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Tatwaffe: Mistgabel Die Freundinnen Anna und Mona auf Wellnessurlaub in der Steiermark: ländliche Idylle, körperliche und geistige Entspannung in der Thermenregion sind angesagt - doch dann entdeckt Anna im Stall des Bauernhofes, in dem sie untergebracht sind, eine Leiche. Der Tote war ein deutscher Urlaubsgast, und auch die Todesursache ist rasch gefunden: Eine Mistgabel steckt in seinem Hals. Für den Gemeindearzt besteht kein Zweifel, dass es sich um einen Unfall handelte, doch der detektivische Spürsinn der Freundinnen ist bereits geweckt: Sie hören sich um und stoßen auf allerlei Ungereimtheiten - bis ein Rückzug unmöglich ist. ***Wie schon ihr Debüt "Der letzte Akt" überzeugt "Der Tote im Stall" durch Tempo, atemberaubende Spannung und glaubwürdige Dialoge, gewürzt mit einer guten Portion trockenem Humor.*** Weitere Krimis von Lisa Lercher: - Der letzte Akt. Kriminalroman - Ausgedient. Kriminalroman - Die Mutprobe. Kriminalroman - Zornige Väter. Kriminalroman - Mord im besten Alter. Kriminalroman
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Seitenzahl: 263
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Lisa Lercher
Kriminalroman
© 2014HAYMON verlagInnsbruck-Wienwww.haymonverlag.at
Überarbeitete E-Book-AusgabeOriginalausgabe: Milena Verlag, Wien 2002
ISBN 978-3-7099-3565-1
Coverbild: www.photocase.com/designritter
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
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Inhalt
„Warum tut sich eine Frau so was an?“
„Was?“ frage ich mit vollem Mund und greife nach der Kaffeetasse, um das trockene Vollkornbrot hinunterzuspülen.
„Diesen Blick, jeden Morgen und das vielleicht 25 oder gar 30 Jahre lang.“
Ich kann ihr noch immer nicht folgen. Meiner besten Freundin, die neben mir am Tisch sitzt. Der Teller vor ihr erinnert an eine Farbpalette. Flaschengrüner Kürbiskernaufstrich, ein paar rote Tomatenscheiben, orange gesprenkelter Liptauer. Statt des Malerkittels trägt sie jedoch eine knallgelbe Vliesjacke. Sie bildet einen hübschen Kontrast zu ihrer rostroten Mähne, die ihr fast bis zum Hintern reicht.
„Was ist jeden Morgen?“ Ich tauche mein Messer in ihren Kürbiskernaufstrich und schlecke es genußvoll ab.
Monas Blick streift mich. „Der alte Knabe da drüben. Stell dir vor, du hast so was geheiratet und mußt dir das griesgrämige Gesicht dann Tag für Tag anschauen.“
Sie hat recht. Er schaut wirklich ziemlich mürrisch drein. Die zusammengewachsenen buschigen Augenbrauen über der markanten Nase verstärken diesen Eindruck. Mit seinen spärlichen weißen Haaren sieht er aus wie ein Ei mit Schimmelpilz. „Meinen Traummann stelle ich mir auch anders vor“, gebe ich zu. „Aber wer weiß, vielleicht ist er der aufmerksamste und fürsorglichste Ehemann und denkt gerade darüber nach, was er seiner Frau zum Geburtstag schenken soll.“
„Oder er überlegt, ob er das Abführmittel nun nehmen soll oder doch nicht“, springt Mona hilfreich ein. Meine beste Freundin aus längst vergangenen Schulzeiten hat ihre Wahl getroffen. Der einsame Urlaubsgast am anderen Ende des Frühstückszimmers muß als Vertreter der Männlichkeit heute Buße tun.
Er läßt sich jedoch nicht in seiner Abwesenheit stören. Sein Blick scheint sich an einer alten Fotografie an der Wand gegenüber festzuhalten, aber ich glaube nicht, daß er sie wirklich wahrnimmt. Schließlich senkt er den Kopf und zieht die kleinformatige Tageszeitung näher zu sich heran. Er vertieft sich in die ersten Seiten, wahrscheinlich die Innenpolitik.
„Schau, wie er die Schultern hängen läßt“, versuche ich Monas Mitgefühl zu wecken.
„Wahrscheinlich Trauerweide im Baumhoroskop“, kontert sie. „Außerdem ist er sowieso nicht unsere Altersklasse.“
„Beruhigend.“ Ich schenke mir Kaffee nach. „Warum bist du eigentlich so aggressiv? Wir haben Urlaub, es geht uns gut, und wir haben eine tolle Woche vor uns.“
„Ich bin weder aggressiv noch schlecht gelaunt, nur in einer klassischen Singlekrise.“
„Und wie läßt sich die beheben?“ frage ich interessiert.
„Mit lockenden Angeboten und ein bißchen Action.“
„Ich dachte, wir wollen uns hier erholen.“ Das haben wir zumindest ausgemacht, denn ich brauche dringend etwas Ruhe und Frieden, um die letzten Reste meiner Blessuren auszuheilen.
„Erholung und ein Happen Frischfleisch sind ja an sich kein Widerspruch, oder?“ Mona grinst zweideutig. „Schließlich kannst du an Thomas denken, wenn du Sehnsucht nach einem Mann hast.“
Thomas. Gerade habe ich einmal nicht an ihn gedacht, und jetzt muß sie mich wieder an ihn erinnern. „Von dem will ich mich auch erholen“, schnappe ich unwirsch.
