Der Tod wartet im Netz -  - E-Book

Der Tod wartet im Netz E-Book

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Beschreibung

Das Krimifestival München, Hugendubel, FOCUS Online und der Fischer Taschenbuch Verlag haben die besten Krimiautoren Deutschlands gesucht und den Agatha-Christie-Krimipreis 2011 ausgeschrieben. Unter dem Motto »Der Tod wartet im Netz« sind fast 600 Kurzkrimis eingegangen. Die Jury hat die 25 besten Storys für die Endauswahl nominiert, die in diesem Ebook erscheinen. Netze sind gefährlich - sie geben das, was sich in ihnen verfangen hat, nicht so schnell wieder her. Ganz gleich ob es sich um elektronische Netzwerke, Fischfang oder Beziehungsgeflechte handelt, ob sie bewusst ausgelegt wurden oder nur so herumhängen, die Opfer zappeln in ihnen, verstricken sich mit jeder Bewegung noch mehr oder können sich nur mühsam befreien. Und daraus entstehen Geschichten, die kriminell spannend sind. Selbst Miss Marple mit ihrem allgegenwärtigen Strickzeug hätte ihre Freude daran gehabt, die Fäden dieser Verbrechen zu entwirren....

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Seitenzahl: 311

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Der Tod wartet im Netz

Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011

Herausgegeben von Cordelia Borchardt und Andreas Hoh

Fischer e-books

Originalausgabe

»Seit Lucrezia Borgia bin ich die Frau,

die am meisten Menschen umgebracht hat,

allerdings mit der Schreibmaschine.«

Agatha Christie

 

Vor über 60 Jahren erschienen bei Scherz die ersten Taschenbücher des deutschsprachigen Buchmarkts: 1943 kreierte Alfred Scherz die berühmte Krimireihe mit den drei Streifen – mit Büchern der »Queen of Crime« Agatha Christie. Aus diesem Anlass schrieb der Scherz Verlag 2003 erstmals den Agatha-Christie-Krimipreis aus. Er wird verliehen für die besten deutschsprachigen Kurzkrimis. Inzwischen erscheint das Werk von Agatha Christie auch im Fischer Taschenbuch Verlag, der deshalb zusammen mit dem Krimifestival München, der Buchhandlungskette Hugendubel und FOCUS Online die Ausschreibung übernahm. Hier sind sie: die Gewinner und alle Nominierten des Agatha-Christie-Krimipreises 2010.

 

Die Jury:

Dr. Cordelia Borchardt, Lektorin für die Verlage Krüger, Scherz und Fischer Taschenbuch

Andreas Hoh, Geschäftsführer des Krimifestivals München

Nina Hugendubel, Leiterin der gleichnamigen Buchhandlungskette

Harry Luck, stellvertretender Nachrichtenchef bei FOCUS Online

Jutta Speidel, Schauspielerin in bekannten deutschen Serien

Erster Preis

Marcus WinterEinmal ein Held sein

02:43 Uhr

Schon wieder acht Junk-Mails. Genervt klickte er auf den Lösch-Button. Er brauchte dringend mal wieder einen neuen Spam-Filter.

Tim Schmidt war ein ganz durchschnittlicher fünfundzwanzigjähriger Physik-Student an der Uni Basel, er brauchte weder gefälschte Rolex-Uhren, noch eine Penisverlängerung oder eine günstigere Hausratversicherung. Er nahm den letzten Schluck Red Bull aus der Dose und schaute auf die Zeitanzeige unten rechts in der Taskleiste. Zu spät, um noch mal für eine Runde »Counter Strike« ins Netz zu gehen, denn morgen wollte er tatsächlich mal wieder in eine Vorlesung zur Theorie der Kondensierten Materie gehen. Er bewegte den Mauszeiger schon auf »Start/Herunterfahren«, als ihm in einem kleinen Fenster eine erneute E-Mail angezeigt wurde.

Nicht schon wieder! Er erblickte einen ihm völlig unbekannten Absender und konnte es nicht lassen, noch einen kurzen Blick auf den Text zu werfen:

Von:  [email protected]

An:  [email protected]

Betreff:  Hilf°!

Br°uch° Hilf°. Ich wurd° °ntführt und w°rd° in °in°m K°ll°r f°stg°h°lt°n. W°r imm°r di°s° M°il °rhält: bitt° schr°ib mir. D°s ist k°in Sch°rz!

D°s hi°r ist wirklich w°hr. Ich bin °ing°sp°rrt. W°r k°nn di°s° M°il l°s°n? Ich br°uch° Hilf°.

Fr°nzisk°

Was für ein Kauderwelsch. Welcher Analphabet hatte denn da auf der Tastatur herumgeklappert? Er sollte sich vielleicht mal wieder eine komplett neue E-Mail-Adresse zulegen, obwohl das auch immer viel Arbeit und auch Ärger mit Freunden nach sich zog.

Tim schaute noch einmal auf den Text. In Gedanken fügte er offensichtlich fehlende Buchstaben hinzu. Brauche Hilfe. Ich wurde entführt und werde in einem Keller festgehalten. Scheiße. Das war doch wohl hoffentlich ein makabrer Scherz.

Tim griff zur Maus und fuhr mit dem Zeiger in Richtung »Löschen«. Verdammt. Eine ganz normale Spam-Mail war das nicht. Er klickte kurzentschlossen zwei Button weiter links auf »Antworten«.

Von:  Tim.Schmidt@ fxg.ch

An:  Frnzisk@ fxg.ch

Betreff:  WG: Hilf°!

Schick nicht solche bescheuerten Mails in der Gegend herum. Mit einer Entführung scherzt man nicht. Franziska (falls Du überhaupt so heißt), lass den Blödsinn sein. Ich lösche Deine Mail und mache jetzt meinen Rechner aus. Schreib mir bitte nie wieder.

Tim

Er klickte auf »Senden« und bewegte den weißen Pfeil in die obere rechte Ecke, um »Outlook« zu schließen. Unwillkürlich zögerte er. Nur noch eine Minute, dachte er. Dann mache ich ihn wirklich aus.

N°in! Nicht °usm°ch°n. Du bist m°in° R°ttung!

