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Der Tote im Netz E-Book

Frauke Scheunemann

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Beschreibung

Auf der Sonneninsel Usedom lauert das Verbrechen – der erste Fall für Radioreporterin Franziska Mai und Kommissar Kay Lorenz Im Seebad Heringsdorf auf Usedom herrscht Aufruhr: Bäderland-Radio, der kleine Ostsee-Lokalsender, soll von einem größeren Konkurrenten geschluckt werden. Radioreporterin Franziska Mai ist zwar der Liebe wegen auf die Insel gezogen, aber nun gilt es, ihren Job zu retten. Ihre Idee: ein neues Format, bei dem die Usedomer alles auf den Tisch bringen können, was ihnen unter den Nägeln brennt. Und Franziska versucht zu helfen.  Aber bald geht es nicht mehr um Nachbarschaftsstreitigkeiten, sondern um den Mord an einem Fischer, der tot in sein eigenes Netz gewickelt im Hafen von Zeglin gefunden wird – in seine Brust das Wort »Rache« eingeritzt. Franziska wittert ihre Chance und mischt sich in die Ermittlungen ein. Und kommt nicht nur Kommissar Kay Lorenz ins Gehege, sondern auch dem Mörder gefährlich nahe.

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Frauke Scheunemann

Der Tote im Netz

Ein Usedom-Krimi

FISCHER E-Books

Inhalt

Prolog12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334Danke[Newsletter-Hinweis]

Prolog

Der Wind hatte gedreht und stand nun genau auf der Hafeneinfahrt von Zeglin. Die Wanten der Segelboote schlugen gegen die Masten und erzeugten ein klickerndes Geräusch, das über den Hafen hinaus bis zur Peene zu hören war. Fast klang es so, als würden sich die Boote etwas zurufen. Die Fine wurde an die Kaimauer gedrückt, und aus dem sanften Schaukeln des Fischkutters war mittlerweile ein heftiges Krachen und Schieben gegen die Fender geworden, die das Schiff von der Mauer trennten. Es war ein kalter Abend, nachdem die Sonne untergegangen war, und so lagen die Schiffe trotz des bis eben noch guten Wetters verlassen und unbeobachtet im Hafen. Kein Spaziergänger und auch kein Segler, der noch einmal nach seinem Boot schauen wollte, selbst die Camper von dem kleinen Platz direkt neben dem Hafen hatten sich in ihre Wohnmobile und Zelte verzogen. Die letzten Gäste der Hafenkneipe waren längst gegangen, die nächsten Wohnhäuser standen im zwei Kilometer entfernten Peenemünde. Es war also tatsächlich niemand da, der hätte bemerken können, dass die Fine ihr Schleppnetz ausgebracht hatte. Im Hafenbecken war das natürlich völlig sinnlos, um nicht zu sagen gefährlich, denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Schraube eines anderen Bootes im Netz verfing, war groß, die Wahrscheinlichkeit, hier einen guten Fang zu machen, hingegen gering. Letzteres schien der Fine allerdings trotzdem gelungen zu sein, denn das Netz hing an straff gespannten Tauen ins Wasser, ganz so, als ob etwas sehr Schweres darin liegen würde. Eine Welle brach sich am Bug der Fine, der Kutter schwankte heftig auf und nieder, das Netz schlug mit einem dumpfen Knall gegen das Heck und trieb nach oben. Für einen Moment zeigte sich sein Inhalt unter der Wasseroberfläche. Im Mondlicht war nun kurz zu sehen, dass es kein Heringsschwarm war, der sich im Netz verfangen hatte. Es war ein Mann, halb nackt, mit weit geöffneten Augen. Sein Mund hingegen war geschlossen. Oder besser: verschlossen. Fein säuberlich mit fünf Angelhaken, die seine Lippen zusammenhielten wie Heftklammern einen Stapel Papier.

1

»Jetzt atmen Sie langsam und tief ein und versuchen, sich zu entspannen.«

Ich gebe mir wirklich Mühe, diese Anweisung umzusetzen, aber meine Rückenschmerzen sind so stark, dass an Entspannung überhaupt nicht zu denken ist. Stattdessen gebe ich ein ziemlich klägliches Jaulen von mir. Der Physiotherapeut grinst. Glaube ich wenigstens. Sehen kann ich es nicht, denn er steht ja hinter mir, während er versucht, mich so einzurenken, dass ich mich wieder einigermaßen bewegen kann.

»Kommen Sie«, muntert er mich auf, »versuchen Sie, locker zu lassen. Erzählen Sie mir etwas. Zum Beispiel, wie zum Teufel sich eine junge Frau wie Sie so sehr den Rücken verdrehen kann.«

Bei dem Gedanken an die ehrliche Antwort auf seine Frage bin ich es, die grinsen muss. Nein, ich muss sogar lachen. Sofort durchzuckt mich der Schmerz wieder. Aua! Lachen ist nicht gut!

»Das ist beim Versuch passiert, kopfüber in eine Ritterrüstung zu tauchen. Die Rüstung ist umgekippt, und ich steckte fest wie eine Sardine in der Büchse. Ich wollte mich rauswinden, und da habe ich es schon knacken hören. Glaube ich.« Ich halte kurz inne und überlege. »Vielleicht ist es aber auch erst passiert, als der Hausmeister mich mit dem Seitenschneider rausholen musste, weil ich mich so in der Rüstung verkeilt hatte. Dafür musste er das Ding mehr oder weniger auf den Kopf stellen. War ziemlich unangenehm.«

Die Hände des Therapeuten bewegen sich nicht mehr.

»Sie sind mit einer Ritterrüstung umgekippt?«

»Ja.«

»Was machen Sie denn beruflich? Sind Sie Restauratorin? Oder Schauspielerin?«

Ich schüttle den Kopf, was keine gute Idee ist, denn auch das tut höllisch weh.

»Nein, ich bin Radioreporterin. Ich wollte einen Beitrag über das Ritterspektakel auf Schloss Mellenthin machen. Und auf der Suche nach einem originellen O-Ton ist mir mein Aufnahmegerät in eine Ritterrüstung gefallen. Ich wollte es rausfischen, und na ja … dabei ist es passiert.«

Der Therapeut lacht.

»Dann ist das ja ein Arbeitsunfall gewesen. Für welchen Sender arbeiten Sie?«

»Für Bäderland-Radio. Sie wissen schon – Hits und News für Deutschlands schönste Insel!«

»Ach, Sie arbeiten auf Sylt?«

»Was? Unverschämtheit!«, erwidere ich halb spaßhaft, halb mit ernstem Unterton. »Die schönste Insel Deutschlands ist selbstverständlich unser Usedom!«

»Klar. War auch nur ein Scherz. Ist echt ein schönes Fleckchen hier. Und Sie sind die Mittelalter-Beauftragte beim Radio?« Während er redet, wandern seine Hände wieder an meiner Wirbelsäule entlang. Er ist also offenbar ein Mann, der Multitasking beherrscht.

»So ungefähr. Ritterrüstungen sind mein Spezialgebiet. Nein, im Ernst: Ich mache Reportagen und lokale Nachrichten, im Grunde genommen kümmere ich mich um alles, worüber man auf Usedom gerade spricht. Also zum Beispiel …«

KNACK. Aua! Jetzt hat er meine Schultern mit einer ruckartigen Bewegung nach vorn gedrückt. Will der mich umbringen?

»So, jetzt bewegen Sie sich bitte mal vorsichtig, Frau Mai.«

Ich stehe auf und drehe langsam meinen Oberkörper. Wahnsinn! Es geht tatsächlich viel besser als vorher. Der Therapeut stellt sich neben mich.

»Na, was sagen Sie?«, will er von mir wissen.

»Ich sage einfach mal: Es ist schön, wenn der Schmerz nachlässt.«

»Perfekt! So soll es sein. Jetzt schonen Sie sich noch einen Tag ein bisschen, dann sind Sie wieder wie neu. Und machen Sie einen Bogen um die nächste Ritterrüstung!«

*

In der Redaktion werde ich schon von Janis, unserem Volontär, erwartet. Er sieht irgendwie nervös aus, in seinem sonst sehr blassen Gesicht breiten sich hektische rote Flecken aus, und er fährt sich ständig durch seine gelockten blonden Haare.

»Mann, Franzi, wo hast du gesteckt? Ich habe dich mindestens dreimal angerufen, aber du bist nie rangegangen. Der große Häuptling will eine Rede ans Volk halten, wir warten nur noch auf dich!« Er mustert mich. »Was ist denn los mit dir?«

»Wieso, was soll denn sein?«

»Irgendwie ziehst du dein rechtes Bein so komisch nach.«

»Echt? Okay, ist ’ne Art Schonhaltung. Doofe Geschichte, aber ich bin schon wieder auf dem Weg der Besserung.«

Janis legt den Kopf schief.