„Warum?“ fragt Mona unschuldig.
„Darum.“
„Guten Morgen die Damen. Ist das Frühstück in Ordnung?“ Die Chefin des Hauses unterbricht unsere Debatte. Sie wirkt überarbeitet. Auch die adrette Trachtenuniform kann nicht darüber hinwegtäuschen. Wir nicken pflichtschuldig. Ihr rechter Mundwinkel zuckt. Ob sie vom Lächeln bereits Krämpfe kriegt? frage ich mich.
„Schon Pläne für den Tag gemacht? Wahrscheinlich wollen Sie in die Therme. Aber bei dem strahlenden Sonnenschein sollten Sie sich auch die Umgebung ein bißchen anschauen. Wir haben wunderbare Wanderwege. Übrigens, haben Sie den Meldezettel schon ausgefüllt?“
„Nein, noch nicht.“
„Dann darf ich Ihnen das gleich geben. Der Abschnitt hier ist für Sie, der Thermenpaß. Damit ist der Eintritt etwas billiger“, klärt sie uns auf.
Wir bedanken uns. Sie wendet sich an die Gäste am Nebentisch, um sie mit ihrer Aufmerksamkeit zu beglücken. Das gehört offenbar zum Service. Von hinten wirkt sie um zwanzig Jahre jünger. Diese Biokost ist ein Wundermittel für die Figur. Ob die schwarzen Locken echt sind?
„Sicher Biofarbe“, flüstert Mona, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Nur die Biogesichtscreme läßt ein paar Wünsche offen.“
„Die nach Falten sicher nicht“, spotte ich.
„Nicht so charmant, liebste Freundin.“
„Apropos. Unser einsamer Griesgram hat inzwischen auch das Weite gesucht.“ Sein Abgang ist uns glatt entgangen.
„Schade. Zu dem wäre uns sicher noch einiges eingefallen.“ Mona schiebt den letzten Löffel ihres rechtsdrehenden Joghurts in den Mund. „Und was machen wir jetzt?“
„Für die Bauerndisco ist es wohl noch zu früh. Mit deinem Hunger auf Frischfleisch mußt du also noch warten.“
„Kein Problem. Fangen wir also mit dem Aufhübschen an. Eine Runde Sauna, eine sanfte Massage und prickelndes Thermenwasser?“
„Hört sich gut an“, antworte ich zufrieden. Also doch ein Urlaub nach meinem Geschmack.
Mona kramt in ihrem Koffer nach den Badeutensilien und packt sie in eine transparente Plastiktasche. Wo sie bloß immer diesen Kitsch auftreibt? Ich öffne das Fenster. Mona verschwindet im Badezimmer. Die Luft draußen ist kühl und klar. In den Geruch nach frischer Erde und Frühling mischt sich ein Hauch von Kuhstall, Heu und Kaffee. Ein Feldweg führt zu einem Wäldchen. Die Grünschattierungen lassen vermuten, daß die Laubbäume bereits die ersten Blätter austreiben.
„Ich hab' es dir schon tausend Mal erklärt. Es rentiert sich nicht“, höre ich plötzlich eine aufgebrachte Stimme.
„Das stimmt nicht. Sieh dir doch mal die Berechnungen an. Alle würden profitieren. Und wenn du so weiter machst, verspreche ich dir, daß du Schwierigkeiten bekommen wirst.“ Die Entgegnung klingt nicht minder heftig. Interessiert beuge ich mich vor. Um die Ecke schauen kann ich dennoch nicht.
„Droh mir nicht. Laß mich in Ruhe und scher dich gefälligst um deinen eigenen Dreck.“ Das war deutlich, denke ich. Ich spüre die Spannung, obwohl ich nicht die geringste Ahnung habe, worum es in dem Streit geht. Neugierig warte ich, ob das Klatschen von Schlägen zu hören ist.
„Fertig.“ Mona zieht die Badezimmertür energisch ins Schloß. Ich lege meinen Zeigefinger an die Lippen und winke sie zum Fenster.
„Was ist?“ flüstert sie.
Ich deute nach unten. „Da streiten sich zwei.“
Mona beugt sich aus dem Fenster. Außer dem Muhen einer Kuh ist nichts zu hören. „Ich hör' nichts“, sagt sie enttäuscht. „Wahrscheinlich haben sie sich inzwischen geeinigt.“
Unten ist wirklich Ruhe eingekehrt.
„Was ist? Warum schaust du so?“ fragt sie.
„Das hat sich so aggressiv angehört.“
„Geh, das sind nur deine Nerven. Kein Wunder, nach dieser Geschichte. Es ist ja noch keine vier Wochen her. Einen Mord aufklären und sich in Lebensgefahr begeben, da braucht frau halt ein bisserl Zeit, um das zu verdauen.“
„Ich weiß. Deswegen haben wir uns auch diese ländliche Idylle für unseren Kurzurlaub ausgesucht, einen Ort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen“, antworte ich.
„Wirst schon sehen, nach dieser Woche fühlst du dich wie neu geboren, ganze Alleen wirst du ausreißen“, meint sie aufmunternd.
