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Nora Nieberg lebt in einem idyllischen kleinen Ort im hessischen Mittelgebirge, wo die Welt scheinbar noch in Ordnung ist. Dieser Eindruck ändert sich jedoch schnell, als eines Tages ihre Mutter, die als Rechtsanwältin arbeitet, spurlos verschwindet. Gleichzeitig verschwinden weitere Frauen aus der Gegend. Haben die Fälle etwas miteinander zu tun? Wegen der Untätigkeit der Behörden sieht sich Nora gezwungen, die Ermittlungen selbst in die Hand zu nehmen. Eine der Spuren führt zum größten Arbeitgeber in der Region ...doch bald machen sich immer mehr Menschen in Noras Umfeld verdächtig. Leben die alten Damen noch oder sind sie tot? Kann Nora den Fall lösen und die Verschwundenen finden?
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Seitenzahl: 299
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Cynthia Lotz
Sie verschwinden nicht
Nora Nieberg ermittelt
© 2021 Cynthia Lotz
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-21158-2
Hardcover:
978-3-347-21159-9
e-Book:
978-3-347-21160-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Prolog
Das Haus und das Grundstück waren genau das, was sie sich gewünscht hatten, als sie es damals auf den Immobilienseiten im Internet entdeckten.
Der mittlere Bereich vor dem Haus war mit Kopfsteinpflaster ausgelegt. Im Zentrum stand eine große Buche. Die Haustür war aus massivem Holz, verziert mit wunderschönen Schnitzereien.
Rechts daneben gab es einen Carport. Dieser war an drei Seiten geschlossen und durch Kletterpflanzen eingerahmt.
Links davon war ein Vorgarten angelegt. In diesem befanden sich einige große Basaltsteine. Dazwischen wuchs Lavendel, Katzenminze und Storchenschnabel. Mittendrin standen verschiedenfarbige Rosenbüsche. Zwischen Vorgarten und Garten gab es einen niedrigen, rustikalen Holzzaun.
Der eigentliche Garten hinter dem Haus war über 3000 Quadratmeter groß. Er bot genug Platz, um Tiere zu halten. Der Garten verlief leicht ansteigend. In ihm standen uralte Bäume, darunter mehrere Birken, Weiden, Hainbuchen und Eichen.
An das Haus angelehnt befand sich, zur Gartenseite hin, ein Wintergarten, dessen Frontseite sich komplett öffnen ließ. In der Nähe stand ein alter Holzschuppen, gefüllt bis oben mit Feuerholz. Daneben gab es einen Geräteschuppen. Beide Schuppen waren berankt mit Efeu.
Es gab zwei Hochbeete und ein eingerichtetes Gewächshaus. Sowie drei Komposthaufen im Zustand unterschiedlicher Reifegrade.
Am Ende des Grundstücks stand ein leerer Offenstall. Seitlich daran angebaut gab es einen Raum, der ursprünglich einmal für Futter vorgesehen war. Darin gab es Anschlüsse für Licht und Wasser. Dorthin gelangte man über einen gewundenen Weg aus Natursteinplatten.
Das Haus selbst war ein altes, nicht sehr großes Fachwerkhaus. Dieses war erst kürzlich renoviert worden. Es stand am Ortsrand in einer Sackgasse mit nur zwei weiteren Häusern.
Solch ein Anwesen wäre für sie in der Stadt niemals erschwinglich gewesen, aber auf dem Land standen so viele Häuser leer, dass die Preise für Städter unvorstellbar niedrig waren. Während sich bei einem Verkauf die Einheimischen immer wieder fragten, wie es dem Verkäufer gelungen war, einen Käufer zu finden, der bereit war, so viel Geld für ein solches Haus zu bezahlen.
Beide hatten im Umkreis von Frankfurt nach einem günstigen Haus gesucht. Sie dachten, dass es gut für ihre Beziehung sei, während der Fahrt vom und zum Arbeitsplatz, darüber zu sprechen, was der Tag von ihnen erwartete und was der Tag dann tatsächlich zu bieten gehabt hatte.
Der Ort bot bei genauerem Hinsehen ein paar weitere Vorteile.
Es gab einen Autobahnanschluss in unmittelbarer Nähe und eine Tankstelle. Jeweils einen Arzt, Zahnarzt, Tierarzt, Supermarkt, Bäcker, Wochenmarkt, Blumenladen und einen Biohofladen. Weiterhin gab es eine Apotheke, eine Bankfiliale und ein italienisches Restaurant mit Biergarten. Es gab einen Kindergarten und eine Grundschule, was aber für beide bedeutungslos war, da sie weder Kinder hatten noch welche planten. Ein wirtschaftlich wichtiger Faktor für den Ort und die Umgebung war eine Fabrik am Ortsende. Der Ort hatte mit den sechs eingemeindeten Ortsteilen ungefähr 3000 Einwohner. Die Kernstadt, in der das Haus stand, hatte um die 1000 Einwohner.
Rund um den Ort gab es ein sehr gut ausgebautes Fahrradwegenetz. Sie könnten ihre nagelneuen E-Bikes mitbringen, um damit an der frischen Landluft ihre Freizeit zu genießen.
In allen Himmelsrichtungen fanden sich Attraktionen in einer ausgesprochen reizvollen Landschaft. Historische Fachwerkstädte, Burgen und Schlösser thronten auf Bergrücken oder bestimmten den Mittelpunkt der Orte. Die sanften Hügel und Täler auf dem größten Vulkanmassiv Mitteleuropas waren durchzogen von kleinen quirligen Bächen. Massive Blocksteinfelder und bizarre Basaltklippen zwischen tiefen, dunklen Wäldern erinnerten an Urwälder und vermittelten ein Gefühl von Wildheit und Abenteuer. Das Umfeld dagegen erinnerte an parkähnliche Strukturen. Zwischen blühenden Bergwiesen standen auf dem offenen Weideland Kühe, Pferde oder Schafe. Unzählige Hecken und Bäume boten den Tieren Schatten und den Insekten Nahrung. Der Raps blühte im Mai auf den Feldern und in den Gärten die Tulpen. Am Horizont konnte man bei klarer Sicht die Berge der Rhön sehen und an manchen Stellen die Skyline von Frankfurt.
