Der Todeswirbel - Agatha Christie - E-Book

Der Todeswirbel E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Eine schrecklich abgründige Familie  Gordon Cloade war ein reicher Mann. So reich, dass er Zeit seines Lebens seinem gesamten Familienclan unter die Arme greifen konnte. Nun ist er tot und die Familie muss mit ansehen, wie sein Reichtum komplett an die Frau geht, die er gerade erst geheiratet hat. Womit das Erbe für die junge Witwe zu einer äußerst ungemütlichen Angelegenheit wird, zumal nicht nur der gesamte Clan hinter ihm her ist. Spätestens als ein Mord geschieht, sind die Dinge so verwickelt, dass nur noch einer sie lösen kann: Hercule Poirot. 

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Seitenzahl: 319

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Agatha Christie

Der Todeswirbel

Ein Fall für Poirot

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Michael Mundhenk

Atlantik

Es gibt Gezeiten in den Lebensdingen,

Die, wenn bei Flut genommen, zum Erfolg uns führn;

Verpasst man sie, verebbt die Lebensreise

Am seichten, klippenreichen Strand der Not.

Auf solcher hohen Woge treiben wir

Und müssen’s nutzen, wenn der Strom uns trägt,

Weil wir sonst Schiffbruch leiden.

 

Aus William Shakespeares Julius Caesar in der Übersetzung von Frank Günther

Prolog

I

Jeder Klub hat seinen Langweiler. Der Coronation Club war da keine Ausnahme, und die Tatsache, dass gerade ein Luftangriff im Gange war, änderte dort am normalen Ablauf nicht das Geringste.

Major Porter, ehemaliger Angehöriger der Britisch-Indischen Armee, raschelte mit der Zeitung und räusperte sich. Alle mieden seinen Blick, doch es nützte nichts.

»Ich sehe, in der Times ist Gordon Cloades Todesanzeige erschienen«, sagte er. »Natürlich diskret formuliert: ›Am 5. Oktober, durch Feindeinwirkung.‹ Ohne Angabe einer Adresse. Wohnte übrigens gleich um die Ecke von meiner bescheidenen Hütte. Eine dieser Villen auf dem Campden Hill. Ich sage Ihnen, das Ganze hat mich schon ein wenig umgehauen. Verstehen Sie, ich bin Luftschutzhelfer. Cloade war gerade erst aus den Staaten zurückgekehrt. War im Rahmen dieses öffentlichen Beschaffungsprogramms drüben gewesen. Hatte sich dort verheiratet. Eine junge Witwe – jung genug, um seine Tochter zu sein. Mrs Underhay. Ich kannte übrigens ihren ersten Ehemann, unten in Nigeria.«

Major Porter hielt inne. Niemand zeigte irgendein Interesse oder bat ihn fortzufahren. Emsig hielt man sich Zeitungen vors Gesicht, doch um Major Porter zu entmutigen, brauchte es mehr. Er hatte stets ausladende Geschichten in petto, zumeist über Leute, die kein Mensch kannte.

»Interessant«, sagte Major Porter nachdrücklich, den Blick abwesend auf ein Paar extrem spitze Lackschuhe geheftet, eine für ihn verabscheuungswürdige Art von Schuhwerk. »Wie gesagt, ich bin Luftschutzhelfer. Seltsame Sache, so eine Detonation. Man weiß nie, was passieren wird. Hat die Kellerdecke zum Einsturz gebracht und das Dach weggerissen. Der erste Stock blieb praktisch unbeschädigt. Sechs Leute im Haus. Drei Bedienstete: ein Ehepaar und ein Hausmädchen, dann Gordon Cloade, seine Ehefrau und deren Bruder. Alle waren unten im Keller, bis auf den Schwager – ein Ex-Commando-Kämpfer, der seinem komfortablen Schlafzimmer im ersten Stock den Vorzug gegeben hatte. Und, heiliger Strohsack, er kam doch tatsächlich mit ein paar blauen Flecken davon. Die drei Bediensteten wurden bei der Detonation allesamt getötet – Gordon Cloade muss weit mehr als eine Million sein Eigen genannt haben.«

Erneut hielt Major Porter inne. Sein Blick war von den Lackschuhen hochgewandert: gestreifte Hosen, schwarzes Jackett, eiförmiger Kopf und kolossaler Schnurrbart. Natürlich ein Ausländer! Das erklärte die Schuhe. Also wirklich, dachte Major Porter, wo soll das alles bloß hinführen? Selbst hier in diesem Klub kann man den Ausländern nicht mehr entrinnen.

Diese Gedanken gingen ihm parallel zu seiner Erzählung durch den Kopf. Die Tatsache, dass fraglicher Ausländer ihm seine volle Aufmerksamkeit zu schenken schien, schwächte Major Porters Vorurteile keinen Deut ab.

»Sie kann nicht sehr viel älter als fünfundzwanzig sein«, nahm er den Faden wieder auf. »Und ist schon das zweite Mal verwitwet. Zumindest glaubt sie das …«

Er machte eine Pause, hoffte auf Neugierde, auf Kommentare. Da nichts dergleichen kam, fuhr er verbissen fort:

»Habe da übrigens meine eigene Sichtweise der Dinge. Merkwürdige Angelegenheit. Wie ich schon sagte, ich kannte ihren ersten Ehemann, Underhay. Netter Kerl, früher einmal Distriktskommissar in Nigeria. War absolut begeistert von seinen Aufgaben – vortrefflicher Bursche. Hat dieses Mädchen in Kapstadt geheiratet. Sie war mit irgendeinem Tourneetheater da unten. Vom Pech verfolgt, hübsch und hilflos und so. Hörte den armen alten Underhay von seinem Distrikt und den unermesslichen Weiten schwärmen – und seufzte: ›Ach, das klingt ja wunderbar‹, meinte, sie wolle ›sich von allem losmachen‹. Nun, sie hat ihn geheiratet und sich tatsächlich losgemacht. Der arme Kerl war furchtbar verliebt, aber die Sache hat von Anfang an nicht gefunkt. Sie verabscheute das Leben im Busch, hatte panische Angst vor den Eingeborenen und langweilte sich zu Tode. Ihre Vorstellung vom Leben war es, in ihr Stammlokal zu gehen, die Leute aus der Theaterwelt zu treffen und mit ihnen zu fachsimpeln. Zweisamkeit im Dschungel war nicht ihre Kragenweite.

