Faule Marillen - Lisa Lercher - E-Book

Faule Marillen E-Book

Lisa Lercher

4,4

Beschreibung

DER PFARRER - EIN SKELETT? Ein schauerlicher Knochenfund reißt die friedliche Wachauer Gemeinde Klein Dürnspitz aus dem besinnlichen Advent. Schon bald ist klar, dass es sich bei dem Skelett um die Überreste des ehemaligen Ortspfarrers handelt. Der ist nämlich vor mehr als einem Jahrzehnt auf mysteriöse Weise verschwunden. Was wurde dem umtriebigen und weltoffenen Pfarrer zum Verhängnis? EINE MAUER DES SCHWEIGENS Major Paul Eigner soll als erfahrener Kriminalist Licht in die Angelegenheit bringen. Keine leichte Aufgabe, stößt er doch bei seinen Ermittlungen auf eine eisige Mauer des Schweigens. Als diese langsam zu bröckeln beginnt, bekommt die ländliche Idylle tiefe Risse: Gerüchte über ein uneheliches Kind des Pfarrers, der seinen weiblichen Schäfchen offenbar mehr als nur ein guter Hirte war, ein gewalttätiger Ehemann und die Anhänger einer katholischen Sekte halten den Major bei seiner Spurensuche enorm auf Trab. SCHWARZER HUMOR VOM FEINSTEN UND VIEL LOKALKOLORIT Es gärt heftig hinter den Kulissen der friedlichen Wachau! Und Lisa Lercher spinnt rund um den charakterstarken Major Paul Eigner einen äußerst spannenden und schwarzhumorigen Krimi. "Wer hätte gedacht, dass es in der schönen Wachau so kracht im Gebälk. Lisa Lercher fängt die düster-nebelige Stimmung der Wachauer Vorweihnachtszeit perfekt ein. Krimi-Genuss pur!" "Krimi-Unterhaltung vom Feinsten! Authentische Figuren, eine Geschichte, die bis zum Schluss spannend angelegt und sprachlich exzellent erzählt ist - absolute Leseempfehlung!"

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Lisa Lercher

Faule Marillen

Ein Wachau-Krimi

Lisa Lercher

Faule Marillen

Für meine Eltern

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Epilog
Glossar
Lisa Lercher
Zur Autorin
Impressum

Der Platz lag verlassen da. Ein Bretterzaun grenzte die aufgebrochene Erde von den Rieden am Ortsrand ab. Zur Donau hin hatte man Gitter aufgestellt, die an Metallpfosten befestigt waren, Werbetransparente dienten als Sichtschutz. Die Luft war feucht und roch ein wenig modrig, wie meist, wenn es länger geregnet hatte. Nebel zog in feinen Gespinsten vom Wasser über die Marillenplantagen und Weinstöcke bis hin zum Dunkelsteinerwald. Das ganze Tal war in fahles Grau getaucht, das wie ein Weichzeichner vor das Auge des Betrachters glitt und die Konturen der Bäume und Häuser verwischte.

Obwohl die klamme Herbstkälte unter die Kleidung kroch, ließen sich die Buben in ihrem Erkundungsdrang nicht bremsen. Das Verbotsschild verstanden sie als Einladung. Eltern haften für ihre Kinder, war am unteren Rand zu lesen. Selbst wenn die Buben darauf geachtet hätten, ihre Abenteuerlust hätte es ihnen wohl kaum genommen. Die Gitter stellten kein Hindernis dar. Als Jüngster und Kleinster der Gruppe brauchte Simon etwas länger, bis er die Barriere überwunden hatte. Den Spott der anderen ertrug er mit zusammengebissenen Zähnen. Irgendwann würde er es ihnen schon noch zeigen! Jackie hatte sich durch eine Lücke im Bauzaun gezwängt und wartete nun schwanzwedelnd auf ihn.

Simons Schuhe schmatzten im aufgeweichten Boden, als er den anderen zum Baucontainer folgte. Er war mit einem großen Vorhängeschloss gesichert. Kevin und Johannes rüttelten erfolglos daran. Dann spähten sie der Reihe nach durch das dreckverschmierte Fenster. Markus hauchte auf die Scheibe und wischte mit dem Ärmel darüber. Auf einem Metalltisch stand ein voller Aschenbecher, daneben lagen eine angebissene Wurstsemmel und eine aufgeschlagene Mappe. In der Ecke stand eine Kiste Bier. »Mmh«, sagte Kevin und kramte eine zerdrückte Zigarettenpackung aus seinem Anorak.

»Von deinem Alten?«, fragte Markus.

Kevin nickte.

»Merkt der nichts?«

Kevin zuckte die Achseln, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.

»Traust dich?« Kevin hielt Simon den Glimmstängel mit dem Filter voran hin, musterte ihn spöttisch und spuckte schließlich Richtung Baucontainer.

Simon starrte konzentriert auf seine schmutzigen Schuhe und tat, als hätte er die Frage nicht gehört. Letzten Sommer hatte er gesehen, wie es Markus nach seinem ersten Mal ergangen war. Der hatte in der Bäckerei auf die Budl gespieben. Seither durfte er nicht mehr ins Geschäft. Dabei gab es dort das beste Eis der Umgebung.

»Baby«, spottete Kevin und trat gegen die Wand des Containers.

Laurenz hatte irgendwo eine Eisenstange gefunden und schwang sie drohend über seinem Kopf. Dazu schnitt er Grimassen und grunzte. Simon war Markus und Johannes zur Baugrube gefolgt und starrte ins Loch. Er spürte die Kälte nun deutlicher in den Zehen, die gefühllos geworden waren. Er steckte die Finger in die Jackentasche und trat von einem Fuß auf den anderen. Seine Sneakers waren feucht. Tante Hanni, die eigentlich seine Großtante war, hatte gesagt, er solle ordentliche Schuhe anziehen, einen Schal nehmen und die Haube nicht vergessen. Ihre gut gemeinten Ratschläge waren ihm bei einem Ohr hinein- und beim anderen gleich wieder hinausgegangen. Sie hatte, wie alle Frauen ihres Alters, seine Mutter eingeschlossen, keine Ahnung, was es hieß, cool zu sein. Sich eingemummt wie ein Kleinkind mit den anderen zu treffen, gehörte eindeutig nicht dazu. Dann schon lieber frieren.

In der Mulde ganz unten war eine Lache. Markus und Johannes kickten Erdklumpen in die Grube. Kevin, der Älteste und gleichzeitig Anführer der Truppe, zielte mit Steinen auf den Verteilerkasten, der an einem Mast hing. Ein helles Pling markierte seine Treffer. Laurenz hatte genug vom Schwertschwingen und untersuchte einen Bretterhaufen nach Brauchbarem.

