lächelte ihn seine Assistentin Annemieke Breukink an. Das Bild hatte etwas Beruhigendes.

Piet sah in diese wachen Augen, und schon hörte er ihre Stimme: »Piet? Was gibt’s?«

»Ja, so genau weiß ich das auch noch nicht, aber ich brauche eine Menge Verstärkung. Ich bin am Pier in Westkapelle, und da unten will jemand einen Toten gesehen haben, ich würde sagen …«

Piet würde gar nichts mehr sagen, es hätte ja auch keinen Sinn gemacht, denn lustige Pieptöne signalisierten ihm, dass Annemieke bereits aufgelegt hatte.

Natürlich, diese Frau verlor keine Zeit.

4.

Es war Samstagnachmittag, es war 16:34 Uhr, die Zeit, in der normalerweise Passagiere mit Fensterplatz in Flugzeugen nach Rotterdam oder Antwerpen an der Küste Ameisenkolonien beobachten können, die an regelmäßig verteilten Engpässen zusammenstreben, um sich danach auf das Binnenland zu verteilen.

Am Pier in Westkapelle war dem heute nicht so. Die Ameisen sammelten sich zwar an diesem Engpass, aber die Verteilung fand nicht statt. Infolgedessen kam es natürlich zu Staus auf den Zugangswegen, die Haufenbildung war aus einer Höhe von achtzehntausend Fuß bestimmt spannend anzuschauen.

Rund um den Pier war ein weißer Sichtschutzzaun aufgebaut worden. Er sollte potenzielle Gaffer vom Gaffen abhalten, aber es gaffte ja niemand. Nein, man hatte halt am Strand noch etwas zu tun. Die Strandpaviljoens in der Nähe verkauften so viel Eis wie zuvor nicht in zwei Jahren, man ging hinter diesem weißen Sichtschutzzaun so auf und ab, weil man noch irgendwas vergessen hatte, weil noch ein Familienmitglied fehlte, weil man sich noch die Beine vertreten musste, irgendwas, aber gaffen? Nein, Gaffer waren da keine!

Annemieke hatte ganze Arbeit geleistet. Die Agenten Jannis Munniks und Remco Jonker hatten den Fundort der Leiche weiträumig abgeriegelt. Bernadien d’Hondt, die Chefin der Spurensicherung, hatte ihre Mannschaft auf, unter, neben, über, vor und hinter dem Pier in Stellung gebracht. Thijs Joziasse, der Polizeifotograf, brauchte zum ersten Mal bei einem Einsatz kein Blitzlicht, wenn Piet sich recht erinnerte, und Henk ten Dracht, der promovierte Pathologe, wäre selbst aus dem Flugzeug heraus unter all den Ameisen als Gerichtsmediziner zu erkennen gewesen, so unpassend war er gekleidet. Er trug einen blauen Blazer zur beigefarbenen Chino. Damit passte er an den Strand in etwa so perfekt wie die weiße Frau aus der Raffaello-Reklame auf den Fischmarkt in Vlissingen.

Piet würde ihn jetzt gern mit Fragen nerven, die Henk sicher nicht beantworten würde. Das machte aber nichts, denn Piet genoss es manchmal, sich in Vorurteilen bestätigt zu sehen.

Er bekam aber gar nicht die Chance, weil sich der Bürgermeister von Westkapelle, ein gewisser Johan Veenstra, gerade drohend vor ihm aufbaute. Die Drohgebärde wurde durch die Körpergröße des Bürgermeisters ad absurdum geführt, denn er stand zwar sehr grimmig vor dem Inspecteur, sein Scheitel jedoch erreichte dessen Kinn nur mit Mühe.

»Ich fordere ultimativ, dass Sie den Strand sofort freigeben, sobald Ihre Arbeit hier beendet ist!«

Piet überlegte noch, ob er diesen Politschnösel einfach nur anschnauzen sollte oder ob man ihn nicht auch einfach ins Meer schmeißen könnte, und zwar vom Pier aus, im hohen Bogen, da stand Annemieke plötzlich neben ihm und richtete freundlich eine Frage an den Bürgermeister.

»Wann läuft das Ultimatum ab?«

»Welches Ultimatum?«

»Nun, Sie haben ja ›ultimativ‹ gefordert, und da möchte ich nur in Erfahrung bringen, wann Ihr Ultimatum abläuft.«

»Ähm, ich habe doch gesagt, dass Sie den Strand sofort freigeben sollen, wenn Ihre Arbeit hier beendet ist. Aber wann ist denn Ihre Arbeit beendet, verdammt noch mal?! Es geht hier um den Tourismus, und das ist unsere wichtigste Einnahmequelle!«

Piet schaute nun freundlich auf den Kommunalpolitiker herunter, vielleicht schaute er auch ein bisschen auf ihn herab, aber dann ritt ihn irgendein Teufel, und er sagte: »Ich denke, in zwei, drei Wochen sind wir sicher fertig!«

Der Eyjafjallajökull kurz vor dem Ausbruch, ein Schnellkochtopf kurz vor dem Siedepunkt, selbst das Rumpelstilzchen im berühmten Märchen der Gebrüder Grimm vermittelten nicht annähernd ein Bild von der Aufregung des Johan Veenstra.