Persönlich habe ich sie allerdings nie getroffen – habe alles von dem armen Underhay selbst erfahren. Es hatte ihn ziemlich schwer getroffen. Er hat das einzig Anständige getan, sie nach Hause geschickt und einer Trennung zugestimmt. Unmittelbar danach lernte ich ihn kennen. Er war furchtbar gereizt und in einer Stimmung, in der ein Mann einfach mal reden muss. War irgendwie ein komischer, altmodischer Kauz, ein Katholik, und hatte für Scheidungen nicht viel übrig. Er meinte zu mir: ›Es gibt auch andere Möglichkeiten, einer Frau ihre Freiheit zu schenken.‹ ›Hören Sie mal, alter Knabe‹, sagte ich, ›machen Sie jetzt keine Dummheiten. Keine Frau auf der Welt ist es wert, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen.‹

Er meinte, daran denke er überhaupt nicht. ›Aber ich bin ein einsamer Mann‹, sagte er. ›Habe keinerlei Angehörige, die sich um mich kümmern würden. Sobald mein Tod bekannt wird, ist Rosaleen Witwe, und genau das will sie.‹ ›Und Sie?‹, fragte ich. ›Nun, vielleicht taucht irgendwo ein paar Tausend Kilometer weiter weg ein Mr Enoch Arden auf und beginnt ein neues Leben.‹ ›Könnte irgendwann unangenehm für sie werden‹, warnte ich ihn. ›O nein‹, meinte er, ›ich würde mich schon an die Spielregeln halten. Robert Underhay wäre ganz sicher tot.‹

Ich habe dann nicht mehr weiter daran gedacht, aber ein halbes Jahr später hörte ich, dass Underhay irgendwo im Busch an Fieber verstorben sei. Seine Eingeborenen waren eine vertrauenswürdige Truppe und hatten eine gute, detaillierte Geschichte parat und einen Zettel, auf dem ein paar letzte Worte in Underhays Handschrift gekritzelt standen, denen zufolge sie für ihn getan hatten, was sie konnten, und er Angst hatte, den Löffel abzugeben, und voll des Lobes für seinen Häuptling war. Dieser Mann war ihm, genau wie alle anderen, treu ergeben. Egal, was sie für ihn beschwören sollten, sie beschworen es. So sieht es also aus … Vielleicht liegt Underhay irgendwo im Landesinnern, mitten in Äquatorialafrika, begraben, vielleicht aber auch nicht – und wenn nicht, dann könnte Mrs Gordon Cloade eines Tages einen schönen Schock bekommen. Was ihr recht geschehen würde, sage ich mal. Ich bin ihr zwar nie begegnet, aber ich kenne die Masche dieser kleinen Goldgräberinnen! Sie hat den armen alten Underhay wirklich kaputt gemacht. Eine interessante Geschichte.«

Major Porter blickte recht wehmütig in die Runde, hätte seine Feststellung zu gerne bestätigt bekommen. Er sah in ein gelangweiltes Paar Fischaugen, registrierte den halb abgewandten Blick des jungen Mr Mellon und die höfliche Aufmerksamkeit von Monsieur Hercule Poirot.

Dann raschelte eine Zeitung, und ein grauhaariger Herr mit ausnehmend unbewegter Miene erhob sich leise aus seinem Sessel am Kamin und verließ den Raum.

Major Porters Unterkiefer klappte herunter, während der junge Mr Mellon einen leisen Pfiff ausstieß.

»Jetzt haben Sie die Bescherung!«, erklärte er. »Wissen Sie, wer das war?«

»Gott sei meiner Seele gnädig«, sagte Major Porter einigermaßen erregt. »Natürlich. Ich kenne ihn nicht besonders gut, aber wir sind miteinander bekannt … Jeremy Cloade, nicht wahr, Gordon Cloades Bruder? Meine Güte, wie außerordentlich unangenehm! Wenn ich auch nur die geringste Ahnung gehabt hätte …«

»Er ist Anwalt«, meinte der junge Mr Mellon. »Ich wette, er verklagt Sie wegen Verleumdung oder übler Nachrede oder so.«

Der junge Mr Mellon genoss es, an solch einem Ort Unruhe und Verzweiflung zu stiften, da es durch das britische Kriegsnotstandsgesetz nicht verboten war.

Major Porter wiederholte ein ums andere Mal:

»Höchst unangenehm. Höchst unangenehm!«

»Heute Abend weiß es ganz Warmsley Heath«, erklärte Mr Mellon. »Da hausen die Cloades doch alle. Die werden bis spät in die Nacht herumsitzen und besprechen, welche Schritte sie unternehmen sollen.«

In dem Moment ertönte die Entwarnung, woraufhin der junge Mr Mellon seine Boshaftigkeiten sofort einstellte und seinen Freund Hercule Poirot sanft auf die Straße hinauslotste.

»Entsetzliche Atmosphäre in diesen Klubs«, sagte er. »Die furchtbarste Ansammlung von alten Langweilern. Porter ist allerdings mit Abstand der Schlimmste. Seine Beschreibung des indischen Seiltricks dauert eine Dreiviertelstunde, und er kennt aber auch jeden, dessen Mutter jemals durch Poona gekommen ist!«

Das war im Herbst 1944. Im Spätfrühling 1946 bekam Hercule Poirot Besuch.

II

An einem schönen Maimorgen saß Hercule Poirot an seinem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch, als sein Diener George auf ihn zutrat und ehrerbietig murmelte:

»Eine Dame, Sir, bittet um eine Unterredung.«

»Was für eine Art von Dame?«, erkundigte sich Poirot vorsichtig.

An Georges akribisch genauen Beschreibungen erfreute er sich immer wieder.

»Sie dürfte zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt sein, Sir. Ein ungepflegtes und leicht bohemienhaftes Äußeres. Gute Straßenschuhe, Brogues. Ein Tweedkostüm, allerdings mit einer Spitzenbluse. Fragwürdige ägyptische Perlen sowie ein blauer Chiffonschal.«

Poirot erschauerte leicht.

»Ich glaube nicht«, sagte er, »dass ich sie empfangen möchte.«

»Soll ich ihr ausrichten, Sie seien unpässlich, Sir?«

Nachdenklich sah Poirot ihn an.

»Sie haben ihr, nehme ich an, bereits gesagt, dass ich mit wichtigen Dingen beschäftigt bin und keinesfalls gestört werden darf?«

George hüstelte.

»Sie meinte, Sir, sie sei extra aus dem Umland angereist, und es sei ihr gleichgültig, wie lange sie warten müsse.«

Poirot seufzte.