»Schonhaltung? Was ist dir jetzt schon wieder passiert?«

»Ich …«

»Nein, erzähl’s mir später. Jetzt komm lieber schnell mit in den Konferenzraum. Raimund ist mies drauf, Vogelfänger, du weißt schon.«

»Oh, nein, dann sollten wir ihn wirklich nicht länger warten lassen.«

Wir gehen aus unserem Großraumbüro Richtung Konfi, und schon auf dem Flur kann ich es hören: Der Vogelfänger bin ich ja, stets lustig, heissa hopsasa! In voller Lautstärke und mit großer Hingabe gepfiffen von Raimund, unserem Chef. Seit vier Jahren arbeite ich jetzt mit ihm zusammen, und immer, wenn er Papagenos Vogelfänger-Arie aus Mozarts Zauberflöte pfeift, droht richtig Ärger. Es scheint eine Art Übersprunghandlung bei ihm zu sein, wenn er Unangenehmes zu verkünden hat.

Ich werfe einen Blick durch die Glastür unseres Konferenzraumes und sehe auch schon das nächste untrügliche Zeichen für eine Krise: Kekse. Auf dem langen Besprechungstisch steht tatsächlich eine Schale mit Keksen. Es ist also wirklich ernst!

Die anderen im Team wissen das natürlich auch. Hauke und Kathleen, unsere beiden Musikredakteure, sitzen schon an dem Konferenztisch, und Kathleen knabbert nervös an ihren Fingernägeln herum. Unsere Teamassistentin Sonja, direkt daneben, knabbert zwar nicht an ihren Nägeln, sondern an einem der Schokokekse, trotzdem sieht sie sehr angespannt aus. Nur Markus, unser Programmplaner und Nachrichtenredakteur, wirkt noch ganz gut gelaunt. Er ist allerdings sowieso chronisch gut gelaunt, ich habe noch nie erlebt, dass ihm irgendetwas die Stimmung verhagelt. Janis und ich nehmen neben Sonja Platz, und in diesem Moment taucht auch schon Raimund auf. Mittlerweile pfeift er nicht mehr, sondern presst die Lippen fest aufeinander und starrt vor sich hin.

»Also«, räuspert sich Raimund, nachdem er sich vor den Kopf des Konferenztisches gesetzt hat, »es gibt wichtige Neuigkeiten.« Ein tiefes Luftholen. »Bäderland-Radio wird verkauft. Und zwar an Megahit-FM. Sie werden im nächsten Vierteljahr unsere Frequenz übernehmen.«

Habe ich gerade richtig gehört: Unsere Frequenz wird übernommen? Und auf welcher Frequenz senden wir dann? Oder senden wir gar nicht mehr? Ich schaue zu Kathleen und Hauke, auch die beiden sehen geschockt aus. Schließlich ringt sich Kathleen zu der Frage durch, die wir uns mit Sicherheit alle gerade stellen:

»Chef, heißt das, dass es uns bald nicht mehr gibt? Sollten wir uns alle schleunigst einen neuen Job suchen?«

Zu meiner Erleichterung schüttelt Raimund energisch den Kopf.

»Nein, nein, das heißt nur, dass Bäderland-Radio einen neuen Eigentümer bekommt. Megahit-FM will seinen Senderverbund in Norddeutschland ausbauen, und der Kauf von Bäderland ist Teil dieser Strategie. Erst mal bleibt alles beim Alten.«

Moment! Erst mal?

»Raimund«, melde ich mich zu Wort, »was genau meinst du denn mit erst mal?«

»Na ja, dass ich natürlich keine Kristallkugel auf meinem Schreibtisch stehen habe. Wer weiß schon, was in zehn Jahren ist.«

»Megahit-FM – sind das nicht die ohne messbaren Wortanteil?«, schaltet sich jetzt Markus ein. »Ich glaube, die machen wirklich nur genauso viel, wie ihnen die Landesmedienanstalt vorschreibt. Meine Kids hören das gern, wenn wir nach Berlin fahren. Grauenhaftes Gedudel, und zwar die ganze Zeit. Kann mir nicht vorstellen, dass die unser ausgewogenes Programm zu schätzen wissen.«

»Du meinst, die sind wirklich nur auf die Frequenz scharf und machen uns dann platt?«, fragt Kathleen nach. Markus nickt und sieht dabei wie immer vollkommen unbesorgt aus. Raimund hingegen legt die Stirn in Falten.

»Also, bitte keine Panikmache! Die Frequenz ist zunächst mal auch an unsere Inhalte geknüpft. Die Verantwortlichen werden sich unser Programm in den nächsten Wochen genau ansehen und dann überlegen, wie es sinnvoll in den Sendeverbund integriert werden kann.«

Jetzt bin ich es, die den Kopf schüttelt.

»Sag, was du willst, Raimund. Aber ich hab da ein ganz mieses Gefühl!«

*

Der Inseltreff in Bansin ist selbst eine Insel. Und zwar im Meer des Usedom-Tourismus. Er gehört meiner Freundin und Vermieterin Katja und ist ein Lokal, in das sich kaum je ein Feriengast verirrt. Einheimische dafür umso mehr. Das liegt in beiden Fällen wahrscheinlich an der völligen Abwesenheit von Deko-Elementen wie Fischernetzen, Holzmöwen, Schiffsglocken oder Ähnlichem. Auch Fotos von Sonnenuntergängen am Strand sucht man hier vergebens. Der Inseltreff ist in erster Linie einfach eine richtig gute Kneipe mit einer exzellent ausgestatteten Bar, an die Janis und ich uns heute Abend geflüchtet haben. Normalerweise hänge ich in meiner Freizeit nicht mit dem jeweiligen Voli, wie wir die Volontäre liebevoll nennen, ab. Aber der arme Janis sah nach unserer Konferenz so elend aus, dass ich mich kurz entschlossen erbarmt und ihn eingeladen habe, nach Dienstschluss ein Bier mit mir trinken zu gehen.

»Oh, Mann, Franzi, was für ein beschissener Tag!«, jammert er. »Hoffentlich kann ich überhaupt noch mein Volontariat bei euch beenden. Meinen Eltern darf ich das gar nicht erzählen, die drehen total durch. Erst mein abgebrochenes Studium und jetzt das!«

Ich klopfe ihm mitleidig auf die Schulter.

»Kannst du ja nichts dafür. Also für den Verkauf, meine ich. Für den Studienabbruch natürlich schon. Aber die Ausbildung wirst du bestimmt zu Ende machen können«, versuche ich, ihn zu beruhigen. »Hast doch gehört, was Raimund gesagt hat: Erst mal müssen die so weitermachen wie bisher.«

Janis mustert mich und schaut dabei extrem skeptisch.

»Weiß nicht. Ich brauche schließlich noch achtzehn Monate. Das ist eine ganz schön lange Zeit.« Er seufzt. »Na, wenigstens bin ich jung und kann mich schnell neu orientieren. Für dich ist es wahrscheinlich schon schwerer.«

Habe ich mich da gerade verhört?

»Eh, ’tschuldige, Janis, aber ich bin vierunddreißig.«

Er nickt.

»Ja, sage ich ja. Für ältere Mitarbeiter wird es definitiv schwerer als für mich. Tut mir leid!«

Ich beschließe, seine Unverschämtheit zu ignorieren, und gehe zum wesentlichen Tagesordnungspunkt über: Wie geht es jetzt weiter?

»Wenn Raimund recht hat und sich die von Megahit-FM unser Programm noch mal genauer anschauen, dann haben wir vielleicht eine Chance«, überlege ich laut. Janis zieht die Augenbrauen hoch.

»Meinst du, dass die sich das nicht längst angeguckt haben? So etwas macht man doch eigentlich vor dem Kauf.«

Ich zucke mit den Schultern.

»Weiß nicht. Wenn es denen nur darum ging, ein Lokalradio hier im äußersten Nordosten zu kaufen, dann kamen vielleicht nur wir in Frage.«

»Kann natürlich auch sein. Aber wo siehst du da unsere Chance?«

»Ist doch klar: Uns muss jetzt sehr schnell etwas einfallen, was bei unseren Hörern wie eine Bombe einschlägt. Und worauf alle richtig scharf sind. Wir müssen uns unverzichtbar machen, verstehst du?«

Janis nickt langsam.

»Du meinst, so was wie Wer wird Millionär?, nur im Radio?«

»Ja, aber keine Quizshow. Schließlich wollen wir den niveauvollen Wortanteil retten.« Lautes Lachen von Janis, ich gucke ihn böse an. »Was ist daran so lustig?«

»Niveau ist jetzt nicht gerade das Erste, woran ich bei einer Reportage über das Ritterspektakel auf Schloss Mellenthin oder das fünfzigste Jubiläum des Männergesangsvereins Zinnowitz denke.«

Ich hole tief Luft.

