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In ihrem kleinen Wohnort Bergental im hessischen Mittelgebirge hat Nora Nieberg inzwischen viele Freunde und auch die große Liebe gefunden. Eines Tages taucht ihre liebenswürdige und vielseitig begabte Tante Ulla bei ihr auf, die den Großteil ihres Lebens im Ausland verbracht hat und nun wieder mehr Kontakt zur Familie sucht. Der plötzliche Tod eines im Ort nicht besonders beliebten Mannes lässt Nora und ihre Tante daran zweifeln, dass es sich bei dem Todesfall um einen Unfall gehandelt hat. Gleichzeitig taucht eine Akte in den Unterlagen von Noras Mutter auf und Nora macht sich auf die Suche nach einem verschollenen Vater. Verdächtige Personen finden sich bei den Recherchen so einige, denn die Idylle in Bergental trügt.
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Seitenzahl: 345
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www.tredition.de
Cynthia Lotz
Der Tod kam
zur blauen
Stunde
Nora Nieberg ermittelt
www.tredition.de
© 2021 Cynthia Lotz
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback: 978-3-347-42471-5
Hardcover: 978-3-347-42472-2
e-Book: 978-3-347-42473-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Prolog
Vor dem örtlichen Supermarkt, der gleichzeitig der Platz war, wo sich die Dorfbevölkerung auf ein Schwätzchen traf, bildeten sich zwei Menschentrauben. Diese blickten sich zunehmend unfreundlicher an.
Nora wusste nicht, wie früher der Zusammenhalt im Ort gewesen war. Vermutlich war es nie anders als heute. Wenn sich Außenstehende gegen den Ort wandten, hielten alle zusammen, aber innerhalb des Ortes ließ man seine Meinung zur Ideologie anwachsen und bekämpfte sich. Wobei das Thema nicht entscheidend war. Jedes Thema war dafür geeignet. Manchmal ging es um den Bau von Windkraftanlagen, manchmal um den Bau einer Autobahn. Selbst als es keine Einkaufsmöglichkeiten im Ort gab und der örtliche Supermarkt gebaut werden sollte, entzweite das die Menschen.
Generell zu sagen, dass die einen alles so belassen wollten wie bisher und die anderen genau dies ändern wollten, wäre zu einfach gewesen. Wer gegen den Bau von Windkraftanlagen war, konnte gleichzeitig für den Bau einer Autobahn sein oder umgekehrt. Man konnte es weder in Verbindung mit Parteizugehörigkeit bringen noch in Verbindung mit dem Unterschied zwischen Alteingesessenen und Zugereisten. Nora vermutete, dass Gefühle und finanzielle Eigeninteressen dabei meist eine größere Rolle spielten als vernünftige Argumente. Und Emotionen waren bei dem heutigen Thema im Übermaß vorhanden.
Montag, 14. September
Nora hatte die Morgenrunde mit ihrem Hundewelpen Woody hinter sich gebracht. Dieser war noch nicht stubenrein, aber er bemühte sich immer mehr darum, es zu werden. Zu Hause angekommen, erwarteten sie die Kater Robin und Satchmo. Zu sagen, dass deren Begeisterung über den Familienzuwachs in Form eines quirligen Welpen sich in Grenzen gehalten hätte, würde nicht der Wahrheit entsprechen. Sie hassten ihn regelrecht. Sie verprügelten ihn, wenn er versuchte zu spielen oder freundlich zu sein. Manchmal reichte es, dass er sich nur bewegte. Aber die Natur forderte ihren Tribut. Irgendwann überkam die Kater die Müdigkeit. Wenn sie danach aufwachten, hatte sich ein kleines Wollknäuel an sie geschmiegt. Bis der Zustand von hellwach erreicht war, empfanden sie dies als ausgesprochen angenehm und im Laufe der letzten Woche hatten sich alle drei aneinander gewöhnt und Frieden miteinander geschlossen. Nora hatte Satchmo inzwischen mehrfach dabei beobachtet, wie er sich, nachdem er das Haus betrat, an dem Welpen zur Begrüßung rieb. Woody war das zwar noch immer nicht geheuer, aber Nora vermutete, dass er schon glücklich war, nicht von ihm geschlagen zu werden. Robin versuchte, ihn zu ignorieren.
Nora verteilte Futter. Sie stellte die Schüsseln mit respektvollem Abstand voneinander auf. Sie nahm die Position des Aufsehers ein und achtete penibel darauf, dass jeder seine Portion bekam.
Danach ging sie in ihren Garten, gefolgt von Woody, um am Ende ihres Grundstückes nach den Pferden zu sehen. Kurz bevor sie bei den Pferden ankam, nahm sie Woody auf den Arm, um zu verhindern, dass er unter die Pferdehufe geriet. Nurabi, Noras Fohlen, kam neugierig auf beide zu. Sein warmer Atem gefiel Woody gut und er leckte Nurabi über dessen Maul. Das war ein guter Start für eine Freundschaft zwischen Pferd und Hund. Die Stuten Taiga und Habibi kamen an den Zaun. Auch sie interessierten sich für den Welpen. Habibi, eine Rappstute, war die Mutter von Nurabi. Taiga, eine Schimmelstute, hatte auch ein Fohlen. Fahd war ein paar Tage jünger als Nurabi und hielt sich noch verschüchtert zurück. Die Pferde Habibi, Taiga und Fahd gehörten Franka und Dirk. Diese beiden waren gute Freunde von Nora. Sie betrieben den örtlichen Biohofladen und eine kleine, hobbymäßige Vollblutaraberzucht.
Es wurde Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. Sie wandte sich dem Haus zu und setzte nach ein paar Metern Woody auf den Boden, in der Hoffnung, er würde ihr folgen. Was er auch tat.
Im Haus angekommen ging sie in ihr Büro und Woody legte sich zum Schlafen in sein Körbchen. Nora arbeitete von zu Hause aus als selbstständige Hausverwalterin und empfand das als Luxus, da sie sich die Zeit einteilen konnte.
Nachdem sie eine Stunde konzentriert gearbeitet hatte, klingelte es an der Haustür. Das machten üblicherweise nur Lieferanten und Kunden. Wobei Letztere meistens vorher einen Termin ausmachten. Alle anderen kamen durch Vorgarten, Garten und Wintergarten, meist laut nach ihr rufend, direkt ins Haus. Heute hatte sie aber weder einen Kundentermin, noch erwartete sie eine Lieferung. Sie ging zur Haustür und öffnete sie.
Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit ihr.