»Man sollte nie gegen das Unvermeidliche aufbegehren«, sagte er. »Wenn es sich eine Dame mittleren Alters, die unechte ägyptische Perlen trägt, in den Kopf gesetzt hat, dem berühmten Hercule Poirot einen Besuch abzustatten, und dazu aus dem Umland angereist ist, wird sie sich durch nichts davon abhalten lassen. Sie wird hier im Flur sitzen, bis sie ihren Willen bekommt. Führen Sie sie herein, George.«

George entschwand, kehrte kurz darauf zurück und verkündete förmlich:

»Mrs Cloade.«

Die Person, die in einem abgetragenen Tweedkostüm und mit wehendem Schal hereintrat, strahlte über das ganze Gesicht. Die Hand ausgestreckt, ging sie mit schwingenden, klimpernden Perlenketten auf Poirot zu.

»Monsieur Poirot«, sagte sie, »ich bin unter geistiger Führung zu Ihnen gekommen.«

Poirot blinzelte.

»Ganz recht, Madame. Vielleicht nehmen Sie Platz und erzählen mir …«

Weiter kam er nicht.

»Unter doppelter geistiger Führung, Monsieur Poirot. Durch das automatische Schreiben und das Ouija-Brett. Es passierte vorgestern Abend. Madame Elvary – wirklich eine wunderbare Frau – und ich haben das Brett befragt. Wiederholt erhielten wir die gleiche Nachricht, die gleichen Initialen: H. P. H. P. H. P. Natürlich habe ich die wahre Bedeutung nicht sofort begriffen. Es braucht schon etwas Zeit, verstehen Sie. Man kann, auf dieser irdischen Ebene, nicht immer sofort klar sehen. Ich habe mir das Gehirn zermartert, wer diese Initialen haben könnte. Ich wusste, es musste etwas mit der letzten Séance zu tun haben, die wirklich höchst eindringlich gewesen war, aber es dauerte ein Weilchen, bis ich es kapierte. Und dann habe ich mir ein Heft der Picture Post gekauft – sehen Sie, wieder stand ich unter geistiger Führung, denn normalerweise lese ich den New Statesman –, und da waren Sie: ein Bild von Ihnen und eine Auflistung Ihrer ganzen Erfolge. Es ist doch wunderbar, finden Sie nicht, Monsieur Poirot, dass alles seinen Sinn hat? Sie sind ganz eindeutig die Person, die die Geistführer dazu bestimmt haben, diese Angelegenheit aufzuhellen.«

Poirot musterte sie nachdenklich. Was wirklich seine Aufmerksamkeit erregte, waren seltsamerweise ihre klugen hellblauen Augen. Sie verliehen ihren weitschweifigen Ausführungen sozusagen Nachdruck.

»Und was, Mrs – Cloade, ja?« Er runzelte die Stirn. »Ich meine, den Namen vor einiger Zeit schon einmal gehört zu haben …«

Sie nickte ungestüm.

»Mein armer Schwager – Gordon. Enorm reich und sehr oft in der Presse erwähnt. Er kam vor über einem Jahr bei einem Luftangriff um – für uns alle ein schwerer Schlag. Mein Ehemann ist sein jüngerer Bruder. Er ist Arzt. Dr. Lionel Cloade. Natürlich«, sie senkte die Stimme, »hat er keine Ahnung, dass ich Sie zurate ziehe. Er würde es nicht gutheißen. Ärzte haben, wie ich finde, eine sehr materialistische Einstellung. Das Geistige scheint ihnen seltsam verborgen. Sie setzen ihr ganzes Vertrauen auf die Wissenschaft. Aber ich sage nur: Was ist die Wissenschaft denn, was vermag sie eigentlich?«

Für Hercule Poirot schien es auf diese Frage keine andere Antwort zu geben als eine gewissenhafte, akribische Darstellung, die etwa Pasteur, Lister und Humphry Davys Sicherheitslampe einschloss – die Annehmlichkeit, bei sich zu Hause elektrischen Strom zu haben, und Hunderte ähnliche Dinge mehr. Aber das war natürlich nicht die Antwort, die Mrs Lionel Cloade hören wollte. Im Grunde war ihre Frage, wie so viele Fragen, gar keine echte Frage, sondern eine rein rhetorische Geste.

Hercule Poirot begnügte sich damit, einen ganz praktischen Aspekt anzusprechen:

»Auf welche Weise, meinen Sie, kann ich Ihnen behilflich sein, Mrs Cloade?«

»Glauben Sie an die Existenz der geistigen Welt, Monsieur Poirot?«

»Ich bin ein guter Katholik«, erwiderte Poirot vorsichtig.

Mit einem mitleidigen Lächeln wischte Mrs Cloade den katholischen Glauben beiseite.

»Blind! Die Kirche ist blind, voreingenommen, dumm – sie heißt die Existenz und die Schönheit der Welt, die hinter dieser Welt liegt, nicht willkommen.«

»Um zwölf Uhr«, sagte Hercule Poirot, »habe ich einen wichtigen Termin.«

Die Bemerkung kam zur rechten Zeit. Mrs Cloade beugte sich vor.

»Ich werde sofort zur Sache kommen. Wäre es Ihnen möglich, Monsieur Poirot, einen Vermissten zu finden?«

Poirots Augenbrauen gingen in die Höhe.

»Es wäre schon möglich, ja«, sagte er zurückhaltend. »Aber der Polizei, meine liebe Mrs Cloade, würde das sehr viel leichter fallen als mir. Sie verfügt über die notwendige Maschinerie.«

Mrs Cloade wischte die Polizei genauso beiseite wie kurz zuvor die katholische Kirche.

»Nein, Monsieur Poirot, ich bin – von den Wesen jenseits des Schleiers – zu Ihnen geführt worden. Hören Sie. Mein Bruder Gordon hat wenige Wochen vor seinem Tod geheiratet, und zwar eine junge Witwe, eine Mrs Underhay. Ihr erster Ehemann – die Ärmste, welch großer Schmerz für sie – war in Afrika als verstorben gemeldet worden. Ein geheimnisvolles Land, dieses Afrika.«

»Ein geheimnisvoller Kontinent«, berichtigte Poirot sie. »Vielleicht. In welchem Teil …«

»In Zentralafrika«, schwadronierte sie weiter. »Der Heimat des Voodoo, des Zombie …«

»Den Zombie gibt es in der Karibik.«

Mrs Cloade fuhr ungezügelt fort:

»… der schwarzen Magie und seltsamer, geheimer Praktiken – ein Land, in dem ein Mensch verschwinden könnte und man nie mehr etwas von ihm hören würde.«

»Vielleicht, vielleicht«, sagte Poirot. »Das Gleiche gilt aber auch für den Piccadilly Circus.«

Mrs Cloade wischte den Piccadilly Circus beiseite.

