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"Du siehst doch ein, dass sie sterben muss." Diesen Satz, den Raymond Boynton an seine Schwester richtet, hört Hercule Poirot zufällig in seinem Jerusalemer Hotel mit. Als Mrs Boynton, die tyrannische Stiefmutter der Geschwister, wenig später auf dem Weg nach Petra ermordet wird, erinnert sich Poirot an die verschwörerischen Worte. Er hat nur 24 Stunden, um den Fall zu lösen. Genug Zeit jedoch, um Überraschendes zu Tage zu fördern ...
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Seitenzahl: 285
Agatha Christie
Der Tod wartet
Ein Fall für Poirot
Aus dem Englischen von Ursula-Maria Mössner
Atlantik
Für Richard und Myra Mallock
zur Erinnerung an ihre Reise nach Petra
»Du siehst doch ein, dass sie sterben muss?«
Die Worte wehten hinaus in die stille Nacht, schienen einen Moment in der Luft zu verharren und dann in der Dunkelheit hinunter zum Toten Meer weiterzuziehen.
Hercule Poirot, die Hand schon am Fenstergriff, hielt stirnrunzelnd inne. Dann machte er energisch das Fenster zu, um die schädliche Nachtluft auszusperren. Hercule Poirot war in dem Glauben erzogen worden, dass man die Luft von draußen am besten draußen ließ und dass insbesondere Nachtluft der Gesundheit höchst abträglich war.
Er lächelte nachsichtig, während er penibel die Vorhänge zuzog und sich zu Bett begab.
»Du siehst doch ein, dass sie sterben muss?«
Merkwürdige Worte, die Hercule Poirot, seines Zeichens Privatdetektiv, da an seinem ersten Abend in Jerusalem belauschte.
»Dass ich aber auch immer und überall an Verbrechen erinnert werden muss!«, murmelte er bei sich.
Er schmunzelte, da ihm eine Anekdote einfiel, die er einmal über den Romancier Anthony Trollope gehört hatte. Auf einer Atlantiküberquerung hatte Trollope zwei Mitreisende belauscht, die sich gerade über die jüngste Folge eines Romans von ihm unterhielten, der damals in Fortsetzungen erschien.
»Nicht übel«, hatte der eine Mann erklärt. »Aber er sollte endlich dieses grässliche alte Weib um die Ecke bringen.«
Woraufhin sich der Romancier mit einem breiten Lächeln zu ihnen umgedreht und gesagt hatte:
»Meine Herren, ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Ich werde der Dame unverzüglich den Garaus machen!«
Hercule Poirot fragte sich, was wohl der Anlass für die Worte gewesen war, die er soeben mit angehört hatte. Vielleicht die Zusammenarbeit an einem Theaterstück oder Buch.
Noch immer lächelnd dachte er: Man könnte sich eines Tages an diese Worte erinnern und ihnen eine finsterere Bedeutung beimessen.
Er entsann sich, dass eine seltsame Nervosität in der Stimme mitgeschwungen hatte – eine Art Zittern, das von starker emotionaler Anspannung zeugte. Die Stimme eines Mannes, eines ziemlich jungen …
Als Hercule Poirot die Nachttischlampe ausknipste, dachte er bei sich: Ich würde diese Stimme jederzeit wiedererkennen …
Die Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt und die Köpfe dicht beieinander, starrten Raymond und Carol Boynton in das nächtliche blaue Dunkel hinaus. Raymond wiederholte nervös seine Frage: »Du siehst doch ein, dass sie sterben muss?«
Carol Boynton machte eine kleine Bewegung. Sie sagte, und ihre Stimme klang tief und rau: »Es ist schrecklich …«
»Nicht schrecklicher, als es jetzt ist!«
»Wahrscheinlich nicht …«
»So kann es nicht weitergehen«, sagte Raymond heftig. »Es kann so nicht weitergehen … Wir müssen etwas unternehmen … Uns bleibt nichts anderes übrig …«
»Und wenn wir einfach weggehen würden?«, fragte Carol. Sie merkte selbst, wie wenig überzeugend ihre Stimme klang.
»Das können wir nicht.« Raymonds Stimme war hohl und mutlos. »Du weißt genau, dass das unmöglich ist, Carol.«
Die junge Frau erschauerte. »Ich weiß, Ray. Ich weiß.«
Er lachte plötzlich kurz und bitter auf.
»Die Leute würden sagen, dass wir verrückt sind – nicht einfach auf und davon zu gehen …«
Carol sagte langsam: »Vielleicht sind wir – tatsächlich verrückt!«
»Allerdings! Ja, ich glaube, das sind wir wirklich. Oder werden es jedenfalls bald sein … Manche Leute würden sogar sagen, dass wir es bereits sind – stehen da und planen kaltblütig und in aller Ruhe, unsere eigene Mutter umzubringen!«
Carol sagte scharf: »Sie ist nicht unsere leibliche Mutter!«
»Nein, das ist wahr.«
Beide schwiegen. Schließlich sagte Raymond, nun in ruhigem und sachlichem Ton: »Dann stimmst du mir zu, Carol?«
Carol erwiderte mit fester Stimme: »Ich glaube, sie muss sterben – ja.«
Dann brach es plötzlich aus ihr heraus: »Sie ist wahnsinnig … Ich bin ganz sicher, dass sie wahnsinnig ist … Wenn sie normal wäre, könnte sie uns doch nie und nimmer derart quälen. Seit Jahren sagen wir uns: So kann es nicht weitergehen! – Aber es ist so weitergegangen! Immer wieder sagen wir uns: Irgendwann muss sie ja sterben. – Aber sie ist nicht gestorben! Ich glaube, sie stirbt nie, wenn wir …«
»Wenn wir sie nicht umbringen«, ergänzte Raymond ruhig.