D°s ist k°in blöd°r Sch°rz. Ich wurd° wirklich °ntführt. M°in °x-Fr°und ist völlig durchg°kn°llt. H°t mich in d°n K°ll°r g°sp°rrt. S°it zw°i T°g°n. H°b° b°r°its hund°rt° M°ils °bg°schickt. Nur du k°nnst mir h°lf°n, Tim.

Fr°nzisk°

Schöne Scheiße. Jetzt war er doch drauf reingefallen. Mit einem Schulterzucken klickte er auf den Antwort-Button.

Wieso kann nur ich dir helfen? Selbst wenn ich dir glauben würde. Was soll ich denn für dich tun? Warum schreibst du nicht an einen deiner Freunde? Oder am besten direkt an die Bullen.

Tim

Warum hatte er Idiot nicht einfach den Computer runtergefahren?

Du bist gut. Ist dir m°l °ufg°f°ll°n, d°ss in m°in°n M°ils Buchst°b°n f°hl°n? Ich h°b° hi°r nur °in°n PC mit k°putt°r T°st°tur. °v°ntu°ll °uch F°hl°r in d°r S°ftw°r°. F°st für j°d°n N°m°n br°uchst du d°n °rst°n und fünft°n Buchst°b°n d°s °lph°b°ts.

Fr°nzisk°

Okay, das konnte er nachvollziehen. Ohne a und e kam man wirklich nicht sehr weit, weder bei Vor- noch bei Nachnamen. Auch die Website »Polizei.ch« konnte man so nicht erreichen.

Klingt ja logisch. Aber wieso hast du einen Internet-PC, wenn dein Ex-Lover dich angeblich eingesperrt hat? Wie dämlich müsste der sein?

Tim

Nach knapp einer Minute tauchte die nächste Mail in »Outlook« auf.

Du gl°ubst mir nicht. K°nn ich v°rst°h°n.

°in misstr°uisch°r V°rst°nd ist °in g°sund°r V°rst°nd.

Hi°r im K°ll°r l°g°rn °in p°°r °usr°ngi°rt° R°chn°r. Ich h°b° °us dr°i k°putt°n °in°n zus°mm°ng°b°ut, d°r °inig°rm°ß°n läuft. Und irg°nd°in N°chb°r h°t °in ung°schützt°s W-L°N, d°ss ich °ng°z°pft h°b°.

N°rv mich j°tzt bitt° nicht mit w°it°r°n Fr°g°n. M°in °x ist b°ld zurück. Ruf di° Bull°n °n.

Das mit dem gesunden Verstand, war das nicht ein Zitat aus »Dawn of War«? War Franziska etwa eine Online-Gamerin? Frauen gab es in Tims nächtlichen virtuellen Welten kaum. Na ja, wenn er ehrlich war, tagsüber in seiner realen auch. Die würde er gerne mal kennenlernen.

Okay, kann ja durchaus sein, dass deine Story stimmt. Warum hat er dich denn eingesperrt? Will er Lösegeld? Hast du reiche Eltern?

Tim

Nur wenige Sekunden später kam die Antwort.

Wir w°r°n dr°i J°hr° zus°mm°n. Ich h°b° Schluss g°m°cht. °r m°int °b°r, ich müsst° ihn h°ir°t°n. °s ging° nicht °nd°rs, w°g°n v°rl°tzt°r °hr°. D°r ist völlig durchg°dr°ht. H°t mir °in° Frist bis h°ut° Mitt°g, zwölf Uhr, g°s°tzt. Ich tr°u° ihm °ll°s zu. Wirklich °ll°s!

Tims Puls beschleunigte sich. So ein Ehrenmord-Scheiß, das wurde ja immer schlimmer. So was denkt sich doch niemand aus.

Wo bist du denn angeblich eingesperrt, wie heißt dein Ex-Freund? Ich werde die dortige Kantonspolizei informieren, die werden dir helfen.

Tim

Das würde er wirklich tun. Sollten die Bullen sich doch kümmern.

Ich bin nicht unt°n b°i dir in d°r Schw°iz. Bin hi°r in H°mburg, D°utschl°nd. Musst° mir °in° Schw°iz°r °-M°il-°dr°ss° (.ch) b°sch°ff°n. W°g°n d°r f°hl°nd°n Buchst°b°n k°m°n d°utsch° und öst°rr°ichisch° °nbi°t°r nicht in Fr°g°.

D°r Typ h°ißt °rh°n Y°silyurt, 30 J°hr° °lt. °r hält mich hi°r in °in°m K°ll°r f°st, °k°zi°nw°g 42. °ig°ntüm°r sind im Url°ub. Ich fürcht°, d°s w°r nicht s°in °rst°r °inbruch. Ich gl°ub°, ich k°nn° ihn g°r nicht wirklich.

Fr°nzisk°

Tim war immer mehr geneigt, die Geschichte tatsächlich zu glauben. Eine Mail-Adresse bei einem Provider mit der Endung ».de« oder ».at« konnte man nicht benutzen, wenn einem die Buchstaben e und a nicht zur Verfügung standen. Tims Finger huschten über die Tasten.

Okay, dann will ich dir mal glauben. Ich rufe die Polizei in Deutschland an und schicke dir Hilfe.

Tim

Dann kam Franziskas letzte Mail:

D°nk°. Ich h°b° °cht °ngst. °rh°n ist völlig durchg°kn°llt. D°m ist in s°in°m Zust°nd °ll°s zuzu

Hör° ihn °uf d°r Tr°pp°. Muss j°tzt d°n R°chn°r °us

 

03:32 Uhr

Solange Tim Schmidt mit seinem Computer recherchierte, war alles noch relativ glatt gelaufen. Es gab laut »Google Maps« tatsächlich einen Akazienweg in Hamburg, bei »Telefonbuch.de« fand er die Rufnummern von sage und schreibe 47 Polizeikommissariaten. Echte Probleme tauchten erst auf, das war für ihn nicht neu, als er mit Menschen reden musste. Er hatte seine Geschichte schon dreimal in Ansätzen geschildert und wurde jetzt zum vierten Mal verbunden.

»Kriminaldauerdienst Hamburg, Wesskamp, was kann ich für Sie tun?«, hörte er endlich.

Tim erzählte zum hoffentlich letzten Mal, was er erfahren hatte. Ab und zu wurde er von knappen Fragen des Kriminalbeamten unterbrochen.