Ich seufze. Wie macht sie das? Der Mord an der Schauspielerin war doch auch für sie nicht ohne. Ich bin immer noch ganz erledigt von den Aufregungen, ganz zu schweigen von den Prellungen, die ich mir dabei geholt habe. Und jetzt sind wir gerade eine Nacht hier, und sie sprüht schon wieder vor lauter Unternehmungsgeist. Aber im Grunde hat sie recht. Meine Nerven sind eindeutig überreizt. Ich gebe mir einen Ruck und lege den Riegel des Doppelflügelfensters um. Dann schlüpfe ich in meinen Anorak.
„Guten Morgen.“ Der freundliche Gruß gilt uns. Das muß die Tochter des Hauses sein. Welcher Teenager würde wohl sonst so freundlich grüßen? Mit ihrer rabenschwarzen Mähne und dem Flinserl in der Nase sieht die Kleine gar nicht nach Bauerntochter aus. Sicher hat sie irgendwo auch ein Tattoo. Einen Wolf mit gefletschten Zähnen am Oberarm? Die Klischees sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren.
„Jacqueline!“ Die Chefin steht in der Küchentür. Ihr müder Gesichtsausdruck wechselt zu einem geschäftstüchtigen Lächeln, als sie uns bemerkt.
„Sag dem Papa, daß wir noch Milch brauchen.“
Die Kleine nickt. „Okay. Aber dann geh' ich.“
Die Mutter antwortet nicht. Sie zieht die Küchentür hinter sich zu.
„Eine Menge Arbeit, was?“ frage ich, nachdem uns die Kleine immer noch neugierig beäugt.
„Geht so.“
Offenbar reicht es ihr, uns anzuschauen. Ich würde gern etwas Nettes sagen, mir fällt aber nichts ein. Soll ich sie nach den Back Street Boys fragen? Sind die überhaupt noch in? Ich verwerfe die plötzliche Eingebung.
„Bis später.“ Mona nickt dem Mädchen zu und stapft durch die matschige Wiese zu ihrem verrosteten Polo.
„Landluft“, stelle ich fest. Der Geruch nach Heu, warmer Stalluft und Kuhmist ist inzwischen stärker geworden.
Mona rümpft die Nase. „Das ist hoffentlich im Preis inbegriffen.“
„Sicher. Und Glück haben wir außerdem. Kühe riechen deutlich besser als Schweine.“
Mona grinst. Sie summt einen bekannten Hit der „Ärzte“. Dann öffnet sie die Beifahrertür. „Der Auspuff gehört dringend repariert“, kommentiert sie den geräuschvollen Start. Ein paar Hühner suchen erschrocken das Weite.
Wohlig räkle ich mich auf der Plastikliege. Der vierte Aufguß. Was für ein Genuß. Meine Haut prickelt immer noch. Träge öffne ich die Augen und schaue dem Treiben im Schwimmbecken zu. Direkt gegenüber schmust ein Pärchen hingebungsvoll. Er streichelt zärtlich über ihren Rücken. Sie kuschelt sich noch tiefer in seinen Arm. Thomas' Gesicht taucht vor mir auf. Ich kann fast spüren, wie er mich im Arm hält. Eine junge Frau schiebt sich in mein Blickfeld. Sie läßt sich vom Wasser tragen. Ich will mich jetzt nicht fallenlassen.
Mona hat sich in eine Zeitschrift vertieft. Sie runzelt die Stirn. „Der wievielte war das jetzt?“ fragt sie, ohne aufzuschauen. Ihre Frage reißt mich aus den Gedanken.
„Der vierte“, antworte ich schließlich.
„Ganz schön heftig. Vier Aufgüsse. Dein Kreislauf hält anscheinend ordentlich was aus. Wie wär's mit etwas Brennstoff zum Nachlegen? Ich kriege nämlich langsam Hunger.“
Mein Magen reagiert sofort auf ihre Anfrage. „Ich bin dabei.“
Wir wickeln uns in unsere Frotteebademäntel und machen uns auf den Weg Richtung Selbstbedienungsrestaurant.
Wir ergattern einen Ecktisch. Das Lokal ist ziemlich voll, der Lärmpegel beträchtlich. Ich stelle meine Salatschüssel mit Kernöl und Sonnenblumenkernen auf den Tisch. Dazu gibt's Dinkelbrot und ionisiertes Quellwasser. Wenn schon Wellness-Woche, dann ordentlich. Mona denkt da wohl nicht viel anders. Sie beißt von ihrem Sojaburger mit Lauchdressing ab und trinkt Kombucha nach. „Wußte gar nicht, daß du jetzt total auf Bio bist. Hat Thomas da noch ein bißchen nachgeholfen?“
„Du kannst es wohl nicht lassen. Ich mache hier Ferien und will mich erholen. Auch von Thomas.“
„Das kann ich verstehen. Ich habe nur das Gefühl, daß er dir ständig im Kopf herumgeht.“
„Eben dagegen kämpfe ich ja an. Nur wird es nicht besser, wenn du mich dauernd an ihn erinnerst.“
Mona verzieht gekränkt das Gesicht. Doch so schnell gibt sie nicht auf. „Du stehst doch auf ihn, oder?“
„Wenn das so einfach wäre“, seufze ich. „Er weiß immer genau, was er will. Da bin ich ganz anders. Außerdem ist er mein Kollege. Und sich mit jemandem von der Arbeit was anzufangen, ich weiß nicht ...“
„Für mich hört sich das eher nach Panik vor einer Entscheidung an.“
Ein leichtes Ziehen in der Herzgegend sagt mir, daß Mona wieder einmal ins Schwarze getroffen hat. „Entscheidung? Da sind wir noch meilenweit davon entfernt“, entgegne ich vage.