Vor ihr stand eine kleine, übergewichtige Frau in sehr farbenprächtiger Kleidung mit einem bunten Hut auf dem Kopf. Auf dem Woodstock Festival wäre sie vermutlich nicht aufgefallen, aber in der heutigen Zeit hier in Bergental wirkte sie so exotisch wie ein Papagei am Nordpol.
„Tante Ulla“, begrüßte Nora sie erstaunt.
„Kind, du siehst ja großartig aus. Lass dich drücken“, erwiderte Tante Ulla strahlend. Sie schnappte sich Nora und zog sie an ihre riesigen Brüste. Nora fragte sich, ob man jemanden zwischen seinen Brüsten ersticken konnte und ob das dann Mord oder fahrlässige Tötung war. Tante Ulla plante offensichtlich nichts davon und ließ Nora wieder frei. Nicht ohne sie mehrfach auf die Wangen geküsst zu haben.
Links und rechts von Tante Ulla standen mehrere große Koffer. Nora strahlte ihre Tante an.
„Komm erst einmal herein.“
Sie half ihrer Tante, die Koffer im Flur abzustellen, und beide gingen in die Küche. Nora schenkte zwei Tassen Kaffee ein und stellte sie auf den Tisch.
„Dich zu sehen ist ja wirklich eine unerwartete, aber wunderschöne Überraschung. Ich freue mich sehr. Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?“
Tante Ulla setzte sich aufrecht hin, trank einen Schluck Kaffee und begann zu erzählen:
„Ich war das letzte Mal zur Beerdigung deines Vaters in Deutschland. So viele Jahre war ich in Neuseeland und der restlichen Welt unterwegs, aber jetzt werde ich alt und hatte Sehnsucht nach meiner Familie. Da du fast die einzige Familie bist, dachte ich mir, dass ich mit einem Besuch bei dir beginne.“
Tante Ulla war die Schwester von Noras verstorbenem Vater. Außer Nora und ihrer Schwester Simone, die als Journalistin in Berlin lebte, hatte sie keine weiteren Verwandten mehr. Sie war inzwischen 70 Jahre alt, noch immer quirlig und lustig, aber aufgrund ihres starken Übergewichtes wohl gesundheitlich nicht mehr auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit. Nora hatte sie immer sehr gemocht. Ihre Tante war weltoffen, aufgeschlossen für die verrücktesten Ideen, kein bisschen berechnend und der warmherzigste Mensch, den Nora kannte. Sie freute sich sehr, ihre Tante wiederzusehen.
„Wie geht es dir, meine liebe Nora? Du wirst immer hübscher. Wie ich sehe, hast du dir hier ein richtig gemütliches Zuhause geschaffen. Du wolltest schon als Kind gern viele Tiere um dich haben. Wie ist es dir so ergangen? Wie geht es deinem Mann Carlos? Habt ihr inzwischen Kinder? Und wieso lebt ihr nicht mehr in Frankfurt?“
Nora schenkte Kaffee nach.
„Carlos und ich sind seit vier Jahren geschieden. Zunächst hatte ich den Eindruck, dass wir beide vor sieben Jahren aufs Land ziehen wollten, aber zum Schluss stellte sich heraus, dass nur ich es wollte. Er lebt jetzt in einer Vorstadt von Frankfurt, ist inzwischen wieder verheiratet und Vater einer kleinen Tochter. Wir hatten keine Kinder. Ich bin hier sehr glücklich. Bergental ist ein herrlicher Ort zum Leben. Wenn mir der Sinn nach Stadt steht, habe ich Marburg, Gießen, Fulda, Kassel und Frankfurt zur Auswahl. Tatsächlich brauche ich die Städte aber von Jahr zu Jahr immer weniger. Ich genieße die Mittelgebirgslandschaft mit ihren sanften Hügeln und grünen Tälern. Ich habe hier sehr nette Nachbarn, wunderbare Freunde und einen Partner, den ich sehr liebe. Oliver ist Tierarzt. Ich hoffe, du kannst lange genug bleiben, dass ich dir alle vorstellen kann. Das einzig Schlimme ist, dass Mama tot ist. Das ist aber eine längere und leider sehr traurige Geschichte, die ich dir einmal in Ruhe erzählen muss.“
„Ich weiß. Da ich nicht wusste, wo du wohnst und Simone übers Internet in ihrer Redaktion leicht ausfindig zu machen war, habe ich bereits mit ihr telefoniert und sie hat mir das Wichtigste erzählt. Sie gab mir auch deine Adresse. Ich habe in einem Frankfurter Hotel zwei Tage meinen Jetlag ausgeschlafen und bin dann direkt hierhergefahren. Ich wollte dich überraschen.“
Nora dachte, dass Simone ihr unmöglich das Wichtigste hat erzählen können, da sie dies nicht wusste. Aber das war kein Thema für jetzt.
„Du hattest Glück, mich hier anzutreffen. Im Augenblick verbringe ich viel Zeit in Mamas Haus. Ich muss es ausräumen und entscheiden, was damit geschehen soll. Aber das kann ich wegen meiner Arbeit als Hausverwalterin und der Tiere immer nur stundenweise erledigen. Wie sehen denn deine weiteren Pläne aus?“
Tante Ulla blickte sich suchend um.
„Hättest du vielleicht irgendeine Kleinigkeit zum Knabbern für mich? Mein Blutzuckerspiegel sinkt gerade etwas ab.“
Nora sprang auf, entschuldigte sich für ihre Unhöflichkeit und kramte aus einer Schublade eine Packung Kekse heraus, die sie auf einem Teller ausbreitete. Während sie mit dem Rücken zu Ulla stand, antwortete diese:
„Ach, so richtig konkrete Pläne habe ich noch nicht. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne ein paar Tage bei dir bleiben. Wie es dann weitergeht, werde ich dann sehen.“
Nora spürte am Tonfall, dass die Kekse ein Ablenkungsmanöver gewesen waren, damit ihre Tante ihr bei dieser Erklärung nicht ins Gesicht sehen musste. Tante Ulla hatte immer irgendwelche Pläne. Meistens reichten diese nicht über ein paar Tage hinaus, aber trotzdem spürte Nora, dass irgendetwas nicht stimmte.