Er tobte, er sprang, und er schrie schon fast heiser: »Hier geht es um den Tourismus!«

»Hier geht es um einen Mordfall!«, sagte Piet und schob den Politzwerg zur Seite.

Und dann ging er einfach, der gute Meneer Veenstra.

Er würde wohl gleich der Zeitung mitteilen, dass er der Polizei völlig freie Hand gelassen habe und dass man bitte auf touristische Zwänge keinerlei Rücksicht nehmen solle, schließlich ginge es hier um einen Mordfall. Wenn das morgen so in der Zeitung stehen würde, würde Piet van Houvenkamp sich sehr freuen, bekanntlich genoss er es manchmal, sich in Vorurteilen bestätigt zu sehen.

Er hatte nun die Stelle erreicht, die von der weißen Sichtschutzwand vor all den Gaffern, die nicht gafften, geschützt war, da, wo der Zinksarg abgestellt war, wo die Leiche lag, wo Henk ten Dracht gerade aufgestanden war.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, Piet, bitte fang damit nicht an. Morgen habe ich ihn auf dem Tisch, und morgen weiß ich Genaueres.«

»Ich will ja gar nichts Genaueres wissen, nur so ungefähr! Wann, wo und von wem? Das würde mir eigentlich reichen!«

»›Wann‹ ist schon mal das erste Problem. Den Todeszeitpunkt von Wasserleichen schätzen? Ganz ehrlich, ich bin schon wirklich gut, aber das kann ich nicht. Sechsunddreißig bis achtundvierzig Stunden vielleicht, aber viel näher eingrenzen kann ich das auf den ersten Blick nicht.«

»Gibt es irgendwelche äußeren Zeichen, die darauf hindeuten, woran er gestorben ist?«

Henk zögerte. »Also im Moment …« Dann grinste er, oder er war verärgert, schlecht zu sagen, auf jeden Fall sagte er: »Verdammt, jetzt spiele ich dein Spielchen doch schon wieder mit. Morgen Vormittag habe ich ihn auf dem Tisch, und gegen 14 Uhr kann ich dir was Genaueres sagen.«

»Und warum erst morgen Vormittag?«

»Weil ich jetzt Feierabend habe. Ich bin natürlich ständig zu Überstunden bereit, aber gerade heute habe ich eine wichtige Verabredung, und sei ehrlich: Ob ich ihm heute Nacht den Brustkorb aufsäge oder morgen früh, das spielt eigentlich keine Rolle, oder?«

»Morgen, 14 Uhr?«

»Morgen, 14 Uhr!«

Annemieke war barfuß, wahrscheinlich hatte sie irgendwelche Pumps in irgendeine Ecke gekickt. Sie trug einen blauen Hosenanzug. Auch ihre Kleidung passte also nicht wirklich an den Strand, aber Annemieke war einer dieser glücklichen Menschen, die tragen konnten, was sie wollten. Wäre sie im Pyjama in der Oper erschienen, würde das Publikum noch am nächsten Morgen vom wunderbaren Seidenanzug dieser großen, schlanken Dame mit den kurzen Haaren schwärmen.

»Weißt du schon irgendwas über die Identität dieses Mannes?«, fragte Piet.

Annemieke antwortete: »Nein, Ausweise, Führerschein oder sonstige Dokumente haben wir bisher nicht gefunden. Wir prüfen die Vermisstenanzeigen der letzten drei Tage in der kompletten Umgebung. Aber bisher Fehlanzeige!«

»Du kannst ja gleich noch mal …«, sagte Piet, aber Annemieke unterbrach ihn: »Nee, das mache ich morgen früh, ich habe heute noch eine wichtige Verabredung.«

Manchmal, ganz selten, gab es diese Momente, in denen es Piet van Houvenkamp ganz entschieden auf den Sack ging, wenn er sich in Vorurteilen bestätigt sah.

Zwei Männer trugen den Zinksarg weg.

Bernadien d’Hondt kam auf ihn zu. Sie pellte sich aus ihrem weißen Overall aus Papier, oder was das auch immer für ein Material war.

»Mann, das Mistzeug klebt dir an allen Körperstellen bei dem Wetter!«

»Und, irgendwas gefunden?«

»Nee, wie auch? Kopf und Oberteil des Rumpfes steckten in einem Jutesack. Da, wo der Angler mit dem Messer herumgefuhrwerkt hatte, war ein Ellbogen herausgerutscht. Was das für ein Jutesack war, wissen wir noch nicht. Aber so etwas wie Fingerabdrücke kannst du getrost vergessen, erstens wegen des Materials Jute, und dann hat er ja schon einige Zeit im Wasser gelegen. Die Taucher haben an der Fundstelle alles gefunden, was man an einem Pier in der Nähe eines Touristenstrandes so findet, und nichts, was wir in diesem Falle brauchen könnten.«

»Dann bist du also zum ersten Mal in deinem Leben an einen Tatort geeilt und hast nicht eine einzige Spur gefunden«, sagte Thijs Joziasse, der Polizeifotograf, der sich zu den beiden gestellt hatte.