»Ja.«
Carols Hände auf dem Fensterbrett ballten sich zu Fäusten.
Ihr Bruder sprach mit beherrschter, sachlicher Stimme weiter, in der nur ein leichtes Zittern die heftige innere Erregung verriet:
»Du siehst also ein, warum es einer von uns beiden sein muss? Lennox scheidet aus, weil er auf Nadine Rücksicht nehmen muss. Und Jinny können wir nicht hineinziehen.«
Carol erschauerte.
»Arme Jinny … Ich habe solche Angst, dass sie …«
»Ich weiß. Es wird immer schlimmer, stimmt’s? Und darum muss rasch etwas geschehen, bevor sie völlig durchdreht.«
Carol richtete sich plötzlich auf und strich sich das kastanienbraune Haar aus der Stirn.
»Ray«, sagte sie, »du bist dir doch ganz sicher, dass es nicht wirklich unrecht ist?«
Wiederum mit gewollt leidenschaftsloser Stimme erwiderte er: »Ja. Für mich ist das so, wie wenn man einen tollwütigen Hund tötet – etwas, das nur Schaden anrichtet und dem Einhalt geboten werden muss. Es ist die einzige Möglichkeit, der Sache ein Ende zu machen.«
Carol sagte leise: »Aber wir – wir würden trotzdem dafür auf den elektrischen Stuhl kommen … Ich meine, wie sollen wir irgendjemandem klarmachen, was sie für ein Mensch ist? Es würde einfach zu abwegig klingen … Irgendwie ist das alles doch nur Einbildung!«
Raymond sagte: »Niemand wird uns verdächtigen. Ich habe einen Plan. Ich habe alles genau durchdacht. Keiner wird uns etwas anhaben können.«
Carol drehte sich abrupt zu ihm um.
»Ray, du – du hast dich irgendwie verändert. Irgendetwas ist mit dir passiert … Wer oder was hat dir das alles in den Kopf gesetzt?«
»Wie kommst du darauf, dass ich mich verändert habe?«
Er wandte den Kopf ab und starrte hinaus in die Nacht.
»Weil es so ist … War es die junge Frau im Zug, Ray?«
»Nein, natürlich nicht – wieso auch? Red nicht solchen Unsinn, Carol. Sprechen wir lieber wieder über – über –«
»Über deinen Plan? Bist du sicher, dass der Plan – gut ist?«
»Ja. Ich glaube schon … Natürlich müssen wir die passende Gelegenheit abwarten. Und dann, wenn alles gut geht, werden wir frei sein – wir alle.«
»Frei?« Carol seufzte leise. Sie sah hinauf zu den Sternen. Dann wurde sie plötzlich von einem Weinkrampf geschüttelt.
»Carol, was hast du?«
Schluchzend stieß sie hervor: »Alles ist so wunderschön – die Nacht und der Himmel und die Sterne. Wenn wir doch nur ein Teil davon sein könnten! Wenn wir doch nur wie andere Menschen sein könnten und nicht so, wie wir sind – so sonderbar und verdreht und irgendwie nicht normal.«
»Alles wird gut werden – wenn sie erst tot ist!«
»Bist du ganz sicher? Ist es dafür nicht schon zu spät? Werden wir nicht immer sonderbar und anders sein?«
»Nein, ganz bestimmt nicht!«
»Wer weiß …«
»Carol, wenn du lieber –«
Sie stieß seinen tröstenden Arm weg.
»Nein, ich bin dabei – ich stehe auf deiner Seite! Schon allein wegen der anderen – vor allem wegen Jinny. Wir müssen Jinny retten!«
Nach einer Weile sagte Raymond: »Dann – ziehen wir die Sache also durch?«
»Ja!«
»Gut. Mein Plan sieht folgendermaßen aus …«
Er beugte sich dicht zu ihr.
Miss Sarah King, Doktor der Medizin, stand im Lesezimmer des Hotels Solomon in Jerusalem und blätterte in den auf einem Tisch ausliegenden Zeitungen und Zeitschriften. Ihre Stirn war gerunzelt, und sie schien in Gedanken woanders zu sein.
Der hochgewachsene Franzose mittleren Alters, der den Raum von der Halle her betrat, beobachtete sie eine Weile, bevor er zum anderen Ende des Tisches schlenderte. Als sich ihre Blicke trafen, neigte Sarah lächelnd den Kopf, da sie ihn wiedererkannte. Der Mann war ihr bei der Abreise aus Kairo behilflich gewesen und hatte einen ihrer Koffer getragen, als kein Gepäckträger verfügbar zu sein schien.
»Nun, wie gefällt Ihnen Jerusalem?«, fragte Dr. Gérard, nachdem sie sich begrüßt hatten.
»In mancher Beziehung ist die Stadt grässlich«, sagte Sarah und fügte hinzu: »Religion ist schon etwas Merkwürdiges!«
Der Franzose schien amüsiert zu sein.
»Ich weiß, was Sie meinen.« Sein Englisch war nahezu perfekt. »Alle erdenklichen Sekten, die miteinander streiten und sich gegenseitig bekriegen!«
»Und dazu die scheußlichen Sachen, die sie hier gebaut haben!«, sagte Sarah.
»O ja!«
Sarah seufzte.
»Man hat mich heute aus einer Kirche gewiesen, weil ich ein ärmelloses Kleid anhatte«, sagte sie kleinlaut. »Anscheinend gefallen dem Allmächtigen meine Arme nicht, obwohl er sie doch selbst geschaffen hat.«
Dr. Gérard lachte. Dann sagte er: »Ich wollte mir gerade einen Kaffee bestellen. Sie leisten mir doch Gesellschaft, Miss –?«
»King. Sarah King.«
»Und ich bin – Sie gestatten.« Er überreichte schwungvoll seine Visitenkarte. Als Sarah sie las, weiteten sich ihre Augen vor ehrfürchtiger Bewunderung.