„Du kannst so lange bei mir wohnen bleiben, wie du möchtest. Mein Gästezimmer steht dir immer zur Verfügung. Ich weiß nicht, wo inzwischen deine Prioritäten liegen, du hast in Megacitys, in Kleinstädten und auf Dörfern gelebt. Keine Ahnung, was du auf Dauer planst. Falls du dir vorstellen könntest, auch langfristig in meiner Nähe zu wohnen, aber lieber selbstständig und allein, dann würde ich dir gerne Mamas Haus in Alsfeld anbieten. Dann könnte ich fast alles drin lassen. Allerdings habe ich als Hausverwalterin auch Zugriff auf Wohnungen, die zur Vermietung anstehen, wenn dir ein Haus zu groß ist. Aber all das hat Zeit, jetzt bist du erst einmal bei mir und bleibst bei mir, solange du willst.“
Tante Ulla blickte unter sich und schluckte. Nora vermutete, die Tante hatte Tränen in den Augen. Sie stand auf und nahm sie in ihre Arme:
„Herzlich willkommen in Bergental und bei mir.“
***
Nachdem beide das Gepäck der Tante ins Gästezimmer gebracht hatten und Ulla sich eingerichtet hatte, kam sie die Treppe herunter und betrat die Küche. Dort stand ein sehr gutaussehender Mann mit lockigen schwarzen Haaren, tief dunkelbraunen Augen, einem Dreitagebart und blickte sie erstaunt an.
„Sie müssen Oliver sein. Ich bin die Tante von Nora. Ulla Esch. Freut mich, Sie kennenzulernen. Sie können mich Ulla nennen.“
„Freut mich auch. Sehr gerne. Nora hat mir gar nichts von deinem Besuch erzählt.“
„Ich wollte sie überraschen.“
„Wo ist Nora denn?“
In diesem Augenblick betrat Nora die Küche. Sie hatte einen großen Stapel Umzugskartons aus dem Keller geholt und in ihr Auto geladen.
„Wie ich sehe, habt ihr euch schon miteinander bekannt gemacht. Hallo Schatz.“
Sie ging auf Oliver zu und küsste ihn zur Begrüßung.
„Wir können auch gleich essen. Ich habe frisches Brot gekauft.“
Sie wandte sich an Tante Ulla:
„Mittags gibt es bei mir einen Brunch. Gekocht wird immer erst abends. Aber jetzt, wo du hier bist, können wir das auch ändern.“
„Nein, das ist schon in Ordnung. Mir ist alles recht“, antwortete Ulla.
Sie setzten sich an den Tisch und Nora stellte das frische Brot, Butter, Käse, gekochte Eier, Marmelade, Honig und Gelee auf den Tisch. Sie setzten sich und Oliver wollte wissen, wo Ulla überall auf der Welt gewesen war.
„Ich bin viel rumgekommen. Ich war an so vielen Orten auf der Welt, dass ich sie kaum aufzählen kann. Aber die meisten davon waren nur Visafluchten, wie ich es nenne. Mein Herz gehörte immer Neuseeland. Ich hatte aber leider weder genug Geld, um mich dort einzukaufen, noch hatte ich einen gesuchten Job und heiraten ging auch nicht. Das bedeutete, wenn meine Visa abgelaufen waren, musste ich immer erst einmal eine Zeitlang Neuseeland verlassen. Weshalb ich in den letzten Jahren zu sehr vielen Länderstempeln in meinem Reisepass kam. Ich liebe Neuseeland. Es tat mir immer gut. Aber nun war es Zeit heimzukehren.“
Sie blickte wehmütig in den Garten und fügte, in Gedanken an Neuseeland, hinzu: „Aotearoa, mein ‚Land der langen weißen Wolke‘.“
Nora und Oliver schwiegen. Sie wussten, sie würden noch viele Geschichten von ihr erfahren. Nora stand auf und räumte den Tisch ab. Oliver half ihr. Tante Ulla wollte aufstehen, aber Nora forderte sie auf, sitzen zu bleiben.
Nora wollte über Mittag ins Haus ihrer Mutter fahren und fragte Ulla, ob sie mitwollte oder lieber ausruhen wollte. Ulla entschied sich mitzukommen.
Sie fuhren nach Alsfeld zum Haus der Mutter. Während der Fahrt sagte Ulla:
„Oliver passt gut zu dir. Carlos hat nie zu dir gepasst.“
„Das weiß ich jetzt auch“, lachte Nora.
Nora lud die Umzugskartons aus und gemeinsam betraten sie das Haus. Alles im Haus erinnerte Nora an ihre Mutter.
Nora begann, die Kartons aufzubauen und die Unterlagen auf dem Schreibtisch ihrer Mutter zu sortieren. Was weggeworfen werden konnte, kam in den Aktenvernichter, der Rest in den Karton. Ulla lief durch das Haus, kam zurück und fragte erstaunt:
„Hatte Gisela keine Pflanzen?“
„Die habe ich als Allererstes zu mir geholt. Ich wollte nicht jedes Mal zum Pflanzen gießen hierherfahren.“
„Ich könnte so nicht leben. Alles so elegant und Ton in Ton.“
Nora lachte. Das glaubte sie Ulla sofort. Jedes Hippiezelt hätte besser zu Ulla gepasst als diese Umgebung, die Stil und Geld ausstrahlte. Die Hoffnung, ihre Tante dazu zu bewegen, das Haus zu beziehen und sich die Arbeit zu ersparen, es komplett ausräumen zu müssen, zerplatzte wie eine Seifenblase.
Nora merkte, dass ihre Tante sich überflüssig fühlte, und schlug ihr vor, zum historischen Marktplatz zu gehen und sich dort in eines der Straßencafés zu setzen. Sie würde sie später dort abholen. Diese Idee gefiel Ulla gut.