»Tja, sieht wohl so aus!« Bernadien war nun komplett aus dem Overall gestiegen und wandte sich zum Gehen. »Ist sonst noch was?«

Piet sagte: »Geh nur! Wenn dir noch irgendwas auffällt, dann gib mir Bescheid!«

Er schaute rüber zum Pier. Was er sah, glich einem in Auflösung begriffenem Filmset, nachdem das Aufnahmelicht verloschen, die letzte Klappe gefallen war. Auch der Sichtschutzzaun wurde zusammengepackt.

Agent Munniks versuchte, sich unbemerkt an Piet vorbeizuschlängeln, aber es gelang ihm nicht.

»Munniks?«

»Ja, Chef?«

»Da oben auf dem Pier stehen noch mein Angelzeug und ein blauer Eimer mit vier Hornhechten. Legst du das Zeug bitte in mein Auto, und bringst die Fische zu Robert in den ›Zeerover‹!«

»Schlüssel?«

»Welcher Schlüssel?

»Na, dein Autoschlüssel!«

»Der Wagen ist offen, das Schloss ist schon seit acht Jahren kaputt!«

»Das musst du mal reparieren lassen«, sagte Munniks, dann trollte er sich zum Pier.

Thijs hüstelte gekünstelt, um anzudeuten, dass er immer noch da war.

»Und?«

»Vielleicht habe ich was«, sagte Thijs.

Piet sah ihn verdutzt an. »Du? Hast du zufällig den Täter fotografiert?!«

»Nein, aber ich glaube, ich weiß, wer das ist.«

»Der Täter?«

»Nein, die Leiche, der tote Mann!«

»Das wär’ ja mal was. Wir wissen bisher noch gar nichts über die Identität. Also, spuck’s aus! Wer ist es?«

»So einfach ist das nun auch nicht. Du kennst doch die Zeitschrift Zeeland?«

»Nee, kenn ich nicht.«

»Solltest du aber, das ist ein Hochglanz-Magazin, richtig gut gemacht, die haben auch einen gewissen Anspruch an die künstlerische Gestaltung, also nicht so ein Touri-Blättchen.«

Piet hatte eine gewisse Ahnung, warum Joziasse diese Zeitschrift über den grünen Klee lobte, und die Bestätigung der Ahnung folgte auf dem Fuße.

»Ich habe neulich mal für die arbeiten dürfen. Ich habe Fotos im Naturschutzgebiet ›De Manteling‹ gemacht, morgens um sechs, mittags um zwölf und wieder abends um sechs. Wie das unterschiedliche Licht zu den einzelnen Tageszeiten die ganze Landschaft verändert, toll! Die Farben wechseln, und ich hab’ das alles unbearbeitet gelassen, kein Photoshop, die reine Natur.«

»Du fotografierst nebenbei für so ein Hochglanz-Magazin? Darfst du das denn?«

»Ich muss, sonst würde ich mich ja zu Tode langweilen, du bringst mir halt viel zu wenig Leichen. Nee, Spaß beiseite, ist alles vom Hoofdinspecteur abgenickt, ich darf als freier Fotograf bis zu fünfzehn Stunden im Monat arbeiten. Komm mal mit …«

Piet hatte Mühe, mit dem eiligen Tempo des Fotografen Schritt zu halten, der nun vom Achterweg in die Zuidstraat abbog.

»Wo willst du denn jetzt hin?«

»Zeitung kaufen!«

»Geht’s dem Käseblatt so schlecht, dass die eigenen Mitarbeiter die Dinger aufkaufen müssen, um die Auflage zu erhöhen?«

Thijs blieb empört stehen. »Jetzt hör mir mal zu, du Meckergreis. Du willst wissen, wer der Tote ist, und ich habe eine Idee, wie wir das vielleicht herausfinden können, aber wenn du jetzt nicht aufhörst, hier rumzustänkern, dann setze ich mich da vorne bei der Brasserie ›De Tijd‹ auf die Terrasse, lasse mir genüsslich ein Bierchen über den Knorpel laufen, und du kannst im Präsidium Vermisstenanzeigen studieren!«

Piet ruderte grinsend zurück. »Ist ja gut, ist ja gut!«

In der Buchhandlung ging Thijs zielstrebig auf eine Zeitschrift zu, auf deren Titelblatt ein bildschönes Model in alter zeeländischer Tracht zu sehen war. Interessanter Kontrast, cooles Bild. Thijs begann zu blättern.

Aber Piet nahm ihm die Zeitschrift aus der Hand und ging zur Kasse.