»Dr. Théodore Gérard? Oh! Ich freue mich ja so, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe selbstverständlich alle Ihre Bücher gelesen. Ihre Ansichten über Schizophrenie sind wahnsinnig interessant.«
»Wieso ›selbstverständlich‹?« Gérard zog fragend die Augenbrauen hoch.
Sarah erklärte es ihm leicht befangen. »Weil ich – nun, weil ich selbst Ärztin bin. Ich habe gerade mein Examen gemacht.«
»Ah! Ich verstehe.«
Dr. Gérard bestellte Kaffee, und sie nahmen in einer Ecke des Salons Platz. Das Interesse des Franzosen galt nicht so sehr Sarahs medizinischen Fähigkeiten, sondern vielmehr ihrem schwarzen Haar, das in dichten Wellen herabfiel, und dem wundervoll geschwungenen roten Mund. Die ehrfürchtige Scheu, mit der sie ihn betrachtete, amüsierte ihn.
»Bleiben Sie länger hier?«, fragte er, um ein Gespräch in Gang zu bringen.
»Nur ein paar Tage. Danach will ich nach Petra fahren.«
»Ah! Daran habe ich auch schon gedacht, falls es nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Ich muss nämlich am vierzehnten in Paris sein.«
»Man braucht dafür etwa eine Woche, glaube ich. Zwei Tage für die Hinreise, zwei Tage am Ort und zwei weitere Tage für die Rückreise.«
»Ich werde gleich morgen Vormittag zum Reisebüro gehen und mich erkundigen, ob sich etwas arrangieren lässt.«
Eine Gruppe von Gästen betrat den Salon und nahm Platz. Sarah beobachtete sie interessiert. Sie senkte die Stimme.
»Die Leute, die gerade hereingekommen sind – haben Sie die nicht auch schon im Zug gesehen? Sie sind gleichzeitig mit uns aus Kairo abgereist.«
Dr. Gérard klemmte sein Monokel ein und blickte zu der besagten Gruppe hinüber. »Amerikaner?«
Sarah nickte.
»Ja. Eine amerikanische Familie. Aber eine – ziemlich ungewöhnliche, würde ich sagen.«
»Ungewöhnlich? In welcher Beziehung?«
»Sehen Sie sie sich doch an. Insbesondere die alte Frau.«
Dr. Gérard kam der Aufforderung nach. Sein scharfer geschulter Blick glitt rasch von Gesicht zu Gesicht.
Als Erstes fiel ihm ein großer, ziemlich schlaksiger Mann auf, Alter etwa dreißig. Sein Gesicht war sympathisch, aber etwas zu weich, und er wirkte seltsam abwesend. Dann waren da zwei gutaussehende junge Leute. Der Bursche hatte ein geradezu griechisches Profil. »Auch bei ihm scheint etwas nicht zu stimmen«, dachte Dr. Gérard. »Ja – ein klarer Fall von hochgradiger Nervosität.« Das Mädchen war offensichtlich seine Schwester, da eine große Ähnlichkeit vorlag, und auch sie befand sich in einem Zustand höchster Erregtheit. Dann war da noch ein weiteres Mädchen, jünger als die anderen, mit rotblonden Haaren, die sich wie ein Heiligenschein abhoben. Ihre Hände waren ständig in Bewegung, rissen und zerrten an dem Taschentuch, das sie auf dem Schoß hielt. Und eine Frau, jung, ruhig, dunkelhaarig, mit hellem Teint und dem sanften Gesicht einer Madonna von Luini. An ihr war nun überhaupt nichts Hektisches! Und im Zentrum der Gruppe – Großer Gott!, dachte Dr. Gérard mit dem ehrlichen Abscheu des typischen Franzosen. »Was für ein entsetzliches Weib!« Alt und fett und aufgedunsen saß sie regungslos im Kreis ihrer Familie – ein hässlicher alter Buddha, eine fette Spinne in ihrem Netz!
An Sarah gewandt sagte er: »La maman ist nicht gerade eine Schönheit, wie?«, und zuckte die Schultern.
»Sie hat so etwas – etwas Unheimliches, finden Sie nicht auch?«, meinte Sarah.
Dr. Gérard musterte die Frau erneut. Diesmal mit dem Auge des Arztes, nicht des Ästheten.
»Wassersucht. Kardiale Hydropsie«, setzte er im Fachjargon hinzu.
»Ja, sicher, das auch.« Sarah tat den medizinischen Aspekt als unwesentlich ab. »Aber das Verhalten der anderen ihr gegenüber ist irgendwie merkwürdig, finden Sie nicht?«
»Wissen Sie, wer die Leute sind?«
»Sie heißen Boynton. Mutter, verheirateter Sohn mit Frau, ein jüngerer Sohn und zwei jüngere Töchter.«
Dr. Gérard murmelte: »La famille Boynton auf Weltreise.«
»Eine merkwürdige Art, die Welt zu sehen. Sie reden nie mit anderen. Und alle scheinen nur das zu tun, was die alte Frau sagt!«
»Sie ist der Typ der Matriarchin«, sagte Gérard nachdenklich.
»Sie ist ein ausgemachter Tyrann, wenn Sie mich fragen«, sagte Sarah.
Dr. Gérard bemerkte achselzuckend, dass in Amerika die Frau das Heft in der Hand habe – wie ja allgemein bekannt sei.