»Also, Herr Schmidt. Die angeblich Entführte heißt also Franziska, einen Nachnamen haben Sie nicht. Der Täter soll Erhan Yesilyurt heißen, der Tatort ist der Akazienweg 42.« Der Beamte hatte sich offenbar Notizen gemacht. In seiner Stimme meinte Tim, eine deutliche Spur von Misstrauen wahrzunehmen.

»Genau. Bevor ich mehr erfahren konnte, brach die Verbindung ab.«

»Und Sie rufen aus der Schweiz an?«

»Ja, wieso?« Der Kriminalbeamte war eindeutig skeptisch.

»Nun ja, es dürfte rein rechtlich schwierig sein, hier konkrete Maßnahmen aufgrund eines bloßen Anrufes einer nicht sicher identifizierten Person aus dem Ausland zu ergreifen. Sie sollten am besten mit ihren ausgedruckten E-Mails zur nächsten Polizeiwache in Basel gehen. Die dortigen Kollegen können Ihre Personalien überprüfen und uns die Unterlagen auf dem Weg der Rechtshilfe zukommen lassen.«

»Wie lange dauert so was denn? Wir haben keine Zeit, dieser Erhan hat eine Frist bis heute Mittag gesetzt. Das sind knapp acht Stunden.«

»Äh …, wenn ich ganz ehrlich sein soll, der Rechtshilfeweg dauert normalerweise schon ein paar Tage. Also, am besten, ich recherchiere jetzt erst einmal ihre Angaben und melde mich dann gleich bei Ihnen.«

 

05:17 Uhr

Tim Schmidt schreckte hoch. Er war mit dem Kopf auf dem Schreibtisch eingenickt. Telefon.

»Kriminaldauerdienst Hamburg, Wesskamp. Herr Schmidt?«

»Ja?«

»Also, um es kurz zu machen. Es gibt zwar einen Erhan Yesilyurt in Hamburg, der ist aber Anfang sechzig, verheiratet und hat vier Kinder. Und der Akazienweg in Blankenese ist relativ kurz, eine Hausnummer 42 gibt es gar nicht.«

»Das heißt?«

»Das heißt, dass man Sie reingelegt hat. Das ist ein übler Scherz. Überlegen Sie doch mal, wer aus Ihrem persönlichen Umfeld Ihnen vielleicht diesen Streich gespielt haben könnte.«

»Das alles soll ein Fake sein? Aber …«

»Auf jeden Fall werden wir hier in Hamburg im Augenblick nichts unternehmen. Ich bleibe bei meinem Rat, sich an ihre örtliche Polizeidienststelle in Basel zu wenden. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

 

06:40 Uhr

Tim wälzte sich unruhig auf seinem Bett hin und her. Konnte er noch irgendetwas tun? Man durfte doch dieses Mädchen nicht einfach im Stich lassen. Sie schien ja clever zu sein und kannte sich mit Rechnern und Computerspielen aus. Immerhin hatte sie in einem vermutlich schlecht beleuchteten Keller aus mehreren defekten einen funktionierenden Computer zusammengebaut und auch erkannt, dass die fehlenden Buchstaben auch auf einen Softwarefehler zurückzuführen sein könnten. Aber clever zu sein war natürlich kein ausreichender Schutz gegen einen brutalen Ex-Lover.

Softwarefehler!

Tim setzte sich auf. Er hastete zum Schreibtisch und überflog die ausgedruckten E-Mails. Da, schon in der dritten Nachricht: »S°ftw°r°«. Software. Da fehlte auch das »o« auf Franziskas PC.

Vielleicht hätte er im Geographieunterricht doch ab und zu besser aufpassen sollen. Gab es in Deutschland auch einen Ort namens Homburg? Er startete »Google Maps« und hatte nach Sekunden das Ergebnis. Tatsächlich – eine kleine Stadt im Saarland. Und es existierte auch ein Akazienweg. Er beschaffte sich die Telefonnummer der Kriminalpolizei-Inspektion in Saarbrücken und wurde natürlich wieder mehrmals verbunden. Die ihm schon bekannten Fragen wurden gestellt. Ach, aus der Schweiz rufen sie an? Wie sollen wir denn von hier aus Ihre Personalien überprüfen? Können Sie nicht in Basel zur nächsten Polizeiwache gehen?

Der Beamte recherchierte immerhin im Meldeamts-Computer, sagte dann aber: »Einen Erhan Yesilyurt gibt es in Homburg definitiv nicht. Könnte das Ganze nicht eher ein übler Scherz sein?«

Das kannte er alles schon. Tim klappte wortlos sein Handy zu und warf es aufs Bett. Er schaute zur Uhr. Laut »Google« waren es etwa dreieinhalb Stunden nach Homburg. Durch Frankreich, am Rhein entlang Richtung Straßburg, dann bei Saarbrücken über die Grenze.

 

06:55 Uhr

Sein alter VW Polo sprang erstaunlicherweise sofort an, außerdem hatte er gestern gerade vollgetankt. Mit feuchten Händen gab er das Ziel ins Navi ein und setzte den Wagen in Bewegung.

 

09:15 Uhr

Während der Fahrt gab er sich hemmungslos den großartigsten Tagträumen hin. Tim wollte ein einziges Mal ein echter Held sein, nicht nur ein siegreicher Kämpfer in Computerspielen. Die holde Prinzessin ganz wirklich aus den Fängen des Bösen befreien. Franziska sah dabei natürlich aus wie Lara Croft in »Tomb Raider«. Und sie hauchte ihm nach der Befreiung lächelnd zu: »Sterblicher, ich danke dir für meine Rettung!«

Das war ein Zitat aus »Diabolo II«, in diesem virtuellen Kosmos kannte er sich bestens aus. Aber gleich, in der Realität – was sollte er da eigentlich wirklich anstellen?

Was er hier gerade machte, war der schiere Wahnsinn.