»Hey! Ich hab’ die zu Hause, ich hätte doch auch hier gucken können …«

Piet war anderer Meinung. »Du hast mich eben mit der Terrasse von ›De Tijd‹ auf eine Idee gebracht.«

»De Tijd« war ein Restaurant auf dem Marktplatz, wo man abends sehr gute Cocktails kriegen konnte, und von der Terrasse aus konnte man ganz Westkapelle an sich vorbeiflanieren sehen.

Die beiden Männer setzten sich auf ebendiese Terrasse, direkt unter die große Uhr, der die Brasserie wohl ihren Namen verdankte – oder umgekehrt: Die Uhr verdankte dem Namen ihren Platz.

Sie bestellten zwei Grolsch, und Thijs nahm Piet die Zeitschrift wieder ab.

»Warte mal«, sagte er und blätterte. »Siehst du, hier!«

Piet beugte sich über das Blatt. »Wo ist er?«

»Nein, das sind meine Bilder von ›De Manteling‹. Schau, das hier war 6 Uhr morgens, das war ganz schön kalt, und hier …«

Jetzt musste Piet einfach ein kleines bisschen Geduld an den Tag legen und ein klein wenig Interesse heucheln. Die Situation erforderte es. So betrachtete er also freundlich murmelnd die Bilder und erfreute sich an seinem Grolsch.

Komische Situation, ein Toter wurde unter dem Pier gefunden, und ein paar Stunden später saß er hier mit Thijs beim Bier. Was sollte er machen?! Die Leiche war abtransportiert. Der Herr Patholoog-anatoom hatte Feierabend, die Assistentin hatte einen Termin, und seine einzige Spur hatte ihn eben hier auf die Terrasse des »De Tijd« geführt.

Wie weit war der Fotograf denn jetzt?

»… um sechs, das war so die Zeit, das fühlt sich noch an wie nachmittags, aber das Licht …«

Piet nahm noch einen Schluck.

Als sie die letzte Leiche hatten, da hatte er solche Zahnschmerzen gehabt, da war jeder Schluck Bier eine Tortur gewesen. Aber heute? Ein Genuss! Piet seufzte wohlig, ein Geräusch, das Thijs aufs vortrefflichste falsch interpretierte.

»Ja, finde auch, die Bilder sind etwas ganz Besonderes, aber eigentlich wollte ich dir ja was anderes zeigen.«

Endlich!

Thijs blätterte in dem Magazin, und Piet stellte sein Bier ab.

»Hier ist es, Die Gesichter des Meeres! Da hat ein Kollege von mir vier Muschelfischer aus Yerseke porträtiert, und da, sieh mal, das könnte er doch sein.«

Thijs deutete auf ein Foto, das ganz in Blautönen gehalten war. Da war ein Muschelfischer vor blauem Himmel abgebildet, im blauen Pullover, und er betrachtete mit wässrig blauen Augen gedankenverloren eine blaue Zigarettenschachtel. Die Zigarette in seinem Mundwinkel erzeugte weißen Rauch, und auch sein Haar war eigentümlich weiß, zu weiß. Die Bildunterschrift lautete: »Jacobus Schouten, der Rebell«.

Ohne jeden Zweifel, das war er. Natürlich hatten die Tage im Wasser ihn verändert, ihn aufdunsen lassen, aber diese Haare waren eindeutig.

»Das ist er, oder?« Thijs war jetzt ein bisschen nervös. »Ja, das denke ich auch. Kann ich die Zeitschrift behalten?«

Thijs zuckte mit den Schultern. »Du hast sie bezahlt.«

Piet winkte dem Kellner. »Ich bezahl auch noch das Bier!«

Der Polizeifotograf stand sofort auf. Wahrscheinlich wollte er Piet keine Möglichkeit geben, sich das mit dem Bezahlen noch mal anders zu überlegen.

Der Kellner kam mit aufgeklapptem Portemonnaie an den Tisch.

Piet überlegte wirklich nicht sehr lange, er hob sein leeres Glas und sagte: »Ich nehm noch eins!«

5.

Das zweite Grolsch stand kühl und verlockend vor Piet auf dem Tisch, genau die richtige Menge Schaum war als weißes Mützchen über dem goldenen Getränk drapiert. Einige vorwitzige Bläschen des weißen Schaums liefen über den Glasrand, und schon ging die Fahrt – juchheißa! – fast senkrecht nach unten, bis sie von dem runden Pilsdeckchen am Fuß des Glases sanft gebremst wurde.

Piet nahm genussvoll einen tiefen Schluck und widmete sich wieder der Lektüre der Zeitschrift Zeeland. Die kunstvollen Fotos seines Polizeifotografen hatten sein Interesse nicht sehr lange in Anspruch genommen, aber Die Gesichter des Meeres schaute er sich sehr genau an. Vier Fischer wurden porträtiert. »Johannes Mulder, der Funktionär«, »Jan Kok, der Friese«, »Dirk Hermans, der Opa« und »Jacobus Schouten, der Rebell« waren die Bildunterschriften.