»Ja, sicher, aber es ist nicht nur das«, beharrte Sarah. »Sie ist – sie hat alle so unter ihrer Fuchtel – hält alle so an der Kandare, dass – dass es geradezu pervers ist!«
»Zu viel Macht zu haben bekommt Frauen nicht«, stimmte Gérard, plötzlich ernst geworden, zu und schüttelte den Kopf.
»Es ist schwer für eine Frau, ihre Macht nicht zu missbrauchen.«
Gérard sah sie schnell von der Seite an. Sie beobachtete die Boyntons – oder vielmehr ein bestimmtes Mitglied der Familie. Der Franzose in Dr. Gérard musste verständnisvoll lächeln. Aha! Das war es also!
Er erkundigte sich zögernd: »Sie haben mit ihnen gesprochen?«
»Ja – zumindest mit einem von ihnen.«
»Mit dem jungen Mann – dem jüngeren Sohn?«
»Ja. Im Zug von El-Kantara hierher. Er stand im Gang. Da habe ich ihn angesprochen.«
Sarahs Einstellung gegenüber dem Leben war offen und unbefangen. Sie interessierte sich für Menschen und war von Natur aus freundlich, wenn auch ungeduldig.
»Warum haben Sie ihn angesprochen?«, fragte Gérard.
Sarah zuckte mit den Schultern.
»Wieso nicht? Ich spreche oft Leute an, wenn ich auf Reisen bin. Menschen interessieren mich eben – was sie tun und denken und fühlen.«
»Sie legen sie gewissermaßen unter das Mikroskop.«
»So könnte man es nennen«, räumte die junge Frau ein.
»Und welchen Eindruck hatten Sie in diesem Fall?«
»Tja«, sagte sie zögernd, »es war schon etwas seltsam … Zunächst einmal wurde der junge Mann rot bis über beide Ohren.«
»Ist das so verwunderlich?«, fragte Gérard trocken.
Sarah lachte.
»Sie meinen, er könnte mich für ein leichtes Mädchen gehalten haben, das ihm schamlos Avancen machte? O nein, das glaube ich nicht. Männer erkennen dergleichen doch auf den ersten Blick, habe ich recht?«
Sie sah ihn geradeheraus fragend an. Dr. Gérard nickte bejahend.
»Ich hatte das Gefühl«, sagte Sarah langsam und mit leicht gerunzelter Stirn, »dass er – wie soll ich es ausdrücken – aufgeregt und entsetzt zugleich war. Unverhältnismäßig aufgeregt – und gleichzeitig geradezu lächerlich ängstlich. Das ist doch merkwürdig, finden Sie nicht? Ich hatte Amerikaner bisher immer für außergewöhnlich selbstsicher gehalten. Ein zwanzigjähriger Amerikaner kennt sich auf der Welt bei weitem besser aus und hat viel mehr savoir-faire als, sagen wir, ein Engländer dieses Alters. Und der bewusste junge Mann ist bestimmt über zwanzig.«
»Dreiundzwanzig oder vierundzwanzig, würde ich sagen.«
»So alt?«
»Meiner Schätzung nach, ja.«
»Vielleicht haben Sie recht … Aber er kommt mir irgendwie furchtbar jung vor …«
»Mental nicht dem Alter entsprechend entwickelt. Der kindliche Faktor dominiert noch.«
»Dann habe ich also recht? Dass er irgendwie nicht ganz normal ist, meine ich?«
Dr. Gérard zuckte mit den Schultern und musste unwillkürlich über den ernsten Ton der Frage lächeln.
»Verehrte junge Dame, wer von uns ist schon ganz normal? Aber ich gebe zu, dass es sich hier vermutlich um eine Neurose handelt.«
»Die bestimmt irgendwie mit dieser grässlichen alten Frau zusammenhängt.«
»Sie scheinen sie nicht sehr zu mögen«, sagte Gérard und sah Sarah eigenartig an.
»Stimmt genau. Sie hat so einen – ja, einen bösen Blick.«
Gérard murmelte: »Den haben viele Mütter, wenn ihre Söhne sich zu faszinierenden jungen Damen hingezogen fühlen.«
Sarah zuckte ungehalten mit den Schultern. Franzosen waren doch alle gleich, dachte sie, immer nur Sex im Kopf! Obwohl sie, als gewissenhafte Psychologin, natürlich zugeben musste, dass bei den meisten Phänomenen unterschwellig stets auch eine sexuelle Komponente im Spiel war. Sarahs Gedanken folgten vertrauten psychologischen Bahnen.
Doch dann wurde sie jäh aus ihren Betrachtungen gerissen. Raymond Boynton hatte sich erhoben und ging auf den Tisch mit den Zeitschriften zu. Er wählte eine aus. Als er auf dem Rückweg an Sarahs Sessel vorbeikam, blickte sie auf und sprach ihn an.
»Haben Sie heute schon fleißig Sehenswürdigkeiten besucht?«
Sie sprach aufs Geratewohl, da es ihr im Grunde nur darum ging, wie ihre Worte aufgenommen wurden.
Raymond zögerte, wurde rot, scheute wie ein nervöses Pferd und sah ängstlich zum Mittelpunkt seiner versammelten Familie hinüber. Er stammelte: »Oh – o ja – äh, sicher, natürlich. Ich …«
Dann eilte er so abrupt, als hätte man ihm die Sporen gegeben, mit der Zeitschrift in der ausgestreckten Hand zu seiner Familie zurück.
Die groteske Buddha-Figur hielt ihre fette Hand nach der Zeitschrift auf, doch als sie sie entgegennahm, ruhten ihre Augen, wie Dr. Gérard bemerkte, auf dem Gesicht des jungen Mannes. Sie gab eine Art Grunzen von sich, das sich keinesfalls nach Dank anhörte. Ihr Kopf drehte sich kaum merklich zur Seite. Dr. Gérard sah, wie sie Sarah scharf musterte. Ihr Gesicht war absolut ausdruckslos, ohne jede Gefühlsregung. Es war unmöglich zu sagen, was im Kopf dieser Frau vorging.