Die Aussicht war nicht so spektakulär wie ein Alpenpanorama oder ein Meerblick, dafür aber bot sie fast unberührte, menschenleere Natur und eine vielfältige Tierwelt.
Die letzten Eigentümer wollten ihren Lebensabend an der See verbringen. Sie hatten sich dort bereits für ein Haus entschieden. All dies führte dazu, dass der Kaufvertrag zügig unterschrieben wurde, nachdem die Bank ihr Einverständnis dazu gab und die Eigentumswohnung in Frankfurt verkauft war. Innerhalb von zwei Monaten stand dem Umzug nach Bergental im hessischen Mittelgebirge nichts mehr im Wege.
Es war Idylle pur. Aber dann kam alles anders.
Montag, 25. Mai
Es war ein Montagmorgen, 8.15 Uhr.
Nora stand in der Küche und schenkte sich einen Becher Kaffee ein. Sie trug ihn in den Wintergarten, setzte sich in einen der bequemen Sessel und blickte in den Garten. Die beiden Kater Robin und Satchmo lagen auf den anderen Sesseln. Ihre nächtlichen Streifzüge waren wohl anstrengend gewesen. Ansonsten wäre sofort einer von beiden aufgestanden, um sich auf Noras Schoß zu legen und sich streicheln zu lassen.
Nora war noch immer darüber erstaunt, an einem ganz normalen Wochentag, anstatt in einem Büro in Frankfurt, in ihrem Wintergarten sitzen zu können. Sie hielt das für puren Luxus. Sie hatte vor fünf Jahren dieses Haus mit ihrem Mann Carlos gekauft. Seitdem hatte sich viel für sie geändert. Stück für Stück hatten sie sich von ihren Vorstellungen verabschiedet. Übrig blieb eine Realität, die vor Jahren nicht absehbar gewesen war. Nora dachte oft, dass es sich nun genau richtig anfühlte. Sie spürte, dass sie angekommen war. Natürlich gab es das eine oder andere, das sich verbessern ließe. Insgesamt würde sie sich aber als zufrieden und glücklich bezeichnen.
Die erste Vorstellung, von der sie sich nach ihrem Umzug aufs Land hatten verabschieden müssen, lässt sich am besten mit dem Begriff Freizeit umschreiben. Das war etwas, das es mit einem Mal nicht mehr gab. Es gab die Arbeit in der Stadt, im Haus und im Garten und die Staus auf der Autobahn.
Im ersten Winter wurde das Haus innen neu gestrichen. Verschiedene Einrichtungsgegenstände mussten dazu gekauft werden. Leider harmonisierten ihr Geschmack und der von Carlos nicht. Die Einkäufe in den Einrichtungshäusern endeten regelmäßig im Streit. Meist gab er entnervt nach. Zu den angenehmsten Erlebnissen gehörten die Besuche auf den Flohmärkten der Umgebung. Ihr gelang es immer wieder, dort etwas Schönes zu erwerben. Carlos weigerte sich, sie zu begleiten. Er fand ihre neu erworbenen Schätze meistens hässlich und unnütz.
Sobald das Frühjahr anbrach, verlagerten sich die Aktivitäten in den Garten. Es bereitete Nora viel Freude, die Hochbeete und das Gewächshaus zu bestücken. Sie lernte die Blumenhändlerin Rosemarie Wolf, genannt Rosi, kennen. Diese hatte im Ort einen Blumenladen mit Gärtnerei. Rosi war gebürtige Bergentalerin und das, was man eine „lebende Dorfzeitung“ nannte. Sie kannte jeden im Ort, war bestens über alles und jeden informiert. Schnell freundeten die beiden Frauen sich an. Rosi konnte alles an Pflanzen, die Nora sich wünschte, besorgen. Nora konnte nicht glauben, dass ihr bereits im ersten Jahr alle Gemüse- und Kräuteranpflanzungen gelangen. Sie brachten ihr eine reichhaltige Ernte ein. Alles wuchs und gedieh prächtig, ebenso ihre neu gepflanzten Sommerblumen und Stauden. Nora war beeindruckt von sich, ihren diesbezüglichen Fähigkeiten und dem Willen der Pflanzen, jeden Anfängerfehler zu verzeihen.
Eine neue Erfahrung für Nora war, wie schnell Gras wachsen kann. Falls sie nicht plante, ihr restliches Leben hinter einem Rasenmäher herzulaufen oder auf einem Aufsitzmäher festzuwachsen, musste eine Lösung her.
Die Ersten, die sie damals näher kennenlernten, waren Dirk Hill und Franka Porter. Franka hatte Dirk während ihres Europatrips auf der Durchreise kennengelernt und war geblieben. Das war vor 23 Jahren gewesen. Ursprünglich stammte sie aus den Niederlanden. Beide betrieben den Biohofladen auf dem Hof, den Dirk von seinen Eltern geerbt hatte. Dort gab es alles frisch, egal, ob es Eier, Milch, Käse oder Brot war. Auch selbst gemachte Öle, Essige, Marmeladen und Gelees sowie eine Auswahl wirklich sehr guter, internationaler Weine gab es dort. Weiterhin betrieben sie auf ihrem Hof eine hobbymäßige Pferdezucht mit Vollblutarabern.