„Ach komm, mach dir doch nichts vor. Allein wie er dich anschaut. Also für mich gibt es da keinen Zweifel. Und falls es dich beruhigt, nicht alle Beziehungen enden so wie die Ehe deiner Eltern.“
Ich sehe meinen Vater vor mir, wie er einen Topf mit Nudeln gegen die Wand knallt. Lautes Kinderlachen läßt mich aufschauen. Zwei Tische weiter balgen sich zwei kleine Buben um die letzten Pommes auf ihrem Teller. „Wollt ihr noch welche?“ mischt sich eine Männerstimme in die Auseinandersetzung. Die Stimme kommt mir bekannt vor. Auch der dazugehörige Mann ist mir nicht fremd, stelle ich nach einem zweiten Blick fest. Zwar hat er sich über die Jahre ein bißchen verändert, das energische Kinn ist aber dasselbe geblieben. Eigentlich sieht er jetzt sogar besser aus als früher. Ich merke, wie meine Hände feucht werden. „Was ist los?“
„Psst. Nicht so laut. Da drüben sitzt Heinz.“
„Heinz? Welcher Heinz?“
„Der Ex-Freund einer ehemaligen Studienkollegin.“
„Der?“ fragt Mona überrascht und nicht gerade leise.
Ich lege meinen Finger auf den Mund. „Schrei doch nicht so. Es muß ja nicht gleich das ganze Lokal Bescheid wissen“, zische ich.
Monas Augen blitzen. „Der Heinz? Der Statistikfreak, in den du verknallt warst, als ich in Amerika war?“ Ihre Lautstärke hat sie nur geringfügig gedrosselt.
Nervös schaue ich zu dem Mann mit den beiden Buben hin. Die haben glücklicherweise nichts bemerkt. „Genau der“, bestätige ich schließlich.
„Wo? Der mit dem Bart da vorne?“
„Nein. Zwei Tische hinter mir, der Blonde mit den zwei kleinen Buben. Nicht ...“
Zu spät, Mona hat es schon getan. Ungeniert hat sie sich zur Seite gebeugt. Sie kneift die Augen zusammen, um besser zu sehen. Ihre Brille trägt sie nur beim Autofahren oder wenn sie länger am Computer sitzt. Sie mustert die Familienidylle. „Nicht schlecht. Nun lerne ich den Typen nach all den Jahren doch noch kennen.“
Ich habe Mona viel von Heinz erzählt. Damals, als ich in ihn verliebt war, und wir haben auch ausführlich besprochen, warum ich nicht bei ihm landen konnte. Die Hauptschuld haben wir natürlich seiner Freundin gegeben. Warum mußte die sich auch so an ihn klammern? Dabei haben sie sich ein halbes Jahr später getrennt. Nur für mich war es da schon zu spät, weil ich gerade Bernd getroffen hatte, meine einzige Langzeitbeziehung, die inzwischen auch schon wieder Schnee von gestern ist.
„Was heißt kennenlernen? Ich habe nicht vor, ihn in seinem Vaterglück zu stören.“
„Natürlich tust du das. Sag hallo und schau dir an, was du verpaßt hast. Das ist die Gelegenheit, verstaubte Wunschtraumreste loszuwerden.“
„Ich kann nicht“, wehre ich ab. Ich habe wirklich nicht die geringste Lust, alte Gefühle aufzurühren.
Mona lacht. „Und das aus dem Mund einer Frau, die Mörder zur Strecke bringt.“ Sie gibt mir einen Schubs. „Na los doch. Und vergiß nicht, ihn mir vorzustellen.“
„Du siehst ja, wie ich ausschaue.“
„Wie eine Frau, die sich in der Therme erholt.“ Mona streicht mir eine Haarsträhne hinter die Ohren. „Er hat sicher auch schrumpelige Zehen vom Baden.“
Als ob das mein Problem wäre, stöhne ich innerlich und stehe widerstrebend auf.
„Aber den Mund solltest du dir vielleicht noch abwischen.“ Mona hält mir ihre Serviette hin.
„Wieso?“ frage ich, aus dem Konzept gebracht.
„Weil er sonst glaubt, du kommst vom Mars. Mit diesen Kernölspuren im Gesicht“, fügt sie hinzu, als sie meine Verständnislosigkeit bemerkt.
„Hallo Heinz.“ Es dauert einen Moment, bis sich das Wiedererkennen auf seinem Gesicht spiegelt.
„Na so was. Anna. Das ist aber eine Überraschung. Was machst du denn hier?“
Socken stricken, will ich mit bewährtem Sarkasmus antworten. Was werde ich wohl in einer Therme tun? Ich reiße mich zusammen. „Kleiner Kurzurlaub. Ein bißchen Erholung.“
„Ich freu mich wirklich, dich wiederzusehen.“ Ein strahlendes Lächeln breitet sich über sein ganzes Gesicht aus. Bis hinauf zu den meergrünen Augen. Diesen Blick habe ich fast schon vergessen gehabt. „Willst du dich nicht zu uns setzen?“
Ich zögere. Die Buben schauen mich neugierig an.