***
Ulla steuerte die, direkt auf dem Marktplatz gelegene, Eisdiele an. Das Wetter war spätsommerlich warm, die Sonne schien und die Welt zeigte sich von ihrer schönsten Seite. Die Eisdiele war gut besucht, was bedeutete, dass kein Tisch mehr frei war. Ulla ging zielgerichtet auf einen Tisch zu, an dem eine einzelne Dame saß. Sie strahlte die Frau an und fragte, ob sie sich dazu setzen dürfte. Die Dame nickte. Ulla setzte sich und begann sofort ein Gespräch. Die Frau hatte nur die Wahl, zwischen flüchten oder sich auf das Gespräch einzulassen. Sie entschied sich für das Gespräch. Ulla gelang es fast immer, innerhalb kürzester Zeit die Menschen dazu zu bewegen, ihr alles über sich zu erzählen. Die Frau stellte sich als Elfriede Schneider vor. Sie lebte in Hannover und verbrachte seit Jahren jeden Urlaub in Alsfeld. Alsfeld ist ein sehr schönes Fachwerkstädtchen mit einem weltberühmten Rathaus. Tausende Japaner kommen allein deswegen jedes Jahr auf ihrer Europareise hierher. Aber Ulla konnte sich keinen vernünftigen Grund vorstellen, warum man jahrelang seinen Urlaub in Alsfeld verbringen sollte. Tante Ulla wäre nicht Tante Ulla gewesen, wenn sie dieses Geheimnis nicht lüften würde. Kurz zögerte Elfriede Schneider, aber dann begann sie zu erzählen:
„Vor fünf Jahren kam ich das allererste Mal nach Alsfeld. Es war Anfang Juni. Das Wetter war herrlich warm. Meine Freundinnen hatten mir in einem Alsfelder Hotel ein Wellnesswochenende geschenkt. Mein Mann war damals seit zwei Jahren tot und ich, damals 60 Jahre alt, kam damit noch immer nicht klar. Am ersten Abend meines Aufenthaltes hier lernte ich Hermann kennen. Er bezauberte mich vom allerersten Augenblick an. Ich hatte das Gefühl, er sei seelenverwandt mit mir. Er war nett, zurückhaltend und charmant. Er erzählte mir, dass er bei Bekannten zu Besuch sei und ansonsten in Frankfurt wohne. Wir verbrachten fast eine ganze Woche zusammen. Ich hatte im Hotel nachgebucht, nur damit ich länger mit ihm zusammen sein konnte. Es war wie im Märchen. Plötzlich war meine Traurigkeit wie weggeblasen, ich konnte wieder Lachen und wir liebten uns wie Teenager. Er zeigte mir die ganze Umgebung. Wir hatten einen Leihwagen, da wir beide mit dem Zug angereist waren. Leider hatte ich nicht auf das Kennzeichen geachtet. Nach einer Woche musste er wegen nicht aufschiebbarer Termine wieder nach Frankfurt und ich fuhr wieder heim. Wir tauschten Adressen und Telefonnummern und versprachen uns, uns so bald wie möglich wiederzusehen.“
Elfriede Schneider atmete tief ein und trank einen Schluck ihres Eiskaffees.
Ulla betrachtete die schlanke Frau mit den brünetten Haaren und den braunen Augen. Sie ahnte, dass die Geschichte kein glückliches Ende nehmen würde. Sie ließ Frau Schneider Zeit, sich zu sammeln, nickte nur bestätigend in deren Richtung und nahm zwei weitere Löffel Eis zu sich. Elfriede Schneider fuhr fort:
„Kaum zu Hause angekommen, wollte ich ihn sofort anrufen, aber ich wartete erst noch einmal ab. Vielleicht würde er anrufen. An dem Abend kam kein Anruf mehr. Ich machte mir Sorgen, ob er gut zu Hause angekommen sei, und rief am nächsten Morgen die angegebene Nummer an. Die Stimme am Telefon teilte mir mit: Diese Nummer ist nicht vergeben. Zunächst dachte ich, er hätte vielleicht einen Zahlendreher in der Nummer. Dann recherchierte ich seinen Namen und fand diesen mehrfach in Frankfurt. Und nicht nur dort. Hermann Schmidt ist nicht unbedingt ein sehr seltener Name in Deutschland. Es ist mir peinlich zuzugeben, aber ich rief sie alle in ganz Frankfurt an. Keiner davon war mein Hermann. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. So verbringe ich nun jeden Urlaub hier, in der Hoffnung, ihn irgendwann einmal wiederzusehen und eine Erklärung für sein Verhalten zu bekommen. Diese Funkstille fühlt sich an, als hätte jemand Selbstmord begangen und man weiß nicht, warum. Es gibt keinen Endpunkt. Ich dachte, der Tod meines Mannes sei schlimm gewesen, aber dieses wortlose Verschwinden ist viel, viel schlimmer.“
Erschöpft lehnte sie sich zurück.
Ulla legte ihre Hand auf die Hand von Frau Schneider und sagte mitfühlend:
„Es gibt nicht viel, was schlimmer ist. Haben Sie ein Foto von ihm und sich? Schicken Sie es mir via WhatsApp. Ich werde mich umhören und umsehen. Vielleicht kennt ihn irgendjemand oder weiß, bei wem er damals zu Besuch war. In welchem Hotel wohnen Sie denn? Ist es dasselbe wie damals?“
Ulla war klar, dass es dasselbe Hotel war. Frau Schneider bestätigte es. Sie tauschten ihre Telefonnummern aus und Frau Schneider schickte ihr ein Foto von sich und Hermann und eines von Hermann allein. Man sah ihm auf beiden Fotos an, dass es ihm nicht gefiel, fotografiert zu werden.
Ulla sah Nora auf sich zukommen, sie verabschiedeten sich und versprachen, sich gegenseitig zu informieren, sollte eine etwas in Erfahrung bringen. Frau Schneider teilte Ulla mit, dass sie erst heute angekommen sei und für eine Woche gebucht hätte. Sie würde sich freuen, Ulla noch einmal zu treffen, sollte diese Lust und Zeit dafür aufbringen. Ulla meinte, dass sich bestimmt noch einmal eine Gelegenheit dazu ergeben würde. Dann ging Ulla Nora entgegen und beide gingen gemeinsam zum Auto. Ulla erzählte von dem Gespräch. Nora konnte zwar nicht nachvollziehen, dass man über fünf Jahre einer einwöchigen Urlaubsbekanntschaft hinterhertrauern konnte, aber trotzdem tat ihr die Frau leid. Sie hatte nie einen solchen Kontaktabbruch erlebt. Dass ein solcher einen sehr lange beschäftigen konnte, konnte sie sich trotzdem vorstellen.
An diesem Abend hatte Oliver etwas anderes vor und Nora und Ulla verbrachten den Abend zu zweit. Nachdem sie gegessen hatten, gingen sie früh schlafen. Ulla hatte den Jetlag immer noch nicht überwunden.
Dienstag, 15. September
Vormittags hatte Nora im Büro viel zu erledigen. Es gab, in einer, von ihr verwalteten Wohnung, einen Wasserrohrbruch. Sie musste einen Installateur finden, der sofort kommen konnte. Sie hatte zwar einen Pool von festen Handwerkern, mit denen sie seit Jahren zu ihrer vollsten Zufriedenheit zusammenarbeitete, aber gerade jetzt war der Installateur, der sonst immer sofort zur Verfügung stand, in Urlaub. Nach einiger Anstrengung gelang es ihr, einen anderen zu finden. Zunächst besprach sie die Konditionen mit ihm, denn diese musste sie dem Wohnungseigentümer gegenüber vertreten können. Weiterhin kam sie nicht umhin, direkt in die Wohnung zu fahren, um sich den Schaden vor Ort anzusehen, und durch Fotos zu belegen. Normalerweise verließ sie sich dabei auf ihren Hausinstallateur, der die Fotos machte und ihr zusandte. Dieses Mal musste sie selbst vor Ort erscheinen.