Nachdem das Gras überhandnahm und Nora sich nicht mehr zu helfen wusste, wandte sie sich an Dirk. Sie fragte ihn um Rat. Kurz entschlossen rief er Franka hinzu, schilderte ihr das Problem und beide nickten sich zu. Franka fragte Nora, ob sie sich vorstellen könne, dass einige ihrer Pferde bei ihr im Offenstall für ein paar Wochen leben könnten. Nora war begeistert von dem Gedanken, beim Blick aus dem Fenster diese wunderschönen Tiere beobachten zu können. Franka beruhigte sie hinsichtlich der Versorgung. Sie würden sich selbst um alles kümmern. Sie waren froh, noch eine weitere Koppel für ihre Pferde hinzuzubekommen, da es bisher wenig geregnet hatte und die diesjährige Heuernte vermutlich knapp ausfallen würde.
Noch am selben Abend erschienen Dirk und Franka mit ihrem Jeep auf dem Feldweg hinter ihrem Grundstück. Nora und Carlos beobachteten interessiert, wie die beiden routiniert einen Elektrozaun aufbauten, eine Wasseruhr im Offenstall anbrachten und alles für den Einzug der Pferde vorbereiteten. Das Problem mit dem Gras schien damit gelöst zu sein. Nach dem Einzug der zwei Stuten Habibi und Taiga am nächsten Tag kamen Dirk oder Franka täglich vorbei, um die Pferde zu versorgen. Oft gesellte sich Nora dazu und freute sich über die unbeschwerte Art der beiden. Es entstand eine Freundschaft, die durch gegenseitige Einladungen zu Abendessen im Laufe der Zeit immer enger wurde. Nachdem das erste Jahr vorbei war, standen die E-Bikes noch immer unbenutzt in der Garage.
Die zweite Vorstellung, von der sie sich verabschieden mussten, war der Gedanke, dass Pendeln gut für die Beziehung wäre und man die damit gewonnene gemeinsame Zeit durch gute Gespräche positiv gestalten könnte. Nora war morgens meistens schlecht gelaunt. Die Fahrt durch Staus im Berufsverkehr dauerte deutlich länger als ursprünglich berechnet. Sie musste deshalb früher aufstehen als geplant, was ihr schwerfiel. Carlos hingegen war schon morgens gut gelaunt und erzählte während der ganzen Fahrt. Nora war jede einzelne Antwort zu viel.
Abends war es genau umgekehrt. Carlos nervten die Staus, er hatte Hunger, wünschte sich ein kaltes Bier und seine Ruhe. Nora schilderte ihm währenddessen ausführlich, was sie alles an Arbeiten im Haus und Garten plante.
Unter der Woche fehlten für diese Arbeiten meistens die Zeit und auch die Energie, sodass sie jedes Wochenende und jeden Urlaubstag dafür nutzten.
Carlos war selbstständiger Börsenmakler in der City. Nora arbeitete in einem Immobilienmaklerbüro in Frankfurt-Sachsenhausen. Im Laufe der letzten Jahre hatte sich ihr Arbeitsgebiet immer mehr in Richtung Hausverwaltungen verlagert.
An einem lauschigen Spätsommerabend, zwei Jahre nach dem Hauskauf, saßen Carlos und Nora spätabends gemeinsam bei einem Glas Wein im Garten. Gedankenversunken blickte Nora auf die Pferde. Sie sagte zu Carlos:
„Ich möchte nicht mehr jeden Tag nach Frankfurt zum Arbeiten fahren.“
Carlos antwortete lachend:
„Das ist jetzt nicht dein Ernst. Du bist gar nicht der Typ, der nur Marmelade kocht und Kuchen backt.“
Nora musste ihm recht geben, aber sie lachte dabei nicht.
Der Gedanke, spontan geäußert, ließ sie nicht mehr los. Zwei Wochen später teilte sie ihm mit:
„Ich mache mich selbstständig mit einer eigenen Hausverwaltungsagentur.“
Er wusste, dass sie das konnte und alle Argumente dagegen konnte sie entkräften.
Kurz danach kündigte sie ihren Job in Frankfurt und richtete sich im Haus ihr neues Büro ein. Sie meldete ihr Gewerbe an und startete die Werbung dafür.
Auch Carlos hatte keine Lust mehr aufs Pendeln. Genauso wenig wie auf die Staus auf der Autobahn und die viele zusätzliche Arbeit auf dem Grundstück. Er hasste Gummistiefel und Arbeitshandschuhe. Ihm fehlte die Stadt, die Straßencafés, die Kneipen, die vielen Menschen. Hauptsächlich fehlte ihm Spaß und Freizeit. Sein Weg, das Problem zu lösen, hieß Nadja, war 15 Jahre jünger als er und Nora. Sie feierte gerne Partys. Vier Monaten später war sie von Carlos schwanger.
Drei Jahre nach dem Hauskauf wurden sie einvernehmlich geschieden. Damit verabschiedeten sie sich auch von der Vorstellung von einem gemeinsamen Leben auf dem Land.
Sie hätte weinend zusammenbrechen können, aber das tat sie nicht. Sie hatte mit Carlos eine Ehe geführt, wie es Tausende gab. Man war sich in der gegenwärtigen Situation ähnlich und hatte einen Partner, den man vorzeigen konnte. Das Umfeld und die Interessen deckten sich. Man verdiente gutes Geld, traf sich im Fitnessstudio, zur Happy Hour in der derzeit angesagtesten Szene-Bar oder beim Nobelitaliener. Der Sex war leidenschaftslos, aber dafür regelmäßig. Man hatte neben der Arbeit nicht auch noch Stress mit der Partnersuche. Es war bequem, aber nicht mehr. Nora verglich Beziehungen oft mit einem fragilen Mobile mit Strohanhängern. Solange jeder an seinem Platz blieb, war alles in Balance. Verrückte eine Position, musste auch der Gegenpart rücken oder das Gleichgewicht geriet aus den Fugen. Nora hatte sich bewegt und Carlos nicht. Das war es, nicht mehr und nicht weniger.
Carlos überließ ihr großzügig das Haus. Selbstverständlich gegen ein angemessenes Entgelt. Sie überließ ihm die neu gekauften Möbel, die nicht ihrem Geschmack entsprachen. Nun konnte sie sich so einrichten, wie es ihr gefiel.