»Ach ja? Dann frage ich mich, was du bisher gelernt hast. Wir machen nämlich sehr anspruchsvollen Lokaljournalismus hier bei Bäderland-Radio. Wir holen unsere Hörer genau da ab, wo sie stehen, und versorgen sie mit Nachrichten aus ihrer Heimat. Also wenn du nicht erkennst, wie wichtig das ist und auf welch hohem Niveau wir das machen, dann …«

»Alles in Ordnung bei euch?« Katja ist an unseren Tisch gekommen. Anscheinend bin ich etwas lauter geworden.

»Äh, ja, doch, doch, alles in Ordnung«, beeile ich mich zu versichern. Janis guckt leicht verschreckt, und ich lege beruhigend meine Hand auf seinen Unterarm. »Ich habe nur gerade versucht, Janis zu erklären, wie wichtig Lokaljournalismus auch im Radio ist.«

Katja mustert uns neugierig.

»Ich hatte ja glatt das Gefühl, ihr habt irgendwie Streit.«

Nun schüttelt auch Janis den Kopf.

»Nein, haben wir nicht. Nur Stress. Bäderland-Radio wird verkauft, und wir beide überlegen, ob uns nicht irgendetwas Tolles einfällt, was uns den Arsch retten könnte. Irgendeine Aktion, die bei den Hörern mega ankommt.«

»Verstehe.« Katja zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich zu uns. »Lasst mal überlegen – eine Mitmachaktion vielleicht? Bäderland-Radio sucht die beste Kneipe? Und die Hörer machen Vorschläge? Und wenn sie – was wahrscheinlich ist – den Inseltreff wählen, dann können sie hier einen schönen Sonntagsbrunch gewinnen.«

Ich lege den Kopf schief.

»Hm. Tja, Hörerbeteiligung ist schon mal gut. Aber es müsste irgendwie mehr Wumms haben. Es muss um etwas gehen, was die Leute aufregt.«

»Was die Leute aufregt«, echot Janis. »Na, dann vielleicht irgendwas mit Parktickets oder Verwarngeldern? Man kann sie bei uns einreichen, und wer die traurigste Geschichte dazu erzählt, dem zahlen wir das Bußgeld?«

Ich schüttle den Kopf, während ich gleichzeitig überlege, was genau für den Wumms sorgen könnte. Mein Blick wandert durch den Inseltreff, als könnte ich hier die Lösung finden. Dann bleibt er am Zeitungsständer hängen, der direkt neben dem Tresen an die Wand genagelt ist. Gleich vorn steckt die BILD drin. Da kommt sie mir, die rettende Idee!

2

»Bäderland-Radio kämpft für Sie! Und das soll die Massen begeistern?« Raimund klingt skeptisch, aber ich lasse mich davon nicht aus dem Konzept bringen. Ich sitze vor seinem Schreibtisch und bin fest entschlossen, sein Büro erst wieder zu verlassen, wenn er meine Idee gekauft hat.

»Ganz genau. BILD kämpft für Sie! war eine der erfolgreichsten Serien der BILD-Zeitung und in diesem Fall kann man getrost sagen: Von der BILD lernen heißt siegen lernen! Ich habe mich da mal eingelesen, und alle Experten sind sich einig, dass dieses Format für eine sensationelle Leser-Blatt-Bindung gesorgt hat.« In den Augen meines Chefs sehe ich Ratlosigkeit, deswegen setze ich nach. »Na, Leser-Blatt-Bindung ist doch genau das, was wir wollen, wenn die Jungs von Megahit-FM hier reinspazieren und gucken, ob es sich lohnt, unseren Laden zu erhalten.«

»Blatt?«, hakt Raimund nach. »Wir sind doch keine Zeitung.«

»Herrgott nochmal, Raimund! Dann eben Hörerbindung – du weißt doch genau, was ich meine. Wenn wir erreichen, dass die Leute bei uns anrufen und uns hören wollen, weil wir diese – Verzeihung! – megageile Rubrik eingeführt haben, dann haben wir vielleicht eine Chance, nicht einfach auch ein Dudelradio zu werden.«

Raimund seufzt.

»Ich weiß nicht.«

»Bitte, Raimund. Du musst es mich probieren lassen! Ich bin nur für diesen Job vor vier Jahren aus Düsseldorf hierhergezogen und habe meine Stelle beim WDR sausen lassen. Du musst mich das einfach versuchen lassen!«

»Ich dachte, du wärst wegen diesem Typen nach Usedom gezogen, Henning oder wie der hieß. Dass du nur für uns gekommen bist, ist mir neu.«

Mannomann, mein Chef ist heute aber wirklich schwer zugänglich. Ich ändere die Taktik.

»Komm schon, Raimund. Nur ein Test. Wenn niemand anruft, lassen wir es sofort wieder.«

Er sagt nichts, stattdessen schließt er die Augen. Als er sie öffnet, knurrt er: »Okay. Sag Markus, er soll dir dafür in der nächsten Woche jeweils eine halbe Stunde freiräumen. Aber du hast nur einen Versuch – ich will hier nicht alles umschmeißen und die Leute von Megahit nervös machen!«

»Danke, Raimund! Du wirst es nicht bereuen!«

Dazu sagt mein Chef nichts mehr. Im Hinausgehen höre ich allerdings, wie er anfängt, ein Lied zu pfeifen: Der Vogelfänger bin ich ja, stets lustig, heißa hopsassa.

In unserem Großraumbüro wartet Janis schon gespannt auf mich.

»Na, was hat er gesagt?«

Ich setze ein breites Grinsen auf.

»Wir dürfen es versuchen. Wir dürfen ein Format starten, bei dem Leser anrufen und uns ein Problem, eine Ungerechtigkeit oder sonst eine Sauerei schildern. Und wir beide, das Team, machen uns dann an die Arbeit. Recherchieren, was an der Sache dran ist, und versuchen dann, im Sinne unserer Hörer eine Lösung zu finden. Währenddessen und danach berichten wir immer über den aktuellen Fall.«

Janis nickt.

»Klingt nach einer coolen Sache!«

»Ja, das ist eine coole Sache. Aber wir haben nicht viel Zeit, um erfolgreich zu sein. Am besten machen wir uns also gleich an die Arbeit und produzieren erst mal einen werbewirksamen Jingle, auf dass die Hörer gar nicht anders können, als bei uns anzurufen. Komm, ich zeig dir, wie das geht.«

Wir setzen uns zusammen an den Computer, und ich erkläre Janis, wie er aus unserer Musikdatenbank das richtige Stück für ein spannendes Musikbett raussuchen kann. Dann überlegen wir uns einen passenden Werbetext für unser neues Format – was uns als Erstes auf die Frage nach dem Titel bringt.

»Bäderland-Radio kämpft für Sie! – so soll das neue Format heißen«, sage ich zu Janis. Der sieht wenig überzeugt aus.

»Hm, also Bäderland-Radio kämpft für Sie! ist echt 1:1BILD. Das ist krass unoriginell«, urteilt er. »Und überhaupt – wenn Raimund jetzt auch noch Post von der Rechtsabteilung der BILD bekommt, hat er den Kaffee garantiert endgültig auf.«

Gut. Da ist natürlich etwas dran. Ich überlege laut.

»Wie wäre es dann mit Nicht verzagen – Bäderland fragen?«

»Grauenhaft.«

»Oder Bäderland – die Nummer gegen Kummer?«

»Oh! Mein! Gott!«

Alles klar, also auch nicht. Allerdings ist mir der gute Janis gerade etwas zu destruktiv.

»Dann schlag du doch mal was Besseres vor«, motze ich. Janis fährt sich mit der Hand über den nicht vorhandenen Bart, dann grinst er.

»Wie wär’s denn mit Die Problemlöser? Klingt irgendwie dynamisch und zupackend. Und dann setzen wir nicht Bäderland, sondern unsere Namen davor. Denn wenn das gut läuft, wird der Erfolg vor allem mit uns verknüpft. Und selbst wenn Megahit das arme, kleine Bäderland einstampft, übernehmen sie uns vielleicht trotzdem.«

»Janis, du bist wirklich einigermaßen gerissen!«, gebe ich zu.

Janis strahlt.

»Okay, dann ist das beschlossen? Es heißt: Janis und Franzi – die Problemlöser!«

»Nein. Es heißt: Franzi und Janis – die Problemlöser!«

*

Es funktioniert! Kaum haben Hauke und Kathleen unseren Jingle den ersten Tag in die Rotation eingebunden, so dass er regelmäßig zwischen unseren Musiktiteln gespielt wird, steht das Telefon nicht mehr still. Okay, das ist vielleicht übertrieben – aber nur leicht. Tatsächlich haben schon nach dem ersten Tag zwanzig Leute angerufen und uns ihr Herz ausgeschüttet. Janis hat vom Telefonieren schon ein rotes Ohr, weil er sich den Hörer immer zwischen Kopf und Schulter klemmt, während er gleichzeitig mitschreibt, was die Hörer auf dem Herzen haben.