Sarah schaute auf ihre Uhr und stieß einen leisen Schrei aus.
»Es ist ja viel später, als ich dachte!« Sie stand auf. »Vielen Dank für die Einladung zum Kaffee, Dr. Gérard. Ich muss noch Briefe schreiben.«
Er erhob sich und nahm ihre Hand.
»Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder«, sagte er.
»Ganz bestimmt! Vielleicht kommen Sie ja mit nach Petra?«
»Ich werde es auf alle Fälle versuchen.«
Sarah lächelte ihm zu und ging. Ihr Weg führte sie am Tisch der Boyntons vorbei.
Dr. Gérard, der ihr nachsah, bemerkte, dass Mrs Boyntons Augen wieder zu ihrem Sohn wanderten und dass sich ihre Blicke trafen. Als Sarah vorbeiging, drehte Raymond leicht den Kopf – nicht zu ihr hin, sondern von ihr weg. Es war eine langsame, widerwillige Bewegung, die den Eindruck vermittelte, die alte Mrs Boynton hätte an einem unsichtbaren Draht gezogen.
Sarah King bemerkte den ausweichenden Blick, und sie war noch jung und unbefangen genug, um sich darüber zu ärgern. Sie hatten sich im schwankenden Gang des Schlafwagens so nett unterhalten. Sie hatten ihre Eindrücke von Ägypten ausgetauscht, hatten über die komische Sprache der Eselstreiber und Straßenhändler gelacht. Sarah hatte geschildert, wie ein Kamelführer, der sie erwartungsvoll und unverschämt gefragt hatte: »Du englisch Lady oder amerikanisch?«, zur Antwort bekommen hatte: »Nein, Chinesin.« Und welches Vergnügen es ihr bereitet hatte, als der Mann sie daraufhin völlig entgeistert anstarrte. Der junge Boynton hatte wie ein netter, eifriger Schuljunge auf sie gewirkt – tatsächlich hatte sein Eifer etwas Rührendes gehabt. Und nun war er, ohne jeden ersichtlichen Grund, auf einmal linkisch, flegelhaft – ja geradezu ungezogen.
In Zukunft kann er mir gestohlen bleiben, sagte sich Sarah empört.
Denn obwohl Sarah nicht über Gebühr eingebildet war, hatte sie doch eine ziemlich hohe Meinung von sich. Sie wusste genau, dass sie auf das andere Geschlecht ausgesprochen anziehend wirkte, und sie gehörte nicht zu denen, die sich eine Brüskierung stillschweigend gefallen lassen!
Vielleicht war sie doch eine Spur zu freundlich zu dem jungen Mann gewesen, aber aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen hatte er ihr leid getan.
Aber nun stand eindeutig fest, dass er nichts weiter als ein ungezogener, hochnäsiger, flegelhafter junger Amerikaner war!
Statt die erwähnten Briefe zu schreiben, nahm Sarah King an ihrem Frisiertisch Platz, kämmte sich das Haar aus der Stirn, blickte in zwei aufgebrachte haselnussbraune Augen, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickten, und nahm ihr derzeitiges Leben unter die Lupe.
Sie hatte gerade eine schwierige seelische Krise durchgemacht. Einen Monat zuvor hatte sie ihre Verlobung mit einem vier Jahre älteren Arzt gelöst. Sie hatten sich sehr zueinander hingezogen gefühlt, waren sich aber vom Temperament her zu ähnlich gewesen. Meinungsverschiedenheiten und Streitereien waren an der Tagesordnung gewesen. Sarah besaß ein zu herrisches Naturell, um den selbstverständlichen Autoritätsanspruch eines anderen einfach hinzunehmen. Wie so viele temperamentvolle Frauen glaubte Sarah, dass sie Stärke bewunderte. Sie hatte sich immer eingeredet, dass sie beherrscht werden wollte. Als sie dann einen Mann kennenlernte, der sie beherrschen konnte, stellte sie fest, dass ihr das ganz und gar nicht behagte! Die Verlobung aufzulösen war sehr schmerzlich für sie gewesen, aber sie war scharfsichtig genug, um einzusehen, dass Gefühle allein keine ausreichende Basis waren, um darauf ihr Lebensglück aufzubauen. Um schneller darüber hinwegzukommen, hatte sie sich ganz bewusst eine interessante Auslandsreise gegönnt, bevor sie allen Ernstes ins Berufsleben eintrat.
Sarahs Gedanken kehrten aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück.
Ich bin gespannt, dachte sie, ob mir Dr. Gérard erlaubt, mit ihm über seine Arbeit zu sprechen. Er hat wirklich Hervorragendes geleistet. Ich hoffe nur, dass er mich ernst nimmt … Vielleicht klappt es – falls er nach Petra mitkommt.
Dann dachte sie wieder an den merkwürdigen ungehobelten jungen Amerikaner.
Für sie bestand nicht der geringste Zweifel, dass die Anwesenheit seiner Familie ihn zu der seltsamen Reaktion veranlasst hatte, aber sie verachtete ihn trotzdem ein klein wenig. Derart unter der Fuchtel der eigenen Familie zu stehen war doch wirklich grotesk – insbesondere für einen Mann!
Und doch …
Sie wurde von einem eigenartigen Gefühl beschlichen. Irgendetwas an der ganzen Sache konnte einfach nicht normal sein!