»Zweimal in letzter Zeit, Monsieur Poirot, kam eine Botschaft von einem Geist, der sich Robert nennt. Beide Male war der Wortlaut der gleiche: ›Nicht tot …‹ Wir waren verwirrt, kannten keinen Robert. Als wir um weitere Führung baten, kam dies: ›R. U. R. U. R. U.‹, dann: ›Sagt es R. Sagt es R.‹ ›Sagt es Robert?‹, fragten wir. ›Nein, von Robert. R. U.‹ ›Wofür steht das U?‹ Und dann, Monsieur Poirot, kam die bedeutungsvollste Antwort: ›Kleiner Junge Blau. Kleiner Junge Blau. Hahaha!‹ Verstehen Sie?«

»Nein, tue ich nicht.«

Mitleidig sah sie ihn an.

»Der Kinderreim ›Little Boy Blue‹: ›Fest schläft er unter einem Heuhaufen.‹ Underhay, verstehen Sie?«

Poirot nickte. Er verzichtete darauf zu fragen, warum man, wenn der Name »Robert« ausbuchstabiert werden konnte, mit dem Namen »Underhay« nicht genauso hätte verfahren können und warum es stattdessen nötig gewesen sei, sich einer Art Geheimdienstjargon und billigen Spionagesprache zu bedienen.

»Und meine Schwägerin heißt Rosaleen«, schloss Mrs  Cloade triumphierend. »Verstehen Sie? Verwirrend, diese ganzen R. Aber die Bedeutung ist ganz klar: ›Sagt Rosaleen, dass Robert Underhay nicht tot ist.‹«

»Aha. Und, haben Sie es ihr gesagt?«

Mrs Cloade wirkte leicht konsterniert.

»Äh, also – nein. Sehen Sie, ich meine, also, die Leute sind ja so etwas von skeptisch. Rosaleen wäre es auf alle Fälle, da bin ich mir sicher. Und außerdem könnte es der Ärmsten richtig an die Nieren gehen, wenn sie sich fragen müsste, wo er ist, verstehen Sie, und was er eigentlich macht.«

»Außer seine Stimme durch den Äther zu schicken? Allerdings. Zweifellos eine seltsame Art zu verkünden, dass man in Sicherheit ist, oder?«

»Ach, Monsieur Poirot, Sie sind eben kein Eingeweihter. Und woher sollen wir die Umstände kennen? Der arme Captain Underhay – oder ist es Major Underhay? – könnte irgendwo im dunklen Inneren Afrikas gefangen gehalten werden. Wenn man ihn jedoch finden könnte, Monsieur Poirot! Wenn man ihn seiner lieben jungen Rosaleen zurückgeben könnte. Denken Sie doch nur, wie glücklich sie wäre! Ach, Monsieur Poirot, ich wurde schließlich zu Ihnen geschickt, da werden Sie sich doch jetzt sicher, sicher nicht weigern, die Weisung der geistigen Welt zu befolgen.«

Poirot blickte sie nachdenklich an.

»Mein Honorar«, sagte er leise, »ist sehr hoch. Man könnte sogar sagen, enorm hoch! Und der Auftrag, den Sie mir anbieten, wäre nicht einfach.«

»Oje, sicher, aber – es ist wirklich höchst bedauerlich. Mein Ehemann und ich sind derzeit ganz knapp bei Kasse, wirklich ganz knapp bei Kasse. Meine persönliche Notlage ist sogar noch größer, als meinem lieben Mann bewusst ist. Ich habe – unter geistiger Führung – einige Aktien gekauft, die sich bisher als sehr enttäuschend herausgestellt haben, um nicht zu sagen, als äußerst besorgniserregend. Sie sind in den Keller gerauscht und jetzt, soviel ich weiß, praktisch unverkäuflich.«

Bestürzt sah sie ihn mit ihren blauen Augen an.

»Ich habe es nicht gewagt, meinem Mann davon zu erzählen. Ihnen erzähle ich es jetzt lediglich, um deutlich zu machen, wie ich momentan situiert bin. Aber ein junges Ehepaar wieder zusammenzuführen ist doch, lieber Monsieur Poirot, ganz sicher – es ist solch eine edelmütige Mission …«

»Mit Edelmut, chère Madame, lassen sich keine Dampfschiff-, Zug- und Flugtickets bezahlen. Und auch die Kosten für lange Telegramme und Kabel sowie für die Befragung von Zeugen lassen sich damit nicht decken.«

»Aber wenn er gefunden wird, wenn Captain Underhay gesund und munter aufgefunden wird, dann, nun, ich glaube, ich kann mit Sicherheit sagen, sobald das vollbracht ist, wäre es – wäre es ein Leichtes, Ihnen Ihre, äh, Kosten zurückzuerstatten.«

»Ach, er ist also reich, dieser Captain Underhay?«

»Nein. Also, nein … Aber ich kann Ihnen versichern, ich kann Ihnen mein Wort darauf geben, dass – dass es dann mit dem Geld keine Probleme geben wird.«

Langsam schüttelte Poirot den Kopf.

»Es tut mir leid, Madame. Die Antwort lautet nein.«

Er hatte ein wenig Mühe, sie dazu zu bringen, diese Antwort zu akzeptieren.

Als sie schließlich gegangen war, stand er gedankenversunken da und runzelte über sich selbst die Stirn. Soeben war ihm eingefallen, woher er den Namen Cloade kannte. Die Unterhaltung im Klub am Tag des Luftangriffs war ihm wieder gegenwärtig. Die dröhnende, langweilige Stimme von Major Porter, der redete und redete und eine Geschichte erzählte, die niemand hören wollte.

Er erinnerte sich an das Zeitungsrascheln sowie an Major Porters urplötzlich heruntergeklappten Unterkiefer und seine konsternierte Miene.

Was ihn allerdings beunruhigte, war die Tatsache, dass er sich immer noch nicht schlüssig darüber war, was er von der beharrlichen Dame mittleren Alters, die gerade fortgegangen war, halten sollte: Erst das platte spiritistische Geplapper, die Vagheiten, der wehende Schal, die Ketten und Amulette, die an ihrem Hals klimperten – und dann, in leichtem Widerspruch dazu, das plötzliche kluge Funkeln in einem Paar blassblauer Augen.