„Deine Kinder?“
„Nur er. Heinz Junior.“ Er deutet auf einen der beiden Buben. „Das ist Mario.“ Heinz Junior stößt seinen Freund mit dem Ellenbogen an. Mario kichert verlegen.
„Hallo. Ich bin Anna.“ Kinder mögen es, wenn man sie wie Erwachsene behandelt. Vor allem Achtjährige. So alt schätze ich die Buben.
„Bist du mit Familie hier?“
„Mit einer Freundin. Sie sitzt da hinten.“
Heinz dreht sich um und nickt Mona zu, die uns winkt. „Verstehe. Die Frauen nehmen Auszeit vom Familienstreß.“
Er will es also genauer wissen. „Keine Ehe, keine Kinder, keine familiären Verpflichtungen“, scherze ich. Sein fein geschnittenes Gesicht hat sich über die Jahre kaum verändert. Nur die Längsfalten um die Mundwinkel sind ein wenig ausgeprägter.
„Dafür jede Menge Liebhaber“, grinst er. Die Buben kichern erneut.
Ich beschließe, die Antwort darauf seiner Phantasie zu überlassen.
„Bist du länger hier?“ wechselt Heinz das Thema. Sogar das Muttermal auf seiner rechten Wange ist noch da. Wo sollte es auch hingekommen sein? Muttermale verschwinden ja nicht so einfach, weise ich mich zurecht, um den Anfall von Sentimentalität abzustoppen. „Eine Woche.“
„Und wo wohnst du?“
„Dürfen wir ein Eis?“ unterbricht Heinz Junior das Gespräch. Der Bub sieht ihm nicht besonders ähnlich. Aber das liegt wahrscheinlich hauptsächlich an den dunklen Haaren. Auch die meergrünen Augen hat er nicht geerbt. Heinz greift nach seiner Brieftasche und zieht einen Geldschein heraus. „Gut. Aber das restliche Geld will ich wiedersehen. Nicht daß ihr euch irgendwelchen Blödsinn kauft“, sagt er streng. Er legt die Brieftasche zur Seite und schaut mich abwartend an. Die Buben verlieren keine Zeit und stürmen davon.
„Beim Joglbauern“, beantworte ich die Frage von vorhin.
„Biobauernhof, Wellnesstadel und Körndlfutter“, faßt er zusammen und lacht. Was ist daran witzig?
„Du kennst den Bauern?“
„Wer nicht? Schließlich war er einer der ersten, der den Zeitgeist richtig erkannt hat und auf die Biowelle aufgesprungen ist. Und er hat eine tüchtige Frau, die ihm sehr geholfen hat, und so haben sie ihren Weg gemacht.“
Ich nicke. Über wirtschaftliche Erfolge und Wellnesswellen will ich mich eigentlich nicht unterhalten.
„Und du? Lebst du hier mit der Familie?“ Eigenheim und Danküche passen gar nicht zu dem Heinz, an den ich mich erinnere.
„Ja, im Nachbarort. Ich hab' mir nach der Scheidung dort eine kleine Wohnung genommen und verbringe jedes zweite Wochenende mit dem Buben.“ Ein Schatten huscht über sein Gesicht. Er verschränkt die Finger ineinander und betrachtet sie, als würde er sie eben zum ersten Mal sehen.
Geschieden also. Nicht die einfachsten Männer, verletzte Eitelkeit, Sinnkrisen und sonstige Schwierigkeiten. Mona kann ein Lied davon singen. Halt, bremse ich mich. Das ist doch gar nicht mein Problem. Heinz ist der Ex-Freund einer ehemaligen Studienkollegin, und wir reden hier nur über die guten alten Zeiten. Zugegeben, ich war einmal in ihn verschossen. Aber das ist lange her.
„Ich muß dann gleich weg“, sagt er nach einem Blick auf die Uhr. „Meine Ex hat Karten für das Fußballspiel am Nachmittag. Eigentlich wollte ich ja mit ihm hin. Aber solche Sachen läßt sie sich nicht nehmen.“ Er klingt bitter. Also bin ich mit meiner Vermutung über verletzte Scheidungsmänner nicht ganz daneben gelegen. Rivalitäten um das Kind, ganz schön mühsam. Im stillen gratuliere ich mir zu meiner Kinderlosigkeit.
Die Buben kommen zurück an den Tisch. Beide schlecken an einem riesigen Eis. Den Farben nach zu urteilen: Schokolade und Vanille.
„Beeilt euch ein bißchen mit eurem Eis. Wir müssen dann ins Stadion“, kommandiert Heinz, nachdem er das Wechselgeld eingesteckt hat. Ganz autoritärer Vater, registriere ich und versuche, meine zuckenden Mundwinkel ruhig zu stellen.
„Ivica Vastic ist auch dabei.“ Heinz Junior glüht fast vor Begeisterung.
„Du bist Sturm-Fan?“ Ich bemühe mich um einen informierten Ton. In Wirklichkeit interessiert mich Fußball weniger als ... Mir fällt kein passender Vergleich ein.
Der Kleine nickt heftig.