»Schau ma zum Wasser?«, fragte Johannes, dem offenbar fad wurde.

Simon sah sich nach seinem Hund um. »Jackie!« Normalerweise folgte der Hund aufs Wort. Simon rief erneut.

»Ist der Köter abgepascht?«

Simon wurde unruhig. »Jackie! Jackie! Da komm her!«

Kevin steckte zwei Finger in den Mund und ließ einen grellen Pfiff hören.

Wenig später tauchte der Kopf des Jack Russel Mischlings hinter einem Schotterhaufen auf. Simon klopfte auf seinen Schenkel. »Hier!«

Jackie rannte schwanzwedelnd in seine Richtung.

»Was hast du denn da?« Simon ging in die Hocke und griff nach dem Ding, das der Hund im Maul trug. »Wääh«, rief er gleich darauf und ließ Jackies Mitbringsel angeekelt fallen.

»Pfoa«, sagte Laurenz.

Kevin schlenderte langsam näher. Er stieß das Ding mit der Schuhspitze an und beugte sich darüber. »Ist von einem Menschen«, sagte er und räusperte sich.

»Echt?« Johannes ging neben ihm in die Hocke.

***

Es gab aufgeschnittenes Geselchtes und die Reste des Krautstrudels vom Mittagessen. »Wir haben ohne dich angefangen«, sagte Hanni, als ihr Bruder, Major Paul Eigner, die Küche betrat.

»Ich bin aufgehalten worden, und dann war da auch noch ein Unfall auf der Autobahn und ich bin im Stau gesteckt.«

Jackie begrüßte den Major mit Freudengeheul und versuchte, an ihm hoch zu springen. »Gib Ruh, du Flohbeutel«, wehrte er ab. Sein Verhältnis zu Tieren war von seiner Seite her ein klares: Man hielt Abstand und ließ sich gegenseitig in Ruhe. Warum sich die meisten Hunde und Katzen nicht daran hielten, war ihm schleierhaft. Er schob Jackie mit dem Schuh zur Seite und setzte sich zu Hanni und seinem Enkel Simon an den Tisch. Der Bub war in ein Spiel auf seinem Nintendo vertieft. Das Gerät piepste in unregelmäßigen Intervallen. Eigner wuschelte dem Kleinen durchs Haar.

»Nicht!«, wehrte sich das Kind. »Ich muss das vierte Level …« Simon war dermaßen in sein Spiel vertieft, dass er nicht einmal den Satz zu Ende sprach.

»Der Vater hat sich schon niedergelegt. Dem tut der Fuß wieder so weh. Wahrscheinlich spürt er den Wetterumschwung«, berichtete Hanni. Die Eltern der Geschwister hatten im oberen Stockwerk des Hauses gewohnt. Die Mutter war vor einigen Jahren gestorben. Der Vater, der schon ein Stück über achtzig war, hatte nur das Schlafzimmer behalten und hielt sich sonst im Haushalt seiner Tochter und des Schwiegersohns auf.

Eigner belegte eine Scheibe Schwarzbrot mit Fleisch. Er hatte in der Autobahnraststätte einen kleinen Kaffee getrunken und spürte nun ein leichtes Brennen in der Speiseröhre. Das Geselchte würde es bestimmt nicht besser machen. Er nahm sich vor, nachher einen Löffel Zucker zu essen. Das half meistens gegen sein Sodbrennen.

»Willst ein Mineral oder lieber einen G’spritzten dazu?«

»Hast ein Bier?« Er machte Anstalten aufzustehen. Jackie hockte neben dem Tisch und sah sehnsüchtig zu ihm auf. Ab und zu winselte sie fordernd.

»Lass nur«, sagte Hanni und ging zum Kühlschrank. Der Hund folgte ihr. »Jackie, aus! Platz!« Hanni zog den Hund am Halsband zu dem Korb, den sie ihm als Schlafplatz eingerichtet hatte. »Noch einen Marillensaft, Simon?«

Der Bub reagierte nicht. Eigner stieß seinen Enkel mit dem Ellenbogen an. »Die Tante Hanni fragt dich was!«

»Nein, danke«, antwortete das Kind wohlerzogen.

»Na, was hast heut angestellt?«

Hanni stellte Flasche und Glas auf den Tisch. »Mit den Buben war er wieder unterwegs. Ich glaub nicht, dass die die richtige Gesellschaft für deinen Enkel sind. Da sind ziemliche Rotzlöffel darunter, und die bringen unserem Simon sicher nichts G’scheites bei.«

Eigner klopfte seinem Enkel auf die Schulter. »Ist es dir lieber, wenn er den ganzen Tag daheim vor dem Fernsehkastl hockt? Sind wir doch froh, dass er Freunde hat.«

»Die Verena hat angerufen«, wechselte Hanni das Thema. »Sie holt den Buben am Sonntag am Abend und wollte wissen, ob er nächstes Wochenende hier sein kann. Sie hat momentan so viel zu tun und muss auch am Feiertag arbeiten.«

Eigner zuckte die Achseln. »Von mir aus«, sagte er mit vollem Mund. »Ich hab meinen Resturlaub genommen und bin sowieso die meiste Zeit da.« Im Grunde freute er sich, dass Simon so oft in seiner Nähe war. Als Verena, die Mutter des Buben, ein Kind gewesen war, hatte er wenig Zeit für die Familie gehabt. Vor allem, wenn ein Fall zu klären war, war er oft nächtelang im Büro geblieben und hatte seine Frau mit der Organisation des Familienalltags allein gelassen. Eigner hatte sich vorgenommen, es bei Simon besser zu machen, zumindest ein guter Großvater zu sein.

»Ich hab gesagt, dass ich dich erst fragen muss, ob du Zeit hast. Ich helfe nämlich am Feiertag bei den Vorbereitungen für den Weihnachtsbasar. Den Vater nehm ich mit. Der soll Holzperlen für die Rosenkränze auffädeln, dann ist er wenigstens beschäftigt. Außerdem müssen wir die Sachen, die im Pfarrheim abgegeben worden sind, noch aussortieren. Da kann ich den Buben nicht brauchen.«

Eigner nickte. Er stupste seinen Enkel in die Seite. »Dann machen wir zwei Männer uns einen schönen Tag, gell?«

»Coolo!«, gab das Kind, immer noch ins Spiel vertieft, abwesend zur Antwort.

Hanni pickte mit der Fingerspitze ein paar Brösel vom Tisch und ließ sie auf ihren Teller fallen. Obwohl sie demnächst sechzig wurde und als Obstbäuerin schwere Arbeit verrichtete, sah man ihr das Alter nicht an. Sie war groß und kräftig, ohne dick zu wirken, und immer noch eine attraktive Frau. Durch ihr dichtes schwarzes Haar zogen sich Silberfäden.