Nachdem Ulla einen Kaffee getrunken hatte, die Katzen näher kennenlernen durfte und mit Woody gespielt hatte, fragte sie Nora, ob sie den Welpen mit auf einen Spaziergang durch den Ort nehmen durfte. Nora fand, das sei eine gute Idee. Sie zog ihm sein Geschirr an und drückte Ulla die Leine in die Hand. Beide zogen los und Nora blickte ihnen lächelnd hinterher. Dann machte sie sich auf den Weg zu der Wohnung mit dem Wasserrohrbruch.
***
Ulla fand, dass Nora sich eine sehr hübsche Gegend in Deutschland zum Leben ausgesucht hatte. Die sanften Hügel, das intensive Grün, die alten Fachwerkstädtchen und die dichten Wälder stellten gleichzeitig einen Kontrast dar und strahlten trotzdem Harmonie aus. Das Einzige, was fehlte, war Wasser. Ein schöner breiter Fluss würde das Ganze als Paradies erscheinen lassen. Ulla hatte so lange an den neuseeländischen Küsten gelebt, dass sie schon jetzt die langen Strandspaziergänge vermisste. Man konnte aber nicht alles haben.
Sie hatte nie in ihrem Leben Probleme damit gehabt, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Aber ein Hund war in diesem Bereich ein Multiplikator. Man musste niemanden ansprechen, man wurde angesprochen. Das Wetter war herrlich und viele Menschen verbrachten ihre freie Zeit in den Gärten.
Während Ulla gemütlich durch den Ort schlenderte, die hübschen Fachwerkhäuser bewunderte und die Großzügigkeit sowie die Blütenpracht der Gärten bestaunte, sprachen viele Leute sie an und wollten wissen, wer sie denn sei. Es sei doch ‚der Hund von der Freundin von dem Tierarzt‘, mit dem sie unterwegs sei. Die nächste Frage war, ob sie zum Tierarzt oder zu dessen Freundin, deren Mutter getötet worden war, gehöre. Danach schloss sich die Frage an, ob sie nur zu Besuch sei, wie lange sie bleiben wolle oder ob sie ganz nach Bergental ziehen wolle. Letzteres ließ Ulla immer offen.
Ulla stellte auch Fragen. Wie es sich so leben ließ in Bergental oder was es gerade so Neues gäbe. Das war das Stichwort.
Ein Thema war das, schon längst nicht mehr heimliche, Verhältnis des Schuldirektors Franz Schmidt mit Anja Balzer. Ulla erfuhr, dass Anja Balzer weniger Gehirn als Busen zu bieten hatte und die örtliche Maniküre war. Weiterhin, dass der Schuldirektor mit Claudia Schmidt verheiratet war, ein Kind hatte und dass die Claudia eine Gute war und das alles überhaupt nicht verdient hatte. Bestens informiert setzte sie ihre Runde durchs Dorf fort.
Sie traf viele nette Leute. Meistens Ältere, die Zeit hatten und die Sommerzeit in ihren Gärten verbrachten oder junge Mütter mit kleinen Kindern. Der größte Teil der Gespräche glich sich wie ein Ei dem anderen. Nur bei der Frage von Ulla, was es Neues gäbe, lagen die Prioritäten auf unterschiedlichen Schwerpunkten. Ein älterer Mann teilte ihr mit, dass im Augenblick die Gemüter wegen eines Wolfes sehr erhitzt seien. Zunächst dachte Ulla, sie hätte sich verhört. Aber tatsächlich ging es um eine junge Wölfin, die angeblich seit geraumer Zeit durch das Gebiet zog und einen Keil durch die Bevölkerung trieb. Auf der einen Seite gab es ‚diese Tierschützer‘, wie der ältere Mann ihr mit einem verächtlichen Unterton mitteilte, und auf der anderen Seite die Weidetierhalter. Diese verlangten, dass die Wölfin abgeschossen werden sollte. Für wen von beiden Seiten der Mann mehr Sympathie hegte, war eindeutig zu erkennen. Ulla fand, es sei zum jetzigen Zeit-punkt geschickter, sich neutral zu verhalten. Sie bedankte sich für das nette Gespräch und zog weiter. Diplomatisches Geschick war normalerweise nicht ihre Stärke.
Als Nächstes begegnete sie einer blonden Frau von Anfang dreißig. Diese saß auf einem niedrigen Hocker auf dem Bürgersteig und strich ihren Zaun hellblau an. Sie stellte sich als Claudia Schmidt vor. Jene Claudia, von der Ulla gerade gehört hatte, dass sie eine Gute sei und es nicht verdient hätte, betrogen zu werden. Sie unterhielten sich eine Zeit lang darüber, dass es immer weniger Vögel gab und dass ihr Mann Hobby-Ornithologe sei und darüber genau Buch führte. Sie selbst interessierte sich mehr für die größeren Wildtiere. Zum Beispiel für die junge Wölfin, die durchs Revier lief und die Waschbärenpopulation. Auf ihrem eigenen Dachboden hatte letzten Winter und Frühjahr eine Waschbärin ihre vier Jungen großgezogen. Claudia hatte sich eine Wildtierkamera gekauft und die Aufzucht der Tiere beobachtet. Das war spannend gewesen. Waschbärenmütter waren sehr liebevolle und fürsorgliche Mütter. Entgegen dem, was sie erwartet hatte, war keinerlei Schaden auf dem Dachboden entstanden.
Ein Stück weiter traf Ulla auf einen Mann, welcher damit beschäftigt war, eine Lampionkette über seiner Haustür anzubringen. Es war unschwer zu erkennen, dass ihm dazu zwei weitere Hände fehlten. Ulla fragte, ob sie behilflich sein könne, was er dankbar annahm. Sie reichte ihm, was er benötigte. Ihr erster Eindruck war, dass es sich um einen charismatischen und charmanten Herrn handelte. Er erzählte ihr, dass sein Enkel Geburtstag hätte und er für die Außendekoration der Geburtstagsfeier zuständig sei. Er lachte viel und Ulla auch. Neugierig geworden, streckte seine Frau Margot den Kopf zur Tür heraus. Er teilte ihr mit, dass Ulla ‚die Tante von der Freundin vom Tierarzt‘ sei und dass diese in Bergental zu Besuch sei. Damit war geklärt, wo und wie sie im Dorf eingeordnet wurde. Margots Mann bedankte sich bei Ulla für ihre Hilfe, Margot lud sie auf einen Kaffee ein, doch Ulla lehnte dankend ab. Sie war lange genug unterwegs gewesen und wollte wieder heim. Woody machte einen erschöpften Eindruck, trotzdem bewältigte er den Heimweg tapfer. Zu Hause angekommen gab ihm Ulla sein Futter. Kaum hatte er gefressen, verschwand er in sein Körbchen und schlief sofort ein. Margots Mann war ein sehr attraktiver, charmanter Mann. So einen traf man selten. Irgendetwas kam ihr an ihm bekannt vor. Aber sie kam nicht darauf, was es war.