Warum genau ist sie eigentlich hergekommen?, fragte er sich. Und was, möchte ich wissen, hat sich in – er warf einen Blick auf die Visitenkarte auf seinem Schreibtisch – Warmsley Vale zugetragen?

III

Exakt fünf Tage später sah er in einer Abendzeitung eine kurze Notiz über den Tod eines Mannes namens Enoch Arden – in Warmsley Vale, einem kleinen, beschaulichen Dorf rund fünf Kilometer entfernt von dem beliebten Golfplatz von Warmsley Heath.

Erneut sagte Hercule Poirot bei sich:

Ich möchte wissen, was sich in Warmsley Vale zugetragen hat!

Buch I

Kapitel 1

I

Warmsley Heath besteht aus einem Golfplatz, zwei Hotels, einigen sehr teuren modernen Villen mit Blick auf den Golfplatz, einer Ladenzeile, die vor dem Krieg Luxusgeschäfte beherbergte, sowie einem Bahnhof.

Von selbigem führt auf der Linken die Straße nach London, zur Rechten steht neben einem Feldweg ein Wegweiser mit den Worten

Fußweg nach Warmsley Vale.

Warmsley Vale, zwischen bewaldeten Hügeln versteckt, und Warmsley Heath sind so verschieden wie Tag und Nacht. Ersteres ist im Wesentlichen ein mikroskopisch kleiner altmodischer Marktflecken, der inzwischen zu einem Dorf herabgesunken ist. Es hat eine von Häusern im georgianischen Stil gesäumte Hauptstraße, mehrere Pubs, einige verstaubte Geschäfte und fühlt sich generell so an, als läge es nicht fünfundvierzig, sondern dreihundert Kilometer von London entfernt.

Sämtliche Bewohner verbindet die Verachtung für das explosionsartige Wachstum von Warmsley Heath.

Am Ortsrand stehen einige bezaubernde Häuser mit hübschen lauschigen Gärten. In eines dieser Häuser, nämlich das White House, war Lynn Marchmont im Vorfrühling 1946 zurückgekehrt, nachdem sie demobilisiert und aus den Wrens, dem Women’s Royal Naval Service, entlassen worden war.

Am dritten Morgen blickte sie aus ihrem Schlafzimmerfenster über den ungepflegten Rasen zu den Ulmen auf der dahinterliegenden Wiese und sog glücklich die Luft ein. Es war ein lauer, grauer Morgen, der nach weicher, feuchter Erde roch. Ein Geruch, den sie die letzten zweieinhalb Jahre vermisst hatte.

Es war wunderbar, wieder zu Hause zu sein, wunderbar, hier in ihrem eigenen kleinen Zimmer zu sein, an das sie in der Ferne so oft und so wehmütig zurückgedacht hatte. Wunderbar, keine Uniform mehr tragen zu müssen, in einen Tweedrock und einen Pullover schlüpfen zu können – selbst wenn die Motten während der Kriegsjahre wirklich etwas zu umtriebig gewesen waren!

Es war gut, nicht mehr bei den Wrens und wieder eine freie Frau zu sein, obwohl ihr der Dienst im Ausland ausnehmend gut gefallen hatte. Die Arbeit war durchaus interessant gewesen, es hatte Partys und jede Menge Spaß gegeben, gleichzeitig aber auch eine lästige Routine sowie das Gefühl, zusammengepfercht mit ihren Kameradinnen zu leben, was gelegentlich den verzweifelten Wunsch zu fliehen in ihr hatte aufkommen lassen.

Während des langen, sengend heißen Sommers im Vorderen Orient hatte sie ausgesprochen sehnsüchtig an Warmsley Vale zurückgedacht, an das schäbige, kühle, gemütliche Haus und an die liebe Mutter.

Lynn liebte ihre Mutter und war gleichzeitig oft von ihrem Verhalten irritiert. Fern der Heimat hatte sie sie weiterhin geliebt und ihre Irritation vergessen, besser gesagt, die Erinnerung daran hatte ihr Heimweh nur noch verstärkt. Die liebe Mutter, die einen allerdings auch rasend machen konnte! Was hätte sie dort unten nicht darum gegeben, aus dem Mund der Mutter mit ihrer süßen, klagenden Stimme eine ihrer abgegriffenen Redensarten zu hören. Ach, wenn sie doch nur wieder zu Hause sein könnte und nie mehr, nie mehr von dort fortgehen müsste!

Und jetzt war sie zu Hause, stand nicht mehr im Dienst der Navy, war frei und zurück im White House. Seit gerade einmal drei Tagen. Doch schon beschlich sie eine seltsame, unzufriedene Ruhelosigkeit. Alles war wieder dasselbe, fast zu sehr dasselbe: das Haus, Mutter, Rowley, der Hof, die Familie. Was sich verändert hatte und sich nicht hätte verändern sollen, das war sie …

»Liebes …« Mrs Marchmonts dünner Ruf drang die Treppe herauf. »Soll ich meinem Mädchen ein schönes Tablett ans Bett bringen?«

Mit scharfer Stimme rief Lynn:

»Nein, natürlich nicht. Ich komme runter.«

Warum, dachte sie, muss Mutter bloß immer »mein Mädchen« sagen? Das ist derartig albern!

Sie rannte nach unten und trat ins Esszimmer. Es war kein sehr gutes Frühstück. Lynn hatte bereits begriffen, dass im White House jetzt unverhältnismäßig viel Zeit und Energie auf die Essensbeschaffung verwendet wurde. Abgesehen von einer recht unzuverlässigen Frau, die viermal die Woche vormittags vorbeikam, war Mrs Marchmont allein im Haus und mühte sich mit dem Kochen und Saubermachen ab. Bei Lynns Geburt war sie an die vierzig gewesen, und so war es um ihre Gesundheit mittlerweile nicht mehr sehr gut bestellt. Zu ihrer Bestürzung musste Lynn ebenfalls erkennen, dass sich ihre finanzielle Lage geändert hatte. Die kleinen, aber ausreichenden regelmäßigen Einkünfte, von denen die beiden vor dem Krieg auskömmlich hatten leben können, gingen jetzt fast zur Hälfte ans Finanzamt. Kommunalsteuern, Ausgaben, Lohnkosten, alles war angestiegen.