»Was war denn eigentlich?«

»Wieso?« Eigner schenkte sich Bier nach. Das Kondenswasser auf der Flasche hatte einen dunklen Ring auf der Eichentischplatte hinterlassen.

»Na, weil du gesagt hast, du bist aufgehalten worden.« Hanni sah auf die Küchenuhr, die über der Tür tickte.

»Ein Kollege wollt noch was zu einem alten Mordfall wissen.«

»Mord?«, fragte das Kind, ohne von seinem Nintendo aufzuschauen.

»Da schau her. Da passt einer ja ganz genau auf«, sagte Hanni. »Es ist dann Zeit zum Waschen und Umziehen, Zähneputzen nicht vergessen!«

»Nur mehr das Level fertig«, bettelte der Kleine.

»Fünf Minuten!«, sagte Hanni streng. Ihr Tonfall erinnerte Eigner an seine eigene Kindheit. Hanni, die sechs Jahre älter war als er, hatte oft auf ihn aufgepasst. Das hatte mit zu ihren Pflichten gehört.

»Was tut sich bei deiner Versetzung?«

»Eine Stelle im Innenministerium haben sie mir angeboten. Aber die letzten zehn oder elf Berufsjahre in einem Büro sitzen, Akten schupfen und in Sitzungen meine Zeit verplempern, das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.« Eigner zog eine Grimasse. Hanni hatte sich noch ein Brot genommen und bestrich es dünn mit Butter. »Wieso geben sie dir keinen Posten in Krems oder meinetwegen in St. Pölten? Du willst doch sicher nicht jeden Tag zum Dienst von Klein Dürnspitz nach Wien pendeln?«

Eigner drehte sein Glas zwischen den Fingern. »Angeblich haben sie dort keine Planstellen. Ich glaub, es wäre ihnen am liebsten, wenn ich in Frühpension gehe. Dann hätten sie ein Problem weniger, weil sich manche angeblich schon Sorgen gemacht haben, was ich im Innenministerium alles anstellen könnt.« Er grinste.

»Versteh ich nicht! Zuerst hat man gemeint, dass die Kriminalpolizei zusperren muss, wenn du einmal nicht da bist, und jetzt wollen sie dich lieber heute als morgen loswerden?«

Eigner trank den Rest seines Biers aus und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Wundert dich das wirklich?«

Hanni deutete auf die Küchenuhr. »Die fünf Minuten sind vorbei. Schalt jetzt das Kastl aus, geh dich umziehen und Zähne putzen.«

Simon kannte seine Großtante inzwischen gut genug, um zu wissen, wann er sich zu fügen hatte. Er legte seinen Nintendo zur Seite und rutschte die Bank entlang bis zur Kante. Jackie war aus ihrem Körbchen aufgesprungen und wedelte erwartungsvoll.

»Opa, kann ich heut bei dir schlafen?«, fragte der Bub, die Türschnalle bereits in der Hand.

Eigner seufzte. »Geht nicht, Simon. Bei mir ist immer noch so ein Saustall und die Heizung funktioniert auch nicht richtig.«

»Willst da schlafen?«, fragte Hanni ihren Bruder. »Das Zimmer von der Mama ist hergerichtet. Und dann könntest mir noch das Auto einladen helfen. Morgen ist Markttag. Da seids ihr zwei dann bis zum Nachmittag mit dem Urli allein. Ihr könnts euch das Gulasch aufwärmen oder die Saftschnitzel. Erdäpfel kochen müssts euch halt selber, und für den Vater hab ich eine Gemüsesuppe.«

»Simon, geh dich waschen!«, ermahnte Eigner das Kind.

Hanni hatte begonnen, das Geschirr abzuräumen. Sie holte ein braunes Emailreindl aus der Kredenz und legte zwei Strudelstücke hinein.

»Wo ist eigentlich der Roman?« Eigners Schwager war nur selten zu den Essenszeiten daheim, was den Major im Grunde nicht störte.

»In irgendeinem Ausschuss, was weiß ich. Wahrscheinlich sitzen sie wieder beim Wirten und finden kein Ende!« Hanni legte einen Deckel auf den Topf und stellte ihn zum Herd. Dann riss sie einen Zettel vom Block, den sie aus der Tischlade nahm, und kritzelte etwas darauf. Als fürsorgliche Ehefrau kümmerte sie sich natürlich darum, dass ihr Mann ein Nachtmahl vorfand, falls er, wenn er heimkam, noch Hunger hatte. Eigner runzelte die Stirn. Hatte nicht beim letzten Mal, als er da gewesen war, der Hund aus diesem Reindl gefressen? Da hatte er sich nämlich noch gewundert, dass seine sonst so auf Ordnung und Sauberkeit bedachte Schwester dem Tier das Futter in einem Kochgeschirr hingestellt hatte.

Simon stürmte in die Küche zurück. Er war nicht gern allein im Badezimmer, stritt aber ab, dass er sich dort fürchtete. »Fertig!« Auf seinem Pyjamaoberteil war ein nasser Fleck. »Liest du mir noch was vor?«

»Ich hab geglaubt, du kannst schon selber lesen?«, neckte Eigner das Kind.

»Bitte, Opa!«

»Der Hund bleibt aber in der Küche!« Hanni lockte Jackie mit einem Blatt Wurst und schlichtete dann die restlichen Teller in den Geschirrspüler.

Wie versprochen, hatte Eigner dem Buben ein ganzes Kapitel vorgelesen. Er legte das Lesezeichen zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. »Gute Nacht, schlaf gut!« Er ging zur Tür und wollte eben das Licht abdrehen, als der Bub fragte: »Opa, woran erkennt man Menschenknochen?«

Eigner hielt die Frage zunächst für reine Verzögerungstaktik, denn er wusste, dass der Bub oft Einschlafschwierigkeiten hatte. Doch irgendetwas am Tonfall des Kindes ließ ihn stutzen. »Das sieht man.«

»Woran?«

»Na, wenn es zum Beispiel ein Oberschenkelknochen ist, dann schaut der ganz anders aus als der von einem Hund. Ist ja logisch. Wie kommst du darauf?«

»Nur so«, sagte Simon und beobachtete seinen Großvater aus den Augenwinkeln.