 

10:40 Uhr

Ein großer Schweißtropfen rann ihm langsam über die Wirbelsäule nach unten, als er die beschädigte Terrassentür des Hauses Akazienweg 42 langsam aufschob. Er vermied es, auf die Glasscherben auf dem Parkettboden zu treten und betrat das riesige Wohnzimmer. Auf einem großen Glastisch und dem Fußboden lagen geleerte Whisky-Flaschen, zerknüllte McDonald's-Tüten, Pizza-Kartons und die offensichtlichen Hinterlassenschaften eines geplünderten Kühlschranks. Auf der Tischplatte sah Tim zwischen all dem Müll ein Schlüsselbund und eine braune Geldbörse. Er schaute ins Portemonnaie und zog einen Ausweis heraus. Der Typ hieß Orhan Yesilyurt, auch hier hatte also ein »O« gefehlt. Dann hatte dieser Saarbrücker Kriminalbeamte also zu Recht festgestellt, dass ein Erhan Yesilyurt in Homburg nicht gemeldet sei.

Aber immerhin – Tim war eindeutig im richtigen Haus. Und das alles war kein Fake. Eine Mischung aus Triumph und Angst fuhr ihm in die Magengrube, er spürte sein Herz bis in den Hals pochen. Und er hatte sich bislang eingebildet, ein Fight in den Katakomben von »Counter Strike« sei aufregend.

Vorsichtig schlich er weiter, um den Zugang zur Kellertreppe zu finden. Vom Flur aus sah er jedoch zunächst durch eine offene Tür ein breites Ehebett, auf dem schnarchend ein junger Mann lag. Das war eindeutig der Kerl vom Ausweisfoto.

Tim schlich weiter und fand nach drei Versuchen die Tür, die zum Keller führte. Langsam, aber mit einem lauten Quietschen öffnete er sie und suchte mit zitternden Fingern nach einem Lichtschalter.

»Hey, wo kommscht du d'n her, hä?«, hörte er plötzlich hinter sich.

»Ich komme aus den Bergen«, entfuhr es Tim spontan. Ein Dialog aus »Gothic 2«, passte ja ganz gut auf einen Schweizer im Saarland.

Orhan Yesilyurt schob Tim zur Seite und versperrte rülpsend die Treppe. Er wankte leicht.

Tims Puls raste. Was sollte er tun? Er hatte schließlich keine Beretta M9 wie in »Call of Duty«. Das hier war real.

»Hinter dir, ein dreiköpfiger Affe!«, rief er schließlich laut, wie einst Gybrush Threepwood in »Monkey Island«.

Yesilyurt drehte sich hektisch um, trat mit einem Fuß ins Leere, grunzte erschrocken und stürzte polternd die Treppe hinab. Tim rannte hinterher und kniete unten neben dem offenbar Bewusstlosen. Erleichtert stellte er fest, dass der Mann zwar flach, aber hörbar atmete.

»Es ist nicht der Sturz, der dich tötet, sondern der plötzliche Stopp am Boden«, sagte er betont laut und mit tiefer Stimme, in der Hoffnung, dass Franziska irgendwo in der Nähe das coole Zitat aus »Chronicles of Riddick« hören würde.

Er fand sie schließlich in einem großen Abstellraum. Einige ältere Computer und Monitore in einer Ecke waren offenbar mit einem Baseballschläger, der auf der Erde lag, zertrümmert worden. Ihr Ex-Freund hatte ihr den Mund mit Paketband verklebt und ihr einen Kopfhörer aufgesetzt. Sie hatte also gar nichts von Tims Heldentat mitbekommen. Und sie sah auch nicht so aus wie Lara Croft, sondern war genau so blass und leicht übergewichtig wie Tim selbst.

Aber was machte das schon? Tim wählte »110« und löste ihre Fesseln.

 

11:03 Uhr

Die Streifenwagenbesatzung kümmerte sich zunächst um den bewusstlosen Orhan Yesilyurt und rief über Funk einen Notarzt. Dann durchsuchten sie den Keller. In einem Raum fanden sie einen jungen Mann und eine junge Frau, die sich stumm und weinend in den Armen lagen.

Zweiter Preis

Sibylle ZimmermannBerlin connections

Ich hätte den Stecker nicht ziehen sollen.

Ich frage mich manchmal, warum Menschen zu Mördern werden. Normalerweise, wenn man Probleme hat mit jemandem, also angenommen du hast einen Typen, der schlägt dich; als normaler Mensch, wenn alles Reden und Drohen nichts hilft, gehst du irgendwann. Verlässt ihn und tschüss.

Manche Menschen aber morden dann. Es gibt ja solche Gutachten vor Gericht und meist ist es eben die Kindheit. Die schwere Kindheit. Wenn du aber genau hinsiehst, dann hat fast jeder eine schwere Kindheit. Und die morden nicht alle. Ich, zum Beispiel, wäre prädestiniert. Mutter früh abgehauen (und zwar für immer! nie wieder aufgetaucht!), geliebter Pappi liefert seine kleine Prinzessin (mich), die sich wie eine Ertrinkende an ihn klammert, bei der mürrischen Oma ab und sagt, nächste Woche komm ich wieder mein Schatz und taucht erst nach einem geschlagenen Jahr wieder auf. Verspricht ihr dann aber, sie auf einen schönen Urlaub mitzunehmen, nur sie beide, und schleicht sich am nächsten Morgen, als seine Prinzessin noch schläft, aus dem Haus. Und ist weg!

Verarsche. Volle Verarsche, die ganze Kindheit hindurch.

Ich glaube, wenn's danach geht, nach der fucking Kindheit, meine ich, da gäb's Ermordete ohne Ende.

Aber ich habe trotz allem erst kürzlich mein eigenes kleines Paradies gefunden. Ja, das gibt's! Gefunden und auch selbst mit erschaffen. Trotz Kindheit.

Mark. Übers Internet gefunden und plötzlich passte alles. Ich fand ihn gutaussehend, aber das war's nicht allein. Zumindest nicht in erster Linie. Es war viel mehr. Wir waren uns so verdammt ähnlich. Beide Ordnungsfanatiker und beide hochkreativ. Passt eigentlich nicht zusammen, aber war so. Kreativ, vor allem beim Sex.

Über seinem Bett hängt ein Netz, so ein originales Fischernetz mit Muscheln drin und Seesternen. Voll der 70er Jahre Retrolook. Ich glaube, mein Vater hatte auch mal so ein Ding über dem Tresen in seiner Bar hängen. Hab ich natürlich nicht im Original gesehen, nur so auf Fotos, als ich mich irgendwann überwand und seine Sachen durchsah.

Und damit es auch gemütlich war bei Mark, Stimmung und so, hat er eine Lämpchengirlande in das Netz gewebt mit lauter kleinen roten Birnchen.