Plötzlich sagte sie laut: »Der junge Mann muss gerettet werden! Dafür werde ich sorgen!«
Nachdem Sarah den Salon verlassen hatte, blieb Dr. Gérard noch einige Minuten an seinem Platz sitzen. Dann ging er gemächlich zu den ausliegenden Zeitungen hinüber, griff nach der neuesten Ausgabe von Le Matin und schlenderte damit zu einem Sessel in der Nähe der Boyntons. Seine Neugierde war geweckt.
Zunächst hatte er sich über das Interesse der jungen Engländerin an der amerikanischen Familie amüsiert und haarscharf den Schluss gezogen, dass dies auf ihr Interesse an einem bestimmten Mitglied der Familie zurückzuführen war. Doch nun erregte etwas Ungewöhnliches an dieser Familie das tiefer gehende, unparteiischere Interesse des Wissenschaftlers in ihm. Er spürte, dass er es hier mit einem psychologisch interessanten Fall zu tun hatte.
Hinter seiner Zeitung versteckt, nahm er die Gruppe diskret in Augenschein. Zunächst den jungen Mann, für den sich die attraktive Engländerin so offenkundig interessierte. Ja, dachte Gérard, eindeutig der Typ, der von Natur aus anziehend auf sie wirken musste. Sarah King war eine starke Persönlichkeit – sie besaß innere Ausgeglichenheit, einen klaren Verstand und einen eisernen Willen. Den jungen Mann schätzte Dr. Gérard als sensibel, scharfsichtig, unsicher und leicht beeinflussbar ein. Dem sachkundigen Blick des Arztes entging nicht, dass der junge Mann sich in einem Zustand höchster nervlicher Anspannung befand. Dr. Gérard fragte sich, warum. Es war ihm ein Rätsel. Aus welchem Grund sollte ein junger Mann, der sich allem Anschein nach bester Gesundheit erfreute, der doch angeblich zum Vergnügen im Ausland war, in einer Verfassung sein, die auf einen unmittelbar bevorstehenden Nervenzusammenbruch schließen ließ?
Der Arzt wandte seine Aufmerksamkeit den anderen Mitgliedern der Familie zu. Das junge Mädchen mit den kastanienbraunen Haaren war offensichtlich Raymonds Schwester. Die beiden waren sich vom Typ her sehr ähnlich – zartgliedrig, gut gewachsen, aristokratische Gesichtszüge. Sie hatten die gleichen schmalen, wohlgeformten Hände, die gleiche klare Kinnlinie und Kopfhaltung, den gleichen langen, schlanken Hals. Aber auch das Mädchen war nervös … Sie machte ständig unwillkürliche fahrige Bewegungen, und unter ihren unnatürlich glänzenden Augen lagen tiefe Schatten. Wenn sie sprach, klang ihre Stimme hektisch und eine Spur atemlos. Sie war wachsam – auf der Hut – unfähig, sich zu entspannen.
»Und sie hat Angst«, schloss Dr. Gérard. »Ja, sie hat Angst!«
Er schnappte Gesprächsfetzen auf, Bruchstücke einer ganz alltäglichen, normalen Unterhaltung.
»Wollen wir nicht Salomos Ställe besuchen?« – »Wird das Mutter auch nicht zu viel werden?« – »Und morgen Vormittag vielleicht die Klagemauer?« – »Und natürlich den Tempel – vielmehr die Omar-Moschee, wie er jetzt heißt. Warum eigentlich?« – »Weil er in eine moslemische Moschee umgewandelt wurde, Lennox, darum.«
Die üblichen, ganz alltäglichen Touristengespräche. Und doch hatte Dr. Gérard das merkwürdige Gefühl, dass die aufgeschnappten Gesprächsfetzen allesamt etwas Irrationales hatten. Sie waren Tarnung – eine Maske für etwas, das dahinter wogte und brodelte, zu abgründig und formlos, um es in Worte zu fassen … Wieder warf er, im Schutze von Le Matin, einen verstohlenen Blick hinüber.
Lennox? Das musste der ältere Bruder sein. Eine gewisse Ähnlichkeit mit seinen Geschwistern war nicht zu verkennen, aber es bestand ein wesentlicher Unterschied: Lennox war nicht so unruhig wie die anderen. Dr. Gérard kam zu dem Schluss, dass er ein stabileres Nervenkostüm besaß. Aber auch er hatte etwas Merkwürdiges. Er wies keinerlei Anzeichen körperlicher Angespanntheit auf, wie dies bei seinen Geschwistern der Fall war. Er saß gelöst da, schlaff. Verwirrt ging Gérard seine Erinnerungen an Patienten durch, die er so in Krankensälen hatte sitzen sehen, und dachte:
Er ist erschöpft – ja, erschöpft vom langen Leiden. Der Blick in seinen Augen – dieser Blick eines verletzten Hundes oder eines kranken Pferdes – stummes kreatürliches Erdulden … Merkwürdig, sehr merkwürdig … Körperlich scheint bei ihm alles in Ordnung zu sein … Dennoch besteht kein Zweifel, dass er in letzter Zeit viel gelitten hat – und zwar seelisch. Jetzt leidet er nicht mehr, er erträgt nur noch stumm, wartet – vermutlich darauf, dass das Schicksal erneut zuschlägt. Aber in welcher Form? Bilde ich mir das alles nur ein? Nein, dieser Mann wartet auf etwas, auf das nahende Ende. So liegen Krebspatienten im Bett und warten, dankbar dafür, dass ein Medikament ihre Schmerzen ein wenig lindert …
Lennox Boynton stand auf und hob das Wollknäuel auf, das der alten Dame heruntergefallen war.
»Bitte, Mutter.«
»Danke.«
Was strickte sie da eigentlich, diese monströse phlegmatische alte Frau? Irgendetwas Dickes und Grobes. Gérard dachte: »Fäustlinge für Armenhäusler!« Er musste über seine eigene Phantasie lächeln.