»Nur so. So, so«, sagte Eigner streng. »Also, raus mit der Sprache. Warts ihr auf dem Friedhof? Du weißt schon, dass man da nichts mitnehmen darf!«

»Eh nicht.« Simon hatte den Kopf gesenkt. »Wir waren bei einer Baustelle«, sagte er leise. »Aber eigentlich darf ich es gar nicht erzählen. Ich hab es versprechen müssen. Alle haben geschworen.«

Eigner schloss die Tür und setzte sich zu seinem Enkel ans Bett. »So! Jetzt red! Was habt ihr gefunden?«

»Knochen halt«, sagte der Kleine und zuckte die Achseln. »Der Kevin hat gesagt, dass die sicher von einem Menschen sind. Wahrscheinlich ist er ermordet worden. Stimmt das, Opa?«

»Ich glaub, dass sich der Kevin zu viele Horrorfilme im Fernsehen anschaut.« Eigner strich seinem Enkel über den Schopf. »Vielleicht sollte ich einmal mit ihm reden?«

Simon fuhr aus dem Polster hoch. »Nein!«, rief er beschwörend. »Dann weiß er ja, dass ich gepetzt habe und dann …« Die dunklen Augen des Buben schwammen in Tränen. »Außerdem haut ihm sein Vater dann eine runter, dass der Kopf wackelt und die Ohren klingeln.«

»Dann zeigst mir morgen am besten selber, was ihr wo gefunden habt, und dann werden wir weitersehen«, beruhigte Eigner das Kind. Er war überzeugt, dass Simon übertrieb, und den Buben beim Spielen einfach nur die Fantasie durchgegangen war. »Jetzt schlaf aber!« Er zog die Tuchent über Simons Schulter. Das Kind hatte so gar keine Ähnlichkeit mit Verena. Angeblich glich Simon mehr seinem Großvater – das behauptete jedenfalls Hanni. Wie aus dem Gesicht geschnitten, hatte sie gesagt.

Als Eigner zurück in die Küche kam, saß Hanni mit der Handkasse beim Tisch und zählte das Kleingeld. Daneben lagen eine Abrechnungsliste und ein Taschenrechner. »Beim Vater oben ist alles in Ordnung. Hilfst mir noch beim Einräumen?«

»Ja, ja.« Eigner überlegte, ob er das Übernachtungsangebot seiner Schwester annehmen oder doch lieber heimfahren sollte. Eine weitere Nacht im erst teilweise renovierten Haus, in dem noch jede Menge Umzugskartons herumstanden und Gerümpel herumlag, das er ausmisten wollte, erschien ihm wenig attraktiv.

Er zog sich an und begleitete seine Schwester in den Keller hinunter. Der vertraute Duft der Äpfel, die hier gekühlt bis weit ins Frühjahr hinein gelagert wurden, stieg ihm in die Nase. Die Kisten, die Hanni morgen in aller Herrgottsfrüh auf den Markt mitnehmen würde, waren schon gefüllt. Auch die Flaschen mit dem selbstgemachten Marillen- und Johannisbeernektar standen bereit. Die in Zellophan verpackten getrockneten Apfelringe und Marillenhälften hatte er im Vorhaus in einer Schachtel gesehen. So wie die Walnüsse, die sich in der Adventszeit besonders gut verkauften. Als sein Vater noch besser beisammen gewesen war, war es seine Aufgabe gewesen, die Nüsse zu sammeln, im Heizraum zum Trocknen aufzulegen und sie dann an den kalten Spätherbstabenden vor dem Fernseher zu knacken. Jetzt waren seine von der Gicht verkrüppelten Finger zu schwach dazu und auch das Schneiden der Apfelringe überstieg inzwischen seine Fähigkeiten.

Hanni hatte den Bus aus der Garage geholt und vor der Halle geparkt. Mit vereinten Kräften luden sie die Waren auf die Ladefläche.

Eigner war müde. Auch seine Schwester sah erledigt aus. »Mein Zahnbürstel ist im Bad?«

»Auf der rechten Seite vom Alibert. Ich hab ein Leukoplast um den Griff gewickelt und deinen Namen darauf geschrieben.«

Eigner wandte sich zum Gehen.

»Du Pauli, noch was. Geh bitte noch eine Runde mit dem Hund!«

Eigner grunzte. »Ist gut!« Seine Freude über den erzwungenen Abendspaziergang hielt sich in Grenzen. Warum konnte sich Simon nicht wie früher mit einem Plüschtier begnügen?

***

Sie waren gleich nach dem Frühstück aufgebrochen, weil Simon keine Ruhe gegeben hatte. Von den aufgeworfenen Erdwällen sah einer aus wie der andere. So dauerte es eine Weile, bis Simon die Stelle wiedergefunden hatte. Dass Jackie danach suchte, hatte Eigner abgelehnt, und stattdessen bestimmt, dass der Hund angeleint blieb. Mit dem Baustellenleiter hatte es zunächst keine Probleme gegeben. Eigner hatte seinen Dienstausweis gezückt, ohne zu erwähnen, dass er eigentlich im Urlaub war. Erst als der Mann die Knochen sah, die teilweise aus dem Erdreich ragten, war er nervös geworden. Auch Eigner hatte geschluckt und sich vorgenommen, den Geschichten seines Enkels in Zukunft mehr Glauben zu schenken. Dann hatte er die Kollegen informiert.

Die Polizeiinspektion in Klein Dürnspitz war nur zu den üblichen Bürozeiten besetzt. Außerhalb davon wurden die Anrufe zu den umliegenden Dienststellen weitergeleitet. Dort würde man auch nichts anderes tun, als das Landeskriminalamt zu verständigen, wie Eigner wusste. Um Zeit zu sparen, hatte er deshalb gleich direkt beim LKA Meldung erstattet. Man hatte ihm gesagt, dass es eine Weile dauern würde, bis jemand vor Ort sein könne. Er war angewiesen worden, an der Fundstelle auf die Einsatzkräfte zu warten und dafür zu sorgen, dass keine Spuren verwischt wurden.

Eigner hatte Simon aufgetragen, mit dem Hund nach Hause zu gehen und dem Urgroßvater Gesellschaft zu leisten. Die beiden konnten sich ja etwas im Fernsehen anschauen oder Radio hören. Wenn es ein Problem gab, sollte Simon ihn am Handy anrufen oder zur Nachbarin gehen. Hanni würde erst am späteren Nachmittag heimkommen.

Er war froh, als endlich mehrere Wagen mit Blaulicht beim Baugrundstück eintrafen. Gleich darauf kam auch der Kollege vom LKA, ein schlanker, junger Mann mit einer markanten Hakennase im scharf geschnittenen Gesicht. Er stellte sich als Leutnant Kummer vor und fluchte gleich darauf: »Verdammt! Diese Provinzler können nicht einmal einen Tatort ordentlich absichern.«

Die Kollegen, deren fachliche Qualifikation Kummer anzweifelte, standen in Hörweite. Eigner musterte Kummer von der Seite. Seinem Alter und Dienstgrad nach zu schließen, war er noch nicht lange bei der Kriminalpolizei.