***
Als Nora wieder zu Hause ankam, stand Ulla in der Küche. Der Tisch war bereits gedeckt. Für Rühreier war alles vorbereitet, sie mussten nur noch in die Pfanne.
„Du verwöhnst mich“, sagte Nora strahlend.
Ulla winkte grinsend ab, schüttete die geschlagenen Eier in die Pfanne und briet sie. Genau wie Nora sie liebte. Mit Zwiebeln und Schnittlauch.
Beim Essen erzählte Nora von ihrem Vormittag. Der Wasserschaden hatte sich zunächst schlimmer angehört, als er war. Der neue Installateur war nett gewesen und hatte ihr erklärt, dass dies schnell repariert sei. Im Gegenzug berichtete Ulla, was sie vormittags in Bergental erlebt hatte.
„Du bist hier nur ‚die Freundin vom Tierarzt‘, was ich persönlich viel netter finde als ‚die Frau, deren Mutter ermordet wurde‘. Und ich bin jetzt ‚die Tante von der Freundin vom Tierarzt‘.“
Beide lachten.
Als Ulla von dem charismatischen Mann zu erzählen begann, fingen ihre Wangen an zu glühen. Nora fragte unauffällig, wo er denn wohne. Ulla beschrieb es so gut wie möglich und erwähnte auch noch dessen Ehefrau Margot.
„Das sind die Nagels. Er betreibt einen kleinen Metallbetrieb. Sein Geschäftspartner dort ist der Cousin von Oliver. Er heißt Klaus Loth. Der Betrieb stellt Schrauben für die Firma Lederer, eine große Autozubehörfabrik hier im Ort, her. Herr Nagel und Hans Lederer sind beide Jäger und haben aneinandergrenzende Jagdreviere.“
Nora schluckte. Im Jagdrevier von Hans Lederer hatte man ihre Mutter gefunden. Nun ruhte deren Asche in ihrem Garten unter einer alten Eiche und eine wunderschöne, alte Kletterrosensorte wuchs auf ihrem Grab. Diese stand in voller Blüte. Jedes Mal, wenn Nora in ihren Garten sah, dachte sie an ihre Mutter.
Ulla spürte die Traurigkeit ihrer Nichte und legte ihre Hand auf deren Hand und nickte, um ihr verstehen zu geben, dass sie Verständnis für sie hatte.
Nora begannen die Tränen über die Wangen zu laufen und sie erzählte ihr die ganze Geschichte, welche mit dem Verschwinden ihrer Mutter begann.
Ulla hatte ihr aufmerksam zugehört. Sie ging nur einmal kurz zum Kühlschrank. Sie nahm die Flasche selbst gemachten Eierlikör heraus und schenkte ihnen beiden davon ein.
„Mein liebes Kind, du hast alles richtig gemacht. Es würde deiner Mutter gefallen, hier bei dir, unter dieser wunderschönen Kletterrose, im Schatten der großen Eiche, ihre letzte Ruhe gefunden zu haben.“
Nora nickte und lächelte wieder. Es war schön, Tante Ulla bei sich zu haben.
Woody wurde wach und Nora beeilte sich, ihn in den Garten zu bringen, damit das Sauberwerden des Welpen Fortschritte machte. Jedes Mal, wenn dies klappte, bekam er direkt danach ein Leckerli. Ob das pädagogisch sinnvoll war, wusste sie nicht, aber sie hatte den Eindruck, dass es funktionierte.
Als sie wieder das Haus betrat, hatte ihre Tante bereits den Tisch abgeräumt und die Küche sah ordentlich aus. Nora musste nun wieder arbeiten. Ulla wollte sich eine kurze Mittagspause gönnen und danach noch einmal eine Runde mit Woody durchs Dorf gehen.
Nora ging in ihr Büro und Woody folgte ihr. Ausgeruht, wie er war, wollte er jetzt spielen. Sie brachte es nicht übers Herz, ihm dies auszuschlagen. Sie nahm einen kleinen Ball und rollte ihn durchs Büro und er lief schwanzwedelnd hinterher. Das Prinzip des Apportierens hatte er noch nicht verstanden, sodass sie die meiste Zeit damit beschäftigt war, hinter Woody herzulaufen und ihm den Ball wieder abzunehmen. Sobald er ihn ihr gab, wurde er gelobt und gestreichelt. Das führte in der Regel zu so einem wilden Wedeln, dass der kleine Hund fast umfiel. Nach dem Spielen legte er sich wieder in sein Körbchen. Nora erledigte ein paar Telefonate, beantwortete ihre E-Mails und gab die Daten von Neukunden in ihren Computer ein.
Als sie ihre Tante die Treppe herunterkommen hörte, erhob sie sich und ging in die Küche.
„Möchtest du noch eine Tasse Kaffee trinken oder gleich mit Woody spazieren gehen?“
„Das Wetter ist gerade so herrlich. Ich gehe jetzt gleich eine Runde spazieren.“
Woody, der das Gespräch gehört hatte, kam angelaufen und freute sich, als er Nora mit seinem Geschirr und der Leine in der Hand sah.
Ulla tat Woody gut. Nora blickte ihnen hinterher. Sobald Ulla wieder abgereist wäre, musste sie häufigere Spaziergänge mit ihm in ihrem Tagesplan vorsehen.
Nora fuhr zum Haus ihrer Mutter.
Deren privates Büro hatte sie fast ausgeräumt. Persönliche Dinge und Unterlagen musste sie selbst durchsehen. Ihre beruflichen Akten hatte ihre Mutter alle in der Kanzlei. Sehr selten nahm sie eine Akte auch einmal mit nach Hause. Umso erstaunter war Nora, als ihr eine laufende Akte in die Hände fiel. Nach all den Monaten hätte der Klient doch einmal nachfragen müssen, was aus seinem Fall geworden ist. Spätestens dann hätte sich Frau Werner, die Sekretärin ihrer Mutter, bei ihr gemeldet und Nora gebeten nachzusehen, ob die Akte bei Gisela Esch zuhause sei. Sie steckte die Akte ein und nahm sich vor, sie so schnell wie möglich in der Kanzlei abzugeben.