Wie es sich für zivilisierte Menschen gehört, versprachen sie sich, Freunde zu bleiben.
Nora hoffte, dass er und Nadja mit dem Baby nicht auf die Idee kommen würden, sie und ihr Haus als Ziel für sommerliche Sonntagsausflüge in Erwägung zu ziehen.
Carlos hoffte, Gummistiefel und Arbeitshandschuhe nie mehr zu benutzen.
Nadja begann, von der Anschaffung eines Hundes und eines Hauses auf dem Land zu träumen.
***
Heute war Nora eine attraktive Frau von 43 Jahren mit langen schwarzen Haaren. Hochgesteckt hinterließ das bei Kunden einen seriösen Eindruck. Offen getragen sah sie damit sexy aus. Als Pferdeschwanz zusammengebunden entsprach es am meisten ihrem Naturell. Ihre grünen Augen strahlten wie Smaragde. Ihre Figur war ein wenig zu üppig, aber das stand ihr gut. Langsam wäre es an der Zeit, nach einem neuen Partner Ausschau zu halten. Bisher war Nora jedoch kein Mann begegnet, der ihr Herz hätte schneller schlagen lassen. Sie wollte dieses Mal mehr. Mehr Leidenschaft, mehr gemeinsame Interessen und vor allem mehr Liebe. Für Oberflächlichkeit war sie inzwischen zu alt.
Es gab jedoch Situationen in ihren Leben, in denen sie sich fragte, ob und wie lange sie sich diese Anspruchshaltung noch leisten konnte. Das waren dann meistens Situationen, wenn es um schwere körperliche Arbeit ging. Sobald diese abgeschlossen waren, verwarf sie diese Überlegungen sofort wieder. Trotzdem war ihr klar, dass Haus und Garten sie auf Dauer überfordern würden. Die Obstbäume mussten im Herbst geschnitten werden. Allein mit dem Zusammenfegen des vielen Laubs der Bäume brachte sie im Herbst drei volle Wochen zu. Mithilfe ihrer Freunde konnte sie einiges bewältigen und der Rest musste von Handwerkern erledigt werden.
***
Nora stand auf und brachte ihre leere Kaffeetasse zurück in die Küche. Es wurde Zeit, mit der Arbeit zu beginnen.
Noras konnte gut von ihrer Firma leben, ohne sich einschränken zu müssen. Ihr Kundenstamm hatte sich aufgrund ihrer Zuverlässigkeit und eines angemessenen Preis-Leistungs-Verhältnisses im Laufe der Zeit deutlich vergrößert. Heute würde sie mit ein paar Handwerkern über notwendige Reparaturen reden müssen. Auch diesen Bereich nahm sie Vermietern ab, sofern diese es wünschten.
Nachdem sie dies erledigt hatte, fuhr sie zu Rosi. Nora benötigte Samen und Gemüsepflanzen, um das Gewächshaus zu bestücken. Weiterhin ein paar Kräutertöpfe für die Küche. Rosi hatte immer frisch aufgebrühten Kaffee bereitstehen. Für Nora war ein Besuch dort jedes Mal eine kleine Auszeit mit netten Gesprächen.
Gerade als sie Rosis Laden betreten wollte, verließ ein Mann eilig das Geschäft, ohne auf sie zu achten. Sein Schwung ließ sie rückwärts taumeln. Er bekam gerade noch ihren Arm zu fassen, um zu verhindern, dass sie stürzte. Ohne sie anzusehen, blaffte er sie an:
„Passen Sie doch auf.“
Nora war zu verdutzt, um rechtzeitig eine schlagfertige Antwort parat zu haben, was sie vermutlich den Rest des Tages bereuen würde. Bevor sie überhaupt etwas entgegnen konnte, ließ er sie bereits wieder los. Er blickte sie aus den schönsten Augen an, die sie je gesehen hatte, grinste und sagte das wenig intelligente Wort „Wow“, drehte sich um und verschwand. Nora blieb auf der Schwelle zum Laden stehen. Sie versuchte herauszufinden, ob sie diesem unverschämten Kerl lieber Blumentöpfe hinterherwerfen oder sich ihm an den Hals werfen sollte. In Anbetracht der Tatsache, dass Nora bereits seit zwei Jahren geschieden war und auch davor schon längere Zeit keinen Sex mehr gehabt hatte, bot sich Letzteres eher an. Leider war er zum Zeitpunkt, bevor Nora sich entscheiden konnte, schon in sein Auto gestiegen und davongefahren. Ihr blieb nichts anderes übrig als unverrichteter Dinge den Laden zu betreten.
Rosi, die von alledem nichts mitbekommen hatte, bot ihr strahlend einen Kaffee an und fragte:
„Wie geht es dir, meine Liebe?“
„Danke, gut. Was war denn das für ein Kerl, der eben deinen Laden verlassen hat?“
Rosi stutzte kurz und informierte Nora darüber, dass es sich bei „dem Kerl“ um den attraktiven Tierarzt des Dorfes handelte. Wie immer war Rosi auskunftsfreudig. Zum Schluss gab es wenig, was Nora nicht über ihn wusste. Er hieß Oliver Loth, war 45 Jahre alt und hatte zwei erwachsene Kinder. Außerdem war er ziemlich grimmig und introvertiert. Lachen konnte er vermutlich gar nicht. Ob es etwas neben seiner Arbeit gab, wusste keiner.
Nora wechselte schnell das Thema, aber Rosi waren ihre geröteten Wangen nicht entgangen. Sie spürte instinktiv, wenn sich etwas als Information nutzen ließ. Dass sich die Zugezogene in den Tierarzt verliebt hatte, hätte durchaus das Potenzial für einen guten Dorfklatsch. Aber so weit war es noch nicht.