»Sind Sie der Wiener?«, wandte sich Kummer nun wieder an Eigner.

Der Major unterdrückte den Impuls, den Kollegen über seine Wachauer Wurzeln aufzuklären.

»Die Spurensicherung wird gleich da sein. Ich möchte mit den Verantwortlichen von der Baustelle reden. Wer, haben Sie gesagt, hat das Skelett gefunden, Kinder?«

Eigner, der seinen Enkel möglichst aus der Sache heraushalten wollte, zeigte auf den Container. »Der Bauleiter und zwei seiner Arbeiter sitzen dort drin und warten.« Er sah auf die Uhr. »Brauchen Sie mich noch? Ich bin eigentlich im Urlaub und habe hier sowieso keine Befugnisse.«

»Mir wäre es sehr recht, wenn Sie noch dableiben, bis die Techniker kommen!« Kummer stakste zum Container. Sein heller Mantel war mit Dreck bespritzt und auch die maßgefertigten Lederschuhe hatten gelitten.

Graue Wolken waren aufgezogen. Es sah nach neuem Regen aus. Aber das hatte der Kollege vom Landeskriminalamt sicher schon selber bemerkt. Eigner würde ihn jedenfalls nicht darauf aufmerksam machen. Es war schließlich nicht sein Fall!

Der Major hatte den Kragen seiner Jacke hochgeklappt und die Finger in die Taschen geschoben. Am Rand des Baugrundstücks hatten sich die ersten Schaulustigen eingefunden. Die Polizisten aus Mautern waren vollauf damit beschäftigt, die Neugierigen von der Fundstelle fernzuhalten.

Von den Gaffern drangen Gesprächsfetzen zu Eigner herüber, die er jedoch ausblendete, weil er in Gedanken war. Um eine Einvernahme würde Simon nicht herumkommen. Vielleicht konnte er es so einrichten, dass Verena nichts davon erfuhr. Seiner Ansicht nach konnte das Kind sowieso nichts Maßgebliches zur Aufklärung beitragen. Außerdem fürchtete er sich ein wenig vor den Vorwürfen seiner Tochter. In Sachen Kindererziehung hatten sie sehr unterschiedliche Ansichten, was schon öfter zu Meinungsverschiedenheiten geführt hatte. Verena schätzte es nicht, wenn Eigner den Kleinen ermutigte, sich wie andere Buben auszutoben, auf Bäume zu klettern und im Wald zu spielen. Verena meinte, das sei viel zu gefährlich. Eigner hatte Simons Abenteuerlust trotzdem gefördert, wann immer er Gelegenheit dazu bekam. Der Bub sollte lernen, sich im Leben zu behaupten. Das war wichtig für einen Mann, wie Eigner fand. Man muss der Mama ja nicht immer alles auf die Nase binden, hatte er zum Kleinen gesagt. Dann hatten sie sich verschwörerisch angegrinst und sich die Hand auf ihr Geheimnis gegeben.

Eigners Blick glitt suchend über das furchige Erdreich. Die Hoffnung, dass Stofffetzen, Münzen oder Tonscherben auf eine historische Fundstätte hinweisen würden, schwand immer mehr, denn außer Matsch, Steinen und einem Zuckerlpapier konnte er nichts entdecken. Auch schienen ihm die Knochen, die bleich aus dem Erdreich ragten, für ein Skelett aus der Römerzeit zu gut erhalten. Doch der Major war überzeugt, dass der Körper einige Jahre im Boden gewesen war. Er dachte an Simmerl, den hinkenden Totengräber, dem er als Bub öfter bei der Arbeit zugeschaut hatte. Besonders interessant war es gewesen, wenn Simmerl ein frisches Grab ausgehoben hatte und dabei menschliche Überreste zum Vorschein kamen. Bei deren Anblick hatte es Eigner gegruselt, und er hatte Simmerls stoische Art, mit der er die Knochen zur Seite räumte, irgendwie bewundert, obwohl sie ihm auch unheimlich war. Der Totengräber, der inzwischen selbst bei seiner Kundschaft ruhte, war kein studierter Pathologe oder Forensiker gewesen. Trotzdem hätte er aus jahrelanger Erfahrung bestimmt recht genau schätzen können, wie lange das Gerippe bei der örtlichen Beschaffenheit des Bodens in seinem Grab gelegen war.

Eigner beneidete die Ermittler nicht um ihre Arbeit. Auf einer Baustelle nach Spuren zu suchen, war ein schwieriges Unterfangen. Auch die Liegezeit würde die Erhebungen erschweren. Vermutlich würde man ein Gewaltverbrechen in Betracht ziehen. Ein Skelett auf einem Grundstück zwischen Weingärten und Marillenplantagen legte solche Überlegungen nahe.

Er betrachtete die Fundstücke der Reihe nach. Das eine war bestimmt ein Oberschenkelknochen, das andere vermutlich eine Beckenschaufel, weiter drüben lag ein kleiner Knochen. Wahrscheinlich von einem Fuß oder einer Hand? Hoffentlich hatten die Buben nichts mitgehen lassen. Simon hatte erzählt, dass Kevin unbedingt den Schädel haben wollte. Um ihn herauszubekommen, hatten sie auf der Baustelle nach passendem Werkzeug gesucht. Dabei waren sie gestört worden. »Diese große Frau, weißt eh, die immer gleich schimpft und dabei mit dem Kopf so komisch zuckt, hat über den Zaun geschaut«, hatte Simon berichtet. »Sie hat gesagt, sie ruft die Polizei, wenn wir nicht gleich verschwinden.«

Es hatte zu nieseln begonnen. Aus einzelnen Kaminen der Häuser drüben beim Ortskern quoll Rauch. Eigners Ohren schmerzten von der Kälte. Er zog ein Taschentuch aus seiner Hose und schnäuzte sich. Wer der oder die Tote wohl gewesen war? Jemand aus Klein Dürnspitz? Am Ende hatte er ihn oder sie sogar gekannt? Motorengeräusch unterbrach seine Überlegungen. Wenig später tauchten die Kollegen von der Spurensicherung auf. Wie Außerirdische kamen sie Eigner in ihrer weißen Schutzkleidung vor. Das waren sie in gewisser Weise auch – Eindringlinge aus einer anderen Welt, Fremdkörper, die nicht in die Wachauer Idylle passten.

»Dort drüben«, sagte Kummer und deutete in Eigners Richtung. Er ging vorsichtig, um nicht auf dem angefrorenen Matsch auszurutschen. Die Schuhe sind auf jeden Fall zum Wegschmeißen, dachte der Major.