Eine Stunde nachdem der Jingle zum letzten Mal für heute ausgestrahlt worden ist, setzen wir uns zusammen und sichten das Material. Das allerdings ist ernüchternd. Die Riesensache scheint auf den ersten Blick nicht dabei zu sein – relativ viele Nachbarschaftsstreitereien, insbesondere aus dem Bereich der Gartenpflege, wie überhängende Äste, falsch gesetzte Zäune oder Kinderlärm vom Klettergerüst.

Janis streicht sich durch die Haare.

»Okay, das ist alles noch nicht so der Burner. Kann mir kaum vorstellen, dass sich unsere Hörer für den Hund interessieren, der immer in den Vorgarten von Oma Kasuppke kackt.« Er wühlt in seinen Notizen herum. »Hm, hier ist noch der Typ, der nicht einsehen will, dass in seiner Straße jetzt Tempo 30 gilt, seitdem der Kindergarten aufgemacht hat. Ist jetzt auch nicht wirklich verdammenswerte Behördenwillkür. Oder hier – die Sparkasse will große Mengen von Kleingeld nur noch für ihre eigenen Kunden eintauschen. Könnte man vielleicht Großkapital gegen Kleinsparer draus machen?«

Ich verziehe das Gesicht.

»Joa, weiß nicht. Haut mich noch nicht richtig vom Hocker, aber können wir schon mal im Hinterkopf behalten.«

Janis nickt und legt den Zettel zur Seite. Es ist bisher der einzige für den Stapel »hoffnungsvolle Fälle«. Das geht ja gut los! So werden wir Megahit-FM vermutlich nicht beeindrucken. Das Telefon klingelt wieder. Diesmal nehme ich den Anruf an.

»Bäderland-Radio, Franzi Mai am Apparat.«

»Sind Sie die Problemlöser-Tante?«, bellt es wenig charmant durch die Leitung.

»Ähm, ja, genau. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Mein Name ist Maik Peters. Ich bin Fischer in Zeglin. Der letzte dort. Aber nicht mehr lange. Denn die Fischereibehörde will mich fertigmachen. Mich und meinen Bruder Ole.« Er atmet schwer. »Bitte, Sie müssen uns helfen! Dieses miese Schwein von Friedeberg zerstört unsere Existenz! 200 Jahre hat meine Familie vor Usedom gefischt, 200 Jahre!« Seine Stimme zittert.

»Herr Peters«, gebe ich mich möglichst sanft und einfühlsam, »mögen Sie mir einmal von vorne erklären, was genau das Problem mit der Fischereibehörde ist?«

Noch ein schweres Atmen am anderen Ende der Leitung, dann fängt Peters an zu erzählen.

»Ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben, aber es gibt in der Ostsee eine Fangquote für Hering und Dorsch. Und die ist allein im vergangenen Jahr um 90 Prozent gesenkt worden.«

»Ja, habe ich mitbekommen. Aber soweit ich weiß, ist dafür doch nicht die Fischereibehörde verantwortlich, sondern die EU.«

»Richtig. Darauf will ich auch nicht hinaus. Ich bin ja durchaus dafür, dass die Bestände vor Überfischung geschützt werden. Aber gerade deswegen haben Ole und ich uns seit einiger Zeit auf Angelausflüge spezialisiert. Die Gäste können sogar auf unserem eigenen kleinen Campingplatz übernachten, wenn sie wollen. Ist zwar nur eine Wiese und ganz offiziell ein Privatparkplatz ohne Zu- und Abwasser, weil ich sonst ’ne Nutzungsänderung bei der Gemeinde beantragen müsste. Aber solange ich es nicht übertreibe, sagt keiner was dazu. Ist ein tolles zweites Standbein geworden. An manchen Tagen auch das einzige. Wir fahren früh raus mit den Touristen, die bekommen bei uns einen Angelschein für einen Tag ausgestellt und dürfen dann ihr Glück versuchen. Abends gibt’s ein Bier in der Flachen Flunder – es ist perfekt. Oder besser: könnte es sein.«

»Aha.« Mehr sage ich dazu nicht. Ich kenne kaum etwas, das ich langweiliger finde als Angeln. Die Vorstellung, ich müsste dafür auch noch besonders früh aufstehen, ist gruselig und wird nur noch getoppt von meiner Abneigung gegen Campingurlaub. Die Kombination aus allen drei Zutaten wäre für mich ein echter Albtraum. Und was die Flache Flunder ist, will ich gar nicht erst wissen.

»Seit neustem gelten die Fangquoten jedenfalls auch für Hobbyangler«, erklärt Peters weiter. »Totaler Schwachsinn! Als ob die paar Angler da einen Unterschied für den Gesamtbestand machen würden. Aber für uns – für uns macht es einen Riesenunterschied!«

»Und was genau hat das jetzt mit der Fischereibehörde zu tun?«, hake ich nach. Peters schnaubt laut.

»Das kann ich Ihnen genau sagen: Dieser Friedeberg, der Fischereiaufseher für Usedom, der kontrolliert uns jetzt nach jeder Ausfahrt, als ob wir zehn Kilo Koks an Bord hätten. Mindestens! Da wird jeder einzelne Dorsch nachgemessen und in jeden Eimer geguckt. Kommt dafür extra von Freest zu uns rübergefahren. Bisher hat er fast immer ein Haar in der Suppe gefunden. Ist der Fisch nur einen Millimeter zu kurz, gibt es Ärger. Er verhängt jedes Mal wirklich heftige Bußgelder gegen meine Gäste. Reine Schikane! Das sind doch keine Verbrecher!« Er lacht verächtlich. »Jedenfalls spricht sich das natürlich rum bei den Petrijüngern. Und dann gehen die Leute lieber woanders angeln. Auf Rügen oder in Kühlungsborn. Fast die Hälfte aller gebuchten Touren ist bei uns schon abgesagt worden, das ist eine Vollkatastrophe. Ohne die Angeltouristen krieg ich nämlich auch den Campingplatz nicht so leicht voll. Wenn das so weitergeht, bin ich bald pleite. Dann hat Friedeberg sein Ziel erreicht.«

Puh! Klingt heftig!

»Aber warum hat er es denn gerade auf Sie so abgesehen? Haben Sie da einen Verdacht?«

»Den habe ich in der Tat. Aber das ist nichts fürs Telefon. Am besten Sie kommen mal vorbei. Dann erkläre ich Ihnen das in Ruhe.«

Perfekt! Es scheint also auch noch ein brisantes Geheimnis bei diesem Fall zu geben. Genau das, was wir brauchen.

»Okay, ich komme gern vorbei. Wann passt es?«

»Seien Sie morgen um zwölf Uhr am Hafen. Da kehren wir gerade von einer Ausfahrt zurück. Dann können wir sprechen.«

Als ich aufgelegt habe, vollführe ich einen kleinen Freudentanz in unserem Büro. Janis schaut mich überrascht an.

»Alles in Ordnung bei dir?«

»Alles bestens. Wir haben gerade den perfekten Fall an Land gezogen.«

»Wow! Den perfekten Fall? Schieß los, worum geht es?«

Ich erkläre Janis, was mir Peters erzählt hat, und schließe mit den Worten: »Weißt du, mein Lieblingsauszubildender, dieser Fall hat alles, was es für eine gute Radioreportage braucht: tolle O-Töne von aufgebrachten Fischern und Touristen, den Aufreger »Behördenwillkür« und einen Bezug zu einem für die Insel wichtigen Thema. Das ist genau der richtige Start für die Problemlöser!«

*

»Hey, ich habe heute im Radio von eurer neuen Rubrik gehört!« Katja sitzt auf der Terrasse und begrüßt mich freundlich, als ich aus dem Sender nach Hause komme und ihr die Post vorbeibringe, die ich gerade aus unserem Gemeinschaftsbriefkasten gefischt habe. »Klingt wirklich nach einer guten Idee – ich habe sofort überlegt, wen ich bei euch anschwärzen soll.«

»Wieso bist du nicht im Inseltreff?«, wundere ich mich.