Ach, welch schöne neue Welt, dachte Lynn bitter. Sie überflog die Zeitungsspalten:

»Ex-WAAF sucht Stelle, bei der Initiative und Tatendrang geschätzt werden.«

»Ehemalige Wren sucht Stelle, die nach Organisationstalent und Führungsqualitäten verlangt.«

Unternehmungsgeist, Initiative, Führungskraft, das waren die angebotenen Eigenschaften. Doch was wurde gesucht? Leute, die kochen und sauber machen oder vernünftig stenografieren konnten. Malocher, die eine bestimmte Tätigkeit beherrschten und gute Arbeit leisteten.

Nun, sie tangierte das nicht. Ihr Weg lag klar vor ihr. Sie würde ihren Cousin Rowley Cloade heiraten. Sieben Jahre zuvor, kurz vor Kriegsausbruch, hatten sie sich verlobt. Fast solange sie denken konnte, hatte sie Rowley heiraten wollen. Mit seiner Entscheidung für ein Leben auf dem Hof hatte sie sich bereitwillig abgefunden. Ein gutes Leben – vielleicht nicht allzu aufregend und sicherlich voller harter Arbeit, aber sie liebten es beide, im Freien zu sein und Tiere zu halten.

Nicht dass ihre Aussichten noch genauso rosig gewesen wären wie früher einmal: Onkel Gordon hatte stets versprochen …

Als könnte Mrs Marchmont Gedanken lesen, unterbrach sie genau in diesem Augenblick mit klagender Stimme Lynns Grübeleien:

»Es war, wie ich dir schon geschrieben hatte, ein ganz und gar schrecklicher Schlag für uns alle, meine liebe Lynn. Gordon war gerade zwei Tage zurück in England. Wir hatten ihn noch nicht einmal gesehen. Wäre er bloß nicht in London geblieben. Wenn er direkt hierher gekommen wäre …«

II

Ja, wenn …«

In der Ferne hatte die Nachricht über ihren Onkel Lynn erschüttert und betrübt, doch die wahre Bedeutung seines Todes wurde ihr erst jetzt langsam klar.

Denn solange sie sich erinnern konnte, hatte Gordon Cloade ihr Leben, ihrer aller Leben, geprägt. Der reiche, kinderlose Mann hatte die gesamte Verwandtschaft vollständig unter seine Fittiche genommen.

Selbst Rowley … Rowley und sein Freund Johnnie Vavasour hatten den Hof gemeinsam übernommen. Ihr Eigenkapital war bescheiden, aber sie waren voller Hoffnung und Energie gewesen. Und Gordon Cloade zeigte sich einverstanden.

Ihr gegenüber hatte er sich deutlicher geäußert:

»Ohne Kapital kommt man in der Landwirtschaft auf keinen grünen Zweig. Aber zuerst müssen wir herausfinden, ob diese Jungs wirklich den Willen und die Energie haben, etwas auf die Beine zu stellen. Wenn ich ihnen jetzt eine großzügige Starthilfe gebe, würde ich es vielleicht jahrelang nicht herausfinden. Wenn sie das Zeug dazu haben, wenn ich überzeugt bin, dass von ihrer Seite alles in Ordnung ist, nun, dann, Lynn, brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Dann finanziere ich sie in anständigem Umfang. Mach dir also keine Sorgen um deine Zukunft, mein Mädchen. Du bist genau die Frau, die Rowley braucht. Aber behalte das, was ich dir gesagt habe, für dich.«

Nun, das hatte sie getan, doch Rowley hatte das wohlwollende Interesse seines Onkels trotzdem gespürt. Es lag an ihm, dem alten Knaben zu beweisen, dass Johnnie und er eine gute Geldanlage waren.

Ja, sie waren alle von Gordon Cloade abhängig gewesen. Nicht dass irgendein Familienmitglied ein Schmarotzer oder Faulpelz gewesen wäre. Jeremy Cloade war Seniorpartner in einer Anwaltskanzlei, Lionel Cloade niedergelassener Arzt.

Doch die beruhigende Gewissheit, dass im Hintergrund Geld vorhanden war, vereinfachte das Alltagsleben. Es gab nie einen Grund zu knausern oder zu sparen. Die Zukunft war gesichert. Dafür würde der kinderlose Witwer Gordon Cloade sorgen. Er hatte es allen mehr als einmal zu verstehen gegeben.

Seine verwitwete Schwester, Adela Marchmont, war im White House wohnen geblieben, obgleich sie vielleicht auch in ein kleineres Haus, das ihr weniger Arbeit abverlangte, hätte ziehen können. Lynn besuchte die besten Schulen. Wäre der Krieg nicht dazwischengekommen, hätte es ihr freigestanden, jede auch noch so teure Ausbildung zu absolvieren. Mit wohltuender Regelmäßigkeit trafen von Onkel Gordon Schecks für den kleinen Luxus ein.

Alles war so geregelt, so sicher gewesen, bis sie, völlig unerwartet, die Nachricht von Gordon Cloades Heirat erreicht hatte.

»Natürlich, Liebes«, fuhr Adela fort, »waren wir alle platt. Wenn für uns irgendetwas außer Zweifel gestanden hatte, dann, dass Gordon nie mehr heiraten würde. Verstehst du, es war ja nicht so, als hätte er keine große Familie gehabt.«

Ja, dachte Lynn, eine große Familie. Manchmal womöglich sogar eine zu große Familie?

»Er war immer so nett«, fuhr Mrs Marchmont fort. »Gelegentlich vielleicht auch ein klitzekleines bisschen tyrannisch. Er hat es nie gemocht, von einem polierten Tisch zu essen. Hat stets darauf bestanden, dass ich bei den altmodischen Tischdecken bleibe. Als er in Italien war, hat er mir sogar ganz wunderbare venezianische Klöppeldecken geschickt.«

»Es hat sich auf alle Fälle ausgezahlt, seinen Wünschen nachzukommen«, sagte Lynn trocken. Mit einer gewissen Neugier fügte sie hinzu: »Wie hat er sie eigentlich kennengelernt, seine – zweite Ehefrau? Das hast du mir in deinen Briefen nie erzählt.«

»Ach, Liebes, auf irgendeinem Dampfer oder in einem Flugzeug. Auf dem Weg von Südamerika nach New York, glaube ich. Nach all den Jahren! Und nach all den Sekretärinnen und Tippsen und Haushälterinnen und so.«

Lynn lächelte. Solange sie zurückdenken konnte, waren Gordon Cloades Sekretärinnen, Haushälterinnen und Büroangestellten den strengsten Prüfungen unterzogen und voller Argwohn betrachtet worden.

»Sie ist sicher wunderhübsch, oder?«, fragte sie.