Vor unserem ersten Treffen haben wir volle drei Monate nur gechattet. Wir mochten das gleiche Essen (scharf), die gleichen Bücher (Hornby, zum Beispiel) und wir mögen den gleichen Sex (kreativ, Rollenspiele, jedes Mal anders).

Und als wir uns dann das erste Mal trafen, war alles so selbstverständlich, als würden wir das immer tun. Er fragte, wie willst du's und ich sagte so und so, und es war toll. Wirklich toll! Was soll ich anderes sagen? Echt toll!

Sein Bett, die kleinen roten Lichter, das olle Netz – ein Abend bei ihm war immer ein inszenierter Abend. Immer perfekt. Nie halb gut oder so.

Mir gefällt es, wenn die Leute sich konzentrieren können. Bei ihm war es konzentrierter Sex. Nicht während dem Essen schnell in der Küche, nicht nebenher fernsehen oder was weiß ich alles. Nein. Wenn ich ihn traf, dann führte er mich mit diesem Knie erweichenden Blick gleich ins Schlafzimmer, wo schon alles bereit war, Lichter, Bett und jede Menge Utensilien.

Oft sagte er, mach mal, und ich ließ mir was einfallen, und dann wieder sagte er mir genau, wie es heute laufen sollte, es gab auch bestimmte Nummern, die orientalische oder die Hausfrauen-Nummer mit Gummihandschuhen zum Beispiel und so. Er flüsterte mir seine Wünsche ins Ohr mit dieser erotischen Stimme, dass ich schon nur von der Stimme feucht wurde.

Zwischen den Treffen schrieben wir uns weiter, und es war der Kontrast zwischen den offenen und redseligen Mails, in denen wir uns gegenseitig alles gestanden und sagten, dass wir uns liebten, und uns versicherten, dass wir uns ewig treu sein würden und dann die Treffen mit dem fast wortlosen, inszenierten Sex. Echt prickelnd der Kontrast.

Er war mir immer ein bisschen fremd beim Sex. Wenn er kam und eigentlich auch schon vorher, sah er oft starr nach oben an mir vorbei, als ob er dort in eine andere Welt blicken könnte. So konzentriert war er. Toll.

Ganz ehrlich, es war das Paradies.

Ich hatte auch vorher schon Freunde. Klar waren ein paar Blöde dabei, aber es waren auch ein paar richtig tolle Beziehungen drunter. Aber nie war es so wie mit Mark. Nie so … ehrlich. Offen und keine dummen Spielchen. Keine Eifersucht. Nur wir zwei. Unsere Liebesmails und unsere ausgelassenen Sexspiele.

 

Hätte ich bloß diesen verdammten Stecker nicht gezogen.

Es war ein Mittwoch. Er war draußen in der Küche, und ich musste dringend meine Freundin, Alia, anrufen.

Mein Handy hatte einen defekten Akku, der ständig leer war, deshalb ging ich nur noch mit dem Ladekabel in der Handtasche aus'm Haus. Mark draußen richtete alles fürs Essen.

Das war auch so etwas. Dass er nach dem Sex immer noch Zeit hatte, meistens kochte er etwas richtig Köstliches und manchmal bestellten wir auch etwas. Und saßen uns dann am Küchentisch gegenüber. Und sahen uns verliebt in die Augen.

An dem Mittwoch hatte Alia, meine Freundin, mir eine SMS geschickt, weil sie was von 'nem Job für mich wusste. Ich suchte einen Job. Mit mehr Geld. Ich habe immer zu wenig Geld und hab's satt.

Ich räkelte mich also, vom Sex wohlig ermattet, auf dem Bett und sah in das Fischernetz, während wir sprachen. Ich hab's nicht gleich bemerkt. Erst als ich wieder zu Hause war, dämmerte es mir. Ich meine, ich hab ihm echt vertraut. Ja, vollkommen vertraut. Auch wenn du vielleicht früher schlechte Erfahrungen mit Vertrauen gemacht hast und so, aber dann eines Tages, einfach so per Internet Chat landest du im Paradies und Peng ist es wieder da; das Vertrauen. Nach den ganzen Jahren ohne. Als hätte es sich nur hinter einem Holzstoß versteckt. Vertrauen, hat mein Pappi früher immer gesagt, ist wie ein Netz, das dich auffängt, wenn du fällst (sprach's und verarschte mich).

Wie auch immer, wenn du vertraust und dann zeigt dir ein lächerliches kleines rotes Lämpchen, dass alles und zwar absolut alles für'n Arsch war, also den möchte ich sehen, der das so instantmäßig kapiert.

Bei mir ist es erst voll durchgesickert, als ich daheim war.

Dieses verdammte kleine Licht meldete sich immer wieder in meinem Kopf.

Ich hatte ja mit meinem Handy telefonieren wollen und da war eben der dauerleere Akku. Ich also das Kabel aus der Tasche geholt und nach einer Steckdose gesucht und unterm Bett eine gefunden. Verlängerungskabel mit Steckdose. Ich zog den Stecker, der drinsteckte, raus und es wurde dunkler im Zimmer. Ich sah hoch, aha, das war die Lichterkette, die da dranhing. Die mit den kleinen roten Lämpchen im Fischernetz, die eine so angenehme Atmosphäre zauberte.

Ich quatschte dann, auf dem Rücken liegend, mit Alia (die in Wirklichkeit Lena heißt, sich aber gerne Alia nennt, na ja) und sah dabei ins Netz mit seinen kleinen Accessoires, dem Seestern, dem Skelett eines Seeigels, den Muscheln und – dem einen roten Licht.

Ich bin ja nicht blöd. Langsam, okay. Aber definitiv nicht blöd!

Und deshalb, wegen diesem verdammten Stecker, lieber Mark, ging dann alles seinen Weg. Ich wäre die Letzte, die in der Lage ist, den Lauf des Schicksals aufzuhalten. Einmal gestartet, spurtet es los. Das Schicksal meine ich.

Das nächste Mal schlich ich, mit meinem Handy bewaffnet, in sein Arbeitszimmer. Er ist so ordnungsliebend wie ich, und ich fand in der obersten Schreibtischschublade exakt das, was ich erwartete: eine Liste, fein säuberlich in Excel erstellt, in der er alle seine Passwörter verewigt hatte. Ein kleiner Klick mit dem Fotohandy. Mehr nicht.