»Ach, montags ist ja immer nicht so viel los. Ich habe beschlossen, dass Manni das alleine schafft. Ich brauche ein bisschen mehr Zeit für mich. Glaube ich jedenfalls.«

Interessant. Das klingt ja direkt auf eine traurige Art nachdenklich. So kenne ich Katja gar nicht. Und ich kenne sie mittlerweile ziemlich gut. Zum ersten Mal getroffen habe ich sie, als ich für die VHS Vorpommern-Wolgast einen Kurs in Gebärdensprache gegeben habe. Kleiner Nebenjob, wurde schlecht bezahlt, hat aber Spaß gemacht. Mit Katja habe ich mich gleich super verstanden, sie ist Rheinländerin wie ich, aber schon seit vielen Jahren auf der Insel. Wir waren nach dem Kurs ab und an mal etwas trinken, und als ich vor drei Jahren Hals über Kopf bei Henning ausgezogen bin, bin ich erst mal auf ihrem Schlafsofa gelandet. Und weil Katja zusammen mit ihrem Mann Manni, einem echten Inselurgestein, in ihrem Haus noch zwei kleine Wohnungen besitzt, wurde sie kurze Zeit später auch meine Vermieterin.

»Is’ was?«, erkundige ich mich. »Du klingst irgendwie seltsam.«

»Oh, nein, nein – alles gut. Wirklich. Und jetzt erzähl mir von diesem Problemlöser-Dings. Finde ich extrem spannend! Habt ihr schon irgendwelche krassen Fälle ausgebuddelt?«

Ich gebärde meine Antwort, indem ich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand einen Kreis bilde, die anderen drei Finger abspreize und mit der so geformten Hand meine Stirn berühre.

»Äh, was heißt das noch mal?«, fragt Katja nach.

»Na los, gib dir Mühe, oder hast du in meinem Kurs nicht aufgepasst?«

Katja legt die Stirn in Falten.

»Doch, aber es ist nicht so einfach, wenn man es nicht regelmäßig trainiert.«

»Quatsch. Es ist voll einfach. Die einfachste Sprache überhaupt, weil nämlich voll logisch.«

Daraufhin sagt Katja nichts mehr, sondern kichert nur.

»Was ist daran so lustig?«, will ich wissen.

»Na ja, natürlich ist das für dich einfach und logisch – weil du Muttersprachlerin bist. Du bist mit tauben Eltern aufgewachsen, für dich ist es selbstverständlich. Aber für alle anderen ist es auch nicht einfacher als Spanisch. Oder Japanisch.« Sie seufzt. »Okay, ich versuche es noch mal – bedeutet das Kann schon sein?«

Ich schüttle den Kopf.

»Ja, bestimmt? Oder: vielleicht?«

»Mööp. Wieder falsch.« Ich grinse, und Katja legt den Kopf schief. Dann erhellt sich auf einmal ihre Miene.

»Ach, ich weiß: Es bedeutet Keine Ahnung!«

»Richtig. Hundert Punkte! Ist ja doch was hängen geblieben.«

»Klar, ich hatte ja auch eine Weltklasse-Kursleiterin. Aber was meinst du mit Keine Ahnung?«

»Keine Ahnung, ob wir schon einen krassen Fall haben. Ein Anruf klang vielversprechend. Maik Peters aus Zeglin. Ein Fischer, fühlt sich verfolgt vom Fischereiaufseher. Ich fahre morgen mal hin und recherchiere ein bisschen vor Ort.«

»Maik Peters«, wiederholt Katja.

»Kennst du ihn?«

»Ich weiß nicht. Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Wir sollten Manni fragen, der kennt ihn bestimmt.«

Damit hat Katja bestimmt recht. Ich glaube, Manni hat die Insel bisher vermutlich nur aus einem einzigen Grund verlassen, und das war zu seiner eigenen Geburt in der Klinik in Wolgast. Okay, ich übertreibe. Tatsache ist aber, dass schon Mannis Eltern und deren Eltern Usedomer sind und Manni hier aufgewachsen ist. Wenn nun Fischer Maik, wie er ja behauptet, auch aus altem Inseladel stammt, dann werden die beiden sich mit Sicherheit kennen.

»Wir könnten Manni auf ein Bier besuchen«, schlage ich vor.

»Nee, lass mal. Ich wollte heute wirklich nicht in den Treff, wenn ich erst mal da bin, dann stelle ich mich doch wieder hinter den Tresen. Ich mache uns aber gern eine Flasche Wein auf, und wir setzen uns auf die Terrasse.«

Sie steht auf und geht ins Haus. Ich überlege kurz. Es ist Mai, und solange die Sonne noch auf die Terrasse scheint, ist es dafür warm genug. Aus der Küche höre ich ein Plopp, und schon steht Katja mit zwei Weißweingläsern vor mir. Ach, was soll’s, Manni kann ich auch später noch ausquetschen. Zuerst besuche ich Maik Peters morgen Mittag in Zeglin und mache mir selbst ein Bild von ihm. Jetzt genieße ich einen Schluck Wein und freue mich, dass die Problemlöser erfolgreich gestartet sind.

3

In Zeglin erhebt sich das Volk, und ich bin bei diesem historischen Ereignis zugegen. Es ist ein bewegender Moment in meiner journalistischen Karriere!

»Mann, ey, du dummer Wichser – ich hau dir gleich auffe Schnauze! Abba so wat von, da fällste hinten über, woll!«

Na gut, vielleicht erhebt sich auch nicht das Volk in Gänze, sondern elf ziemlich angeheiterte Angeltouristen aus Castrop-Rauxel oder Umgebung. Jedenfalls, wenn ich den Dialekt richtig deute. Wie geplant stehe ich mittags mit Janis am Hafen von Zeglin, wo soeben der Fischkutter von Peters angelandet ist. Die freundlichen Herren aus dem Ruhrgebiet sind gerade von Fischereiaufseher Friedeberg in Empfang genommen worden. Und wie es Maik Peters gestern vorhergesagt hat, waltet Herr Friedeberg seines Amtes außerordentlich gründlich und lässt sich dabei auch vom aufwallenden Volkszorn nicht beeindrucken.

»Dieser Dorsch hat eindeutig keine Länge von 35, sondern nur von 34 cm. Er darf somit nicht gefangen werden. Das ist eine bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit. Ich darf Sie daher bitten, mir Ihren Angelschein und Ihren Personalausweis auszuhändigen.«

»Leck mich doch. Ich hol mir lieber noch ’n Bier!« Der renitente Angler taumelt mit hochrotem Kopf an Friedeberg vorbei. Ich glaube, er wäre mit einem Mineralwasser besser bedient, behalte diese Einschätzung aber lieber für mich, denn ich bin mir nicht sicher, ob mein Status als Vertreterin der freien Presse mich hier vor sinnloser Gewalt schützen würde.

Friedeberg seufzt.

»Wie Sie meinen. Dann mache ich erst mal bei Ihren Kollegen weiter. Wenn mir die Herren bitte ihre Eimer zeigen würden?«

Die so Angesprochenen verhalten sich etwas kooperativer und schieben jeweils einen großen blauen Plastikeimer vor sich, in die Friedeberg einen schnellen Blick wirft.

»Ah ja. Also in diesem Eimer sind sechs Dorsche. Auch das führt leider zu einem Bußgeld, denn erlaubt sind nur fünf Fische pro Angler. Ihre Personalien würde ich daher ebenfalls gern feststellen.«

Der Petrijünger reißt die Augen auf. Er ist deutlich nüchterner als sein Kollege, der sich ein Bier holen wollte, deswegen kann er auch noch völlig ohne Probleme bis zehn zählen.

»Aber … aber … der Dirk hier neben mir hat doch nur vier Dorsche. Also haben wir im Schnitt genau fünf. Ist doch dann kein Problem, Mann!«

»Sie irren. Die Verordnung ist da eindeutig: pro Angler fünf Tiere. Nicht im Durchschnitt. Ihren Personalausweis bitte!«

Janis, der direkt neben mir steht, fängt an zu lachen. Die ganze Szene ist aber auch so unwirklich, dass sie saukomisch ist. Allein wie Friedeberg dasteht, überzeugt von seiner eigenen Wichtigkeit, in einer Uniformjacke, die so aussieht, als wäre ein dunkelblauer Strickpullover ein Verhältnis mit einer Segeltuchjacke eingegangen, das Ganze verziert durch das Landeswappen und den Schriftzug »Fischereiaufsicht«. Irgendwie pompös und doch lächerlich. Die Bügel seiner Hornbrille hat er an einem durchgehenden Band befestigt, so dass er sie sich um den Hals hängen könnte, aber jetzt gerade hat er sie natürlich auf der Nase, weil er mit Inbrunst den Personalausweis des eingeschüchterten Anglers studiert.

Sekunden später zeigt sich, wie hilfreich das Brillenbändsel in der Praxis ist – denn wie der Schatten eines Panthers springt auf einmal etwas sehr Großes auf Friedeberg zu. Erschreckt machen Janis und ich einen Satz nach hinten, um kurz darauf zu erkennen, was da aus den Tiefen der Fine geschossen kam: Es ist jemand in einem blau-weißen Fischerhemd und einer Gummihose mit Hosenträgern. Mittelgroß, mittelalt, mittelblond. Dem Aussehen nach zu urteilen, der Fischer selbst. Vermutlich also Maik Peters, der sich jetzt mit wildem Geschrei auf Friedeberg stürzt.