„Wußte gar nicht, daß du dich für Fußball interessierst.“
„Tu ich auch nicht. Ein Zufallstreffer.“ Wenigstens ehrlich will ich sein. Ob er sich noch an unsere Diskussionen über Männer erinnert, denen ihre Fußballspiele wichtiger als die Probleme der Freundinnen waren?
Heinz lacht. „Hätte mich auch gewundert. Gerade du, wo du immer über die Spieler gelästert hast, die alle einem Ball nachrennen, obwohl sich jeder seinen eigenen leisten könnte.“
„Was du noch alles weißt.“ Ich bemerke einige graue Haare an seiner Schläfe. Also sind die Jahre doch nicht so ganz spurlos an ihm vorübergegangen. Ob er das wohl auch über mich denkt?
„Ich würde dich gerne wiedersehen“, sagt er unvermittelt.
Ich zucke zusammen. Damit habe ich nicht gerechnet.
„Die alten Zeiten aufwärmen und so“, fügt er hinzu, als hätte er meine Unsicherheit bemerkt.
Ich suche nach einer Ausflucht. Mein Mund ist schneller. „Okay.“ Aber wenn ich ganz ehrlich bin - ich möchte ihn auch gerne wiedersehen.
„Im Twilight? Heute abend? Gegen neun?“ fixiert er unsere Verabredung.
„Die örtliche Bauerndisco?“
„Nur nicht so spöttisch Frau Posch“, weist mich Heinz zurecht. „Unsere Lasershow kann es mit denen in Wien allemal aufnehmen.“
Ich ziehe den Gürtel meines Bademantels enger, bevor ich aufstehe. „Gut, dann sehen wir uns also“, sage ich abschließend.
„Ich freue mich.“ Heinz lächelt und winkt mir nach, als ich zu Mona zurück an den Tisch gehe.
Mona flirtet gerade mit einem braungebrannten Jüngling Marke Schilehrer, der ein paar Meter entfernt an der Theke steht. „Dich kann man auch keine zwei Minuten alleine lassen“, tadle ich scherzend und setze mich auf meinen Platz ihr gegenüber.
Widerstrebend läßt sie sich beim Lächeln Richtung Theke unterbrechen. „Deine Schuld. Hättest du mir Heinz vorgestellt, dann wäre mir dieser knackige Hintern wahrscheinlich gar nicht aufgefallen.“
„Und der Mann der dranhängt?“
„Tja. Ist nicht übel. Und was ist mit Heinz? Hast du ihn mit deinen zynischen Kommentaren verschreckt?“
Nachdem wir uns seit mehr als zwanzig Jahren kennen, ist ihre Frage berechtigt. Diesmal bin ich mir allerdings keiner Schuld bewußt. „Ich doch nicht. Ich habe sogar ein Date mit ihm. Heute Abend im Twilight. Da kannst du ihn dann auch kennenlernen.“
Mona klatscht begeistert in die Hände. Was sie wohl mit ihrer Spontaneität im Job tut? Als Journalistin muß frau doch nüchtern bleiben, auch wenn die Emotionen hochgehen. „Gratuliere“, sagt sie und schürzt dann die Lippen. Das soll wohl ein Schmollen darstellen, überlege ich. „Das Leben ist einfach ungerecht. Was machst du mit zwei Männern?“
„Wieso zwei?“
„Heinz“, sagt Mona und hält einen Finger hoch, „und Thomas.“ Ihr Mittelfinger leistet dem Zeigefinger Gesellschaft.
„Du machst es also schon wieder.“ Ich versuche, genervt zu klingen, was mir nicht so ganz gelingt. Allzu ernst kann ich ihre Bemerkung nicht nehmen. Schließlich leidet sie schon länger unter massiven Entzugserscheinungen. „Thomas ist kein Thema, und Heinz gilt nicht.“
„Wieso gilt er nicht?“
„Weil da nie was war und auch nichts sein wird“, erwidere ich bestimmt und sehr überzeugt.
„Jaja, und ich heiße Daphne“, spottet sie.
Ich hebe abwehrend beide Hände. Eine Geste, die signalisieren soll, daß ich nun wirklich genug von dem Thema habe.
„Tschuldige“, murmelt Mona. „Ich hab es nicht so gemeint.“
Ich nicke. Die Salatblätter sind inzwischen etwas welk geworden. Das Kernöl hat sich bis zum Kartoffelsalat vorgewagt. Ich spieße eine Karottenscheibe auf die Gabel. Mein Appetit hat sich verflüchtigt.
„Ich hole mir einen Kuchen. Willst du auch einen?“ unterbricht Mona das einträchtige Schweigen.
„Danke nein. Aber ein Kaffee wäre fein.“
„Klein, schwarz und stark?“
„Perfekt“, bestätige ich und schiebe den Salat leicht angewidert von mir.
Mona macht sich in Richtung Theke auf. Sogar in pinkfarbenen Plastikschlapfen sieht sie noch gut aus, bemerke ich anerkennend. Sie stellt sich neben das Muskelpaket, das ihr wenig später seine volle Aufmerksamkeit schenkt. Ein Discoabend zu viert, sinniere ich. Und das am ersten Urlaubstag.