»Nun, meine Liebe«, erwiderte Adela, »ich persönlich finde ihr Gesicht ziemlich dümmlich.«

»Du bist aber auch kein Mann, Mutter!«

»Natürlich«, fuhr Mrs Marchmont fort, »hatte das arme Mädchen einen Luftangriff erlebt und einen Explosionsschock erlitten und war wirklich fürchterlich mitgenommen und so und hat sich davon meiner Meinung nach auch nie wieder richtig erholt. Sie ist ein einziges Nervenbündel, du weißt schon, was ich meine. Und manchmal macht sie wirklich einen ziemlich schwachsinnigen Eindruck. Ich glaube nicht, dass sie jemals eine gute Lebensgefährtin für den armen Gordon gewesen wäre.«

Wieder lächelte Lynn. Sie bezweifelte, dass Gordon Cloade eine um Jahre jüngere Frau geheiratet hatte, weil er eine intellektuelle Gefährtin suchte.

»Und außerdem, Liebes«, Mrs Marchmont senkte die Stimme, »ich sage es nur ungern, aber sie ist natürlich keine Dame!«

»Was für ein alter Zopf, Mutter! Was spielt das denn heutzutage noch für eine Rolle?«

»Auf dem Land spielt es schon noch eine Rolle, Liebes«, entgegnete Adela bedächtig. »Ich meine damit lediglich, dass sie nicht unbedingt eine von uns ist!«

»Die Ärmste!«

»Wirklich, Lynn, ich weiß nicht, was du damit sagen willst. Wir waren alle sehr darauf bedacht, nett und höflich zu sein und sie, schon Gordon zuliebe, bei uns willkommen zu heißen.«

»Sie wohnt jetzt also auf Furrowbank?«, fragte Lynn neugierig.

»Ja, natürlich. Wo hätte sie denn sonst hinsollen, als sie aus der Klinik entlassen wurde? Die Ärzte meinten, sie müsse unbedingt aus London weg. Sie wohnt mit ihrem Bruder auf Furrowbank.«

»Und wie ist der so?«

»Ein furchtbarer junger Mann!« Mrs Marchmont hielt kurz inne, ehe sie mit gehöriger Vehemenz hinzufügte: »Rüde!«

Lynn verspürte einen Hauch von Mitgefühl. Ich an seiner Stelle wäre hier garantiert auch rüde!, dachte sie.

»Wie heißt er denn?«

»Hunter. David Hunter. Ein Ire, glaube ich. Natürlich keine Familie, von der man je gehört hätte. Sie war Witwe, eine Mrs Underhay. Man will ja nicht hartherzig sein, kommt aber trotzdem nicht um die Frage herum, welche Witwe in Kriegszeiten eigentlich von Südamerika aus auf Reisen gehen würde. Verstehst du, man wird einfach das Gefühl nicht los, dass sie regelrecht Ausschau nach einem reichen Mann gehalten hat.«

»In dem Fall war ihre Suche nicht vergebens.«

Mrs Marchmont seufzte.

»Es erscheint mir absolut merkwürdig. Gordon war immer so ein ausgefuchster Menschenkenner. Ich meine, es war ja nicht so, dass die Frauen es nicht versucht hätten. Die vorletzte Sekretärin zum Beispiel. Wirklich ziemlich unverfroren. Sie war zwar sehr tüchtig, glaube ich, aber er musste sie einfach an die frische Luft setzen.«

»Irgendwann erlebt man wohl immer sein Waterloo«, erklärte Lynn vage.

»Zweiundsechzig«, sagte Mrs Marchmont. »Ein hochgefährliches Alter. Und ein Krieg ist, könnte ich mir vorstellen, schon verstörend. Aber ich kann dir gar nicht sagen, was für ein Schock es war, als sein Brief aus New York hier eintraf.«

»Was genau stand denn drin?«

»Er war an Frances gerichtet – warum, kann ich mir beim besten Willen nicht erklären. Vielleicht dachte er, aufgrund ihrer Kinderstube stünde sie der Sache wohlwollender gegenüber. Er meinte, es würde uns wahrscheinlich überraschen, dass er geheiratet habe. Es sei alles recht plötzlich geschehen, aber er sei sich sicher, wir würden Rosaleen – was für ein absolut theatralischer Name, findest du nicht, Liebes, und auf jeden Fall frei erfunden – alle schon bald sehr lieb gewinnen. Sie habe ein ausgesprochen trauriges Leben geführt, schrieb er, und trotz ihres jungen Alters eine Menge durchgemacht. Aber sie habe dem Leben auf wirklich fabelhafte Weise sehr beherzt die Stirn geboten.«

»Ein bestens bekannter Schachzug«, murmelte Lynn.

»Ja, ich weiß. In diesem Punkt stimme ich dir völlig zu. Das hat man schon so oft gehört. Man würde wirklich denken, dass Gordon mit all seiner Erfahrung – aber was soll’s. Sie hat riesengroße blaue Augen mit langen schwarzen Wimpern.«

»Attraktiv?«

»O ja, sie ist auf alle Fälle sehr hübsch. Allerdings nicht auf eine Art, die ich persönlich ansprechend finde.«

»Wer ist das schon«, entgegnete Lynn mit einem gequälten Lächeln.

»Da hast du recht, Liebes. Männer eben, aber gut, auf Männer kann man sich halt keinen Reim machen! Selbst die Ausgeglichensten machen die größten Dummheiten! Es würde nie und nimmer bedeuten, so Gordons Brief weiter, dass alte Bindungen gelockert würden. Er würde weiterhin eine besondere Verantwortung für uns alle empfinden.«

»Aber er hat nach dieser Heirat«, sagte Lynn, »kein Testament gemacht?«

Mrs Marchmont schüttelte den Kopf.