»Du dummes Arschloch! Willst du mich wirklich ruinieren? Meine letzten Kunden vertreiben?« Er packt den völlig perplexen Friedeberg am Kragen und schüttelt ihn so heftig, dass diesem die Brille herunterfällt. Gott sei Dank hängt sie ja am Band, Friedeberg scheint schon so eine Ahnung gehabt zu haben. »Ich polier dir die Fresse, ich mach dich fertig!«

Der Angeltourist mit dem 34-Zentimeter-Dorsch kommt mit seiner Flasche Bier angetaumelt.

»Ey, hier, Mann, das hast du dir verdient!« Offenbar will er Friedeberg nun das Bier über den Kopf schütten oder – noch schlimmer – die Flasche überbraten. Bevor es aber dazu kommen kann, erwacht Janis aus seiner Schockstarre, geht beherzt dazwischen und reißt dem Mann die Flasche aus der Hand.

»Hey«, ruft er dann, »ich würde sagen, wir beruhigen uns jetzt alle mal wieder!«

Die Ansage scheint zu wirken, jedenfalls lässt Maik Peters, oder wen auch immer wir für ihn halten, Friedeberg wieder los. Der schüttelt sich und drückte den Rücken durch.

»Peters, ich zeig dich an! Ich rufe jetzt die Polizei, und dann zeige ich dich an. Wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, jawoll!« Dann dreht er sich zu Janis und mir. »Sie sind meine Zeugen! Sie haben es gesehen, oder?«

Janis und ich werfen uns einen schnellen Blick zu – wir sind uns einig. Ich schüttle bedauernd den Kopf.

»Tut mir leid. Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Friedeberg schnappt nach Luft.

»Was für eine Frechheit!« Er wendet sich direkt an Janis. »Und Sie? Was ist mit Ihnen?«

Janis zuckt mit den Schultern.

»Ich hab auch nichts gesehen.«

Friedebergs Gesicht verfärbt sich dunkelrot.

»Na gut. Wie Sie meinen.« Dann macht er einen Schritt auf den Mann zu, der schneller war als sein Schatten. »Damit kommst du nicht durch, Peters. Auch für dich gelten die Regeln. Morgen bin ich wieder da. Und dann komme ich nicht allein, verlass dich drauf.«

Er dreht sich um und stapft von Bord. Die Angeltouristen, Peters und wir starren ihm hinterher. Dann atmet Peters tief durch und guckt Janis und mich an.

»Danke. Ich kenn euch zwar nicht, aber danke.«

»Oh, ich bin Franzi Mai vom Bäderland-Radio. Und das«, ich deute auf Janis, »ist mein Kollege Janis Neubauer. Ich glaube, Sie haben gestern bei uns angerufen und mit mir gesprochen.«

Ich strecke ihm die Hand hin, er ergreift und schüttelt sie.

»Stimmt. Ich bin Maik Peters. Schön, dass Sie gekommen sind. Na ja, Sie haben ja jetzt selbst gesehen, was hier vor sich geht. Dieser Friedeberg ist so ein …« Peters hält inne. »Ich weiß wirklich nicht, was ich ihm getan habe. Und deswegen bin ich davon überzeugt, dass ihn irgendjemand schmiert, damit er uns so schikaniert. Vielleicht diese elenden Tierrechtsaktivisten. Oder wer auch immer. Ich bin jedenfalls froh, dass Sie mir helfen.«

Im Hintergrund lärmen die Angler aus dem Ruhrgebiet. Sie haben in einer der Backskisten noch Bier entdeckt, welchem sie nun anscheinend dringend den Garaus machen wollen. Maik Peters seufzt und hebt entschuldigend die Hände.

»Tut mir leid, vielleicht passt es heute doch nicht so gut. Aber wenn ich Ihnen erklären soll, wie mein Geschäftsmodell funktioniert, dann wäre es bestimmt hilfreich, wenn Sie mal mit mir rausfahren würden. Da könnten wir uns auch in Ruhe unterhalten.«

»Gerne, das wäre genial«, erwidere ich, gedanklich schon bei den tollen O-Tönen, die wir an Bord der Fine einfangen werden.

»Dann seien Sie einfach morgen früh um vier Uhr wieder hier, dann geht es los. Und ziehen Sie sich bitte sehr warm an.«

*

Als mein Wecker klingelt, wähne ich mich in einem Traum. Einem sehr bösen Traum, in dem ich um drei Uhr aufstehen muss, um mit einem Fischkutter in See zu stechen. Es klingelt allerdings so lange weiter, bis mir klarwird, dass dies kein Traum ist, sondern ich tatsächlich aus den Federn muss. Missgelaunt wälze ich mich also aus meinem Bett und schleppe mich ins Badezimmer. Der Blick in den Spiegel macht die Sache leider nicht besser, denn ich muss feststellen, dass ich eine fiese Knautschfalte quer über meinem Gesicht trage. Verdammt! Das sieht unmöglich aus. Nur gut, dass ich nicht beim Fernsehen arbeite.

Zwei große Kaffee später geht es schon etwas besser. Ich habe mich in eine Uraltwollstrumpfhose gezwängt, die mir zwar einen Hauch zu eng ist, aber ansonsten sehr kuschelig warm hält. Darüber trage ich eine Jeans. Ich hätte auch noch eine 70er-Jahre-Cordhose mit Schlag in petto gehabt, die mir meine Mutter mal für eine Faschingsparty vererbt hat und die eindeutig wärmer gewesen wäre, aber hier siegt dann doch meine Eitelkeit. Ich habe sowieso schon nicht die längsten Beine, in dieser Cordhose sehe ich aus, als sei ich unterschenkelamputiert. Mein Aufzug wird komplettiert von einem Norwegerpulli, der zwar enorm kratzig, aber in Kombination mit einem Langarmshirt gut zu ertragen ist. Jetzt noch ein Pferdeschwanz wegen bestimmt sehr windig an Bord und Kontaktlinsen wegen Brille über Bord wäre genau meine Kragenweite, dann steige ich in meinen alten Fiat Panda und fahre los nach Zeglin.

Unterwegs halte ich bei Janis in Ückeritz. Wider seine sonstige Gewohnheit steht er pünktlich vor seinem Haus und wartet auf mich. Ich fahre rechts ran, er steigt ein und wirft mir einen neugierigen Blick zu.

»Cooler Look. Und bestimmt schön warm!«

Ich drehe den Kopf und stelle fest, dass Janis so aussieht wie immer. Also Jeans und T-Shirt.

»Ja, Mann. Ich gebe zu: Du siehst besser aus. Aber dafür wirst du dir gleich den Arsch abfrieren, während ich an Bord ganz lässig unseren Fischer interviewe und nur drauf achten muss, dass mir dein Zähneklappern im Hintergrund nicht jeden O-Ton versaut.«

Janis lacht. Er scheint mir nicht zu glauben. Egal. In einer Stunde wird er mich um den Norwegerpulli geradezu anbetteln, da bin ich mir ganz sicher.

In Zeglin steure ich den Hafen an und stelle den Panda auf dem Schotterplatz neben einem alten Schuppen ab. Janis schnappt sich seinen Rucksack, dann machen wir uns auf den Weg zur Fine. Sie liegt noch auf dem gleichen Platz wie gestern und schaukelt sanft vor sich hin. Von Maik Peters ist nichts zu sehen, aber ein älterer Herr, ebenfalls im Fischeroutfit, steht vor dem Bug und winkt uns freundlich zu.

»Guten Morgen! Ihr müsst die Leute vom Radio sein, richtig?«

Ich nicke und lächle.

»Ja, Franzi und Janis.«

»Ich bin Henk. Der Bootsmann. Maik ist noch nicht da, aber der kommt bestimmt gleich. Normalerweise isser immer der Erste hier.«

Ich schaue mich um.

»Wo sind denn die Angler?«

Henk seufzt.

»Tja. Haben alle abgesagt. Passiert in letzter Zeit häufiger. Der ganze Ärger mit Friedeberg spricht sich eben rum.«

Eine Zeitlang stehen wir schweigend nebeneinander, dann wirft Henk noch einmal einen Blick auf seine Uhr.

»Viertel nach vier. Komisch. Wo bleibt der Chef nur?«

Er kramt in seiner Hosentasche, zieht ein Handy hervor, tippt eine Nummer ein und hält es sich ans Ohr. Nach einer Weile steckt er es wieder in die Hose.

»Nummer vorübergehend nicht erreichbar. Wahrscheinlich Akku leer. Oder wieder kein Empfang.«

Großartig. Der Typ versetzt uns gerade. Dafür bin ich so früh aufgestanden!