»Na bravo«, sagte einer der Kriminaltechniker, nachdem er die Fundstelle gesehen hatte. »Hopp, hopp, Jungs. Wir brauchen die Planen, bevor uns der Regen noch mehr davonschwemmt.«

»Der Kollege aus Wien hat die Knochen entdeckt«, wandte sich Kummer an einen der Männer, der der Chef der Truppe zu sein schien, und wies auf Eigner.

»Irgendwas verändert, herausgezogen, berührt?«, fragte der.

»Kann ich so nicht sagen. Die Buben, die die Knochen gefunden haben, haben da sicher herumgewerkt und auch probiert, den Schädel auszugraben«, fasste Eigner zusammen. »Einen Hund haben sie übrigens auch dabei gehabt. Der hat einen Knochen im Maul dahergebracht. Dadurch sind die Buben überhaupt erst aufmerksam geworden. Der Knochen, es muss was Kleineres gewesen sein, liegt da irgendwo beim Container. Ich hab ihn aber nicht gefunden.«

»Was sagt der Doktor?«

»Der Arzt ist verständigt, oder?«, rief Kummer zu den Kollegen aus Mautern hinüber.

»Sie haben gesagt, dass wir die Anweisungen von Ihnen kriegen!«, gab ein älterer Beamter zurück.

Kummer verdrehte die Augen. »Wenn man nicht selber an alles denkt«, murrte er und tippte ungehalten eine Nummer in sein Handy.

***

Als erstes drehte Hanni den Fernseher leiser. Ihr Vater schlief mit offenem Mund auf dem Diwan. Auf dem Couchtisch stand eine halb volle Flasche Steinfeder, daneben lag seine Zahnprothese. Hanni wusste, dass er sie gern herausnahm, weil sie ihn drückte. Wenn Pauli dem Vater in der Früh die Tabletten gegeben hatte, dann hatte der Wein vermutlich die doppelte Wirkung gehabt. Eigentlich müsste sie den Hausarzt rufen. »Mannsbilder«, schimpfte sie. »Immer das Gleiche!« Sie beobachtete den Brustkorb ihres Vaters, der sich regelmäßig hob und senkte. Wenn sie den Arzt holte, hatte sie auf jeden Fall Erklärungsbedarf. Doktor Berghofer hatte eine belehrende Art, die ihr ziemlich auf die Nerven ging. Aber der alte Eigner bestand auf diesem Hausarzt, weil er schon bei Berghofers Vater Patient gewesen war. Wo steckte eigentlich das Kind und wo war ihr Bruder Pauli? Er hatte versprochen, sich um alles zu kümmern, während sie auf dem Markt war.

Als sie die Küchentür öffnete, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen. Sie rannte zum Herd, dessen hintere Platte glühte. Die alte Eisenpfanne stand glücklicherweise auf der Arbeitsplatte. Sie war mit angebranntem Teig verkrustet. Hanni hob sie hoch und begutachtete den dunkelbraunen Fleck auf dem Resopal. Offenbar war die Pfanne heiß gewesen, als man sie dort abgestellt hatte. In der Schüssel daneben war noch Teig. Mehlstaub bedeckte den halben Küchenboden. Auf dem Tisch lagen Eierschalen und ein verschmierter Schneebesen. Den Deckel des Marillenmarmeladenglases fand sie auf der Bank.

Hanni kämpfte mit den Tränen. Sie war hundemüde. Während der ganzen Heimfahrt hatte sie sich auf ihren Kaffee und das Stück Nusstorte gefreut, dass sie sich am Bauernmarkt bei ihrer Standnachbarin gekauft hatte.

Jackie zwängte sich durch die angelehnte Küchentür und begrüßte Hanni freudig kläffend. »Du hast mir gerade noch gefehlt!«, sagte sie und beugte sich hinunter, um das Tier zu streicheln.

»Servus Tante. Ich hab Hunger«, hörte sie von der Tür her.

»Simon, was ist denn das für ein Tohuwabohu?«

Der Bub schaut betreten zu Boden. »Der Urli wollte mir Palatschinken kochen, aber die sind ihm nicht gelungen.«

Hanni seufzte. Das Kind konnte schließlich nichts dafür. »Und wo ist der Opa?«

»Bei einem Einsatz. Wir haben ein Skelett gefunden.«

»Aha«, sagte Hanni lakonisch. Das »Wir« überhörte sie geflissentlich. Für den Augenblick war ihr Bedarf an Aufregung gedeckt. »Magst ein Wurstbrot?«

***

Eigner erschrak, als er auf sein Handy sah. Zum einen, weil es schon viel später war, als er angenommen hatte. Zum anderen, weil das Display drei Anrufe in Abwesenheit zeigte. Er hatte es nicht läuten gehört, weil das Gerät auf lautlos gestellt war. Hanni – stand in der Anrufliste. Es war die Festnetznummer. Wahrscheinlich hatte Simon versucht, ihn zu erreichen.

Er hatte nicht damit gerechnet, so lange im Freien zu sein, und wäre gern noch daheim vorbeigefahren, um sich umzuziehen. Seine Hose war feucht, auch die Jacke war für das Wetter nicht ideal gewesen. Eine Erkältung war das Letzte, was er gebrauchen konnte.

Hoffentlich war mit seinem Vater und dem Buben alles in Ordnung. Ihn plagte ein schlechtes Gewissen. Der Vater hatte heute einen seiner guten Tage gehabt, beruhigte er sich. Außerdem war Hanni inzwischen längst daheim.

Er drückte auf die Taste mit dem grünen Hörer. Das Telefon wählte die Nummer automatisch. »Nothnagl?« Schon an ihrer Stimme hörte er, dass sie verärgert war. Hanni erzählte in knappen Worten, was daheim passiert war. Sie machte ihm keinen Vorwurf. Das war nicht ihre Art. »Wir müssen demnächst einmal reden. Das mit dem Vater wird schlimmer«, sagte sie.

»Sicher! Aber mach dir jetzt keine Sorgen wegen dem Rausch. Der Alte verträgt einiges!«

»Aber nicht, wenn er die Pulver nimmt«, rief ihm Hanni in Erinnerung.

»Mhm«, sagte Eigner und ärgerte sich über seine Gedankenlosigkeit. Dann erzählte er ihr von dem Skelett.

Hanni unterbrach ihn nach wenigen Sätzen. »Der Simon hat es mir schon gesagt. Reden wir später. Ich kann jetzt nicht.«

»Ich bin ohnehin schon auf dem Weg«, sagte Eigner und beschleunigte seine Schritte. Wenn er das geahnt hätte, hätte er einen Kollegen gebeten, ihn mit dem Auto zu bringen.