Er wandte seine Aufmerksamkeit dem jüngsten Mitglied der Gruppe zu, dem Mädchen mit den rotblonden Haaren. Sie war etwa neunzehn. Ihre Haut besaß die wundervolle Reinheit, die so oft mit roten Haaren einhergeht. Ihr Gesicht war sehr schön, wenn auch viel zu schmal. Sie saß da und lächelte vor sich hin – lächelte ins Leere. Ein eigenartiges Lächeln. Es war so weit weg vom Hotel Solomon, von Jerusalem … Es erinnerte Dr. Gérard an etwas … Dann fiel es ihm schlagartig ein. Es war das seltsame überirdische Lächeln, das auf den Lippen der Karyatiden auf der Akropolis in Athen liegt … Der Zauber dieses Lächelns, die absolute Regungslosigkeit des jungen Mädchens gaben ihm einen kleinen Stich.
Doch dann fiel sein Blick auf ihre Hände, und es traf ihn wie ein Schock. Für die anderen Familienmitglieder waren sie durch den Tisch verdeckt, aber Dr. Gérard konnte sie von seinem Platz aus deutlich sehen. Die Hände lagen auf dem Schoß des jungen Mädchens und zupften – zupften und rissen ein zartes Taschentuch in winzige Fetzen.
Gérard war zutiefst bestürzt. Das abwesende, gedankenverlorene Lächeln, der absolut reglose Körper – und die geschäftigen, zerstörerischen Hände …
Plötzlich war ein gedehntes asthmatisches Keuchen zu hören, und die monströse strickende Frau sagte:
»Ginevra, du bist müde. Du solltest zu Bett gehen.«
Das Mädchen zuckte zusammen, die Finger hielten in ihrem mechanischen Zupfen inne. »Ich bin noch nicht müde, Mutter.«
Gérard registrierte anerkennend, wie melodisch die Stimme war. Sie besaß jenen lieblichen, singenden Klang, der selbst den alltäglichsten Bemerkungen einen Zauber verleiht.
»Doch, das bist du. Ich merke es dir immer an. Ich glaube nicht, dass du morgen irgendwelche Sehenswürdigkeiten besichtigen kannst.«
»Aber das kann ich ganz bestimmt! Mir fehlt nichts.«
Mit dumpfer, rauer Stimme – einer beinahe krächzenden Stimme – sagte ihre Mutter: »O doch. Du wirst wieder krank werden.«
»Nein, ganz bestimmt nicht!«
Das Mädchen begann heftig zu zittern.
Eine sanfte, leise Stimme sagte: »Ich gehe mit dir nach oben, Jinny.«
Die ruhige junge Frau mit den großen, nachdenklichen grauen Augen und der adretten dunklen Haarrolle erhob sich.
Die alte Mrs Boynton sagte: »Nein. Sie geht allein nach oben.«
Das Mädchen rief verzweifelt: »Aber ich möchte, dass Nadine mitkommt!«
»Dann begleite ich dich natürlich.« Die junge Frau trat einen Schritt vor.
Die alte Frau sagte: »Das Kind zieht es vor, allein hinaufzugehen – nicht wahr, Jinny?«
Es trat Stille ein. Dann sagte Ginevra Boynton mit einer Stimme, die plötzlich ausdruckslos und hohl war:
»Ja, ich möchte lieber allein gehen. Vielen Dank, Nadine.«
Sie entfernte sich, eine große, eckige Gestalt, die sich erstaunlich anmutig bewegte.
Dr. Gérard ließ die Zeitung sinken und gestattete sich einen langen Blick auf die alte Mrs Boynton. Sie sah ihrer Tochter nach, und auf ihrem aufgeschwemmten Gesicht zeichnete sich ein sonderbares Lächeln ab, der Hauch einer Karikatur des reizenden überirdischen Lächelns, das noch vor wenigen Augenblicken das Antlitz des Mädchens verklärt hatte.
Dann wanderten die Augen der alten Frau zu Nadine, die wieder Platz genommen hatte. Sie sah auf und begegnete dem Blick ihrer Schwiegermutter. Ihr Gesichtsausdruck blieb absolut gleichmütig, doch der Blick der alten Frau war voller Bosheit.
Dr. Gérard dachte: Was für eine unsägliche alte Tyrannin!
Und dann waren die Augen der alten Frau plötzlich direkt auf ihn geheftet, sodass er jäh den Atem anhielt. Kleine glühende schwarze Augen starrten ihn an, die etwas ausstrahlten, eine Energie, eine starke Kraft, eine Woge hinterlistiger Bösartigkeit. Dr. Gérard wusste um die Macht der Persönlichkeit. Er erkannte, dass es sich hier nicht um eine verwöhnte, tyrannische Kranke handelte, die ihren Launen und Marotten freien Lauf ließ. Diese alte Frau war eine starke Kraft. In der Bösartigkeit ihres starren Blickes spürte er eine Ähnlichkeit mit der Wirkung, die eine Kobra auslöst. Mrs Boynton mochte alt, leidend, für Krankheiten anfällig sein, aber sie war keinesfalls machtlos. Sie war eine Frau, die wusste, was Macht war, die ihr Leben lang Macht ausgeübt und nie auch nur einen Moment an ihrer eigenen Stärke gezweifelt hatte. Dr. Gérard hatte einmal eine Frau kennengelernt, die außerordentlich gefährliche und spektakuläre Dressurnummern mit Tigern vorführte. Die großen geschmeidigen Raubkatzen waren auf ihre Plätze geschlichen und hatten ihre entwürdigenden und demütigenden Kunststücke gezeigt. In ihren Augen und in ihrem leisen Fauchen lag Hass, erbitterter, fanatischer Hass, aber sie hatten gehorcht, sich geduckt. Die besagte Frau war jung gewesen, eine arrogante dunkelhaarige Schönheit, aber sie hatte den gleichen Blick gehabt.