„Ich habe gerade noch genügend Zeit, um mich um neue Pflanzen zu kümmern, bevor der Arbeitsstress losgeht. Hast du etwas Interessantes an Pflanzen da? Ich suche ein paar Küchenkräuter und möchte mein Gewächshaus bestücken“, fragte Nora zur Ablenkung und um auf den eigentlichen Grund ihres Besuches zurückzukommen.
Rosi antwortete:
„Ich habe bereits eine große Auswahl.“
Nora fand alles, was sie brauchte. Rosi erzählte ihr, welche Neuigkeiten es im Dorf gab. Leider kannte Nora die meisten der Hauptakteure aus Rosis Erzählungen nicht. Trotzdem gefielen ihr die lustigen Anekdoten. Sie trank ihren Kaffee zu Ende, lud ihre Pflanzen ein und brachte sie nach Hause. Satchmo und Robin waren inzwischen aufgewacht und forderten lautstark ihr Futter ein. Beide waren urplötzlich bei ihr erschienen und waren bei ihr geblieben. Sie fragte sich manchmal, wie sie vor dem Leben bei ihr an Futter gekommen waren und ob sie ein anderes Zuhause gehabt hatten. Es war unwahrscheinlich, dass sie jemals darauf eine Antwort bekommen würde.
Danach bereitete sie die Pflanzen für ihr neues Leben im Gewächshaus vor.
Sie war bis in den frühen Nachmittag damit beschäftigt, als sie freudiges Wiehern hörte. Das war ein sicheres Anzeichen für die Ankunft von Dirk Hill oder Franka Porter. Vermutlich bedeutete das Wiehern: Hurra, es gibt Futter. Sie verließ das Gewächshaus und ging in Richtung Pferdestall. Inzwischen blieben die zwei Stuten Habibi und Taiga das ganze Jahr bei ihr auf dem Grundstück. Der Elektrozaun war einem optisch deutlich attraktiveren Holzzaun gewichen. Auf diesen konnte man hochklettern und sich draufsetzen. Sie konnte sich kaum noch vorstellen, beim Blick in den Garten keine arabischen Vollblüter mehr zu sehen. Diese Pferde waren hinreißend, sanftmütig und sehr menschenbezogen. In der Zeit nach der Trennung war sie oft bei den Pferden gewesen. Es waren die besten Zuhörer, die sie sich in schweren Zeiten vorstellen konnte.
Franka hatte ihr mehrfach angeboten, mit ihr auszureiten. Lange Zeit fehlte ihr der Mut, aber letztes Jahr hatte sie ihn aufgebracht. Das war eines der tollsten Erlebnisse, die sie jemals hatte. Die Magie, sich einem so großen Tier anzuvertrauen und dabei in eine völlig unbekannte Welt einzutauchen, hatte sie erfasst und danach nicht mehr losgelassen. Inzwischen fieberte sie jeder Einladung zu einem gemeinsamen Ausritt entgegen und half auch bei der Versorgung regelmäßig mit, vor allem, wenn Franka oder Dirk unter Zeitdruck waren. Franka neckte sie schon damit, von der ‚Araberitis‘ befallen zu sein.
An den Zaun gelehnt, beobachtete Nora Franka im Umgang mit den Pferden. Nachdem diese die Tiere versorgt hatte, unterhielt sie sich kurz mit Nora. Sie musste wieder zurück zu ihrem Hof und verabschiedeten sich von ihr. Nora ging zum Haus zurück. Sie freute sich auf eine warme Kanne Tee, ein gutes Buch und überlegte, eine Pizza zu bestellen. Gerade als sie eine Thermoskanne Tee fertig hatte und die Pizza bestellen wollte, klingelte es an der Haustür.
***
Sie hatte es nie bereut, aufs Land gezogen zu sein. Nach der Scheidung gelang es ihr, ihr Leben so zu organisieren, dass sie wieder das hatte, was man Freizeit nannte. Inzwischen kam regelmäßig ihr E-Bike zum Einsatz. Sie liebte ihre Ausflüge damit sehr. Bei einer dieser Touren lernte sie Peter Harms kennen. Drei Kilometer vom nächsten Dorf entfernt hatte sie einen Platten und kein Werkzeug dabei. Peter fuhr an ihr vorbei, stoppte, begutachtete das Problem und löste es mithilfe des Ersatzteillagers in seiner Satteltasche. Zum Dank lud sie ihn auf einen Kaffee ein. Er willigte ein. Sie fuhren gemeinsam zum nahe gelegenen Stausee und kehrten dort in ein Ausflugslokal ein. Das Gespräch entwickelte sich so abwechslungsreich und lustig, dass sie beide nicht merkten, wie die Zeit verging. Er erzählte ihr, dass er gebürtiger Berliner sei und 41 Jahre alt. Er wohnte und arbeitete als Künstler in Bergental. Seine Werke verkaufte er in Berlin und Frankfurt in Galerien und auch online. Dass er ein leidenschaftlicher Radfahrer war und sich für die Verkehrswende im Land einsetzte, erfuhr sie genauso, wie dass er sich politisch engagierte, gegen fast alles, was ihm ungerecht vorkam. Er war eine strahlende Persönlichkeit, spritzig, witzig und intelligent. Sein blasses Gesicht erinnerte sie an die Gesichter von ungeschminkten Models. Es fehlte der Pep. Seine Figur war gertenschlank. Für einen Mann war er nicht besonders groß. All das Äußere verblasste aber, wenn er erzählte, dann erlag man seiner Faszination.
Bei einbrechender Dämmerung mussten sie sich beeilen, um Bergental noch vor völliger Dunkelheit zu erreichen. Peter lud sie zum Abschied ein, wann immer ihr der Sinn danach stand, ihn in seinem Haus und Atelier zu besuchen.
Was sie ein paar Tage später tat.
An einem sonnigen Nachmittag schwang sie sich aufs Rad und fuhr durch das Dorf zu der von ihm angegebenen Adresse.