Danach Spaghetti al Arabiata. Passte.

 

Natürlich wollte ich nicht an sein Bankkonto. Und auch nicht in seinem Namen bei Amazon Bücher kaufen.

Ich musste nicht lange suchen. Er hatte diesen Ordner in seinem Mailaccount, den hatte er Karla genannt.

Alles war drin. Sauber geordnet. Das musste eine Art privates Netz sein, an die hundert Teilnehmer. Oder sollte man besser Mittäter sagen. Ich gebe zu, ich wirke ja oft ziemlich hartgesotten, aber ich habe beim ersten Mal einfach keine Luft mehr bekommen. Ich habe sonst nie Asthma oder solche Sachen. Aber egal, wie oft ich probiert habe, weiter in seinen Mails rumzustöbern, es kam immer wieder diese Enge in den Bronchien, eine Öffnung, vielleicht grade mal so dick wie eine Kugelschreibermine, durch die ich Luft holen musste.

Aber dann, über ein paar Tage verteilt, peu à peu, Mail für Mail, verschaffte ich mir das vollständige Bild. Ein paar von denen lieferten und die anderen zahlten. Erst wurde ein neues »Werk« kurz beschrieben, dann ging Geld aufs Konto ein, dann wurde geliefert. Es gab Spezialisten. Für alles Mögliche. Tiere. Kinder. Da war mein toller Mark noch richtig normal. Er war der Mann für die Normalo-Erotik. Harmlose Utensilien, Latex und Co, bisschen Fetisch hie und da. Einige der Videos bot er frei an und andere wurden von den Typen in Auftrag gegeben. Sie konnten dann wählen, welche der Frauen und was sie dabei tun sollten.

Es waren außer mir noch vier Frauen. Eine, eine Rothaarige, mit einer wilden, super aussehenden Mähne, schien die Chefbumserin vom Dienst zu sein. Karla, sicherlich ein Codename, denn mich nannte er offensichtlich Lizzy. (Arschloch! Da ist ja Alia noch besser!)

Karla, die Lieblings-Haremsdame. In jeder Position gebumst, gevögelt und gepoppt. Und alles schön aufgezeichnet, teils im Auftrag, teils einfach so angeboten.

Ich will nicht beschreiben, wie ich mich fühlte. Die Sätze, die er mir ins Ohr geflüstert hatte, ich finde es toll, eine so kreative Liebhaberin zu haben, und so weiter. Ich würde wahrscheinlich durchdrehen, wenn ich die Scham und dieses wahnsinnige Verarscht-sein-Gefühl genau beschreiben würde.

Aber ich habe irgendwann so eine Art Motto, so einen Lebens-Satz in mein Hirn eingemeißelt. Da steht er. Für immer. Dauerhafter als jedes Tattoo.

Und er lautet: Mich verarscht keiner!

So hat Mark also zwei Fehler begangen, er hat das mit dem roten Lämpchen an der Videokamera nicht bedacht und er hat die Kraft eines ins Hirn eingemeißelten Satzes unterschätzt.

Schöne Scheiße, lieber Mark. Schöne Scheiße!

 

Ich kaufte eine rote Perücke, eröffnete das Nummernkonto in der Schweiz, und dann hieß es eben warten. Im Nachhinein würde ich sagen, das war das Schwierigste. Ich wusste, er ging manchmal auf solche Survival-Urlaube. Survival in the desert, wo der Mann wieder ganz Mann ist und so.

Und ich musste ganz schön warten, aber schließlich kam's: Fünf Tage Survival im Schwarzwald. No E-Mail, no Handy, no garnix!

Ich hatte volle fünf Tage, um mein Angebot über seine Mailadresse zu lancieren – natürlich von 'nem Internet Café aus, ich bin ja nicht bescheuert – und die Preise in die Höhe zu treiben. Ich hab dieses Angebot übrigens nicht erfunden, da war immer mal wieder eine Anfrage von einem dieser Typen, er nannte sich Hasso.

Und sie bissen alle an.

Dann musste der Schotter nur noch eintreffen, was er auch tat. Denen lief schon der Geifer aus dem Mund, so gierig waren sie.

Wie schon gesagt, es gibt solche und solche Menschen. Manche werden verarscht und gehen dann einfach. Regen sich zwar vielleicht auf, schreien sogar oder werfen mit Sachen, aber irgendwann gehen sie.

Ich bin nicht so. Sonst wäre das für Pappi damals ja auch anders ausgegangen.

 

Jürgen Schenko blies die Backen auf.

Verdammt, verdammt, verdammt! Musste sie ausgerechnet jetzt reinkommen! Dies hier war sein Arbeitszimmer, mit Bedacht unterm Dach gewählt, weitab von der Familie, sein Refugium. Hier durfte ihn keiner stören und schon gar nicht ohne anzuklopfen.

Beim Wichsen vor dem Computer erwischt.

Auch nach 24 Ehejahren eine echte Peinlichkeit. Er würde es heute Nacht wiedergutmachen müssen. Er wusste natürlich wie: unendlich viel Zärtlichkeit, stundenlanges Vorspiel, danach braver Sex. Todlangweilig eben. Aber er würde sich dieses geilste aller geilen Videos in Gedanken dabei ansehen. Wieder und wieder. Das Geilste, das er je bekommen hatte.

Er hatte es schon mehrfach probiert, immer mal wieder angetippt, aber keiner hatte bisher angebissen, immer ignoriert. Bis letzte Woche.

Jürgen Schenko war einiges gewöhnt, aber er war immer noch geschockt. Wegen der Sauerei? Wohl weniger. Eher wegen dieser Riesenüberraschung.

Der Typ mit Codename Berlin hatte ja schon ganze Massen an Videos geliefert. Und dabei verdammt gutes Geld verdient. Und jetzt dieser Riesenauftritt, das Sahnehäubchen aller Videos. Ausgerechnet von Berlin! Von ihm hätte er es als Letztes erwartet.

Jürgen hatte es in Auftrag gegeben und teuer bezahlt. Sauteuer übrigens. Ging alles ab vom Konto seiner Frau, die zum Glück keinen Überblick hatte über ihr ganzes Geld. Die auf der Dienststelle übernahmen diese Art Kosten ja leider nicht. Er grinste.