Une dompteuse, sagte Dr. Gérard bei sich.
Und nun verstand er, was unter der harmlosen Unterhaltung der Familie gebrodelt hatte. Es war Hass – ein dunkler, reißender Strom von Hass.
Er dachte: Die meisten Leute würden mir eine blühende Phantasie bescheinigen! Da genießt eine ganz gewöhnliche, nette amerikanische Familie ihren Aufenthalt in Palästina – und ich spinne mir eine finstere Geschichte zusammen!
Dann musterte er neugierig die stille junge Frau namens Nadine. Sie trug einen Ehering, und während er sie betrachtete, sah er, wie sie dem hellhaarigen, schlaksigen Lennox einen vielsagenden Blick zuwarf. Da verstand er …
Die beiden waren miteinander verheiratet. Aber es war eher der Blick einer Mutter als der einer Ehefrau – ein wahrhaft mütterlicher Blick, fürsorglich, besorgt. Und ihm wurde noch etwas klar. Er erkannte, dass Nadine Boynton die Einzige in der Familie war, die nicht im Banne ihrer Schwiegermutter stand. Sie mochte die alte Frau nicht besonders mögen, aber sie hatte keine Angst vor ihr. Ihre Macht konnte Nadine nichts anhaben.
Sie war unglücklich, in großer Sorge um ihren Mann, aber sie war frei.
Dr. Gérard sagte bei sich: Das ist alles höchst interessant.
Dr. Gérards düstere Überlegungen wurden abrupt durch etwas ganz Alltägliches unterbrochen.
Ein Mann betrat den Salon, entdeckte die Boyntons und ging auf sie zu. Es war ein sympathischer Amerikaner mittleren Alters und vom Typ her durch und durch konventionell. Er war sorgfältig gekleidet, hatte ein schmales glatt rasiertes Gesicht und eine bedächtige, angenehme, wenn auch etwas eintönige Stimme.
»Ich habe Sie schon überall gesucht«, sagte er.
Akribisch schüttelte er der ganzen Familie die Hand. »Und wie fühlen Sie sich heute, Mrs Boynton? Nicht zu müde von der Bahnfahrt?«
Beinahe huldvoll stieß die alte Dame pfeifend hervor: »Nein, danke der Nachfrage. Aber Sie wissen ja, dass es um meine Gesundheit nie gut bestellt ist.«
»Gewiss. Wirklich bedauerlich, wirklich sehr bedauerlich.«
»Aber es geht mir zumindest nicht schlechter.«
Mit einem bedächtigen heimtückischen Lächeln fügte sie hinzu: »Die gute Nadine kümmert sich hingebungsvoll um mich, nicht wahr, Nadine?«
»Ich tue mein Bestes.« Nadines Stimme war ausdruckslos.
»Na, das glaube ich Ihnen aufs Wort!«, sagte der Fremde jovial. »Also, Lennox, was halten Sie von der Stadt König Davids?«
»Ach, ich weiß nicht recht.«
Lennox’ Ton war apathisch, desinteressiert.
»Finden sie wohl etwas enttäuschend, wie? Ich muss gestehen, dass es mir zunächst auch so ging. Aber vielleicht haben Sie nur noch nicht viel davon gesehen?«
Carol Boynton sagte: »Wegen Mutter können wir nicht allzu viel unternehmen.«
Mrs Boynton erläuterte: »Zwei Stunden am Tag sind das Äußerste, was ich mir an Besichtigungen zumuten kann.«
Der Fremde sagte herzlich:
»Ich finde es großartig, dass Sie überhaupt so viel schaffen, Mrs Boynton!«
Mrs Boynton ließ ein bedächtiges, pfeifendes Glucksen hören, das beinahe hämisch klang.
»Ich gebe meinem Körper eben nicht nach! Das, worauf es ankommt, ist der Geist! Jawohl, der Geist …«
Ihre Stimme erstarb. Gérard sah, wie Raymond Boynton nervös zuckte und sich dann erkundigte: »Waren Sie schon an der Klagemauer, Mr Cope?«
»Aber ja, das war eine der ersten Stätten, die ich besucht habe. Ich hoffe, Jerusalem in einigen Tagen abgehakt zu haben, und lasse mir bei Cook’s gerade eine Rundreise zusammenstellen, damit ich alles vom Heiligen Land sehe – Bethlehem, Nazareth, Tiberias, See Genezareth. Das wird sicher ungeheuer interessant. Dann natürlich Gerasa, ein hochinteressanter Ruinenkomplex – aus der Römerzeit, wissen Sie. Und ich möchte mir unbedingt Petra anschauen, die rosarote Stadt, soll ein höchst bemerkenswertes Naturwunder sein, wie man so hört – und ohne den üblichen Touristenrummel –, aber man braucht eine knappe Woche, um hin- und zurückzukommen und alles gründlich zu besichtigen.«
Carol sagte: »Ich würde zu gern hinfahren. Es muss wunderbar sein!«
»Also ich würde sagen, dass sich ein Besuch dort eindeutig lohnt – jawohl, eindeutig.« Mr Cope hielt inne, warf rasch einen leicht zweifelnden Blick auf Mrs Boynton und fuhr dann mit einer Stimme fort, die für den lauschenden Franzosen auffallend unsicher klang:
»Ich überlege gerade, ob ich nicht einige von Ihnen dazu bewegen könnte mitzukommen. Mir ist natürlich klar, dass es für Sie