Johannes Mulder war dreiundsechzig Jahre alt, trug ein Hornbrillengestell, das mit so etwas wie Glasbausteinen ausgefüllt war, und wurde als Präsident der Muschelfischer-Gilde von Yerseke, Vorstandsmitglied der Produzenten-Organisation PO Mossel Culture sowie als einflussreicher Berater des Landwirtschaftsministeriums in Den Haag vorgestellt. Und Landwirtschaft sei da nicht das falsche Wort, wurde er zitiert, denn auch die Muscheln würden gesät und geerntet.

Als Piet wieder das Grolsch-Glas ergriff, vermischte sich der nächste Schluck Bier in seiner Mundhöhle mit dem Wasser, das ihm beim Gedanken an einen schönen schwarzen Topf voller zeeländischer Muscheln im Mund zusammenlief. Dieser besondere Geschmack wurde von den Rezeptoren auf der Zunge direkt an sein Großhirn übermittelt, das sodann den Impuls an den rechten Arm weiterleitete, den Piet sofort hob, um den Kellner zu rufen.

Völlig wider Erwarten machte der auf dem Weg in den Gastraum befindliche Service-Angestellte tatsächlich auf dem Absatz kehrt, um nur Sekunden später an Piets Tisch zu stehen.

»Sie wünschen?«

»Haben Sie Muscheln?«

»Zeeländische Art, mediterrane Art oder überbacken?«

Piet hatte Muscheln in Tomatensauce noch nie etwas abgewinnen können. Er liebte Muscheln, und er liebte Käse, nur beides zusammen hatte er immer für eine Fehlinterpretation gehalten.

Er knurrte: »Zeeländische Art!«

»Kommt sofort!«

»Und keine Karotte!«

»Nicht?«

»Nein!«

Dirk Hermans, der Opa, zählte schon siebzig Lenze und stand immer noch am Steuer seines Schiffes, aber mit tatkräftiger Unterstützung seiner beiden Söhne. Dazu hatte er noch drei Töchter, und die komplette Brut hatte ihm mittlerweile die Taufe von siebzehn Enkeln ermöglicht. Ein Aussterben der Muschelfischer-Familie Hermans war also fürderhin nicht zu erwarten.

Jan Kok, der Friese, entstammte einer Familie, die ursprünglich in Lemmer ansässig gewesen war, und Lemmer war irgendwann mal ein bedeutender Fischerort. Dann wurde aber 1932 der Abschlussdeich fertiggestellt, und Lemmer lag nicht mehr an der Nordsee, sondern am Ijsselmeer. Die Fischerfamilie Kok war damals nach Yerseke gezogen, aber das war gerade mal gute neunzig Jahre her, für zeeländische Muschelfischer ein vergleichsweise kurzer Zeitraum. Deswegen war Jan Kok in Yerseke natürlich noch längst kein Einheimischer. Nein! Einmal Friese, immer Friese!

Der Kellner brachte den schwarzen Emaille-Topf, und Piet legte das Magazin zur Seite. Er öffnete den Deckel, schloss die Augen und genoss den Duft von Meer und Kindheit, danach stellte er den Deckel umgedreht neben den Topf.

Dieser unglaublich intelligente Mensch, der vor zig Jahren die Idee mit diesem besonderen Muscheltopf gehabt hatte, hätte eigentlich ein Denkmal verdient. Der Deckel des Topfes war ungefähr ein Drittel so groß wie der Topf, und er hatte eine plane Oberfläche. Der Griff war nicht obendrauf wie bei anderen Töpfen, es waren zwei Griffe an der Seite, sodass man, wenn man den Deckel umdrehte, eine Schale für die Schalen hatte. Genial! Eine segensreiche Erfindung!

Piet entnahm die erste Muschel.

Sein prüfender Blick stellte fest: tatsächlich keine Karotten. In einen Muscheltopf gehörten Lauch, Schalotten, Knollensellerie und natürlich Weißwein, aber um Gottes willen keine Karotten. Eine Karotte war süß und passte überhaupt nicht zum wunderbaren Geschmack der zeeländischen Muschel. Vielleicht war Piet der einzige Mensch auf der Welt, der das so sah, aber er sah es eben so.

Der Kellner hatte ihm Messer und Gabel gebracht, was für ein Blödsinn. Piet nahm eine sehr weit geöffnete Muschel aus dem Topf, zutschte das Fleisch aus der Schale, und schon hatte er sein Besteck! Er entnahm mit seiner »Muschelzange« die nächste Muschel aus der Schale und führte sie zum Mund – köstlich!

Für Piet van Houvenkamp, Inspecteur der Polizei von Middelburg, gab es in den nächsten zehn Minuten keinen Fall!

6.

Adi, Lothar und ich kamen gegen 16 Uhr wieder auf unserer Parzelle des Vier-Sterne-Campingplatzes »De Grevelinge« an.

Gaby schaute in den leeren hellblauen Plastikeimer und rief: »Gewonnen!«

»Was gewonnen?«, fragte ich.