Freunde sagten oft, das ist ja furchtbar so ein Job, und er nickte, ganz der verantwortungsbewusste geplagte Kriminalbeamte, Abteilung Internetkriminalität, Sektion Porno. Ja, ja, sagte er dann, so viel kann man gar nicht essen, wie man da kotzen möchte.

Er hatte sich zwei Tage lang wie ein Kind gefreut auf das Video. Dann traf es ein von Berlin, dem Haremsbesitzer. Jürgen war sich sicher, dass die anderen es auch alle gekauft hatten. Es war der Hit des Jahres. Er nahm an, dass Berlin mit dem Video den ultimativen Deal machen und sich dann absetzen wollte. Haus auf den Malediven oder so.

Jürgen lud es runter und klickte es mit zitternden Händen an.

Es war von Anfang an nicht das, was er erwartet hatte.

Berlin lag auf dem Bett mit verbundenen Augen. Alleine. Dann erst kam die Rote, Karla, dazu. Sie schien ein bisschen dünner als sonst. Gesicht verschleiert wie bei den orientalischen Nummern. Kurioserweise hatte sie dazu noch Gummihandschuhe an, die gelben, die er schon oft gesehen hatte. Sie setzte sich auf Berlin und rieb sich an ihm bis sein Schwanz erigiert war. Danach spielte sie mit ihm, ließ ihre Brüste drübergleiten, leckte ihn, stoppte aber immer rechtzeitig, bevor er kam. Schließlich fesselte sie ihn an Armen und Beinen mit Handschellen am Bett. Danach reizte sie ihn immer weiter.

Jürgen starrte gebannt auf den Bildschirm. Sein Mund war trocken. Die Atmung ging flach und schnell. Wie würde Berlin es tun, gefesselt wie er war?

Die Rote zog das Spiel schier unendlich in die Länge. Dann fasste sie nach oben und holte von irgendwo außerhalb der Reichweite der Kamera etwas Kleines hervor, Jürgen konnte es nicht genau erkennen.

Sie nahm Berlin die Augenbinde ab, der sah sie an und wirkte überrascht. Seltsam. Er wollte wohl etwas fragen, aber sie legte ihren Zeigefinger beschwörend auf seine Lippen und machte Scht.

Jetzt ging alles ganz schnell. Sie zeigte ihm das kleine Ding in ihrer Hand. Spezialauftrag, sagte sie und während er voll in die Kamera sah wie immer, nur diesmal mit einem umwerfend vollauthentisch panischen Gesichtsausdruck, zog sie mit einer kleinen schnellen Handbewegung die Rasierklinge über seine Halsschlagader.

Wirklich geil! Das geilste aller geilen Videos, das er je bekommen hatte! Der Aston Martin unter den Videos. Perfekt inszeniert. So wie Jürgen Schenko, selbst Perfektionist, es liebte.

Es gab eigentlich nur einen einzigen kleinen Makel: Das war der zweite Stoß. Nicht der Stoß seines Schwanzes, der war voll okay. Armer Kerl. Nein, es war das Herausschießen. Des Blutes. Es kam stoßweise. Der erste Stoß war nur vielleicht einen halben Meter hoch. Aber der zweite schoss so hoch, dass er ausgerechnet die blöde Linse traf und dann war es vorbei mit der Sicht.

Eigentlich ein Fehlschlag. Andererseits wäre es danach sicher nur noch ein unappetitliches Gegurgel geworden. Mit all dem Blut. So aber war es Kunst. Sauber und klar. Elegant.

Er würde ein bisschen Zeit vergehen lassen und es dann selbst anbieten. Er hatte die Märkte voll im Blick. War schließlich sein Job.

Nicht der schlechteste aller Jobs.

Er stand auf und machte sich die Hose vorne zu.

Die von der Abteilung würden ihm mal wieder zu seinen Erfolgen gratulieren. Und sich auf die Suche nach der Rothaarigen machen, den Computer ausfindig machen und so weiter. Routine.

Er war ja auch wirklich sehr erfolgreich.

Geiler Job, dachte er, so ist es, wenn man sein Hobby zum Beruf macht.

Dritter Preis

Thomas NommensenDeutschstunde 2.0

Als der hölzerne Zeigestock in Lahmanns Brustkorb eindringt, Rippen und Lunge durchstößt und den Lehrer an die aufgeklappte Schultafel nagelt, sind es noch genau 22 Minuten bis zur nächsten Pause.

»Das ist dafür, dass Tim diese Nachprüfung machen muss«, flüstere ich vor mich hin. »Für das Mangelhaft, das du ihm in Deutsch gegeben hast, und dafür, dass er jetzt mit mir die ganzen Ferien über büffeln muss, um doch noch versetzt zu werden.«

Max Frisch, Biedermann und die Brandstifter. Lahmann hatte das Thema gleich zu Beginn des Unterrichtes an die Tafel geschrieben und die Worte schwungvoll unterstrichen. Die Klasse stöhnte laut auf. Jemand rief: »Aber heute ist doch der letzte Tag vor den Ferien ….«

Lahmann drehte sich um, die Kreide in der Hand – wurfbereit. Er grinste breit und wartete auf den nächsten Kommentar. Doch niemand traute sich.

Jetzt hängt sein Körper mittig über den krakeligen Buchstaben, pendelt durch die Wucht des Aufpralls noch leicht hin und her und verwischt die Kreideschrift in seinem Rücken.

Aber ich bin noch nicht zufrieden. Lahmann reagiert falsch, hält das Reclam-Heft weiterhin auf Augenhöhe und zitiert mit monotoner Stimme Passagen aus dem Text, als wenn nichts geschehen wäre.

Ich kneife die Augen stärker zusammen. Der Vorhang der Wimpern vor meinem Blick wird dichter, Flimmerhärchen huschen durch das Bild, wie Störungen in einem alten Film, aber jetzt sehe ich es ganz deutlich, sehe wie Lahmann vor Entsetzen die Augen aufreißt, das Heft sinken lässt, seine Lippen einen Laut formen. Schmerzen, unerträgliche Schmerzen, wird er haben, denke ich und warte auf die Worte, die Stimme, den Schrei …

»MORITZ!« Lahmanns Stimme, die falsch ist, die meinen Namen ruft, statt vor Schmerzen zu brüllen.