Nora überlegte, dass Ulla und das Haus kein bisschen zueinander passten. Ihre Mutter hatte schon lange in dem Haus gelebt und war die Größe gewohnt. Für eine ältere Dame, die eine neue Unterkunft sucht, war das Haus viel zu groß. Aufgrund der Lage ließ es sich gut vermieten oder verkaufen. An einen Verkauf dachte Nora nicht. Das Problem würde sie lösen, aber zunächst musste das Büro ausgeräumt werden. Nora sortierte weiter. Bis ihr ein Umschlag in die Hände fiel. Er war verschlossen und nicht an sie adressiert. Ihr stockte der Atem.
***
Ulla lief auf die andere Seite der Hauptstraße, welche das Dorf in zwei Hälften teilte. Dort gab es mehr Neubauten und die Besitzer schienen alle berufstätig zu sein. In den Gärten herrschte mehr Ruhe. Die Grundstücke waren deutlich kleiner. Ulla schauderte beim Anblick von solch regelkonformer Ordentlichkeit. Jeder andere wäre vermutlich begeistert gewesen, wenn er die gepflegten Vorgärten und die akkurat beschnittenen Rasenkanten gesehen hätte. Ulla nicht. Sie drehte um und begab sich, so schnell sie mit einem gemütlich trödelnden Welpen konnte, wieder auf die andere Seite der Hauptstraße. Dort gab es noch viel zu erforschen.
Als Erstes begegnete ihr eine Gruppe Kinder mit deren beiden Erzieherinnen. Die Kinder wollten alle Woody streicheln. Nur ein kleines Mädchen wandte sich direkt an Ulla.
„Das ist der Woody von der Nora. Und wieso hast du den denn jetzt?“
Sie legte dabei ihre Stirn in Falten und blickte Ulla ausgesprochen skeptisch an.
„Ich bin Noras Tante Ulla und gerade zu Besuch bei ihr. Nora hat mir erlaubt, mit ihm spazieren zu gehen. Wer bist du denn?“
„Ich bin die Milena und wohne mit meiner Mama und meinem Papa und meinen Geschwistern neben der Nora. Schon immer. Und dich habe ich noch nie bei der Nora gesehen.“
Überzeugt war Milena nicht, dass das mit rechten Dingen zuging und diese fremde Frau den Woody wirklich von Nora hatte.
„Am besten kommst du später mal mit deinen Geschwistern zu Nora rüber und dann können wir uns alle näher kennenlernen. Ist das okay für dich?“
Milena nickte.
Woody gefiel es zunächst gut, gestreichelt zu werden, aber nach ein paar Minuten wurde es ihm zu viel und die Erzieherinnen erlösten ihn, indem sie weiterzogen. An Nachwuchs schien es hier im Dorf nicht zu mangeln.
Als Nächstes kam sie zu einem Blumenladen. Sie sah sich die Auslage vor dem Laden an und die Verkäuferin kam heraus. Eine junge, schlanke Frau von Anfang dreißig lächelte sie freundlich unter ihrem wilden lockigen, knallroten Haarschopf an:
„Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?“
Bevor Ulla antworten konnte, begann Woody aufgeregt, an der Frau hochzuspringen. Diese blickte nach unten, bückte sich, hob Woody hoch, drückte ihn fest an sich und fragte erstaunt:
„Wer sind Sie denn?“
„Ich bin die Tante der Freundin vom Tierarzt“, entgegnete Ulla, um gleich ihre familiäre Zugehörigkeit zu klären.
„Die Tante von Nora?“ Irritiert presste sie Woody weiter an sich, nicht willens, ihn wieder freizugeben, ohne sich sicher zu sein, dass er nicht entführt worden war.
„Ja, ich bin die Schwester ihres verstorbenen Vaters. Ich habe lange im Ausland gelebt. Und bin seit gestern zu Besuch bei Nora. Oliver, der Tierarzt, kennt mich schon.“
Das beruhigte Rosi etwas. Bei genauerem Hinsehen sah man eine Ähnlichkeit mit Noras Vater, den sie nur von Bildern kannte.
„Ich bin Rosemarie Wolf, nennen Sie mich Rosi, jeder tut das. Ich bin Noras Freundin. Freut mich, Sie kennenzulernen.“
„Ich bin Ulla Esch, nenn mich Ulla oder auch Tante Ulla, da bin ich großzügig, man kann gar nicht genug Verwandtschaft haben, die man sich selbst ausgesucht hat.“
Ulla lachte von Herzen und Rosi schloss sich an.
„Dann sage ich erst einmal: Herzlich willkommen in Bergental.“
„Ich glaube, ich muss mir von Nora eine beglaubigte Erklärung unterschreiben lassen, dass ich Woody nicht entführt habe. Ich bin gerade erst Milena aus dem Nachbarhaus begegnet und auch sie war ausgesprochen skeptisch, ob alles mit rechten Dingen vor sich geht.“
„Das wäre sinnvoll hier im Dorf“, lachte Rosi. „Ich hoffe, du bleibst länger und kannst uns alle kennenlernen.“
Ulla war nicht klar, wer mit ‚uns alle‘ gemeint war, aber sie freute sich darauf, sie alle kennenzulernen. Sie verabschiedeten sich und Ulla und Woody zogen weiter.
Schon, als sie in die Nähe des Hauses der Nagels kam, hörte sie fröhliches Kinderlachen. Der Kindergeburtstag des Enkels war offensichtlich ein voller Erfolg. In dem Augenblick, als sie das Grundstück passieren wollte, erblickte Margot Nagel Ulla und kam winkend an den Zaun.
„Wie schön, Sie wiederzusehen, es ist noch genug Kuchen da, kommen Sie doch herein. Wir können uns in eine etwas ruhigere Ecke des Gartens setzen. Mein Mann und unsere Tochter kümmern sich um die Kinder. Ich brauche jetzt eine Pause. Bitte leisten Sie mir dabei Gesellschaft.“
Ulla nahm die Einladung gerne an. Es war schwül, eine kurze Pause und etwas zu trinken würden ihr guttun.
Die Kinder rannten spielend durch den Garten. Die Großeltern hatten ihrem Enkel ein großes Trampolin geschenkt und aufgebaut. Die sechs Jungen, die durch den Garten tobten, sprangen nacheinander hinein und hatten daran ihre Freude. Margot lud Kuchen auf zwei Teller, stellte diese auf ein Tablett und dazu zwei Gläser, eine Karaffe mit Wasser, zwei Becher und eine Thermoskanne mit Kaffee. Sie trug das Tablett zu einer ruhigeren Ecke des Gartens und stellte es auf einen alten Tisch aus Metall.