Heinz winkt, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er sitzt an der Bar. Meine Augen müssen sich erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Glücklicherweise ist es nicht sehr verraucht. Er klettert vom Barhocker, kommt auf uns zu. Die schwarzen Jeans stehen ihm gut. Kein Wunder bei der Figur. Ob er noch immer so viel Sport betreibt? Er schüttelt die Hand, die ich ihm entgegenstrecke, dann küßt er mich schüchtern auf die Wange. „Schön, daß du gekommen bist. Gut siehst du aus.“
Ich freue mich über das Kompliment. „Das ist Mona, meine Freundin. Mona, das ist Heinz. Wir kennen uns von der Uni“, stelle ich die beiden einander vor.
„Hi. Ich hab schon von dir gehört. Damals“, fügt er hinzu, als er Monas überraschten Gesichtsausdruck bemerkt. Er schüttelt ihre Hand. Das Küssen läßt er.
„Sicher nur Erfreuliches.“ Mona kann das Kokettieren nicht lassen. Nicht einmal jetzt, wo sie doch gespannt auf ihre Verabredung warten sollte.
„Selbstverständlich. Wie könnte es anders sein“, antwortet er charmant und lächelt ihr zu. Einen Moment lang komme ich mir überflüssig vor. Heinz nimmt mich am Arm. „Komm“, fordert er mich auf und lotst uns zur Bar.
Wir bestellen unsere Drinks. Ich setze auf den Hauswein, weil das in dieser Region erfahrungsgemäß kein Fehler ist. Der erste Schluck gibt mir recht. Das Lokal füllt sich nach und nach.
„Wenn wir noch einen Tisch wollen, müssen wir uns langsam darum kümmern.“ Heinz hat die Initiative ergriffen. Er nimmt seinen Whisky Soda und steuert einen Ecktisch an. Ich setze mich auf die gepolsterte Eckbank und stelle mein Weinglas auf den lackierten Holztisch. Mona setzt sich neben mich. Sie behält die Eingangstür im Auge.
„Und, wie gefällt es euch hier?“ Heinz bemüht sich, eine Unterhaltung in Gang zu bringen.
„Was, die Disco?“
Heinz nickt. „Du kannst mir auch vom Urlaub erzählen oder von deinem Leben, wenn dir das lieber ist.“ Er wirft einen Seitenblick auf Mona. Sie achtet nicht auf uns.
Ich lache. Er hat noch nie große Umwege gemacht. „Mein Leben? Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich habe mich in Wien häuslich niedergelassen. Eine Wohnung gekauft und so. Nach dem Job beim Frauennotruf habe ich zur Stadt Wien gewechselt, zu einem Servicetelefon. Da arbeite ich immer noch und mache Telefonberatungen. Überwiegend zu Gewaltthemen, aber auch bei anderen Problemen, die Menschen halt so haben.“ Abwartend lehne ich mich zurück.
„Ihr entschuldigt mich kurz. Mein Date ist eben gekommen.“ Mona springt auf und verschwindet zwischen den Paaren, die sich nun auf der Tanzfläche tummeln.
„Und du?“
„Leitender Angestellter in der Raiffeisenzweigstelle. Nicht besonders spannend, ich weiß.“ Die Musik ist lauter geworden. Heinz rückt seinen Sessel näher an die Bank. „Und sonst?“ fragt er und schaut mir dabei tief in die Augen.
„Was - sonst?“ Ich versuche, mir meine aufkommende Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Daß mich der Typ nach all den Jahren immer noch ins Schleudern bringt, ist echt erstaunlich.
„Na, die inoffizielle Version deiner Biographie.“
„Du meinst heimliche Liebschaften, verborgene Sehnsüchte und unerfüllte Lebensträume?“
„So in etwa.“
„Du zuerst“, versuche ich abzulenken.
Er lacht.
Ich mag diese Falten um die Mundwinkel.
„Mir geht es gut. Ich bin dabei, mir ein neues Leben aufzubauen. Das nachzuholen, was ich versäumt habe.“
„Versäumt?“
„Genau. Familie und Eigenheim bedeuten schließlich Verantwortung.“ Er redet gerade so, als ob Singles keine Verpflichtungen hätten.
„Jetzt bin ich wieder frei und kann mich voll und ganz meinen eigenen Interessen widmen.“ Wäre da nicht dieser eigenartige Unterton, würde ich ihm diese Zufriedenheit glatt abnehmen.
„Jetzt du“, fordert er mich mit einer ermunternden Handbewegung auf.
„Seit dem Nachmittag hat sich nichts geändert“, antworte ich und zwinkere, um dem kurzen Satz die Schroffheit zu nehmen.
„Und warum lebst du alleine?“
„Je älter frau wird, desto kritischer wird sie. Das hat Vor- und Nachteile.“ Ich zucke die Schultern. Jetzt bloß kein Gespräch über den Sinn des Lebens, bete ich leise. Dazu bin ich momentan wahrlich nicht in der Verfassung.
„Wieso das?“ Heinz sieht mich aufmerksam an.