Schritte hallen vom Schuppen zu uns rüber. Endlich! Aber es ist nicht Peters. Es ist Friedeberg! Und er hat offensichtlich Verstärkung mitgebracht, denn er wird von zwei jungen Männern begleitet, die ebenfalls diese seltsame Strickjackenuniform tragen. Als er die Fine erreicht hat, starrt er uns feindselig an.

»Guten Morgen, die Herrschaften!«, grüßt er dann überkorrekt. »Ich habe heute die Anwärter Schwennsen und Hintze mitgebracht, als sistierte Zeugen.«

»Wat heffst du?«, bellt ihn Henk an.

»Wir haben eine anonyme Anzeige erhalten. Auf der Fine sollen nicht zugelassene Schleppnetze eingesetzt werden. Ich bin hier, um diesem Hinweis nachzugehen, und habe zwei Zeugen mitgebracht, die mit mir die Beweise sichern werden.«

»Dat ist doch dumm Tüch!«, schimpft Henk. »Dat warn doch wedder diese Tierschützer! Bi uns is allens in Ordnung, da kannst du Gift drauf nehmen, Friedeberg!«

»Nein, danke!«, erwidert dieser mit einem dünnen Lächeln. »Lieber würde ich mir die Netze ansehen, und deswegen komme ich jetzt auch an Bord. Bitte gehen Sie vor.«

Wir tun, wie uns geheißen. Friedeberg, Hintze und Schwennsen kommen direkt hinter uns her, man kann förmlich spüren, wie heiß sie darauf sind, die Fine mal so richtig auseinanderzunehmen. Sehr unangenehme Burschen. Friedeberg läuft an Deck einmal um das gesamte Boot herum, dann bittet er Henk zu sich. Nein, eigentlich brüllt er Henk zu sich.

»Ahrens! Wo sind die verdammten Netze?! Ich sehe sie nicht!« Henk steht vor ihm und kratzt sich am Hinterkopf.

»Jau, dat ist seltsam. Ick seh sie auch nicht.«

Friedeberg dreht sich einmal um sich selbst, dann brüllt er wieder los.

»So eine verdammte Schweinerei! Ihr habt die Netze schon im Wasser! Im Hafenbecken!« Tatsächlich! Am Heck des Schiffes führen Taue über eine große Rolle direkt ins Wasser, und es ist deutlich zu sehen, dass daran ein Netz befestigt ist, das sich unterhalb der Wasserlinie befindet. Friedeberg tobt. »Wolltet ihr die etwa vor mir verstecken? Das ist ja unverantwortlich – da kann sich jederzeit die Schraube eines anderen Schiffes drin verfangen, und dann ist hier die Hölle los!« Ich könnte schwören, dass Friedeberg mittlerweile Schaum vorm Mund hat, so regt er sich auf, und er denkt auch gar nicht daran, sich wieder zu beruhigen. »Na wartet, jetzt gibt es aber richtig Ärger! Ich rufe den Hafenmeister an. Und Henk, du holst sofort das Netz an Bord. Sofort!«

Henk zuckt mit den Schultern, dann geht er nach hinten und betätigt die Seilwinde mit einer Kurbel, die er zuvor auf die Seite der großen Rolle steckt. Es tut sich erst mal: gar nichts!

»Da scheint etwas im Netz zu sein«, stellt er fest, »ich kriege es gar nicht so einfach hoch. Ich brauche die Elektrowinsch, die muss ich erst mal anschalten.«

»Na, dann tu das, verdammt nochmal!«, brüllt Friedeberg, während ihn seine beiden Nachwuchskräfte erstaunt ansehen. Ihnen dämmert offenbar langsam, dass es hier um etwas Persönliches geht.

Henk verschwindet in der Brücke und scheint den Strom eingeschaltet zu haben. Jedenfalls flackert die Bordbeleuchtung kurz auf und geht danach vollständig an. Der alte Bootsmann kommt zurück und betätigt einen Schalter neben der Seilwinde. Mit einem quietschenden Geräusch setzt diese sich in Bewegung und zieht das Netz aus dem Wasser.

Es ist gerade ein paar Zentimeter über der Wasseroberfläche, da können wir sehen, dass sich tatsächlich etwas im Netz verfangen hat. Etwas ziemlich Großes, aber durch die engen Maschen ist nicht gleich zu erkennen, worum es sich handelt.

Die Winde zieht das Netz immer höher. Als es über die Bordwand ragt, greifen Schwennsen und Hintze beherzt zu und zerren das Netz samt Inhalt an Bord. Mit einem dumpfen Schlag fällt es zu Boden. Es dauert einen Moment, bis mein Hirn verarbeitet hat, was meine Augen gerade durch die nun gelockerten Maschen des Schleppnetzes sehen.

Es ist Maik Peters. Er sieht nicht gut aus. Und vor allem ziemlich tot.

4

»Oh, nee, oh, nee, mien arm Jung!« Henk Ahrens hat sich neben Maik Peters gekniet und versucht, den Toten in den Arm zu nehmen, bekommt ihn aber nicht ohne weiteres aus dem Netz gelöst. »Min Jung, min Jung, wat löppt dor af?«, schluchzt er, und ich kann mir mit meinen lückenhaften Kenntnissen des Meckelbörger Platts nur mühsam zusammenreimen, dass sich Henk nicht erklären kann, was hier passiert ist. Janis räuspert sich und tippt Ahrens vorsichtig auf die Schulter.

»Herr Ahrens, ich glaube, Sie sollten Herrn Peters besser so liegen lassen, wie wir ihn gefunden haben.«

Ahrens fährt herum. Seine Augen sind gerötet, dem alten Bootsmann rinnen Tränen die Wangen herunter.

»Wat seggst du dor? Gah mi af!«

»Ähm, wie meinen Sie?« Janis versteht nicht, was Ahrens ihm sagen will. Kein Wunder. Ich verstehe es auch nicht. Der Schock hat offenbar jegliche Hochdeutschkenntnisse aus dem Hirn von Henk Ahrens getilgt.

»Sie sollen ihn in Ruhe lassen«, übersetzt Friedeberg. »Henk kannte Maik schon als kleinen Jungen. Er war für ihn wie ein eigener Sohn«, fügt er dann erklärend hinzu und tut damit zum ersten Mal, seitdem ich ihn gestern kennengelernt habe, etwas uneingeschränkt Sinnvolles. Janis hebt entschuldigend die Hände.

»Ich meine ja nur – wie ein Unfall sieht das nicht gerade aus. Und die Polizei ist bestimmt nicht happy, wenn wir die Leiche jetzt anfassen und da möglicherweise noch aus Versehen irgendwelche Spuren hinterlassen.«

»Da haben Sie recht«, stimmt ihm Friedeberg zu, der bereits die 110 angerufen hat. »Die sind bestimmt gleich da. Haben sie mir jedenfalls gesagt.«

Also stehen wir noch eine Weile an Bord der Fine und betrachten mit einigem Abstand das Netz, in dem Maik Peters liegt. Auch Henk Ahrens ist wieder aufgestanden und lehnt nun an der Seitenwand der Kajüte. Keiner von uns sagt ein Wort, nur Schwennsen und Hintze raunen sich ein paarmal etwas zu. Soweit ich das durch die Maschen beurteilen kann, hat Peters kein Hemd oder T-Shirt an, sondern ist halb nackt. Quer über seine Brust scheint etwas geschrieben zu stehen, und sein Gesicht sieht seltsam aus – irgendwie verzerrt. Doch ich kann es nicht recht erkennen, über seinem Gesicht liegen die Maschen des Netzes doppelt, und so genau möchte ich auch gar nicht hinschauen.

Nach ein paar Minuten sieht man in der Ferne ein Blaulicht aufflackern. Kurz darauf taucht ein Streifenwagen auf und hält neben der Fine. Zwei Polizisten steigen aus, genauer gesagt: eine Polizistin und ein Polizist. Beide noch recht jung, beide offenbar sehr aufgeregt. Jedenfalls stolpert der junge Mann bei dem Versuch, an Bord zu gelangen, über die Querstreben der Gangway und landet fast im Wasser. Nur ein beherzter Griff seiner Kollegin verhindert den unfreiwilligen Kopfsprung ins Hafenbecken. Die Mütze allerdings ist nicht mehr zu retten, sie fällt zwischen Fine und Kaimauer und schwimmt von dort aus zielstrebig Richtung Hafenausfahrt.