»Sein letztes Testament stammt von 1940. Ich kenne es nicht im Einzelnen, aber er hatte uns damals zu verstehen gegeben, dass wir, sollte ihm etwas zustoßen, alle versorgt wären. Durch seine Heirat wurde dieses Testament natürlich unwirksam. Wahrscheinlich hätte er nach seiner Heimkehr ein neues aufgesetzt, aber dazu blieb einfach keine Zeit. Er kam praktisch einen Tag nach seiner Ankunft in England um.«

»Sodass sie – Rosaleen – alles bekommt?«

»Ja. Das Alte Testament wurde durch seine Heirat hinfällig.«

Lynn versank in Schweigen. Sie war nicht materialistischer eingestellt als die meisten – letztlich war es nur menschlich, dass die neue Lage der Dinge sie wurmte. Sie entsprach ihrer Meinung nach überhaupt nicht Gordon Cloades Vorstellungen. Vielleicht hätte er den Großteil seines Vermögens seiner jungen Ehefrau vermacht, aber gewisse Vorkehrungen hätte er auf jeden Fall für die Familie getroffen, die ja auch durch sein Betreiben von ihm abhängig geworden war. Immer wieder hatte er ihnen eindringlich nahegelegt, nicht zu sparen, keine Vorsorge für die Zukunft zu treffen. Einmal hatte sie gehört, wie er zu Jeremy meinte: »Wenn ich sterbe, wirst du ein reicher Mann sein.« Zu ihrer Mutter hatte er oft gesagt: »Keine Sorge, Adela. Du weißt doch, dass ich mich immer um Lynn kümmern werde – und ich könnte es auch nicht ertragen, wenn du dieses Haus verlassen müsstest, schließlich ist es dein Zuhause. Schick mir einfach die Rechnungen für die Reparaturen.« Rowley hatte er in seinem Wunsch bestärkt, in die Landwirtschaft zu gehen. Antony, Jeremys Sohn, sollte, darauf hatte er bestanden, in die Garde eintreten, und er hatte ihm immer ein großzügiges Taschengeld zukommen lassen. Lionel Cloade war ermuntert worden, gewisse medizinische Forschungsansätze zu verfolgen, die nicht sofort Gewinn abwerfen würden, und seine Praxis zu vernachlässigen.

Lynns Gedanken wurden unterbrochen. Mit dramatischer Geste und bebenden Lippen holte Mrs Marchmont ein Bündel Rechnungen hervor.

»Sie dir bloß mal die alle an«, jammerte sie. »Was soll ich tun? Was um alles in der Welt soll ich tun, Lynn? Gerade heute Morgen hat der Bankdirektor mir geschrieben, dass mein Konto überzogen sei. Ich verstehe nicht, wie das sein kann. Ich bin derart vorsichtig gewesen. Aber meine Anlagen scheinen einfach nicht mehr so viel einzubringen wie früher. Steuererhöhungen, meint er. Und diese ganzen gelben Formulare, die Kriegsschädenversicherung oder so – die muss man bezahlen, ob man will oder nicht.«

Lynn nahm die Rechnungen und überflog sie. Nichts, was aus dem Rahmen fiel. Schieferschindeln fürs Dach, die ersetzt werden mussten, Zaunreparaturen, die Auswechslung eines ausgedienten Küchenboilers, eine neue Hauptwasserleitung. Da war eine beträchtliche Summe zusammengekommen.

Mit wehleidiger Stimme erklärte Mrs Marchmont:

»Wahrscheinlich sollte ich hier ausziehen. Aber wohin? In dieser Gegend findet man nirgends ein kleines Häuschen – so etwas gibt es hier einfach nicht. Ach, Lynn, ich möchte dich damit nicht beunruhigen. Nicht jetzt, wo du gerade erst nach Hause zurückgekehrt bist. Aber ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß es einfach nicht.«

Lynn sah ihre Mutter an. Sie war über sechzig und noch nie eine starke Frau gewesen. Während des Krieges hatte sie evakuierte Kinder aus London bei sich aufgenommen, hatte für sie gekocht und sauber gemacht, beim freiwilligen Frauenkriegshilfsdienst mitgearbeitet, Marmelade gekocht, bei den Schulspeisungen ausgeholfen. Sie hatte, im Unterschied zu dem angenehmen, leichten Leben, das sie vor dem Krieg geführt hatte, vierzehn Stunden am Tag gearbeitet. Jetzt stand sie, wie deutlich zu erkennen war, kurz vor einem Zusammenbruch, war ausgelaugt und voller Zukunftsängste.

Eine stille Wut stieg in Lynn auf. Langsam sagte sie:

»Könnte diese Rosaleen nicht irgendwie – helfen?«

Mrs Marchmont lief rot an.

»Wir haben keinerlei Rechte, auf nichts, überhaupt nichts.«

Lynn hielt dagegen:

»Ich glaube, wir haben ein moralisches Recht. Onkel Gordon hat uns immer geholfen.«

Mrs Marchmont schüttelte den Kopf.

»Es wäre nicht sehr nett, um einen Gefallen zu betteln, Liebes«, sagte sie. »Schon gar nicht bei jemandem, den man nicht besonders mag. Und außerdem würde dieser Bruder von ihr nicht zulassen, dass sie auch nur einen einzigen Penny herschenkt.«

Und dann fügte sie noch hinzu, wobei Heldentum unvermittelt reiner weiblicher Gehässigkeit Platz machte: »Wenn er überhaupt ihr Bruder ist!«

Kapitel 2

Nachdenklich sah Frances Cloade ihren Ehemann über den Esstisch hinweg an.

Frances war achtundvierzig Jahre alt und eine jener gertenschlanken Frauen, denen Tweed gut stand. Ihr Gesicht war von einer recht arroganten, verwüsteten Schönheit und, abgesehen von einer Spur nachlässig aufgetragenem Lippenstift, völlig ungeschminkt. Jeremy Cloade war ein hagerer grauhaariger Mann von dreiundsechzig mit einer leeren, ausdruckslosen Miene.

An diesem Abend war sie noch ausdrucksloser als sonst.

Was seine Frau blitzschnell registrierte.

Ein fünfzehnjähriges Mädchen schlurfte um den Tisch und reichte Speisen. Gequält heftete sie ihre Augen auf Frances. Runzelte Frances die Stirn, ließ sie um ein Haar etwas fallen, ein anerkennender Blick zauberte ein Strahlen auf ihr Gesicht.

Voller Neid war man sich in Warmsley Vale einer Sache bewusst: Wenn überhaupt jemand im Ort Bedienstete hätte, dann Frances Cloade. Sie bestach sie nicht mit überzogenen Löhnen und verlangte eine Menge von ihnen, doch ihre warmherzige Anerkennung ihrer Bemühungen sowie ihre ansteckende Energie und Vitalität verliehen der Arbeit von Hausangestellten etwas Kreatives, Persönliches. Sie war es ihr ganzes Leben lang so sehr gewohnt gewesen, bedient zu werden, dass sie es, völlig unbefangen, als selbstverständlich betrachtete, weshalb sie einer guten Köchin oder einem guten Serviermädchen die gleiche Wertschätzung entgegenbrachte wie etwa einem guten Pianisten.