Im Nachhinein fragte sie sich, was sie erwartet hatte. Ganz sicher nicht das, was ihr begegnete.
Peter wohnte am anderen Ende des Dorfes. Als letztes Haus am Ende einer Sackgasse, etwas zurückversetzt, sodass es von der Straße nicht gleich zu sehen war. Aber sobald man es erblickte, verschlug es einem den Atem. Grellpink war die Fassade, mit surrealen Wandbemalungen, die an übergroße Tattoos erinnerten. Im Vorgarten befanden sich verschiedenartige Skulpturen. Getöpfert, geschweißt und aus unterschiedlichen Materialien zusammengebaut. Sie stand staunend davor. Alles das passte perfekt zu dieser Person. Nur, warum er ausgerechnet von Berlin nach Bergental gezogen war, konnte sich Nora nicht erklären. Vermutlich gefiel ihm die Mittelgebirgslandschaft ebenso wie Nora. Neben dem Wohnhaus stand eine große Scheune, deren Front größtenteils aus Glas bestand. Das musste das Atelier sein.
Als sie darauf zuging, hörte sie schon Geräusche, die darauf schließen ließen, dass Peter dort am Arbeiten war.
Nachdem auf ihr Klopfen keine Reaktion erfolgte, öffnete sie die Tür. Peter bog sich im Nachhinein vor Lachen bei dem Versuch, ihren Gesichtsausdruck zu beschreiben, den er sah, nachdem sie eingetreten war. Seine Ausführungen dazu stellte sie kein bisschen infrage.
Was sie als erstes sah, war eine bildhübsche Frau im knappen Minirock, mit einem lockeren T-Shirt und weißen Sneakers mit bunten Farbflecken. Was sie nicht sah, war Peter. Es dauerte ein paar Sekunden und erst, als die Frau sie ansprach, realisierte sie, dass die Frau eigentlich Peter war. Damit hatte sie nicht gerechnet. Die „Frau“ war dezent geschminkt, aber das reichte aus, um Peters Gesicht völlig zu verwandeln. Peter kam laut lachend auf sie zu. Er wandelte den berühmten Satz des ehemaligen Berliner Bürgermeisters:
‚Ich bin schwul und das ist gut so‘ ab in:
„Ich bin eine Transe und das ist gut so und schwul bin ich auch noch.“
Er wischte sich die Hände am Rock ab, umarmte Nora, bat sie einzutreten und sich seine Werke anzusehen.
Nachdem Nora verarbeitet hatte, dass diese Petra Peter war, genoss sie die Führung durch das Atelier. Sie betrachtete bewundernd seine mehr oder weniger vollendeten Werke. Danach ließ sich von ihm zum Abendessen einladen.
Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
***
Als sie nun die Tür öffnete und Peter mit zwei Pizzakartons und einer Flasche Rotwein vor ihrer Haustür stand, freute sie sich und bat ihn mit den Worten herein:
„Wenn du jetzt auch noch eine Pizza Margherita für mich bestellt hast, glaube ich an Telepathie.“
In den Schachteln befand sich eine Margherita für sie und eine Meeresfrüchte-Pizza für ihn. Es war gut, dass er nicht darauf bestand, das Thema Telepathie zu vertiefen.
Statt des Tees gab es den Rotwein.
Noch gab es in ihrem Leben keine Probleme. Sie verbrachten einen entspannten Abend miteinander. Sie lachten viel und erzählten sich Anekdoten aus ihren Leben. Peter schimpfte über die Verzögerung bei der Verkehrswende und der Klimapolitik. Nora versuchte immer, die andere Seite der Medaille zu berücksichtigen. Nach einem sehr netten Abend verabschiedeten sie sich. Zu diesem Zeitpunkt konnte keiner von beiden wissen, was noch auf sie zukommen würde.
***
PETER HARMS
Nora ist wirklich eine Bereicherung für mich. Sie ist aufgeschlossen, intelligent und witzig. Als Zugereister bekommt man nicht so leicht Kontakt zu den Einheimischen. Mir ist es nie gelungen. Das liegt vielleicht auch daran, dass ich ‚anders‘ bin. Nora läuft einmal zu Fuß durch den Ort und hat danach gleich ein paar neue Bekannte mehr. Ich halte das für eine spezielle Begabung. Durch sie habe ich Kontakt zu Rosi, Dirk und Franka bekommen. Aber das ist bei Weitem kein so enges Verhältnis wie zu Nora. Ich genieße die Abende im Sommer bei ihr im Garten und die Winterabende vor ihrem Kaminofen im Haus. Sie hat ein Händchen für stilvolles Ambiente und versteht etwas von Wein. Ich beneide sie um ihren Weinkeller, der sich stetig füllt. Kochen kann sie allerdings nicht. Ich bin da aber auch sehr kritisch, weil ich ein leidenschaftlicher Koch bin und viel Zeit mit der Zubereitung von Mahlzeiten verbringe. Im Gegenzug zu ihren Einladungen lade ich sie oft zum Essen ein oder bestelle mal was für uns. Nur leider kann ich gewisse Geheimnisse mit ihr nicht teilen. Das finde ich schade und hoffe, dass sich das irgendwann ändern wird. Ich werde die Hoffnung darauf nie aufgeben. Einmal fragte sie, was mich aus Berlin hierher verschlagenhat. Eine einfache und durchaus berechtigte Frage. Wie hätte ich das beantworten sollen? Es wäre alles einfacher, wenn ich hätte in Berlin bleiben können. Hier gibt es aber auch Vorteile. Ich habe ein riesiges Atelier. Die Radwege und Mountainbikestrecken sind ein Traum. Die Natur ist intakt, soweit sie es überhaupt noch irgendwo sein kann. Die Lebensmittel sind frisch und direkt um die Ecke, beim Erzeuger zu kaufen. Trotzdem fehlt mir etwas Wesentliches, was ich in Berlin ausleben konnte. Na ja, man kann halt nicht alles haben.