»Verdammte Scheiße!«, entfährt es dem Polizisten, und ich muss mich zusammenreißen, um nicht zu kichern, was in Anbetracht der Umstände natürlich mehr als unangemessen wäre. Lustig finde ich es trotzdem, und auch die wackeren Anwärter Schwennsen und Hintze sehen so aus, als könnten sie ein Lachen nur mühsam unterdrücken. Immerhin greift sich Schwennsen den Bootsmannshaken, der an der Reling der Fine befestigt ist, und fischt damit die Mütze wieder aus dem Wasser, als diese den Bug des Kutters passiert. Er schüttelt das Wasser ab und reicht die Mütze mit einem knappen Hier an den Polizisten. Der nickt ihm nur kurz zu. Ja, redselig sind sie nicht gerade, die Vorpommeraner. Eine Tatsache, die für mich als Düsseldorferin immer wieder erstaunlich ist. Wie kann man nur mit so wenigen Worten durch den Tag kommen?

Jetzt allerdings sagt doch mal jemand etwas, nämlich die Polizistin, die sich uns – natürlich ebenfalls mit knappen Worten – vorstellt.

»Guten Morgen, wir sind Polizeimeister Dennis Pawlak und Kerstin Riebesehl. Herr Friedeberg, richtig?«

Friedeberg, der hier stadtbekannt zu sein scheint, nickt.

»Sie hatten den Notruf abgesetzt?«

Friedeberg nickt erneut.

»Jo. Wir haben vorhin Maik Peters aus dem Wasser gefischt. Er liegt in dem Netz da drüben.« Er macht eine Kopfbewegung in Richtung Heck. Die beiden Polizisten gehen hinüber und beugen sich über das Netz. Die Polizistin schlägt die Hände vor den Mund.

»Oh, Gott!«, ruft sie dann, »das ist ja furchtbar! Dennis, ruf die Kripo, schnell!«

»Schnell ist gut«, antwortet ihr Kollege, »die werden schon ’ne Weile brauchen, bis sie hier sind.« Dann deutet er auf das Netz. »Aber dem hier macht Warten ja nichts mehr aus.« Er holt Gummihandschuhe aus seiner Hosentasche, streift sie über und zieht dann das Netz über Peters vorsichtig auseinander. Nun kann ich sehen, was sein Gesicht so seltsam verzerrt: Sein Mund ist mit ungefähr fünf Angelhaken so verschlossen, dass die Lippen leicht übereinander stehen. Die einzelnen Einstichlöcher sind blutunterlaufen, während sein restliches Gesicht kalkweiß ist, die Augen grotesk aufgerissen. Über Peters nackten Oberkörper ist etwas geschmiert. Ich zwinge mich, genauer hinzuschauen – in schwarzer Farbe steht dort in dünnen, krakeligen Großbuchstaben RACHE. Ist das überhaupt Farbe? Nein, es ist offenbar Blut. Die Buchstaben sind nicht geschrieben, sondern in Peters Oberkörper hineingeritzt. Dann merke ich, wie mir flau wird, und wende mich schnell ab.

Der Polizist schließt das Netz wieder und geht von Bord. Ich kann sehen, wie er telefoniert. Seine Kollegin seufzt und wendet sich uns zu.

»Schwere Verbrechen übernimmt der KDD in Anklam, dafür sind wir nicht zuständig. Wir sperren hier nur ab und warten, bis die Kollegen hier sind. Dauert ungefähr eine Dreiviertelstunde. Die Zeit können wir aber sinnvoll nutzen, indem ich schon mal Ihre Personalien aufnehme.«

»Der KDD?«, frage ich nach.

»Der Kriminaldauerdienst. Das ist gewissermaßen die Feuerwehr der Kriminalpolizei, rund um die Uhr besetzt. Die starten hier den ersten Angriff.«

Meinem Gesichtsausdruck sieht man offenbar deutlich an, dass ich bei dem Wort Angriff nicht automatisch an die Polizei, meinen Freund und Helfer, denke. Frau Riebesehl muss grinsen und schiebt eine Erklärung hinterher: »Erster Angriff – so nennen wir das einfach intern. Weil die Kollegen eben auch am Sonntagabend sofort kommen, wenn alle anderen schön zu Hause sind. Der KDD führt hier am Tatort alle erforderlichen Maßnahmen der Spurensicherung durch, die nicht warten können. Flatterband haben wir natürlich selbst im Kofferraum, aber eine komplette Spurensicherung an einem Tatort wie diesem nehmen wir als Schutzpolizisten nicht vor. Da warten wir.«

*

Tatsächlich fährt eine knappe Stunde später ein dunkelblauer Volvo vor und parkt hinter dem Streifenwagen. Eine junge dunkelhaarige Frau mit Pferdeschwanz und ein älterer grauhaariger Mann steigen aus und holen eine große Tasche aus dem Kofferraum des Wagens.

Die Polizistin winkt ihnen zu.

»Hey, Kollegen, wir sind hier auf dem Kutter. An der Seite ist eine Gangway.«

Die beiden drehen sich daraufhin zu uns und erscheinen kurz darauf an Bord.

»Guten Morgen!«, begrüßt uns der Ältere freundlich. »Das ist Hauptkommissarin Lamott, und ich bin Oberkommissar Schwiebert vom KDD. Kerstin Riebesehl, richtig?«

Sie nickt.

»Ja, erinnern Sie sich noch? Ich habe mal ein Praktikum bei Ihnen gemacht.«

»Klar erinnere ich mich daran. Warst damals schon ’ne Gute!«, brummt Schwiebert. Dann schaut er über ihre Schulter. »Was habt ihr denn heute Hübsches für uns?«

»Auf der anderen Seite des Kutters. Maik Peters. Fischer hier aus Zeglin. Sieht übel aus.«

Schwiebert nickt, dann dreht er sich zu mir.

»Und wer sind Sie?«

»Ich bin Franzi Mai, Journalistin. Ich war heute früh mit Herrn Peters für ein Interview verabredet. Der Herr da drüben«, ich drehe mich um und zeige auf Janis, »ist mein Kollege Herr Neubauer.«

»Die Personalien von allen hier am Tatort habe ich schon aufgenommen«, ergänzt Kerstin Riebesehl dienstbeflissen.

»Prima!«, freut sich Schwiebert. »Janine, fängst du an zu videografieren?«

Die Brünette nickt, schultert die Tasche und geht rüber zu Peters’ Leiche. Die ist mittlerweile mit Flatterband von unserer Schiffseite abgetrennt. Lamott hebt es kurz hoch und taucht darunter durch, bevor sie eine Kamera aus der Tasche holt und offenbar beginnt, die Szenerie zu filmen. Dabei spricht sie vor sich hin. Was sie sagt, kann ich allerdings nicht verstehen, und da sie uns den Rücken zudreht, kann ich es auch nicht von ihren Lippen lesen.

Dennis Pawlak kommt zu uns rüber.

»Ist eure KTU schon unterwegs?«, will er wissen.

»Nee, kommt auch nicht«, sagt Schwiebert.

Pawlak reißt die Augen auf.

»Warum nicht?«

»Sagen wir mal so – hier wird gleich das richtig große Besteck aufgefahren. Da haben wir dann nichts mehr zu melden.«

»Hä?«

Gut, dass Pawlak es so direkt sagt, denn auch ich weiß nicht, was Schwiebert damit meint.

»Gibt ’nen Neuen im FK1. Aus Hamburg. Der Chef hat ihn schon angefunkt. Der wird hier also gleich auftauchen. Außerdem hat er darauf bestanden, dass die Kollegen vom FK6 die Spurensicherung übernehmen. Wir sind ihm offenbar nicht gut genug.«

Schwiebert lacht, ich verstehe weiterhin nur Bahnhof. Dann dreht er sich zu mir.

»So, wir sperren jetzt erst mal alles ganz großräumig ab, sonst kriegt der Lorenz noch ’nen Herzinfarkt, wenn er sieht, wie ihr alle auf dem Kahn rumtobt.« Er macht eine Handbewegung Richtung Gangway. »Also, wenn ich bitten darf …«

Nur sehr widerwillig setze ich mich in Bewegung. Mein Journalistennäschen sagt mir, dass es hier gleich noch richtig spannend wird. Janis kommt zu mir.

»Was ist jetzt los? Was passiert als Nächstes?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Scheint ganz so, als gebe es noch ein gewisses Kompetenzgerangel. Oder andersrum: Irgendjemand wird hier gleich auftauchen, der sich offenbar noch nicht ins Herz seiner Kollegen gespielt hat. Wir warten einfach mal ab, würde ich sagen.«

Wir klettern die Gangway runter und setzen uns auf eine der Bänke, die neben dem Schuppen stehen. Ich schaue mich um. Vor den Stegen, an denen ein paar Segelboote und drei kleine Motorboote liegen, führen Holzplanken zum Eingang einer Art Freiluftkneipe. Jemand hat aus Baumstämmen einen Torbogen gezimmert, von dem ein Schild baumelt: Zur Flachen Flunder