Als Eigner bei seiner Schwester eintraf, stand Simons gepackter Trolley schon im Vorhaus bereit. Verena würde jeden Moment kommen und ihren Sohn abholen. Diesmal ausnahmsweise schon am Samstag, weil für Sonntag ein Besuch bei Verenas Schwiegereltern auf dem Programm stand.

Der Kleine saß mit seiner Großtante in der Küche und trank Kakao. Es sah aus wie immer. Hanni hatte die Spuren des Fiaskos längst beseitigt. Jackie begrüßte Eigner mit freudigem Gebell und sprang an ihm hoch. »Bist eh brav.« Er tätschelte dem Hund halbherzig den Kopf.

»Was hab ich gehört, ihr habt der Tante Hanni heute die Küche versaut?«, wandte sich Eigner an seinen Enkel.

»Sie hat aber nicht geschimpft«, antwortete das Kind.

»Wozu auch? Was hätte das geändert?«, sagte Hanni.

»Ich hab nicht gedacht, dass das so endet.« Eigner berührte entschuldigend den Arm seiner Schwester.

»Ist schon gut. Das nächste Mal schraub ich die Sicherung vom Herd heraus.«

»Ein nächstes Mal wird es hoffentlich nicht geben.« Eigner nahm sich ein Glas und drehte den Wasserhahn auf. »Wie geht’s dem Vater?«

»Sitzt eh im Wohnzimmer.« Hanni hatte Simon einen Teller mit Weihnachtsbäckerei hingestellt. Er griff nach einem Schokoladenkeks und schleckte genüsslich mit der Zunge über die Glasur.

»Grüß dich!« Eigner war ins Wohnzimmer gegangen, wo sein Vater vor dem Fernseher saß und sich eine Volksmusiksendung ansah. Den Major überkam ein Anflug von Abschiedsschmerz, der sich ab und zu einstellte, wenn er den Vater schlafend oder selbstvergessen vorfand. Manchmal befremdete ihn der Anblick des runzeligen Gesichts und des faltigen Halses, der ihn an einen Truthahn erinnerte. Jahrelange harte Arbeit hatte ihre Spuren hinterlassen, und aus dem einst stattlichen Mann, der mühelos eine Waschmaschine gestemmt hatte, einen Greis mit Witwenbuckel gemacht. Die letzten verbliebenen gelblichen Haarsträhnen waren penibel über den kahlen Schädel des alten Mannes gekämmt. Der Alte hatte seine Kopfhörer aufgesetzt und nahm seinen Sohn erst wahr, als dieser direkt vor ihm stand. Er zog die Hörer von den Ohren. »Ah, der Fritz, schön. Auch wieder einmal daheim? Was tut sich draußen in der weiten Welt?«

Eigner schluckte. Fritz, sein älterer Bruder, war vor vielen Jahren als Jugendlicher bei einem Verkehrsunfall gestorben. »Ich bin der Paul!«, sagte er zu seinem Vater. »Wie geht es dir? Ich hab gehört, du hast dir ein paar Vierterln gegönnt.«

»Ah, der Pauli!« Der Vater winkte ihn näher zu sich heran. Er flüsterte: »Aber sie ist es mir schon wieder neidig. Die ist schlimmer als die Gretl. Die war nie so streng mit mir.«

Eigner nickte, obwohl er bezweifelte, dass Gretl, seine Mutter, so nachsichtig gewesen war, wie der Vater behauptete. Er erinnerte sich recht deutlich, dass die Mutter ein strenges Regiment geführt hatte.

»Ich geh zurück in die Küche und wart, bis die Verena kommt.« Eigner nickte seinem Vater zu.

»Die Verena? Da komm ich gleich mit.« Freude spiegelte sich auf dem Gesicht des Alten.

»Sie ist noch nicht da. Ich schick sie dann zu dir herein. Schau inzwischen ruhig deine Sendung weiter.«

Der alte Mann lehnte sich in seinem Fauteuil zurück und streifte die Kopfhörer wieder über.

In der Zwischenzeit war auch Eigners Schwager eingetroffen. Er schien leicht angeheitert zu sein, was sich gleich darauf bestätigte, als Eigner seine Hand zur Begrüßung schüttelte und dabei seinen Atem roch. Nothnagl war einen halben Kopf kleiner als der Major und stämmig gebaut. Sein dichtes schwarzes Haar war an den Schläfen leicht angegraut. Er trug es glatt zurückgekämmt, was bei seiner hohen Stirn nicht unbedingt von Vorteil war, und hielt es mit Gel in Form.

»Diese Geschichte mit dem Gerippe kommt auch zur Unzeit daher. Seids ihr euch sicher, dass es nichts Historisches ist?«, begann Roman Nothnagl ohne Umschweife.

»Woher weißt du das schon wieder?«

»Glaubst du wirklich, dass sich so was in dem kleinen Ort nicht gleich herumspricht? Da ist eine ganze Menschentraube beim Zaun draußen. Sogar Kisten haben sie dabei, damit sie hinüberspechteln können. Deine Kollegen sind schon ziemlich genervt!« Nothnagl hängte seinen Kalmuck-Janker über die Sessellehne. »Ist es wirklich nicht historisch?«, hakte er nach.

»Ich bin kein Fachmann, aber für mich schaut es nicht danach aus.« Eigner setzte sich an die Seite seines Enkels, der, auf der Suche nach weiteren Schokoladenkeksen, Vanillekipferln und Kokosbusserln zur Seite schob. Jackie, die schwanzwedelnd unter dem Tisch darauf wartete, dass vielleicht auch etwas für sie abfiel, drängte sich an Eigners Hosenbein.

»Weißt schon, dass man das isst, was man angreift?«, belehrte Hanni das Kind. Der Kleine steckte sich gehorsam einen Anisbogen in den Mund. Eine Entscheidung, die er, seiner Miene nach zu schließen, gleich darauf bereute.

»Das wär aber gut für den Fremdenverkehr in Klein Dürnspitz gewesen. Irgend so ein Römerfund, eine alte Grabstätte, was weiß ich …« Roman sah sich nach seiner Frau um. »Geh Hannerl, bring mir einen G’spritzten.«

»Du bist da nicht beim Wirten. Weißt eh, wo der Wein steht. Mineralwasser ist im Kühlschrank«, antwortete seine Frau und putzte das Gemüse weiter.

Unwirsch stand Nothnagl auf. »Trinkst einen mit, Paul?«

Eigner winkte ab.

»Wir könnten dringend mehr Attraktionen brauchen. Die Übernachtungszahlen sind im letzten Jahr zurückgegangen. Die Radfahrer und Wanderer lassen nicht viel Geld da, und die Kulturangebote ziehen bei uns auch nicht so recht«, beklagte sich Nothnagl.

Eigner kannte die Leier und schwieg, denn jeder Kommentar war Wasser auf den Mühlen seines Schwagers.