»Anne hat auf zwei Fische getippt, ich auf gar keinen. Gewonnen.«

Lothar verteidigte uns eindrucksvoll: »Wir hatten eine kleine Makrele, aber als der Typ die Leiche an der Angel hatte …«

Gaby prustete: »Da hatte einer einen toten Fisch an der Angel!«

»Nein, eine Leiche, ein Toter, ein Mensch!«, korrigierte Adi.

Gaby strich ihrem Gatten zärtlich über den Bart. »Ach, Schatz, die Urlaube in Noordkapelle tun dir nicht gut. Kaum bist du hier, siehst du schon wieder Leichen.«

Jetzt wurde Adi böse. »Es war Westkapelle. Es war der Pier in Westkapelle.«

Anne hatte die laute Unterhaltung gehört. »Wie – ein Toter, beim Angeln?«

Ich erklärte es genauer: »Unter dem Pier in Westkapelle ist eine männliche Leiche angespült worden.«

Babette war neben ihren zitternden Mann getreten. »Ertrunken?«

»Das weiß man natürlich noch nicht«, erklärte Adi. »Aber er hatte einen Jutesack über dem Kopf, also Selbstmord scheidet wohl aus.«

Babette griff nach seiner Hand. »Das nächste Mal stellen wir den Caravan an den Möhnesee, da passiert so was nicht.«

Anne trat neben sie und sagte leise: »Da ist aber auch kein Chester Bloomberg!«

Babette ließ die Schultern sinken. »Da hast du natürlich recht.«

»Wisst ihr, was das Einzige ist, das uns in dieser Situation hilft?«

Wir sahen Lothar fragend an, und er antwortete: »Ein Grimbergen!«

»Wisst ihr, was noch besser hilft?«, fragte Anne. »Ein Grimbergen und ein Genever!«

7.

Den Hornhecht verband Piet immer mit seinem Großvater, mit dem er ihn auf dem Pier in Westkapelle als zehnjähriger Junge geangelt hatte, die Lamsoren erinnerten ihn an seine Mutter, mit der er manches Mal die Strandaster pflücken gegangen war, deren Blätter ein kleines bisschen aussahen wie die herabhängenden Öhrchen der kleinen Lämmer, was ihnen ihren seltsamen Namen gab. Die Kartoffeln hatten sie im eigenen kleinen Garten angebaut, oder sie hatten sie vom Bauern de Visser bekommen, wo sein Vater zur Erntezeit ausgeholfen hatte. Hornhecht, Lamsoren und Kartoffeln hatten ganz oben auf der Speisekarte der van Houvenkamps gestanden, denn sie waren umsonst gewesen.

Auf Piet van Houvenkamps Ernährungspräferenzliste rangierten sie allesamt auf Platz zwei, sehr weit oben, aber den Platz an der Sonne, den Platz eins, hatten sie nie erreicht. Beim Hornhecht schmeckte er die Nordsee, bei den Lamsoren die Seeluft und bei den Kartoffeln den Boden bei seinem Elternhaus, die Erde von Walcheren, aber bei diesen Muscheln schmeckte er Zeeland.

Piet legte die letzte leere Muschelschale zu den anderen in den umgedrehten Muscheltopfdeckel, aber er war noch nicht bereit, die Lektüre seiner Zeitschrift fortzusetzen. Er hatte sie nach links aus seinem direkten Sichtfeld geschoben, um sich während des Muschelgenusses nicht ablenken zu lassen.

Schon hatte das letzte Stück festen, würzigen Muschelfleisches seine Speiseröhre durchlaufen, und doch schwelgte er noch in dieser Sinfonie von Meer und Salz und Würze und Säure.

Piet öffnete die Augen, um nun das Erlebnis perfekt zu machen. Er ergriff das Glas, und das Grolsch floss weich und schaumig in seinen Mund, auf den Geschmacksknospen seiner Mundschleimhaut explodierte ein Feuerwerk der Sinne.

Er hatte von Johannes Mulder, dem Funktionär, gelesen, von Dirk Hermans, dem Opa, und von Jan Kok, dem Friesen, aber die entscheidende Personalie fehlte noch: »Jacobus Schouten, der Rebell«!

Der Mann blickte ihn vom Foto an. Dieser Schouten war fünfundfünfzig Jahre alt, stand da. Er kämpfte dafür, dass die Muschelfischer in Yerseke verstärkt in die Hängekultur investierten, weil die Muscheln so schneller wüchsen, weil sie näher an der Wasseroberfläche mehr Nahrung fänden, außerdem müssten sie nicht so stark entsandet werden, weil sie nicht mit dem Boden in Berührung kämen. Schouten stand mit dieser Meinung aber wohl ziemlich alleine da.

Piet betrachtete noch einmal das blaue Bild. Der Mann mit den wässrig blauen Augen im blauen Pullover. Mulder, Hermans und Kok hatten in die Kamera gelächelt. Schouten hatte an der Kamera vorbeigeschaut, und sein Blick war nicht freundlich, zwar nicht unsympathisch, aber eben auch nicht freundlich. Schouten sah missmutig auf seine weiß qualmende Zigarette.