Dienstag, 26. Mai
Am nächsten Morgen betrachtete Nora ihre Katzen ganz genau. Sie fraßen ihr Futter mit Appetit, keine lahmte oder zeigte sonstige Krankheitssymptome. Ärgerlich. Alles wäre ihr recht gewesen, einen Grund zu finden, den Tierarzt aufzusuchen. Aber die beiden waren so gesund und munter, wie sie nur hätten sein können. Da fiel ihr ein, die Katzen waren noch nicht geimpft worden. Sofort fing ihr Herz an, schneller zu schlagen. Sie nahm ihr Handy zur Hand, öffnete die App „das Örtliche“ und suchte nach der Telefonnummer des Tierarztes.
Bevor sie diese jedoch wählte, hielt sie inne und fragte sich, was sie da gerade tat.
„Bin ich hormonell so übersteuert, dass ich mich dem ersten ungehobelten Burschen an den Hals werfe, der mich umrennt, nicht schwul ist und sogar noch verheiratet?“
In Anbetracht dieser Überlegung, und weil in diesem Augenblick ihr berufliches Festnetztelefon klingelte, verwarf sie diesen Plan und nahm das Kundengespräch an. Der Kunde hatte Ärger mit einem Mieter. Er verlangte von ihr, alles Notwendige in die Wege zu leiten, um demjenigen zu kündigen. Aufgrund des Sachverhaltes sah sie keine Chance für eine Kündigung. Wegen mangelnder Einsicht des Kunden einigten sie sich darauf, dass sie einen Anwalt beauftragen würde, sich der Angelegenheit anzunehmen. Das Telefonat war so frustrierend, dass Nora danach keine Lust mehr hatte, auch noch mit einem brummigen Tierarzt zu reden. Vermutlich wegen des erspürten Risikos, in einen Transportkorb eingesperrt und geimpft zu werden, entschieden sich die Kater sicherheitshalber, den Tag außer Haus zu verbringen. Dies war ein weiteres Argument, den Tierarzt nicht anzurufen.
***
Außer ihren Freunden gab es noch die Nachbarn. Nora hatte wirklich Glück mit ihnen gehabt.
Auf der einen Seite wohnte Oma Pötschke, so nannten sie alle und so stellte sie sich auch Nora vor. Oma Pötschke war 82, Rentnerin und Witwe, seit vor sechs Jahren ihr Mann verstarb. Sie hatte einen Sohn, den sie für unfähig hielt und eine Schwiegertochter, die „eine unerträgliche Dummschwätzerin“ war. Aber ihre 17-jährige Enkelin Sina vergötterte Oma Pötschke und das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Gelegentlich kaufte Nora für Oma Pötschke mit ein. Das bereitete ihr Freude und Oma Pötschke war dankbar dafür. Nora bekam im Gegenzug die Geschichte des Dorfes und die Jugendsünden der Älteren erzählt. Was meist dazu führte, dass beide sich vor Lachen bogen.
Sina kam regelmäßig vorbei, um ihre Oma zu besuchen. Sohn und Schwiegertochter sah man eher selten vorbeikommen. Ihre verkrampften Gesichter nach jedem Kurzbesuch wiesen auf keinen harmonischen Besuchsverlauf hin.
Auf der anderen Seite wohnte eine junge Familie. Carmen und Benny Stuber, beide 28 Jahre alt, sie arbeitete aushilfsweise als gelernte Floristin bei Rosi im Laden, er als Schreiner im elterlichen Betrieb. Sie hatten drei gemeinsame Kinder und ein viertes war unterwegs.
Da gab es die dreijährige Milena, den vierjährigen Lucius und die achtjährige Lilli. Carmen liebte Kinder. Ihr war schon in der Pubertät klar, dass sie eine große Familie wollte. Sie selbst hatte eine Schwester. Diese war alleinerziehende, berufstätige Mutter von zwei Jungen, die Carmen bei Bedarf immer mitbetreute.
Zwischen den Grundstücken gab es einen Zaun und das Beste daran war das Loch im Zaun. Sobald eines der Kinder vermisst wurde, konnte man davon ausgehen, dass es auf Noras Gelände war. Milena verfolgte die Kater und wollte mit ihnen schmusen oder von Nora vorgelesen bekommen. Lucius war der Gefährdetste, weil er sich hauptsächlich für den Geräteschuppen und das darin befindliche Werkzeug interessierte. Lilli war am leichtesten zu finden: immer bei den Pferden.
Solange Nora in der Stadt lebte, hatte sie nie darüber nachgedacht, eigene Kinder zu bekommen. Kinder und Hunde in der Stadt taten ihr leid. Seit sie auf dem Land lebte und die Stuber-Kinder regelmäßig zu ihr kamen, fragte sie sich öfters, wie es gewesen wäre, selbst Kinder zu haben.
Milenas Kritik an ihrer Buchauswahl führte dazu, dass sie ein Fach im Bücherregal nach oben räumte und das untere mit neuerworbenen Kinderbüchern bestückte. Das rief wilde Begeisterungsstürme bei Milena hervor. Hoch motiviert von so viel Lob, folgte ein zweites leer geräumtes Fach für Spiele. Carmen fand, das seien gute Voraussetzungen, Nora immer öfters mal zu bitten, auf ihre Kinder kurz aufzupassen. Dieser Bitte kam sie gerne nach. Allerdings gelang es ihr besser, diese Aufgabe zu erfüllen, wenn es nur ein Kind zu betreuen gab. Mit dreien war sie eindeutig überfordert. Carmen versicherte ihr, das würde mit zunehmender Übung besser werden.
Für Lilli besorgte sie ein paar Pferdebücher und einen pinkfarbenen Putzkasten mit Zubehör. Beide gingen gemeinsam zu den Pferden und ließen sich von Franka zeigen, wie man diese putzt.