»Da sind wir ein Weltkulturerbe und was haben wir davon? Gar nichts!«, fuhr Roman fort. Er füllte sein Glas mit Mineralwasser auf. »Unsere Venus kann sich mit der von den Willendorfern nicht messen, weil sie kleiner und schäbiger ist, für das Anmalen vom Kirchturm hab ich im Gemeinderat keine Mehrheit bekommen und der Gebetspichler, dieser Trottel, hat beim Renovieren die einzige Rauchkuchl, die wir herzeigen hätten können, demoliert.« Romans honigbraune Augen glänzten feucht in seinem länglichen Gesicht.

»Was regst du dich so auf?« Hanni stand mit erhobenem Gemüsemesser am Küchenschrank. »Nächstes Jahr wird die neue Wallfahrtskapelle eingeweiht, und immerhin haben wir heuer das große Adventkonzert im Schloss. Da wird sich schon was tun.«

»Hoffentlich!« Ein boshaftes Grinsen huschte über sein Gesicht. »Hast du schon mit dem Pfarrer geredet? Ich wette, der ärgert sich ordentlich. Die Eröffnung von seinem Begegnungszentrum im Sommer kann er sich vermutlich in die Haare schmieren. Wer weiß, wie lange es dauert, bis das Grundstück wieder freigegeben wird.«

»Du bist ja nur schadenfroh, weil du deine Pläne nicht im Gemeinderat durchgebracht hast«, sagte Hanni.

Er maß sie mit einem bösen Blick. »Das Römerzentrum wäre besser für den Ort gewesen. Glaub es mir.«

»Was für ein Römerzentrum?«, fragte Eigner.

»Einen Erlebnispark mit einem Römerdorf, wo die Leute Urlaub machen und quasi wie die alten Römer leben können, mit einem Forum, einer Therme, einem Amphitheater und allem, was es halt sonst noch so braucht. Das hätte in der Region eingeschlagen, ein Kassenmagnet wär das geworden. Aber bring eine neue Idee, die ein Eitzerl Risikobereitschaft verlangt. Das funktioniert vielleicht in Wien, aber bei uns …«, Nothnagl fuhr sich vielsagend mit der Handkante über den Hals. »Abgewürgt haben sie die Debatte, nicht einmal das Konzept wollten sie prüfen, dabei ist der Architekt wirklich ein Ass, hat schon jede Menge Preise eingeheimst.« Sein Blick fiel auf den Keksteller. »Was gibt’s heut eigentlich zum Essen?«

»Eine Gemüsesuppe kannst du haben. Der Vater kriegt auch eine, oder du isst was Kaltes. Fleisch und Wurst sind im Kühlschrank, der Krautstrudel von gestern ist auch noch im Reindl.«

Nothnagl rümpfte die Nase.

Simon hatte seinen Kakao ausgetrunken und griff nach seinem Nintendo, der auf der Fensterbank lag.

»Wenn die Geschichte nur nicht nach hinten losgeht. Das könnten wir jetzt am allerwenigsten brauchen!«

»Was meinst du?«, fragte Eigner.

Sein Schwager zögerte. »Das weiß doch jeder, dass so ein Gerippe im Advent keine gute Werbung für Touristen ist, die sich auf die besinnliche Zeit einstimmen wollen«, blaffte er dann.

»Du, es gibt viele, die sich gern einen Tatort anschauen.« Eigner wusste, dass sein Schwager das nicht witzig fand.

»Weiß man wenigstens schon, wer es ist?«, fragte Hanni, während sie Zwiebel anröstete.

Eigner schüttelte den Kopf. »Gar nichts, die sichern ja grad erst die Spuren.«

»Aber man kennt doch wenigstens, ob es ein Manderl oder ein Weiberl ist.« Roman grinste.

»Abgenütztes Kiefergelenk, ich weiß schon.« Eigner zog eine Grimasse.

Romans Grinsen erlosch. Eigner hatte ihn um die Pointe gebracht. Wieder einmal wünschte sich Roman, sein Schwager wäre in Wien geblieben. Er trank seinen Gespritzten in einem Zug aus und stand auf. »Touristen, die zum Mörderschauen kommen, brauchen wir nicht«, sagte er und stellte das Weinkrügerl mit Schwung ab.

»Mörder?« Simon sah von seinem Spiel auf.

»Roman!«, sagte Hanni scharf. Sie deutete mit dem Kinn in Richtung ihres Großneffen.

»Und schon gar keine negativen Schlagzeilen«, fuhr Nothnagl fort.

»Also nichts über die Arbeitsbedingungen unserer Erntehelfer?«, fragte Eigner mit Unschuldsmiene.

»Was?«, fuhr Nothnagl auf.

»Na, wer weiß, am Ende gehört das Skelett einem von diesen armen Teufeln, die bei uns um einen Hungerlohn schuften müssen, weil sich kein Hiesiger findet, der die schwere Arbeit um das Geld macht. Vielleicht war es ein Unfall, den man vertuschen musste?«

»Da kann man ja von Glück reden, dass du in dem Fall nicht ermittelst«, schimpfte Pauls Schwager.

»Das ändert nichts an den Fakten. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich ein paar faule Marillen in einem schönen Obstkorb verstecken«, entgegnete der Major.

Nothnagl tippte sich an die Stirn, was Eigner mit einem sarkastischen Grinsen quittierte. Unten war das Hupen eines Autos zu hören. Simon sprang auf. »Die Mama, die Mama!«

»Schuhe anziehen«, mahnte Hanni.

»Ich geh was Ordentliches essen!« Roman hatte seine Joppe geschnappt und folgte dem Kind, das aus der Küche gestürmt war.

***

Am Vormittag war Eigner bei seinem Vater geblieben. Das war das Mindeste, was er als Wiedergutmachung nach dem Chaos, das der Alte und Simon bei ihrem Kochversuch angerichtet hatten, leisten konnte. Hanni war sehr froh darüber gewesen, denn sie hatte, wie immer in der Vorweihnachtszeit, alle Hände voll zu tun.

Um sich mit dem Vater die Zeit zu vertreiben, hatte Eigner ihm die Pläne gezeigt und über seine nächsten Sanierungsvorhaben gesprochen. Der Alte hatte sich gefreut, einige Anregungen geliefert und ihm sogar seine Hilfe angeboten. »Schau ma mal«, hatte der Major gesagt und seinem Vater aufmunternd zugenickt. Früher wäre der Alte, der als geschickter Handwerker gegolten hatte, eine unverzichtbare Hilfe gewesen. Doch nun war er gebrechlich und würde auf einer Baustelle mehr Aufsicht benötigen als er selber von Nutzen war.