Viele Freunde hatte der nicht, dachte Piet, missmutiger Eigenbrötler, vielleicht musste man auch so aussehen, wenn man als »der Rebell« in der Zeitung stehen sollte – oder wollte.

Er musste mehr über diesen weißhaarigen Fünfundfünfzigjährigen erfahren.

Piet kramte die Kachel aus der Cordjacke und tippte »Pim Wouters« in die Suchleiste. Nichts, keine Telefonnummer, kein Bild. Klar, das letzte Mal hatte er sich mit Pim getroffen, bevor ihn die Nationale Politie gezwungen hatte, mit diesem Computertelefon herumzulaufen. Pim Wouters war sein Pendant in der Stadt Goes. Im Präsidium hätte er die Nummer.

Er sah auf die Uhr. Fast 19 Uhr. Da war Pim sicher nicht mehr im Büro. Und wenn Annemieke und Ten Dracht Feierabend machen konnten, dann konnte Piet das auch.

Er rief den Kellner.

Er könnte noch bei Juliana vorbeischauen. Juliana Joosses war seit Jahren seine Vermieterin und vielleicht seine beste Freundin. Sie war schön, sie war klug, und sie war jugendliche vierundneunzig Jahre alt.

Der Kellner präsentierte die Rechnung, und als Piet bezahlte, lächelte er so freundlich, dass der erfahrene Ermittler sofort erkannte: Er hatte zu viel Trinkgeld gegeben. Egal … Piet mochte nun mal kein Kleingeld.

Eigentlich wollte er jetzt zu seinem Wagen gehen, aber er stellte wieder einmal fest, dass die verschiedenen Körperteile mit zunehmendem Alter immer weniger kooperierten. Sein Gehirn wollte zum Auto, seine Füße gingen zum Pier!

Auch wenn hier heute Nachmittag noch hochsommerliche Szenen zu beobachten gewesen waren, als sich die Touristen in Badebekleidung am Strand gesonnt hatten, so war es doch April, und Aprilabende in Westkapelle sind kühl. Und wenn hier am Nachmittag noch ganze Heerscharen von Anglern Hornhechten nach dem Leben getrachtet hatten, so lag der Pier nun wie ausgestorben vor ihm.

Die Polizei hatte das Terrain wieder freigegeben. Piet hatte erwartet, dass ein Meer von Schaulustigen hier flanieren würde, aber es war niemand mehr da. Es schien, als hätte man mit dem Trassierband der Polizei auch das Interesse der Einwohner und Touristen eingesammelt. Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen. Das wäre ein Fotomotiv für Thijs gewesen. Den Pier von Westkapelle ohne Menschen hatte Piet in den letzten Jahren nicht gesehen.

Er stellte sich ganz vorne an den Rand, den Blick auf das Meer gerichtet.

Hinter ihm lag Westkapelle, die vielen roten Dächer, deren Firste nicht höher als die Deichkrone waren. Der Ort hatte sich hinter den Deich geduckt. Irgendwo dort stand auch der Leuchtturm, der Turm der ehemaligen Willibrorduskirche, von dem Anfang des 18. Jahrhunderts die Glocke herabgestürzt war. Heute beherbergte der gotische Turm das Leuchtfeuer, das fünfunddreißig Kilometer weit auf das Meer hinausleuchtete.

Hatte man Jacobus Schouten hier unter dem Pier ertränkt? Er dachte nach. Wenig wahrscheinlich, es war schließlich das erste Mal, dass er den Pier ohne Menschen gesehen hatte. War der Fischer schon tot, bevor man seinen Rumpf in den Jutesack gesteckt hatte? Hatte man ihn irgendwo da draußen über Bord irgendeines Schiffes, vielleicht eines Muschelfischer-Kutters, geworfen, in der Hoffnung, dass er nie gefunden werden würde?

Henk ten Dracht könnte dazu vielleicht etwas sagen, aber der hatte ja heute Abend einen anderen Termin.

Piet schmunzelte, als er an das Bild dachte: Henk ten Dracht mit blauem Blazer und beigefarbener Chino am Strand. Das passte überhaupt nicht. Annemieke hatte ja auch nicht gerade Strandkleidung getragen, aber bei ihr …

Plötzlich schmunzelte Piet nicht mehr. Natürlich! Ja, was denn auch sonst?! Sie waren beide verabredet – und Piet wusste auch, mit wem.

Aber darüber konnte er jetzt nicht weiter nachdenken!

Pim! Er musste morgen früh sofort Pim Wouters anrufen. Der würde diesen Jacobus Schouten kennen.