Sie setzten sich auf Stühle im gleichen Stil und Margot schenkte Kaffee und Wasser ein. Ulla lobte den selbst gemachten, köstlichen Kuchen. Sie unterhielten sich über Margots Garten und Ullas Reisen. Margot wollte schon immer einmal nach Neuseeland und hörte sich Ullas Schilderungen von dort begeistert an. Margot selbst verreiste eher selten. Einmal im Jahr fuhr sie mit den Frauen ihres Kegelklubs für eine Woche irgendwohin. Jedes Jahr suchten sich die Frauen ein anderes Ziel in Deutschland aus. Nur der Zeitpunkt war immer derselbe, damit man das einplanen konnte. Es war immer die erste Woche im Juni.
Während sie Kaffee, Kuchen und die Ruhe im hinteren Bereich des Gartens genossen, beobachtete Ulla Margots Mann. Ein weiterer Mann betrat das Grundstück und ging direkt auf ihn zu. Sein Kopf war hochrot und er war ziemlich aufgebracht. Beide Männer unterhielten sich kurz. Plötzlich drehte der fremde Mann sich abrupt um und verließ das Grundstück. Offensichtlich immer noch verärgert. Auch Margot Nagel hatte die Szene beobachtet.
„Das war Klaus Loth, der Kompagnon meines Mannes. Er ist eigentlich ein sehr netter Mann, aber irgendetwas scheint ihn heute aufgebracht zu haben. Das wird sich schon klären. Möchten Sie noch ein Stück Kuchen oder wenigstens, welchen mitnehmen?“
„Nein, vielen Dank, er war ausgezeichnet, aber es ist besser, ich werde nicht mit noch mehr davon in Versuchung gebracht“, lachte Ulla.
„Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben. Kommen Sie doch ruhig bald wieder vorbei.“
„Das mache ich sehr gerne.“
Margot Nagel brachte Ulla bis zum Gartentor. In diesem Moment kam ihr Mann aus dem Haus.
„Hast du denn inzwischen in Erfahrung gebracht, wie ‚die Tante von der Freundin vom Tierarzt‘ heißt?“ wandte er sich verschmitzt grinsend an seine Frau, blickte Ulla an und sagte zu ihr:
„Sie haben ja gar keinen Kuchen mitgenommen.“
Ulla streckte ihm lächelnd ihre Hand entgegen, die er annahm.
„Gestatten, mein Name ist Ulla Esch. Ihre Frau hat mir Kuchen zum Mitnehmen angeboten, aber ich hatte bereits genug und habe dankend abgelehnt.“
„Und mein Name ist Hermann Nagel. Ohne Ihre Hilfe wäre der Kindergeburtstag nicht so ein Erfolg geworden.“
Ulla erstarrte. Nun wusste sie, woher er ihr gleich so bekannt vorgekommen war. Nur mit Mühe konnte sie ihre Fassung aufrechterhalten.
Sie verabschiedete sich so freundlich, wie es ihr möglich war, und machte sich schnell auf den Heimweg.
***
Zu Hause angekommen, öffnete Ulla ihr Handy, wurde blass und sagte:
„Das ist doch nicht möglich. Er ist es.“
Nora verstand zunächst nicht, was sie meinte. Dann zeigte Ulla ihr die Fotos von dem Mann, mit dem Elfriede Schneider aus Hannover die eine Woche verbracht hatte. Der Mann auf den Fotos und Hermann Nagel waren eindeutig ein und derselbe Mann.
„Das darf doch nicht wahr sein.“
Fassungslos setzte sich Nora neben Ulla.
„Und jetzt?“, fragte sie.
„Keine Ahnung“, antwortete Ulla.
Beide überlegten, wie sie mit dieser Information umgehen sollten.
Wenn sie Elfriede Schneider nach Bergental einladen würden und, durch Zufall, am Haus der Nagels vorbei spazieren würden, gebe es bei mindestens einer Frau einen Nervenzusammenbruch und vermutlich eine kaputte Ehe. Würden sie gar nichts unternehmen, würde Elfriede Schneider vermutlich bis zu ihrem Lebensende ihren Hermann suchen und vielleicht daran zerbrechen. Würden sie ihr sagen, er sei verheiratet und hätte sie eine Woche lang belogen, könnte dasselbe geschehen. Egal, was sie anfingen oder nicht, Hermann käme immer am besten dabei weg. Das konnte nicht die Lösung sein.
Ein Mann würde vermutlich vorschlagen, sich überhaupt nicht einzumischen. Das entspricht nicht dem Naturell von Frauen. Sie wollen Probleme lösen. Zumindest die zwei Frauen Ulla und Nora. Noch sahen sie keinen Weg. Sie entschieden, dieses Problem zu vertagen und sich dem Nächsten zu stellen.
Nora holte aus ihrer Handtasche einen Briefumschlag. Sie spielte nervös mit dem Umschlag und Ulla merkte, dass dieser Umschlag wie Dynamit in Noras Händen lag.
„Was hat es denn mit diesem Umschlag auf sich, mein Kind?“, fragte sie.
„Ich habe dir erzählt, was mit Mama geschah. Du weißt auch, warum ich bereits eine Million Euro von dem Erbe ausgegeben habe. Nun habe ich diesen Umschlag gefunden.“
Nora legte ihn so auf den Tisch, dass Ulla ihn sehen und auch lesen konnte, was darauf stand: ‚Testament‘.
„Hhmm“, gab Ulla von sich, „das ist vermutlich ein altes Testament.“
„Und wenn nicht?“, fragte Nora. „Was ist, wenn dies ein aktuelleres Testament ist? Was, wenn Simone und ich nicht die Haupterben sind? Ich habe Angst, dass ich dann plötzlich auf einer Million Schulden sitze und am Ende noch in irgendwelchen Erbstreitigkeiten stecke.“
„Ich mache dir jetzt mal einen Vorschlag. Wir legen diesen Umschlag zunächst einmal oben aufs Regal, dann machen wir uns etwas Gutes zu essen und öffnen eine Flasche Wein. Und wir reden bis morgen nicht mehr über diesen Umschlag.“
Nora ließ sich nur zu gern überreden.
Während Nora in den Keller ging, um eine Flasche Wein zu holen, inspizierte Ulla die Lebensmittelvorräte. Sie begann damit, zwei Zucchini und eine Paprika bereitzulegen. Nach einiger Überlegung griff sie ins Gewürzregal und wählte zielsicher verschiedene Gewürze aus. Fasziniert fragte sich Nora, wie das alles zusammenpassen sollte. Ulla plante, einen Gemüseauflauf zuzubereiten. Durch die Auswahl der Gewürze bekam er eine völlig ungewohnte Geschmacksnote.
Oliver erschien, begrüßte Ulla, blickte ihr über die Schulter und freute sich, dass es jetzt im Haus eine begnadete Köchin gab.
Er nahm Nora in die Arme und küsste sie.