Tim stößt mir seinen Ellenbogen in die Seite.

Ich seufze, werfe noch einen Blick auf die Zeichnung, die Tim auf die Innenseite seines Leseheftchens skizziert hat. Die Darstellung ist so realistisch, dass die Szene dazu in meinem Kopf wie von selbst als Film abgelaufen ist.

Bevor wir reagieren können, ist Lahmann schon an unserem Tisch, reißt Tim das Heft aus den Händen.

Ich senke meinen Blick. Sandra liebt Karsten steht auf der zerkratzten Tischplatte. Eine kindliche Schrift. Ein Herz drum rum. Verblasst, sicher schon ein paar Schülergenerationen alt.

Lahmann blättert durch die Seiten. Dünnes, knisterndes Papier. Hektische Fingerbewegungen. Dann Stille.

Ich schaue hoch.

Lahmann sieht mich an. Dreht das Heft in meine Richtung. Tippt mit dem Finger auf die Zeichnung. »War das Tim?«

Lahmann spricht Tim nie direkt an. Seine Antworten dauern zu lange, hat er irgendwann mal gesagt, ich muss meinen Stoff unterbringen, da kann ich nicht noch auf solche Verhaltensstörungen Rücksicht nehmen.

Ich antworte nicht. Natürlich weiß Lahmann, von wem die Zeichnung stammt. Tim malt ständig. Die Ränder der Schulhefte, die Rückseiten von Prüfungsbögen, nichts ist vor ihm sicher. Und er ist gut, verdammt gut sogar. Tim hat so viele extreme Begabungen, wie er ausgeprägte Schwächen hat. Fragen beantworten, zum Beispiel. Er stottert nicht, aber manchmal dauert es Ewigkeiten, bis er zu sprechen beginnt. Er klappt den Mund auf, und dann kommt einfach nichts. Ich glaube ja, dass er in Wirklichkeit zu schnell ist. Zu schnell für die Wahrnehmung der meisten Menschen. Deswegen spielt er uns Langsamen etwas vor. Die Ärzte wollten sich nie festlegen, wie diese Störung heißt. Mir ist das egal, Tim ist einfach mein verrückter Bruder. Da er verspätet eingeschult wurde, gehen wir in dieselbe Klasse, und daran wird auch dieser Arsch von einem Lehrer nichts ändern.

 

»Doppel-Rüge«, sage ich zu Peter. »Und das am letzten Schultag.«

Peter hält die Selbstgedrehte wie einen Joint zwischen Mittel- und Ringfinger, kneift die Augen zusammen und wiegt den Kopf hin und her. Wir stehen hinter den großen Containern am Rand des Schulhofes. Die Sonne brennt seit Stunden, und der Müll in den dunklen Kunststoffbehältern stinkt bestialisch.

»Wir hacken ihn«, sagt Peter schließlich und stößt Rauch in einem großen Schwall aus. Seine linke Gesichtshälfte ist immer noch feuerrot, der Medizinball hatte ihn gestern beim Sportunterricht voll in der Drehung erwischt. »Sorry, das war wohl zu hoch geworfen«, hatte Lahmann ihm zugerufen und sich dann grinsend zu den kichernden Mädchen aus seinem Team umgedreht. Völkerball. Wie immer mit einem Medizinball. Wie immer in den letzten 15 Minuten des Sportunterrichtes, und wie immer hatte Lahmann selbst in der schwächeren Mannschaft der Mädchen mitgespielt.

Peter hält mir die Zigarette hin.

Ich schüttle den Kopf. »Hacken, du willst wirklich …?«

Peter nickt. »Ich sage euch, Lahmann ist genau der Typ, der Filme mit kleinen Mädchen auf seinem Rechner hat. Vielleicht tauscht er sogar mit anderen Kinderfickern.« Peter inhaliert tief und drückt die Kippe auf einem Containerdeckel aus. »Von Laura weiß ich, dass er öfter unter einem Vorwand durch den Umkleideraum der Mädchen läuft. Einmal ist er nach der Sportstunde sogar in ihrem Duschraum aufgetaucht und hat blöde Sprüche geklopft.«

»So ein Wichser«, sagt Tim nach kurzer Pause.

Langsam beginne ich zu verstehen. Wenn wir solches Zeug auf seinem Rechner finden, dann können wir ihn bloßstellen, die Filme bei Facebook oder SchülerVZ hochladen, entschärft natürlich. Lahmann wäre in kürzester Zeit weg vom Fenster.

 

Der Juni bleibt weiterhin ungewöhnlich warm. Wir sitzen in Tims Zimmer, haben die Rollos runtergezogen und die Fenster geschlossen. Trotzdem hören wir das Gejohle unserer Freunde aus dem nahen Freibad.

»Scheiße – auch verschlüsselt!« Ich schlage mit der flachen Hand auf die Platte des Schreibtischs. Unser Plan scheint zu scheitern. Lahmann hat sein System perfekt abgesichert. Außerdem ist er zwar regelmäßig, aber immer nur kurz im Netz unterwegs. Wir sind echte Freaks, die schon einige Rechner einfach zur Übung gehackt haben. Aber an dieser Herausforderung beißen wir uns bisher die Zähne aus.

Heute sitzen Tim und ich alleine in dem grauen Licht des Monitors. Peter ist vor zwei Tagen auf ein Hacker-Camp an die Ostsee gefahren. Drei Tage nur die größten Meister der Szene treffen – das wird genial, hat er bei der Abfahrt gemeint, wir sollen mit den weiteren Hackversuchen an Lahmanns Computer auf jeden Fall auf ihn warten. Das hat Peter sich so gedacht, aber nicht mit dem Ehrgeiz von Tim und mir gerechnet.

Die Stille dauert bereits einige Sekunden, als ich bemerke, dass Tims Finger nicht mehr auf der Tastatur klappern.

»Was ist?«, frage ich. »Keine Lust mehr? Aufgegeben?« Ich sehe Tim von der Seite an, in dem dicken Rand seiner Brillengläser spiegeln sich die Zeichenkolonnen, die über den Bildschirm jagen, seltsam verzerrt. Tim schüttelt den Kopf. Vorsichtig, als ob er ein Geheimnis damit verraten würde.