Für alle zusammen gab es einen Sandkasten und für Lucius einen richtigen John-Deere-Traktor. Das führte dazu, dass er, wenn er groß sei, nicht nur seine Mama, sondern auch Nora heiraten wollte. Milena wollte sie dann auch heiraten, obwohl sie keinen Traktor bekommen hatte.
Wenn Nora die Kinder beobachtete, dachte sie oft, sie hätte mit zwanzig beginnen sollen, vier Kinder zu bekommen. Und falls sie noch mal zwanzig sein könnte, es trotzdem nicht tun würde. Das amüsierte sie und sie schloss Frieden mit ihrer Kinderlosigkeit.
***
Die Temperaturen waren inzwischen frühlingshaft angestiegen. Nora freute sich auf gemütliche Abende in ihrem Garten mit anregenden Gesprächen mit Peter, Rosi, Franka und Dirk. Diese vier waren so etwas wie ihre Zweitfamilie geworden. Eine freundliche und hilfsbereite Zweitfamilie, die sie sich ausgesucht hatte. Ihre eigentliche Familie war deutlich schwieriger.
Franka und Dirk blieben inzwischen wieder länger bei den Pferden. Dafür gab es einen Grund. Die zwei Stuten auf ihrem Grundstück waren hochträchtig und die Geburt stand unmittelbar bevor.
In den nächsten Tagen sollten die Stuten zu den beiden nach Hause umziehen. Dort gab es im Stall eine Überwachungskamera. Sie konnten dort, bei einer nächtlichen Geburt mit Komplikationen, eher eingreifen. Nora befürchtete, dass dann keine Pferde mehr bei ihr seien. Dirk tröstete sie und versprach, ihr als Ersatz ihren Zuchthengst Menes und seinen Kumpel, den hochbetagten Shetland-Wallach Meiko, auf die Koppel zu stellen.
Aber dazu sollte es nicht mehr kommen.
In der kommenden Nacht hörte sie aufgeregtes Wiehern. Sie zog sich schnell an, betätigte die Außenbeleuchtung. Eine Stute lag, die andere wieherte nervös. Man musste sich nicht mit Pferden auskennen und nicht selbst ein Kind zur Welt gebracht haben, um zu wissen: Jetzt geht es los, da kommt ein Fohlen.
Sie lief schnell zurück ins Haus und rief bei Dirk an. Schlaftrunken ging er ans Telefon und war blitzartig hellwach, als er Noras aufgeregte Stimme hörte.
„Wir sind sofort da“, war alles, was er sagte, bevor er den Hörer aufknallte und Franka weckte. Keine fünf Minuten später hörte sie das Auto vorfahren. Im Stall gingen alle Lichter an und sie zog sich eine wärmere Jacke an, um länger draußen bleiben zu können, denn sie wollte unter keinen Umständen die Ankunft des Fohlens verpassen. Franka hatte schon viele Fohlen gezogen, zur Routine wurde das sicher nicht, aber Nora merkte am Verhalten von Franka, dass etwas nicht stimmte. Dirk versuchte, sie zu beruhigen, griff gleichzeitig zum Handy und wählte die Nummer des Tierarztes. Noras Herz begann schneller zu schlagen. Sie fragte, ob alles in Ordnung sei, aber Frankas ängstlicher Blick ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass dem nicht so war.
Es dauerte nicht lange und Tierarzt Oliver Loth war da. Er sprach ein paar Worte mit Dirk und ging zu der Stute Habibi, die auf dem Boden lag, redete beruhigend auf sie ein und untersuchte sie dann. Kurze Zeit später sah sie zwei Beine herausgleiten und dann ging alles ganz schnell und das Fohlen war da. Sofort nach der Geburt spritzte er dem Fohlen vorbeugend ein Serum gegen Fohlenlähme.
„Es ist ein kleiner schwarzer Hengst“, teilte Oliver mit. Franka brach in Tränen aus. Nora blickte irritiert zu Dirk und dieser sagte grinsend:
„Das ist die Anspannung, die jetzt nachlässt, sie ist nur erleichtert, dass Stute und Fohlen es geschafft haben.“
In diesem Moment blickte der Tierarzt auf, erstaunt, Nora zu sehen. Selbst im Licht der Stalllampe konnte man Noras Erröten sehen. Dirk erklärte Oliver, dass sie es Nora zu verdanken hätten, dass jetzt alles gut ausgegangen sei. Oliver blickte Nora verschmitzt lächelnd an und sagte:
„Normalerweise bekomme ich nach einer gelungenen Geburt immer einen Eimer mit warmem Wasser angeboten. Zum Händewaschen. Einen Schnaps auf den neuen Erdenbürger gibt es meistens auch noch dazu.“
Bevor Nora auch nur eine Sekunde nachdenken konnte, antwortete sie ihm:
„Kommen Sie doch ins Haus, da bekommen Sie alles“, und als ihr klar wurde, dass sie nicht allein waren, schickte sie in Richtung Dirk und Franka schnell ein „Das gilt natürlich auch für euch“ hinterher.
Oliver und Dirk nahmen das Angebot an, nur Franka wollte sich noch nicht von Stute und Fohlen trennen. Nora würde ihr später den Schnaps hochbringen.
Nachdem sich Oliver und Dirk die Hände gewaschen hatten und bei Nora im Wohnzimmer ihre ‚Heimertshäuser Engelsmilch‘, eine lokale Spezialität, entgegennahmen, sagte Oliver zu ihr:
„Ohne Sie wäre morgen früh das Fohlen tot gewesen. Sie haben ihm das Leben gerettet.“
Nora errötete schon wieder. Etwas mehr Coolness wäre jetzt genau das, was sie bräuchte.
„Ich bitte Sie, Sie haben das Fohlen gerettet, nicht ich.“ Auch von Dirk kam Widerspruch:
„Ohne dich hätte Oliver morgen früh nichts mehr für das Fohlen tun können.“