Pim Wouters, Inspecteur der Politie von Goes, in dessen Revier Yerseke lag. Yerseke, dieser geschäftige, kleine Muschelfischer-Ort, das Muscheldorf Europas, wie man es nannte. Pim Wouters, der zuständige Inspecteur. Dieser Jacobus Schouten war zwar unter dem Pier in Westkapelle gefunden worden, aber er war nie und nimmer da ermordet worden. Er war angeschwemmt worden. Es war gar nicht sein Fall. Es war der Fall von Pim Wouters! Er, Piet van Houvenkamp, konnte jetzt einfach nach Hause fahren, und morgen würde sich das Polizeipräsidium von Goes um diesen Fall kümmern. Und bei diesem Gedanken legte sich ein Lächeln auf die Lippen des Inspecteurs Piet van Houvenkamp.

8.

Es war kurz vor halb neun. Es dämmerte gerade. Heute hätte man am Strand perfekt das Schauspiel beobachten können, wie die Sonne im Westen über der Nordsee den Horizont berührte. Wenn das klar zu erkennen war, wenn die Berührung auch nicht vom kleinsten Dunstschleier über dem Horizont verschluckt wurde, dann spielten sie im »Zeerover« Once Upon a Time in the West. Das Stück von Ennio Morricone verklang exakt in dem Moment, wenn der letzte orangefarbene Strich im Meer versank. Wunderbar!

Aber Piet war nicht im »Zeerover«, er erreichte gerade den »Grijze Dolfijn«, dieses schöne, alte Kaufmannshaus von Juliana Joosses, das neben vielen anderen Häusern am Binnenhafen davon zeugte, dass Middelburg einst einer der bedeutendsten Seehäfen der Niederlande gewesen war. In diesem herrlichen Haus am Turfkaai wohnte Piet seit Jahren für eine viel zu niedrige Miete.

Es war eine gute Zeit, um noch ein Stündchen mit Juliana zu plaudern.

Er schloss die schöne hellgrau lackierte Haustür mit dem eisernen Türklopfer in Form eines Delfins auf, er ging die Treppe hinauf zu seiner Wohnung im ersten Stock, und er achtete darauf, die dritte Treppenstufe nicht auszulassen. Diese dritte Treppenstufe knarzte seit Jahren, somit war sie für Juliana das untrügliche Zeichen: Piet kam nach Hause.

Er machte sich ein bisschen frisch, und er bildete sich ein, nur deshalb keine Dusche zu nehmen, weil es sonst zu spät für einen Besuch bei Juliana wäre. Das war natürlich reiner Selbstbetrug, seine alte Freundin ging nie vor 1 Uhr nachts zu Bett. Nachdem er ein Deodorant benutzt und ein frisches T-Shirt aus dem Schrank gekramt hatte, war er schon fast durch die Tür, aber dann fiel ihm die Zeitschrift ein.

Er nahm sie vom Küchentisch, stieg die Treppe wieder hinunter, schloss mit seinem Zweitschlüssel Julianas Wohnung auf und rief: »Goedenavond! Hast du schon einen Weißwein?«

»Nein, noch nicht!«, antwortete diese wunderbare, leise und schon leicht brüchige Stimme aus dem Wohnzimmer. »Bring mir bitte ein Glas!«

Piet öffnete den Kühlschrank, entnahm die grüne Flasche mit dem feinherben Rheinwein und goss ihn in ein altmodisches Weinglas mit dem grünen Fuß. Dann nahm er noch zwei Flaschen Grolsch, eine für den Durst und eine für den Genuss, er ploppte die Bügelflaschen auf, hängte sie wie immer mit dem Bügelverschluss an Zeige- und Mittelfinger und ging zu Juliana ins Wohnzimmer.

Sie saß in ihrem grünen Sessel mit den Holzgriffen an den Armlehnen, die schon reichlich abgegriffen waren, das Häkeldeckchen auf der Rückenlehne war gestärkt und so blütenweiß wie das Haar von Juliana. Piet hatte sich schon oft gefragt, was wohl älter war: der Sessel oder die Sitzende.

»Na, mein Lieber, wie war dein Tag?«, fragte seine Freundin, nachdem er sie sanft auf die faltigen Wangen geküsst hatte.

Er reichte ihr das Weinglas und sagte: »Fing gut an, ging chaotisch weiter und hört gut auf!«

»Das musst du mir aber ein bisschen genauer erklären.«

Und Piet erklärte. Er erzählte von dem Fahrrad und dem Rapsfeld und von den Hornhechten, die kommen, wenn der Raps blüht, und von den ersten vier Hornhechten in seinem Eimer und von dem Idioten aus Brabant, dessen Angelhaken sich verhakt hatte, und von der Bergung des Toten und von dem Polizeieinsatz, und Juliana hörte zu, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen.

Piet nahm einen tiefen Schluck aus der Durstpulle, und er erzählte von Thijs Joziasse, dem Polizeifotografen, dann präsentierte er ihr die Ausgabe der Zeitschrift Zeeland. Er schlug die richtige Seite auf und zeigte ihr das Bild.

Juliana nahm von dem Beistelltischchen aus Mahagoni die Lupe, die auf dem Häkeldeckchen lag, und betrachtete es.