„Ich habe ein Leben. Ich habe Sicherheiten, und ich bin nicht mehr 20, wo frau sich ohne lange nachzudenken in Abenteuer stürzt.“
„Verstehe. Hast du schon ein Altersheim ausgesucht?“
Verdutzt starre ich ihn an. Es dauert einen Moment, bis ich verstehe. Sein Sarkasmus war mir immer schon sympathisch. Mitunter hat er den scheinbar unüberwindbaren Problemen die richtige Dimension verliehen. Wir lachen beide. Er greift nach meiner Hand. Bevor ich mir über die Gefühle, die diese Berührung in mir auslöst, klar werden kann, steht er auf. „Komm, laß uns eine Runde tanzen. Das ist schließlich eine Disco.“
Wir tanzen offen. Ich versuche, mich in den Rhythmus der Popnummer fallen zu lassen. Es gelingt mir nur schwer. Die Lichtorgel läßt bunte Kreise über Heinz' Hemd wandern. Die Lederjacke hat er ausgezogen und über die Sessellehne gehängt. Ich spüre, daß er mich anschaut, aber ich will seinen Blick jetzt nicht erwidern.
„Wo ist Mona?“ schreie ich ihm ins Ohr. „Siehst du sie irgendwo?“
Suchend schaut er sich um. „Nein. Aber ich bin mir sicher, daß es ihr gut geht und sie sich amüsiert.“ Wahrscheinlich hat er recht. Außerdem, was will ich mit einer Mona, die sich von einem Muskelpaket anhimmeln läßt. Und wer weiß, was sie sonst noch für Absichten hat?
Der DJ legt eine von diesen Schmusenummern auf. Streichelweich, für frisch Verliebte. „Gehen wir an unseren Tisch zurück?“ Anstelle einer Antwort faßt mich Heinz um die Mitte und zieht mich sanft zu sich heran. Ich rieche sein Aftershave und fühle mich sofort geborgen. Woran erinnert mich dieser Geruch? Keine Ahnung. Aber was soll's. Warum nicht einfach nur dieses Gefühl genießen? Heinz legt seinen Mund an mein Ohr und küßt es. Seine Lippen wandern langsam meinen Hals entlang. Mir wird warm. Ein leichtes Kribbeln zieht sich von den Zehenspitzen bis zu den Haarwurzeln. Er drückt mich noch enger an sich. Seine Finger streicheln meinen Rücken. Himmel, bloß nicht aufhören.
„Anna“, stöhnt er leise, dann haben seine Lippen meinen Mund gefunden. Ich versinke in diesem Kuß. Mir ist jetzt alles egal. Er schmeckt vertraut. Genau so habe ich es mir damals vorgestellt.
Ich weiß nicht, wie lange wir uns schon küssen. Ein Ziehen an meinem Ärmel holt mich von Wolke sieben.
Es ist Mona. „Entschuldige, wenn ich euch störe. Anna, kann ich kurz mit dir reden?“
Noch ganz benommen wanke ich hinter ihr drein in Richtung Damenklo. Eine Gruppe junger Mädchen drängt sich vor den Spiegeln, um die Farben aufzufrischen. Eine Frau in unserem Alter bearbeitet ihre blonden Dauerwellen mit einer großen Bürste. Wir suchen uns eine ruhige Ecke, was bei dem Ansturm nicht gerade einfach ist.
„Dir geht's offenbar gut“, grinst Mona.
„Kann nicht klagen. Und dir?“
„Dieser Alex ist auch nicht ohne. Das Muskelpaket, du weißt schon“, fügt sie erklärend hinzu.
„Freut mich“, sage ich und meine es auch.
„Er hat mich zu sich nach Hause eingeladen, und ich würde das Angebot gerne annehmen.“
„Meinen Segen hast du - und die Gummis hat hoffentlich er.“
Mona zieht ein kleines Päckchen aus ihrer roten Lederhose. „Selbst ist die Frau. Spätestens jetzt, im dritten Jahrtausend. Aber eigentlich wollte ich nur wissen, ob ich dich mit Heinz alleine lassen kann?“
„Dein Beitrag zur Kommunikation war ohnehin nicht überwältigend, also werden wir die restliche Zeit auch ohne dich zurecht kommen.“
„Mach nur keine Dummheiten.“ Mona umarmt mich fest und drückt mir einen Schmatz auf die Wange. „Aber laß dich in jedem Fall verwöhnen.“ Sie winkt mir zu und schiebt sich an den Wartenden vorbei wieder Richtung Tanzfläche.
Ich reihe mich in die Schlange vor den Klokabinen ein, überlege es mir dann aber doch anders.
Mein Gesicht im Spiegel strahlt. Würde ich mich nicht besser kennen, könnte ich behaupten, daß es mir blendend geht. Warum habe ich mein Gewissen nicht einfach zu Hause gelassen? Warum fällt mir Thomas immer im falschen Augenblick ein? Dabei weiß ich nicht einmal, was für Absichten er hat. So, so, kommentiert eine bekannte Stimme in meinem Inneren. Wer weiß, was er heute nacht treibt. Die Rechtfertigungen helfen kurzfristig. Den Rest werde ich mit einem Glas Wein erledigen, nehme ich mir vor. Ich wasche mein Gesicht mit kaltem Wasser und trage neuen Lippenstift auf. Frauen essen im Leben durchschnittlich zwei Kilo Lippenstift, habe ich einmal irgendwo gelesen. Soll Heinz doch auch einen Anteil davon haben, denke ich, während ich meine Mundwinkel mit einem Taschentuch abtupfe.
Heinz steht wieder an der Theke und schenkt sich gerade Mineralwasser nach. „Na, alles paletti?“
„Ja“, bestätige ich.